Brav ist schwer, Vogel ist leicht - Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze im Deutschunterricht
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Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 279 Empirische Sonderpädagogik, 2020, Nr. 4, S. 279-294 ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet) Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze im Deutschunterricht Stefan Blumenthal1 & Yvonne Blumenthal1,2 1 Universität Rostock, 2Universität Greifswald Zusammenfassung Das Grundwortschatzkonzept ist ein bedeutsamer didaktischer Ansatz im Erwerb von Recht- schreibkompetenzen. In jüngster Vergangenheit wurden in fast allen Bundesländern entspre- chende Handreichungen mit Mindestwortschätzen veröffentlicht. Dieser Ansatz bietet den Lehrkräften viel Potenzial, für ihre Lerngruppe angepasste Unterrichts- und Förderangebote zu entwickeln. Ein Vergleich des Wortmaterials der jeweiligen Mindestwortschätze zeigt einerseits eine geringe Schnittmenge im Gesamtvergleich und andererseits fehlt eine empirische Über- prüfung der Wortschwierigkeiten. In dieser Studie wurde daher ein Korpus von 539 Wörtern an N = 4091 Kindern erster bis vierter Klassen pilotiert. Mithilfe der Item-Response-Theorie wurden Itemparameter dieses Wortpools geschätzt, die erstmalig eine Wortauswahl auf Grundlage em- pirisch gewonnener Wortschwierigkeiten erlauben. Mittels Clusteranalysen wurden die für die Klassenstufen 1 und 2 bzw. 3 und 4 verschiedenen Schwierigkeitskategorien zugeordnet. Eine qualitative Beschreibung der ermittelten Itemcluster erfolgt hinsichtlich der zur korrekten Schreibung der enthaltenen Wörter zugrundeliegenden Rechtschreibprinzipien. Abschließend werden Implikationen für den Einsatz der Mindestwortschatzarbeit in der Schule dargelegt. Schlüsselwörter: Grundwortschatz, Grundschule, Item-Response-Theorie, Rechtschreibstrate- gien, Rechtschreibphänomene “Brav” is difficult, “Vogel” is easy – An analysis of German common mini mum vocabularies in elementary school Abstract The basic vocabulary concept is a significant didactic approach to the acquisition of spelling skills. Although corresponding handouts with minimum vocabularies have been published in almost all federal states in recent years, there is criticism of this approach e. g. due to creation criteria. In the present study, a corpus of 539 words was piloted at N = 4091 elementary students (grade 1-4). Item parameters were estimated using Item Response Theory. This procedure al- lowed a word selection based on empirically derived item difficulties. By means of cluster analyses, the difficulty categories for grades 1 and 2 or 3 and 4 were assigned to different diffi-
280 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal culty levels. A qualitative description of the determined item clusters is given with regard to the spelling principles underlying the correct spelling of the words contained in the clusters. Impli- cations for use at school are set out. Keywords: Basic vocabulary, Elementary School, Item Response Theory, Spelling Strategies, Spelling Phenomena Spätestens mit dem Bildungstrend 2016 sätzen, die das reine Verwenden von An- (Stanat, Schipolowski, Rjosk, Weirich & lauttabellen vorsehen, wie es bspw. im Haag, 2017) ist zu konstatieren, dass es ei- Programm „Lesen durch Schreiben“ (Rei- nen hohen Handlungsbedarf hinsichtlich chen, 2004) vorgenommen wird (bspw. der Entwicklung schriftsprachlicher Kompe- Funke, 2014; Kuhl & Röhr-Sendlmeier, tenzen im deutschen Schulsystem gibt. 2018; Steinig & Betzel, 2013). Eichler und Dem Bericht zufolge erzielten von knapp Brügelmann (2013) stellen daher die Lehr- 30.000 untersuchten Schülerinnen und person in den Fokus, wenn es um den Erfolg Schülern zum Ende der 4. Klasse nur 8.6% eines didaktischen Ansatzes geht: „Für jede im Kompetenzbereich Orthografie den Op- Methode gibt es Beispiele erfolgreichen timalstandard. Demgegenüber steht ein An- Unterrichts. Dieser setzt allerdings voraus, teil von 22.1% an Kindern, welche die Min- dass den Lehrpersonen neben den Potenzi- deststandards nicht erreicht haben (Stanat et alen des jeweiligen Ansatzes auch deren al., 2017). Vergleichsstudien wie IGLU spezifische Risiken bewusst sind – und dass (zum Ende der 4. Klasse) und DESI (in der 9. sie über das didaktisch-methodische Reper- Klasse) unterstützen die Befunde. Die Er- toire verfügen, diese aufzufangen“ (S. 7). gebnisse der IGLU zeigen, dass jedes dritte Gestützt wird diese Aussage auch dahinge- Kind in der vierten Klasse ernste Recht- hend, dass deutlich höhere Streuungen in schreibschwierigkeiten aufweist und ein den Schülerleistungen innerhalb der Me- Viertel der Kinder als rechtschreibschwach thoden zu finden sind als zwischen ihnen bezeichnet werden kann (Valtin, Löffler, (Brinkmann & Brügelmann, 2014). Insofern Meyer-Scheppers & Badel, 2004). Nach den plädieren die Autoren für eine sinnvolle Befunden der DESI-Studie bestehen bei Verknüpfung unterschiedlicher Methoden. 