Brav ist schwer, Vogel ist leicht - Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze im Deutschunterricht

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Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze                279

Empirische Sonderpädagogik, 2020, Nr. 4, S. 279-294
ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet)

Brav ist schwer, Vogel ist leicht –
Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze im
Deutschunterricht

Stefan Blumenthal1 & Yvonne Blumenthal1,2
1
    Universität Rostock, 2Universität Greifswald

Zusammenfassung
Das Grundwortschatzkonzept ist ein bedeutsamer didaktischer Ansatz im Erwerb von Recht-
schreibkompetenzen. In jüngster Vergangenheit wurden in fast allen Bundesländern entspre-
chende Handreichungen mit Mindestwortschätzen veröffentlicht. Dieser Ansatz bietet den
Lehrkräften viel Potenzial, für ihre Lerngruppe angepasste Unterrichts- und Förderangebote zu
entwickeln. Ein Vergleich des Wortmaterials der jeweiligen Mindestwortschätze zeigt einerseits
eine geringe Schnittmenge im Gesamtvergleich und andererseits fehlt eine empirische Über-
prüfung der Wortschwierigkeiten. In dieser Studie wurde daher ein Korpus von 539 Wörtern an
N = 4091 Kindern erster bis vierter Klassen pilotiert. Mithilfe der Item-Response-Theorie wurden
Itemparameter dieses Wortpools geschätzt, die erstmalig eine Wortauswahl auf Grundlage em-
pirisch gewonnener Wortschwierigkeiten erlauben. Mittels Clusteranalysen wurden die für die
Klassenstufen 1 und 2 bzw. 3 und 4 verschiedenen Schwierigkeitskategorien zugeordnet. Eine
qualitative Beschreibung der ermittelten Itemcluster erfolgt hinsichtlich der zur korrekten
Schreibung der enthaltenen Wörter zugrundeliegenden Rechtschreibprinzipien. Abschließend
werden Implikationen für den Einsatz der Mindestwortschatzarbeit in der Schule dargelegt.

Schlüsselwörter: Grundwortschatz, Grundschule, Item-Response-Theorie, Rechtschreibstrate-
gien, Rechtschreibphänomene

“Brav” is difficult, “Vogel” is easy – An analysis of German common mini­
mum vocabularies in elementary school

Abstract
The basic vocabulary concept is a significant didactic approach to the acquisition of spelling
skills. Although corresponding handouts with minimum vocabularies have been published in
almost all federal states in recent years, there is criticism of this approach e. g. due to creation
criteria. In the present study, a corpus of 539 words was piloted at N = 4091 elementary students
(grade 1-4). Item parameters were estimated using Item Response Theory. This procedure al-
lowed a word selection based on empirically derived item difficulties. By means of cluster
analyses, the difficulty categories for grades 1 and 2 or 3 and 4 were assigned to different diffi-
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culty levels. A qualitative description of the determined item clusters is given with regard to the
spelling principles underlying the correct spelling of the words contained in the clusters. Impli-
cations for use at school are set out.

Keywords: Basic vocabulary, Elementary School, Item Response Theory, Spelling Strategies,
Spelling Phenomena