12% der Neuntklässlerinnen und Neunt- Als Reaktion auf die bedenklichen klässlern deutliche Rechtschreibprobleme Rechtschreibkompetenzen vieler Schülerin- (Thomé & Eichler, 2008). Will man Ursa- nen und Schüler haben fast alle Bundeslän- chen für diese Befundlage ergründen, trifft der in jüngster Zeit landesbezogene Grund- man unter anderem auf aktuelle For- wortschätze zur Unterstützung der Lehr- schungsarbeiten, die die Vermutung nahe- kräfte in ihren pädagogischen Bemühungen legen, dass auch ungünstige methodisch-di- konzipiert und veröffentlicht. Die Arbeit mit daktische Überlegungen im schulischen Grundwortschätzen ist eine traditionsreiche Alltag ursächlich für die ungünstigen Recht- und weitläufig bekannte didaktische Me- schreibleistungen der Schülerinnen und thode (Risel, 2008). Auf Basis des Grund- Schüler zu sein scheinen. So geben ver- wortschatzes ist es den Lehrkräften mög- schiedene Ergebnisse verstärkt Grund zum lich, sowohl auf die Lerngruppe angepasste Anlass, verbreitete Vermittlungsansätze zur variationsreiche unterrichtliche Übungen Rechtschreibung im Anfangsunterricht zu und Aufgaben zu realisieren als auch indivi- hinterfragen (z.B. Funke, 2014). Kritik be- dualisierte Förderaufgaben zu entwickeln, steht grundsätzlich an allen verbreiteten Zu- die vom strukturierten Einüben konkreter gängen im Rechtschreibunterricht (Brink- Rechtschreibstrategien und -phänomene bis mann, 2013), insbesondere jedoch an An- hin zu offenen Einheiten, in denen Schüle-
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 281 rinnen und Schüler Muster und Regeln in differenziert aus. Auch heute kommt der der deutschen Rechtschreibung selbst ent- Korpuslinguistik z.B. in der Fremdspra- decken können, reichen. Auf Seite der Lehr- chendidaktik eine bedeutende Rolle zu. kraft bietet ein derartiger Grundwortschatz Die Evaluation der Grundwortschätze Orientierung, um bspw. einzuschätzen, erfolgt jedoch aktuell nicht ausschließ- welche Wörter besonders relevant sind und lich über frequenzorientierte Zugänge wie ihre Schwierigkeit zu beurteilen ist. (Frequenzlisten; z.B. Kaeding, 1898), Letzterer Aspekt erfolgt jedoch derzeit nicht darüber hinaus werden zudem weitere auf Grundlage empirischer Befunde (und Aspekte, wie bspw. die Gebräuchlich- wenn, dann lediglich auf Grundlage der – keit in den Blick genommen (kommuni- z.T. hinterfragenswerten – Nutzungsfre- kativpragmatische oder frequentiell- quenz im Sprachgebrauch), sondern auf kommunikative Zugänge, vgl. Krohn, Basis nicht dokumentierter und damit nicht 1992). eindeutig nachvollziehbarer Kriterien. Ziel • Demgegenüber steht der individuelle des Beitrags ist es daher, ausgehend von ei- Wortschatz. Er umfasst diejenigen Wör- ner Synopse des bundesweiten Standes der ter, über die ein Individuum in seinem ministeriellen Einführung von Grundwort- Sprach- und Schreibgebrauch verfügt. Ist schätzen, den Forschungsstand dahinge- vom individuellen Übungswortschatz hend zu erweitern, als dass erstmalig eine die Rede, sind solche Wörter gemeint, Auswahl von in der Mehrheit der Bundes- die es noch erlernen muss (Richter, länder relevanten Wörtern für den Grund- 1998). Es handelt sich hierbei also um schulunterricht hinsichtlich ihrer Lösungs- einen stark subjektiv gefärbten Wort- schwierigkeit und nicht wie üblich anhand schatz, der nicht nur in seiner Wortaus- ihrer Auftretenshäufigkeit im Sprachge- wahl, sondern zudem in seinem Um- brauch empirisch evaluiert wird. fang stark variiert. • Der Mindestwortschatz (auch Wortbe- Wortschatzarbeit als didaktische Metho- stand, Orientierungswortschatz, Basis- de für Unterricht und Förderung wortschatz oder z.T. auch Grundwort- schatz; z.B. Brinkmann & Brügelmann, Grundlegend müssen verschiedene Termini 2014) ist als Bindeglied zwischen im Zusammenhang mit schulischer Wort- Grund- und individuellen Wortschätzen schatzarbeit differenziert werden: zu verstehen. Es handelt sich dabei um • Der Grundwortschatz beschreibt eine eine Sammlung von Wörtern, deren Menge von Wörtern, welche den Groß- Schreibung bis zu einem fixen Zeitpunkt teil des üblichen Wortgebrauchs aus- (insbesondere zum Ende der Grund- macht. Pfeffer (1975) definiert bspw. ei- schule) von Schülerinnen und Schülern nen Textkorpus von knapp über 1000 beherrscht werden soll. Während ein Wörtern, der – abhängig von der Text- frequenzorientierter Ansatz als Aus- klasse – über 85% des Wortmaterials ab- gangspunkt für die Entwicklung von deckt (Textdeckung). Verbunden mit die- Mindestwortschätzen diente, wird heute sem Ansatz ist nicht der Anspruch auf eher von Modellwortschätzen (auch Vollständigkeit. Orientierungswortschatz) gesprochen, • Der Gesamtwortschatz fällt um ein Viel- welche jedoch auch häufige Wörter, ins- faches größer aus, ist aber in seiner Ge- besondere Funktionswörter umschlie- samtheit nicht (dauerhaft) bestimmbar ßen (Augst, 1990; Spitta, 1983). Dies (Rieger, 1979). Entwicklungen hinsicht- folgt der Logik, dass die Schreibung ein- lich verschiedener Ansätze zur Generie- zelner Wörter als beispielhaft für analog rung von Grundwortschatzkorpora füh- gebildete Wörter erkannt werden soll ren Krohn (1992) bzw. Schnörch (1999) (Mutter → Futter; Land → Hand). Er
282 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal „dient den Schülerinnen und Schülern Zusammenhang auch der Begriff des Orien- in erster Linie anhand geeigneter Bei- tierungswortschatzes eingeführt. spiele, die Regelhaftigkeit der deutschen Die Mehrheit der veröffentlichten Min- Schreibweisen zu erkennen, damit sie destwortschätze umfassen zudem metho- im Laufe der stetigen Erweiterung ihres disch-didaktische Hinweise (z.B. zum struk- aktiven Wortschatzes in der Lage sind, turierten Einführen von Rechtschreibregeln) sich die korrekte Schreibweise immer oder gar konkrete Übungen für die Schüle- neuer Wörter regelbasiert zu erschlie- rinnen und Schüler, um die praktische Ar- ßen“ (Hessisches Kultusministerium, beit im Unterricht zu unterstützen. Als we- 2017, S. 1). sentliche Funktionen der Arbeit mit Min- dest- bzw. Modellwortschätzen werden fol- Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf gende Aspekte angeführt (Ministerium für den Ansatz eines Mindest- bzw. Modell- Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklen- wortschatzes als didaktisches Mittel im burg-Vorpommern, 2016; Niedersächsi- Rechtschreibunterricht der Grundschule. sches Kultusministerium, 2015): Derartige Vorgehensweisen waren insbe- • Hilfestellung für Lehrpersonen, altersan- sondere in der DDR (Riehme, 1987), später gemessene schriftsprachliche Kompe- auch in westdeutschen Bundesländern tenzen der Schülerinnen und Schüler zu (Sennlaub, 1985; Naumann, 1987) vertre- sichern ten. Als Begründung hierfür wurde die z.T. • Implementierung der Rahmenpläne und eingeschränkte Regelhaftigkeit in der deut- Bildungsstandards im Deutschunterricht schen Orthografie (viele Regeln mit häufig • Entwicklung individueller Verfahren zur jeweils verschiedenen Ausnahmen) ange- Leistungsfeststellung führt (Brinkmann & Brügelmann, 2014). • Gezielte Erarbeitung spezifischer Recht- schreibphänomene Die Bedeutung von Mindestwortschät- • Bereitstellung von Material für Schüle- zen in den Bundesländern rinnen und Schüler zum eigenständigen Erkennen von Strukturen der Schriftspra- Aktuell erfahren Mindestwortschätze erneut che und der Ableitung von Regeln eine wachsende Bedeutung in den Bundes- ländern. Es ist zu beobachten, dass in den Insgesamt werden in den zuvor aufgeführ- letzten Jahren in fast allen Bundesländern ten Wortschätzen der Bundesländer 1915 Mindestwortschätze eingeführt wurden Wörter explizit gelistet. Als Schnittmenge (vgl. Tabelle 1). Es handelt sich dabei um aller verfügbaren Wortschätze lassen sich Sammlungen von Wortmaterial, welches jedoch lediglich 8 Wörter ausmachen (vgl. die Wörter ausweist, die besonders häufig Abbildung 1). Auffällig ist zudem ein großer im Sprach- und Schriftgebrauch von Er- Anteil von N = 724 Wörtern, die lediglich wachsenen als auch Grundschulkindern zu einmal in einem der 12 Grundwortschätze finden sind bzw. dafür besonders wichtig aufgeführt werden. Festzuhalten ist dabei, erscheinen (Sennlaub, 1983). Mehrheitlich dass 579 davon den Beispielwörtern des wird jedoch neben diesem frequentiellen Orientierungswortschatzes Niedersachsens Ansatz darauf hingewiesen, dass die darge- entstammen. botenen Wörter als Modell für umfassende- re Phänomene und Strategien der Recht- schreibung anzusehen sind („Modellwör- ter“). Dies findet insbesondere Betonung in Niedersachsen (Niedersächsisches Kultus- ministerium, 2015). Hier wird in diesem
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 283 Tabelle 1:Überblick über die Verfügbarkeit von Mindestwortschätzen in den Bundesländern Bundesland Anzahl der Anmerkungen In Anwendung Wörter im seit Mindest- wortschatz Baden- - Keine Angaben zu finden - Württemberg Bayern 973 Unterscheidung in häufig gebrauchte Mai 2014 Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie Jahrgangsstufen 3 und 4 Berlin 858 Unterscheidung in häufig gebrauchte August 2011 Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie Jahrgangsstufen 3 und 4; als Schülerma- terial aufgelegt; orientiert an Bayern Brandenburg 841 Unterscheidung in häufig gebrauchte November 2011 Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie Jahrgangsstufen 3 und 4; orientiert an Bayern Bremen 324 Obwohl ca. 800 Wörter ausgewiesen Oktober 2015 werden, sind nur 324 explizit benannt Hamburg 1108 Auch als digitaler Basiswortschatz 2014 verfügbar Hessen 741 Unterscheidung in Funktionswörter, Juni 2017 Modellwörter 1/2 und Modellwörter 3/4 Mecklenburg- 749 Unterscheidung in Jahrgangsstufen 1 August 2016 Vorpommern und 2 sowie Jahrgangsstufen 3 und 4; orientiert an Bayern Niedersachsen 1108 Orientierungswortschatz statt Grund- 2015 (explizit als wortschatz; Unterteilung nach Schwie- beispielhaft rigkeitsgrad; Zugang zu einer elektroni- ausgewiesen) schen Orientierungsliste mit 3.300 Wörtern für hiesige Schulen Nordrhein- 533 Mittels eines interaktiven Wortfilters Schuljahr Westfalen können gezielt Wörter nach Recht- 2019/20 schreibprinzipien sowie Wortarten und weiteren Aspekten gefiltert werden Rheinland-Pfalz 858 Orientiert an Berlin s. o. Saarland - Keine Angaben zu finden - Sachsen 100 Lediglich Anzahl häufiger Wörter im - Lehrplan ausgewiesen Sachsen-Anhalt 100 Lediglich Anzahl häufiger Wörter im - Lehrplan ausgewiesen Schleswig- 825 Orientiert an Hessen; Unterscheidung in September 2018; Holstein Funktionswörter, Modellwörter 1/2 und verbindlich zum Modellwörter 3/4; wissenschaftliche Schuljahr Begleitung an 10 Schulen 2019/20 Thüringen - Keine Angaben zu finden - Anmerkungen. Da die Veröffentlichung des Mindestwortschatzes von Nordrhein-Westfalen erst zum Ende der Arbeit an diesem Beitrag erfolgte, konnte das Wortmaterial bei den weiteren Analysen nicht berück- sichtigt werden.
284 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal Abbildung 1: Worthäu- figkeit in den Wort- schätzen der Bundes- länder (N = 12). Da die Veröffentlichung des Mindestwortschatzes von Nordrhein-Westfa- len erst zum Ende der Arbeit an diesem Bei- trag erfolgte, konnte das Wortmaterial bei den weiteren Analysen nicht berücksichtigt werden. Kritik an der Arbeit mit Mindestwort- werden sollte (Brinkmann & Brügel- schätzen mann, 2014). c) … diese Handreichungen aus sprach- Wenngleich das Engagement der Bundes- wissenschaftlicher Perspektive teilweise länder, den Lehr-Lern-Prozess durch diffe- Fehler beinhalten (Siekmann, 2018). renziert ausgearbeitete Mindestwortschätze d) … die Wortauswahl offenbar jeweils zu unterstützen, positiv zu bewerten ist, aufgrund praktischer Überlegungen ge- bleibt jedoch kritisch anzumerken, dass troffen wurde. Empirische Ansätze zur a) … das Wortmaterial nie vollständig den Wortauswahl beschränken sich lediglich gebräuchlichen Wortschatz von Schüle- auf frequentielle Aspekte hinsichtlich rinnen und Schülern abbildet und man der Stellung eines Lemmas im Sprachge- dahingehend kritisch fragen kann, ob brauch (Krohn, 1992). Bislang scheinen die Arbeit mit diesen Mindestwortschät- keine Befunde empirischer Untersu- zen sinnvoll ist (Ulrich, 2010). chungen zu den Itemstatistiken des ver- b) … die Wortauswahl sich zum Teil nicht wendeten Wortmaterials berücksichtigt mit den gebräuchlichen Wörtern von worden zu sein, obwohl hierin ein (wei- Grundschülerinnen und Grundschülern terer) wichtiger Aspekt zur Auswahl und deckt (Siekmann, 2018). Dabei bleibt Strukturierung der Wörter zu sehen ist. anzumerken, dass die Wortauswahl Insbesondere Angaben zu Schwierigkei- nicht lediglich nach Verwendungshäu- ten der Wörter stellen hier einen großen figkeit (Vorkommen in einer Text-Stich- Mehrwert dar. probe) erfolgen sollte, sondern zudem um die Verwendungsbreite (Personenan- Während die Aspekte a) und b) in vielen der teil, der das Wortmaterial nutzt) ergänzt verfügbaren Handreichungen direkt aufge-
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 285 griffen werden (kein kontextfreies Vokabel- der Einsatz von Funktionswörtern in ei- lernen, stattdessen vielfältige Wortschatzar- nem Wortdiktat zu hinterfragen) und beit anhand von Wörtern mit Modellcha- • 10 ließen keine eindeutige Aussage über rakter, um Regelhaftigkeiten zu erkennen / die korrekte Schreibweise in einem zu erklären, ergänzt um schüler- bzw. klas- Wortdiktat zu (bspw. „paar“ oder senspezifisches Wortmaterial), gibt der ge- „Paar“). nannte Aspekt c) Grund zum Anlass, diese Dokumente erneut kritisch zu prüfen. Der Im Resultat wurden insgesamt 539 relevan- vorliegende Beitrag greift den zuletzt ge- te Wörter identifiziert. Abschließend wur- nannten Aspekt d) auf. Ziel der empirischen den die Elemente des Wortpools den Klas- Studie ist es daher, Indikatoren zur Bestim- senstufen 1 und 2 bzw. 3 und 4 zugeordnet. mung der Schwierigkeit häufiger Wörter für Grundlage dieser Zuordnung stellen – so- den Grundschulunterricht zu ermitteln. fern vorhanden – die Ausführungen der ge- Diese ergeben sich zum einen aufgrund in- sichteten Mindestwortschätze der Bundes- haltlicher Überlegungen zu Rechtschreib- länder dar. strategien und -phänomenen und können Zur Pilotierung der ermittelten Wörter zum anderen empirisch erhoben werden. wurden diese mittels eines Multi-Matrix- Beide Ausgangspunkte werden im Rahmen Designs (Mislevy, Beaton, Kaplan & Shee- dieser Studie genutzt. han, 1992) jeweils getrennt nach Klassen- stufe auf unterschiedliche Wortlisten ver- teilt. Diese Wörter wurden der Stichprobe als Wortdiktate durch die in den Klassen Methodik unterrichtenden Lehrkräfte dargeboten. Die Auswertung der Ergebnisse der Kinder er- Vorgehen folgte durch geschulte studentische Hilfs- Zur Definition des Wortkorpus wurde in der kräfte. Dabei wurde jeweils vermerkt, ob vorliegenden Studie eine Schnittmenge ver- ein Wort richtig oder falsch geschrieben schiedener geltender Grundwortschatzlis- wurde. ten gebildet (vgl. Tabelle 1). Der Fokus lag Das verwendete Multi-Matrix-Design dabei nicht darauf, möglichst alle in den sah vor, dass jede Wortliste über einen An- Handreichungen der Bundesländer aufge- teil identischer Wörter innerhalb einer Klas- führten Wörter (N = 1915) aufzunehmen, senstufe und jeweils aufeinanderfolgender sondern im Sinne eines Modellwortschatzes Klassenstufen verfügte. Insgesamt wurden eine Auswahl mit beispielhaftem Charakter 275 der Wörter zur Verlinkung eingesetzt, zu treffen. Dazu wurde entschieden, dass 98 über die Klassenstufen hinweg und 177 alle Wörter miteinbezogen werden, die in innerhalb der Klassenstufen. Zur Auswahl der Mehrheit der geläufigen Wortschatzlis- dieser Ankeritems wurde auf eine bestimm- ten aufgeführt sind, d. h. die 650 Wörter, die te Verteilung zu beachtender Rechtschreib- in zumindest sieben der zwölf Grundwort- phänomene geachtet, sodass eine Streuung schatzlisten (vgl. Tabelle 1) vorkommen. der Itemschwierigkeiten über die Anker- Aus diesem Wortmaterial wurden mehrere items angenommen werden kann. In Klasse Wörter aus unterschiedlichen Gründen eli- 1 wurden demnach insbesondere (aber miniert: nicht ausschließlich) lautgetreue kurze • Bei 89 waren Ableitungen bereits vor- Wörter genutzt, in Klasse 2 vorwiegend handener Wörter (bspw. Pluralbildun- lautgetreue komplexere oder häufige Wör- gen), ter sowie Wörter mit Mehrfachkonsonanz, • 12 waren Funktionswörter (aufgrund in Klasse 3 Wörter mit doppeltem Mitlaut, fehlender lexikalischer Bedeutung, ist Komposita, Dehnungs-h oder den Konso- nantenverbindungen ck oder tz, in Klasse 4
286 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal Wörter mit Doppelvokal, der Konsonanten- te euklidische Distanz) ohne Vorgabe der verbindung chs, Adjektive mit Endung -ig Clusteranzahl die entsprechende Menge oder Fremdwörter. der vermuteten Cluster ermittelt. Anschlie- Anhand dieser Ankeritems konnte später ßend wurde unter Festlegung der zuvor er- ein übergreifend verlinkter Datensatz gene- mittelten Zielclusterzahl eine Clusterzent- riert werden, der eine Ermittlung psycho- renanalyse (K-Means-Clusteranalyse) auf metrischer Kennwerte für alle Items auf Ba- Basis des Gesamtdatensatzes berechnet. sis der Gesamtstichprobe ermöglichte. Ob es sich jeweils um distinkte Clustergrup- Hierzu wurde in einem ersten Schritt eine pen handelt, wurde in einem dritten Schritt Skalierung nach der Item-Response-Theorie anhand von nach Klassenstufe 1 und 2 bzw. über alle Items vorgenommen. Da die vor- 3 und 4 getrennten Varianzanalysen geprüft liegende Datenmatrix eine binäre Codie- (abhängige Variablen: Itemparameter σ; un- rung in „richtig gelöst“ bzw. „falsch gelöst“ abhängige Variable: Clusterzugehörigkeit). aufweist, wurde ein dichotomes Rasch-Mo- Abschließend erfolgt eine qualitative Be- dell zugrunde gelegt. Die Rasch-Analysen schreibung der resultierenden Cluster. In wurden mit dem Statistikprogramm R (R Anlehnung an das Kompetenzstufenmodell Core Team, 2013) mithilfe des Pakets pair- der Kultusministerkonferenz (2014) werden wise (Heine, 2014) durchgeführt. Die Mo- hierzu die Anteile der Wörter aller Cluster, dellpassung der Items wurde anhand ihrer die Lupenstellen entsprechend dem phono- geschätzten Infit-Werte beurteilt. Auf die graphischen (z.B. regelhaft phonographi- Analyse der Outfit-Statistiken wurde dabei sche Schreibung), dem silbischen (z.B. ver- verzichtet, da diese – gemäß Linacre (2002) doppelter Vokal), dem morphologischen – sensibler auf Ausreißer reagieren und da- (z.B. Auslautverhärtung bei Flexion) bzw. mit für die vorliegende Untersuchung weni- dem syntaktischen Prinzip (Großschreibung ger aussagekräftig sind als die Infit-Werte. bestimmter Wortarten) beinhalten (vgl. Zur weiteren Analyse der Güte der Items auch Furhop, 2015) berichtet. Sofern ein wurden gängige Itemstatistiken (Schwierig- Wort mehrere Lupenstellen umschließt, keit, Trennschärfe) berechnet, wobei sich wird es mehrfach berücksichtigt. die Itemschwierigkeiten aus den im Rasch-Modell nach Thurston geschätzten Stichprobe Schwellenwerten (σ; z-skaliert) und die Trennschärfen als punktbiseriale Korrelatio- Zur Pilotierung des generierten Wortpools nen der Items mit dem jeweiligen Gesamt- wurde insgesamt 4091 Kindern aus 192 ers- wert (rpbis) ergeben. Mittels der ermittelten ten bis vierten Klassen aus 24 Schulen je- Fit-Statistiken sowie der geschätzten Item- weils eine Auswahl entsprechenden Wort- schwierigkeiten und Trennschärfen wurde materials als Wortdiktat dargeboten. Um sodann entschieden, welche Items, auf- möglichst repräsentative Daten zu erhalten, grund ungünstiger Werte, aus dem Itempool wurden Grundschulen in ländlichen, klein- eliminiert werden mussten. städtischen sowie städtischen Regionen ge- In einem zweiten Schritt sollten Schwie- wählt. In dieser Studie war es aufgrund da- rigkeitskategorien separiert werden. Ge- tenschutzrechtlicher Einwände seitens der trennt für die Klassenstufen 1 und 2 bzw. 3 Schulen und Eltern nicht möglich, Angaben und 4 wurden hierzu Clusteranalysen (Ba- zum Migrations- oder sozioökonomischen cher, Pöge & Wenzig, 2010) durchgeführt. Hintergrund der getesteten Schülerinnen In die Clusteranalysen gingen die anhand und Schüler zu erhalten. Die Stichproben- der Rasch-Skalierung geschätzten Schwie- zusammensetzung in den unterschiedli- rigkeitsparameter aller Items ein. Zunächst chen Klassenstufen ist Tabelle 2 zu entneh- wurde mittels hierarchischer Clusteranalyse men. (Clustermethode: Ward-Methode, quadrier-
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 287 Tabelle 2: Charakteristika der Stichprobe getrennt nach Klassenstufe Klassenstufe N Alter Anteil Mädchen Anzahl Klassen 1 1066 17;6 Jahre 48.6 % 48 2 1062 18;7 Jahre 51.0 % 52 3 0984 19;9 Jahre 46.8 % 48 4 0979 11;1 Jahre 51.7 % 44 Ergebnisse Analyse von Schwierigkeitsclustern Analyse der Itemstatistiken Da die Verteilungen der Itemschwierigkei- Von den ursprünglich 539 pilotierten Wör- ten σ innerhalb des Gesamtwortpools sowie tern wurden 46 Wörter aufgrund zu gerin- getrennt nach den Klassenstufen 1 und 2 ger Schwierigkeit (Lösungsrate bei 100%), bzw. 3 und 4 sehr breit ausfielen (vgl. Tabel- zu geringer Trennschärfe (rpbis < 0.2) oder le 3 bzw. Tabelle 4), wurde anhand von aufgrund einer ungenügenden Passung zum Clusteranalysen untersucht, inwieweit jeder Rasch-Modell (0.7 < Infit < 1.3; Bond & Wortpool (Klassenstufe 1 und 2 vs. Klassen- Fox, 2015) aus dem Gesamtwortpool elimi- stufe 3 und 4) aus nach Itemschwierigkeit niert, damit dieser auch als Grundlage zur getrennten Subkategorien besteht. Die Er- Generierung von Testinstrumenten geeignet gebnisse von hierarchischen Clusteranaly- ausfällt. Insgesamt erwiesen sich 493 Wör- sen (Ward-Methode, quadrierte euklidische ter unter psychometrischen Gesichtspunk- Distanz) deuteten auf eine 4-Cluster-Lösung ten als passend. Die differenzierte Analyse in Klassenstufe 1 und 2 sowie eine 5-Clus- der Itemschwierigkeiten zeigt, dass sowohl ter-Lösung in Klassenstufe 3 und 4 hin. Die die mittleren Schwierigkeiten als auch die Ergebnisse der anschließenden Clusterzent- Standardabweichungen über die Klassen- renanalysen (K-Means-Clusteranalysen) stufen hinweg ansteigen (vgl. Tabelle 3). werden in Tabelle 4 dargestellt. Es sind je- Eine ANOVA zum Einfluss der Klassenstufe weils die Anteile als auch die mittleren auf die Itemschwierigkeit der Wörter weist Itemschwierigkeiten der einzelnen Cluster- einen signifikanten Haupteffekt aus zentren aufgeführt. (F(3,489) = 153.97, p < .001, η = .483). Die Über beide Klassenstufenbereiche (1 Post-Hoc-Tests nach Bonferroni offenbaren und 2 vs. 3 und 4) gibt es sowohl leichte als unterschiedliche Itemschwierigkeiten zwi- auch schwere Wörter. Die Verteilungen der schen den Klassenstufen. Ausnahme bilden Cluster 1 weisen zwischen den Klassenstu- hier die Itemstatistiken zwischen den Klas- fenbereichen Ähnlichkeiten auf. Es handelt senstufen 1 und 2, hier fallen die Schwierig- sich um sehr leichte Wörter, z.B. Hase oder keiten im Mittel gleich aus. Vogel. Weitere Analogien in den Verteilun- Tabelle 3: Verteilungen der Itemschwierigkeiten getrennt nach Klassenstufe Klassenstufe N Items M SD Min Max 1 45 −1.46 0.72 −2.76 0.57 2 170 −1.24 1.00 −3.86 2.44 3 178 0.14 1.19 −2.98 2.87 4 100 1.44 1.23 −1.12 3.78
288 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal gen lassen sich auch zwischen Cluster 3 der den jeweils nach Klassenstufenbereichen Klassenstufen 1 und 2 sowie Cluster 2 der gebildeten Clustern um in ihrer Schwierig- Klassenstufen 3 und 4 finden. Es handelt keitsausprägung verschiedene Wortcluster sich um noch eher leichte Items, wie kom- handelt. Dies gilt sowohl für den Wortpool men bzw. kratzen. Erwartungskonform ist in der Klassenstufen 1 und 2 als auch den Klassenstufe 1 und 2 der Bereich leichter Wortpool der Klassenstufen 3 und 4. Items weiter ausdifferenziert, so weisen drei der vier Cluster eine mittlere Itemschwierig- Qualitative Beschreibung der keit von σ < 0 auf, in Klassenstufe 3 und 4 Schwierigkeitscluster sind es zwei der fünf Cluster. Auffällig ist der Cluster 5 in Klassenstufe 3 und 4. Hier Eine qualitative Veranschaulichung erfolgt sind ausschließlich sehr schwere Wörter auf Grundlage einer Zuordnung zu Recht- (σ > 2) wie bspw. bequem oder brav. schreibprinzipien nach Furhop (2015), die Varianzanalytisch (Tabelle 4, letzte Zei- auch den Bildungsstandards zugrunde lie- le) konnte bestätigt werden, dass es sich bei gen (vgl. Abbildung 2). Über die Cluster 1-4 Tabelle 4: Ergebnisse der Clusterzentrenanalysen der nach IRT ermittelten Itemschwierigkeiten für die beiden Wortpools (Klassenstufe 1 und 2 vs. Klassenstufe 3 und 4); die Cluster sind geordnet von „leicht“ bis „schwer“ Parameter Klassenstufe 1 und 2 Klassenstufe 3 und 4 N (% vom Gesamtwortpool) 215 (43.61) 278 (56.39) mittlere Itemschwierigkeit σ Wortpool -1.35 (0.97) 0.54 (1.33) (Standardabweichung) Range -3.95 – -2.36 -3.07 – 3.72 N (% vom Gesamtwortpool) 42 (8.52) 20 (4.06) Clusterzentrum mittlere Itemschwie- Cluster 1 -2.65 (0.43) -2.08 (0.50) rigkeit σ (Standardabweichung) Range -3.95 – -2.14 -3.07 – -1.43 N (% vom Gesamtwortpool) 84 (17.04) 60 (12.16) Clusterzentrum mittlere Itemschwie- Cluster 2 -1.66 (0.25) -0.65 (0.35) rigkeit σ (Standardabweichung) Range -2.13 – -1.22 -1.39 – -0.18 N (% vom Gesamtwortpool) 71 (14.40) 93 (18.86) Clusterzentrum mittlere Itemschwie- Cluster 3 -0.73 (0.30) 0.36 (0.30) rigkeit σ (Standardabweichung) Range -1.18 – -0.88 -0.17 – 0.88 N (% vom Gesamtwortpool) 18 (3.65) 73 (14.81) Clusterzentrum mittlere Itemschwie- Cluster 4 0.66 (0.56) 1.49 (0.35) rigkeit σ (Standardabweichung) Range 0.03 – 2.36 0.92 – 2.07 N (% vom Gesamtwortpool) - 32 (6.49) Clusterzentrum mittlere Itemschwie- Cluster 5 - 2.80 (0.43) rigkeit σ (Standardabweichung) Range - 2.16 – 3.72 Haupteffekt ANOVA über die F(1,211) = 508.24, F(1,273) = 877.56, Schwierigkeitscluster p < .001, η2 = .878 p < .001, η2 = .928
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 289 wird eine Abnahme der Anteile von Wör- ter zu verzeichnen. In den schwereren Clus- tern mit Lupenstellen gemäß dem phono- tern fällt der Anteil von Nomen geringer aus graphischen Prinzip (regelhaft lautgetreue und wird abgelöst durch einen höheren An- Wörter) in den Klassenstufen 1 und 2 deut- teil von Adjektiven, Adverbien und Kon- lich. Wörter mit Lupenstellen entsprechend junktionen. des silbischen sowie morphologischen Prin- Weiterhin zeigt sich, dass bei der Ver- zips kommen, bis auf die Ausnahme des schriftlichung der Wörter der Klassenstufen silbischen Prinzips in Cluster 4, vergleichs- 3 und 4 häufiger mehr Rechtschreibprinzi- weise selten vor (5.6% bis 15.5%). In Clus- pien angewendet werden müssen (im Mittel ter 4 ist innerhalb der Klassenstufen 1 und 2 1.6 bis 1.9 Prinzipien) als in den Klassen- ein höherer Anteil der Wörter mit Lupen- stufen 1 und 2 (im Mittel 1.3 bis 1.5 Prinzi- stellen entsprechend des silbischen Prinzips pien). Ebenso nimmt der Anteil von langen (44.4%) zu verzeichnen. Anteile von Wör- Wörtern über die Cluster innerhalb der tern, die gemäß des syntaktischen Prinzips Klassenstufen, jedoch auch über die Klas- groß geschrieben werden müssen, fallen senstufen hinweg zu (Wortlänge Klassenstu- über die Cluster der Klassenstufe 1 und 2 fen 1 und 2: Mittelwert zwischen 4.3 und hinweg relativ konstant (27.8% bis 36.9%) 5.4, Standardabweichung zwischen 1.5 aus. und 1.7; Wortlänge Klassenstufen 3 und 4: In den Klassenstufen 3 und 4 liegen die Mittelwert zwischen 5.4 und 7.3, Standard- Anteile der Wörter mit Lupenstellen ent- abweichung zwischen 1.1 und 2.3). sprechend der vier Rechtschreibprinzipien zwischen 20% und 50%. Höher fällt das Vorkommen von Wörtern aus, bei deren Verschriftung das silbische (Cluster 1), das Diskussion phonographische (Cluster 5) oder das syn- taktische Prinzip (Cluster 1-3) berücksich- Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass tigt werden muss. Generell ist ein Abfall der man mit einem relativ kleinen Wortpool ei- Anteile von Wörtern, die dem syntaktischen nen verhältnismäßig großen Anteil von Tex- Prinzip zugeordnet werden, über die Clus- ten umschreiben kann (Spitta, 2000), er- 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Cluster 4 Cluster 1 Cluster 2 Cluster 3 Cluster 4 Cluster 5 Klassenstufe 1 und 2 Klassenstufe 3 und 4 Phonographisches Prinzip Silbisches Prinzip Morphologisches Prinzip Syntaktisches Prinzip Abbildung 2: Prozentuale Anteile von Wörtern mit Lupenstellen entsprechend dem phonographi- schen, dem silbischen, dem morphologischen sowie dem syntaktischen Prinzip getrennt nach Klas- senstufenbereichen und Clustern.
290 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal scheint die Arbeit mit einem Mindestwort- den, im Wortpool der Klassenstufe 3 und 4 schatz im Grundschulunterricht sehr sinn- sind dafür mehr Wörter mit größerer Wort- voll (Siekmann, 2018). länge sowie komplexerem Aufbau (im Sin- Zwar sind die Bestrebungen der Länder, ne mehrerer Rechtschreibprinzipien, die Mindestwortschätze und teilweise didakti- bei der Verschriftung beachtet werden müs- sche Anregungen bis hin zu konkreten Un- sen) zu finden. Jedoch weisen die Cluster- terrichtsanregungen zur Verfügung zu stel- analysen auch komplexere Wörter dem len, als sehr hilfreich für den praktischen Wortpool der Klassenstufe 1 und 2 bzw. Einsatz im Deutschunterricht der Grund- eher leichte Wörter dem Wortpool der Klas- schule einzuschätzen, es muss jedoch fest- senstufe 3 und 4 zu. Damit unterstützen die gehalten werden, dass die Auswahl des Ergebnisse der vorliegenden Studie die An- Wortmaterials der Korpora sehr unter- nahme einer hierarchischen Parallelität un- schiedlich ausfällt und in den meisten Fäl- terschiedlicher Phasen des Schriftspracher- len nicht hinreichend nachvollziehbar be- werbs (Eichler, 1976). D. h., dass Kinder schrieben ist. zeitgleich verschiedene Schreibungen von Der vorliegende Beitrag hat sich zum Phänomenen unterschiedlicher Phasen vor- Ziel gesetzt, den Fachdiskurs um die Arbeit nehmen, wobei jeweils von der Dominanz mit Mindestwortschätzen um eine empiri- einer Phase auszugehen ist (Thomé, 2006). sche Grundlage zu ergänzen. In der vorlie- Ausgehend von dieser Annahme scheint genden Studie wurde hierzu ein Wortpool eine parallele Berücksichtigung unter- von 539 grundschulrelevanten Wörtern ge- schiedlicher Rechtschreibprinzipien im Un- bildet. Ausgangspunkt stellte eine Zusam- terricht auch im frühen Grundschulalter menschau der verfügbaren Mindestwort- möglich und sinnvoll. schätze der deutschen Bundesländer sowie Methodenkritisch sei angemerkt, dass deren Wortkorpora dar. Eine Pilotierung der aufgrund datenschutzrechtlicher Bestim- in den Mindestwortschätzen häufig verwen- mungen innerhalb der Stichprobe keine Er- deten Wörter im Multi-Matrix-Design und fassung sonderpädagogischer Förderbedar- eine anschließende Auswertung auf Grund- fe oder des Migrationshintergrundes statt- lage der Item-Response-Theorie (eindimen- fand. Damit bleibt offen, inwieweit die Be- sionales Rasch-Modell) gestattete die Schät- funde für die hier untersuchte Gesamtgrup- zung von Itemschwierigkeiten über die ge- pe auf die Teilgruppe der Schülerinnen und samte Stichprobe von Kindern erster bis Schüler mit sonderpädagogischem Förder- vierter Grundschulklassen. Aus psychomet- bedarf oder Migrationshintergrund über- rischer Sicht konnten 493 Wörter als geeig- tragbar sind oder ob hier differentielle Be- net identifiziert werden. Aufgrund hoher funde, ggf. sogar innerhalb der unterschied- Streuungen der Wortschwierigkeiten, selbst lichen Förderschwerpunkte, vorgelegen bei differenzieller Betrachtung auf Klassen- hätten. Zudem ist die Regionalität der Stich- stufenebene, wurde der Wortpool in sich in probe einschränkend anzumerken. Zwar ist ihrer Schwierigkeit unterscheidende Item- der Stichprobenumfang beachtlich und um- cluster separiert. Hierzu erfolgte eine Un- fasst verschiedene Sozialräume, bezieht terscheidung in die Klassenstufenbereiche 1 sich jedoch lediglich auf ein Bundesland. und 2 sowie 3 und 4 (analog zur Einteilung Das ist hinsichtlich der Generalisierbarkeit der Mindestwortschätze in mehreren Bun- der vorliegenden Befunde insofern zu be- desländern). In jedem der beiden gebilde- rücksichtigen, als dass erhebliche Unter- ten Wortpools (Klasse 1/2 vs. Klasse 3/4) schiede im Kompetenzbereich Orthografie sind jeweils leichte als auch schwere Item- im Bundesländervergleich bestehen (Stanat cluster festzustellen. Erwartungskonform et al., 2017). sind im Wortpool der Klassenstufe 1 und 2 Die hier vorgestellten Befunde ergeben anteilmäßig eher lautgetreue Wörter zu fin- sich auf der Basis von Itemschwierigkeiten,
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze 291 die sich durch die binäre Zuordnung in dere für Ausnahmefälle allgemeiner Re- „richtig geschriebenes Wort“ bzw. „falsch geln. Ältere empirische Befunde weisen geschriebenes Wort“ ergeben. Es ist fachdi- auf einen Übungseffekt bei der Arbeit daktischer Konsens, dass zur Erfassung or- mit Wortschätzen hin, der jedoch nicht thografischer Kompetenz und Ableitung pä- bzw. nur bedingt generalisiert wird (s. dagogischer Konsequenzen nicht nur wort- zusammenfassend Brinkmann & Brügel- bezogene Fehler gezählt werden sollten (im mann, 2014). Bei der Arbeit mit Wort- Sinne einer quantitativen Auszählung). listen sollte daher in erster Linie der Mo- Wichtig ist eine qualitative Fehleranalyse dellcharakter der Wörter erarbeitet und der Lupenstellen innerhalb eines Wortes, betont werden (Hessisches Kultusminis- um zu erkennen, welche orthografischen terium, 2017; Niedersächsisches Kultus- Prinzipien die Schülerinnen und Schüler ministerium. 2015). bereits bzw. noch nicht beherrschen. Dies 2. Die Arbeit mit einem Mindestwortschatz bildet wiederum die Voraussetzung für eine darf nicht als der ausschließliche Ver- gezielte Förderung. Um Lehrkräfte bei die- mittlungsansatz für Rechtschreibkompe- ser Arbeit zu unterstützen, wurde auf tenzen verstanden werden. Im Sinne ei- Grundlage der hier pilotierten sowie weite- ner Methodenpluralität sollte in Abhän- rer psychometrisch geeigneter Wörter ein gigkeit von den Lernausgangslagen der Konzept zur multimodalen Diagnostik der Schülerinnen und Schüler eine Kombi- Rechtschreibleistungen von Grundschul- nation verschiedener didaktischer Kon- kindern erarbeitet, welches bei der indivi- zepte erfolgen (z.B. Brinkmann & Brü- dualisierten Förderung unterstützen soll gelmann, 2014). Risel (2008, S. 95) be- (Voß, Blumenthal, Ehrich & Mahlau, 2020) schreibt neben dem Grundwortschatz- und auf dem Internetportal www.lernlinie. konzept drei sachlogische didaktische de kostenfrei bereitgestellt wird. Automati- Konzepte zum Rechtschreiberwerb: Sil- siert werden die Schreibweisen der Schüle- benkonzepte (Zergliederung von Wör- rinnen und Schüler für die Wörter des hin- tern in kleinere Einheiten, z.B. Silben- terlegten Wortpools ausgewertet und zu ei- schwingen, Silbengliederung durch nem Profil zusammengefasst. Dazu werden farbliche Markierungen oder Silbenbö- verschiedene nach wissenschaftlichen Stan- gen im Text), Regelkonzepte (einzelheit- dards geprüfte Testinstrumente zur Lernver- liches Erarbeiten und Einüben spezifi- laufsdiagnostik (frei nutz- und modifizierbar scher orthografischer Phänomene und nach Creative Commons CC BY NC SA 4.0) Regeln) sowie den Spracherfahrungsan- bereitgestellt, es können jedoch auch eige- satz (eigenständige Abstraktion/Rekonst- ne Wörter und Texte verarbeitet werden. ruktion allgemeiner Muster im Schrift- Das Tool bietet erhebliches Potenzial für die system aus situativen Erfahrungen). Wortschatzarbeit im schulischen Alltag. In 3. Auszählungen von freien Schülertexten diesem Zusammenhang sei jedoch auf ver- deuten darauf hin, dass als vermeintlich schiedene Bedeutsamkeiten und Implikati- häufig auftretend angenommene Phäno- onen bei der Arbeit mit Mindestwortschät- mene deutlich seltener im Schriftge- zen im Grundschulunterricht hingewiesen: brauch von Schülerinnen und Schülern 1. Die Arbeit mit Wortschatzlisten wird im vorkommen (Siekmann & Thomé 2012; Fachdiskurs zu Recht kritisiert, wenn sie Siekmann, 2018). Dies hat Auswirkun- als bloßes Auswendiglernen von Wort- gen auf die Einführung verschiedener material verstanden und umgesetzt Rechtschreibphänomene. Siekmann wird. Es ist unumstritten, dass einzelne (2018) verdeutlicht dies am Beispiel des Wortschreibweisen durch wiederholen- Lautes /f/. Dieser kann auf vier unter- de Übung automatisiert und memori- schiedliche Weisen verschriftet werden: siert werden müssen. Dies gilt insbeson- , , oder . Entgegen der
292 Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal Annahme ist nicht die Doppelkonso- zeptionelle_Grundlagen_Rechtschreibun- nanz ( ca. 2%) das häufigste Phäno- terricht.pdf. men neben dem (ca. 80%), sondern Brinkmann, E. (2003). „Farrat da war nichz das (ca. 20%). Schwirich...“ In E. Brinkmann, N. Kruse & 4. Die Auswahl von Wortmaterial für den C. Osburg (Hrsg.), Kinder schreiben und Unterricht sollte nicht ausschließlich auf lesen. Beobachten – Verstehen – Lehren (S. empirischer Grundlage (Wortfrequenz 147-154). Freiburg: Fillibach. oder -schwierigkeit) getroffen werden. Brinkmann, E. (2013). Wie kann man Kinder Insbesondere sind Interessen der Kinder auf dem Weg zum Rechtschreiben unter- – im Sinne eines lebensweltbezogenen stützen? Stärken und Schwächen verschie- Unterrichts – zu berücksichtigen. So ist dener Konzeptionen des Rechtschreibun- eine Ergänzung eines Mindestwortschat- terrichts. Grundschule aktuell, 123, 9-13. zes um persönlich bedeutsame oder be- Eichler W. (1976). Zur linguistischen Fehler- sonders fehlerträchtige Wörter hin zu analyse von Spontanschreibungen bei Vor- einem individuellen oder klassenbezo- und Grundschulkindern. In A. Hofer genen Übungswortschatz sinnvoll (Hrsg.), Lesenlernen: Theorie und Unter- (Brinkmann & Brügelmann, 2014; Rich- richt (246–264). Düsseldorf: Schwann. ter, 1998; Sächsisches Staatsinstitut für Eichler, W. & Brügelmann, H. (2013). Lese- Bildung und Schulentwicklung, 2009; und Schreibunterricht heute: Gegen ideo- Siekmann, 2018). logische Verkürzungen, für Mehrperspekti- vität und mehr Pluralismus. Zugriff am 13.03.2019 http://shiftingschool.word- press.com/2013/07/18/aufklarung-in-der- Literaturverzeichnis konfusion-uber-lese-und-schreibunter- richt. Augst, G. (1990): (Psycho)linguistische Grund- Furhop, N. (2015). Orthografie (4., akt. Aufl.). lagen der (Ortho)graphie und des Ortho- Heidelberg: Winter. graphieunterrichts. Muttersprache, 100, Heine, J.-H. (2014). pairwise: Rasch Model 317-330. Parameters by Pairwise Algorithm (R pack- Bacher, J., Pöge, A. & Wenzig, K. (2010). Clus- age version 0.2.5). Zugriff am 13.03.2019 teranalyse: Anwendungsorientierte Einfüh- http://cran.r-project.org/web/packages/ rung in Klassifikationsverfahren: Anwen- pairwise/index.html. dungsorientierte Einführung in Klassifikati- Hessisches Kultusministerium (2017). Vom onsverfahren (3. Aufl.). München: Olden- Apfel bis zum Zeh. Auf dem Weg zum bourg Wissenschaftsverlag. Grundwortschatz Hessen. Zugriff am 13. Bond, T. G. & Fox, C. M. (2015). Applying the 03.2019 https://kultusministerium.hessen. Rasch model: Fundamental measurement de/sites/default/files/media/hkm/entwurf_ in the human sciences (3. Aufl.). New York des_hessischen_grundwortschatz_stand_ & London: Routledge. 01.06.2017_0.pdf. Brinkmann, E. & Brügelmann, H. (2014). Kon- Kaeding, F. W. (1898). Häufigkeitswörterbuch zeptionelle Grundlagen und methodische der deutschen Sprache: Festgestellt durch Hilfen für den Rechtschreibunterricht. einen Arbeitsausschuss der deutschen Ste- Schreiben lernen, Schreiblernmethoden nographiesysteme. Steglitz: Selbstverlag. und Rechtschreiben lernen in der Grund- Krohn, D. (1992). Grundwortschätze und Aus- schule. Zugriff am 13.03.2019 https://bil- wahlkriterien, metalexikographische und dungsserver.berlin-brandenburg.de/filead- fremdsprachendidaktische Studien zur min/bbb/unterricht/faecher/sprachen/ Struktur und Funktion deutscher Grund- deutsch/schreiben_rechtschreiben/Kon- wortschätze. Göteborg: Acta Univ. Gotho- burgensis.
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