Spätestens mit dem Bildungstrend 2016              sätzen, die das reine Verwenden von An-
(Stanat, Schipolowski, Rjosk, Weirich &            lauttabellen vorsehen, wie es bspw. im
Haag, 2017) ist zu konstatieren, dass es ei-       Programm „Lesen durch Schreiben“ (Rei-
nen hohen Handlungsbedarf hinsichtlich             chen, 2004) vorgenommen wird (bspw.
der Entwicklung schriftsprachlicher Kompe-         Funke, 2014; Kuhl & Röhr-Sendlmeier,
tenzen im deutschen Schulsystem gibt.              2018; Steinig & Betzel, 2013). Eichler und
Dem Bericht zufolge erzielten von knapp            Brügelmann (2013) stellen daher die Lehr-
30.000 untersuchten Schülerinnen und               person in den Fokus, wenn es um den Erfolg
Schülern zum Ende der 4. Klasse nur 8.6%           eines didaktischen Ansatzes geht: „Für jede
im Kompetenzbereich Orthografie den Op-            Methode gibt es Beispiele erfolgreichen
timalstandard. Demgegenüber steht ein An-          Unterrichts. Dieser setzt allerdings voraus,
teil von 22.1% an Kindern, welche die Min-         dass den Lehrpersonen neben den Potenzi-
deststandards nicht erreicht haben (Stanat et      alen des jeweiligen Ansatzes auch deren
al., 2017). Vergleichsstudien wie IGLU             spezifische Risiken bewusst sind – und dass
(zum Ende der 4. Klasse) und DESI (in der 9.       sie über das didaktisch-methodische Reper-
Klasse) unterstützen die Befunde. Die Er-          toire verfügen, diese aufzufangen“ (S. 7).
gebnisse der IGLU zeigen, dass jedes dritte        Gestützt wird diese Aussage auch dahinge-
Kind in der vierten Klasse ernste Recht-           hend, dass deutlich höhere Streuungen in
schreibschwierigkeiten aufweist und ein            den Schülerleistungen innerhalb der Me-
Viertel der Kinder als rechtschreibschwach         thoden zu finden sind als zwischen ihnen
bezeichnet werden kann (Valtin, Löffler,           (Brinkmann & Brügelmann, 2014). Insofern
Meyer-Scheppers & Badel, 2004). Nach den           plädieren die Autoren für eine sinnvolle
Befunden der DESI-Studie bestehen bei              Verknüpfung unterschiedlicher Methoden.
12% der Neuntklässlerinnen und Neunt-                  Als Reaktion auf die bedenklichen
klässlern deutliche Rechtschreibprobleme           Rechtschreibkompetenzen vieler Schülerin-
(Thomé & Eichler, 2008). Will man Ursa-            nen und Schüler haben fast alle Bundeslän-
chen für diese Befundlage ergründen, trifft        der in jüngster Zeit landesbezogene Grund-
man unter anderem auf aktuelle For-                wortschätze zur Unterstützung der Lehr-
schungsarbeiten, die die Vermutung nahe-           kräfte in ihren pädagogischen Bemühungen
legen, dass auch ungünstige methodisch-di-         konzipiert und veröffentlicht. Die Arbeit mit
daktische Überlegungen im schulischen              Grundwortschätzen ist eine traditionsreiche
Alltag ursächlich für die ungünstigen Recht-       und weitläufig bekannte didaktische Me-
schreibleistungen der Schülerinnen und             thode (Risel, 2008). Auf Basis des Grund-
Schüler zu sein scheinen. So geben ver-            wortschatzes ist es den Lehrkräften mög-
schiedene Ergebnisse verstärkt Grund zum           lich, sowohl auf die Lerngruppe angepasste
Anlass, verbreitete Vermittlungsansätze zur        variationsreiche unterrichtliche Übungen
Rechtschreibung im Anfangsunterricht zu            und Aufgaben zu realisieren als auch indivi-
hinterfragen (z.B. Funke, 2014). Kritik be-        dualisierte Förderaufgaben zu entwickeln,
steht grundsätzlich an allen verbreiteten Zu-      die vom strukturierten Einüben konkreter
gängen im Rechtschreibunterricht (Brink-           Rechtschreibstrategien und -phänomene bis
mann, 2013), insbesondere jedoch an An-            hin zu offenen Einheiten, in denen Schüle-
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rinnen und Schüler Muster und Regeln in                differenziert aus. Auch heute kommt der
der deutschen Rechtschreibung selbst ent-              Korpuslinguistik z.B. in der Fremdspra-
decken können, reichen. Auf Seite der Lehr-            chendidaktik eine bedeutende Rolle zu.
kraft bietet ein derartiger Grundwortschatz            Die Evaluation der Grundwortschätze
Orientierung, um bspw. einzuschätzen,                  erfolgt jedoch aktuell nicht ausschließ-
welche Wörter besonders relevant sind und              lich über frequenzorientierte Zugänge
wie ihre Schwierigkeit zu beurteilen ist.              (Frequenzlisten; z.B. Kaeding, 1898),
Letzterer Aspekt erfolgt jedoch derzeit nicht          darüber hinaus werden zudem weitere
auf Grundlage empirischer Befunde (und                 Aspekte, wie bspw. die Gebräuchlich-
wenn, dann lediglich auf Grundlage der –               keit in den Blick genommen (kommuni-
z.T. hinterfragenswerten – Nutzungsfre-                kativpragmatische oder frequentiell-
quenz im Sprachgebrauch), sondern auf                  kommunikative Zugänge, vgl. Krohn,
Basis nicht dokumentierter und damit nicht             1992).
eindeutig nachvollziehbarer Kriterien. Ziel          • Demgegenüber steht der individuelle
des Beitrags ist es daher, ausgehend von ei-           Wortschatz. Er umfasst diejenigen Wör-
ner Synopse des bundesweiten Standes der               ter, über die ein Individuum in seinem
ministeriellen Einführung von Grundwort-               Sprach- und Schreibgebrauch verfügt. Ist
schätzen, den Forschungsstand dahinge-                 vom individuellen Übungswortschatz
hend zu erweitern, als dass erstmalig eine             die Rede, sind solche Wörter gemeint,
Auswahl von in der Mehrheit der Bundes-                die es noch erlernen muss (Richter,
länder relevanten Wörtern für den Grund-               1998). Es handelt sich hierbei also um
schulunterricht hinsichtlich ihrer Lösungs-            einen stark subjektiv gefärbten Wort-
schwierigkeit und nicht wie üblich anhand              schatz, der nicht nur in seiner Wortaus-
ihrer Auftretenshäufigkeit im Sprachge-                wahl, sondern zudem in seinem Um-
brauch empirisch evaluiert wird.                       fang stark variiert.
                                                     • Der Mindestwortschatz (auch Wortbe-
Wortschatzarbeit als didaktische Metho-                stand, Orientierungswortschatz, Basis-
de für Unterricht und Förderung                        wortschatz oder z.T. auch Grundwort-
                                                       schatz; z.B. Brinkmann & Brügelmann,
Grundlegend müssen verschiedene Termini                2014) ist als Bindeglied zwischen
im Zusammenhang mit schulischer Wort-                  Grund- und individuellen Wortschätzen
schatzarbeit differenziert werden:                     zu verstehen. Es handelt sich dabei um
• Der Grundwortschatz beschreibt eine                  eine Sammlung von Wörtern, deren
   Menge von Wörtern, welche den Groß-                 Schreibung bis zu einem fixen Zeitpunkt
   teil des üblichen Wortgebrauchs aus-                (insbesondere zum Ende der Grund-
   macht. Pfeffer (1975) definiert bspw. ei-           schule) von Schülerinnen und Schülern
   nen Textkorpus von knapp über 1000                  beherrscht werden soll. Während ein
   Wörtern, der – abhängig von der Text-               frequenzorientierter Ansatz als Aus-
   klasse – über 85% des Wortmaterials ab-             gangspunkt für die Entwicklung von
   deckt (Textdeckung). Verbunden mit die-             Mindestwortschätzen diente, wird heute
   sem Ansatz ist nicht der Anspruch auf               eher von Modellwortschätzen (auch
   Vollständigkeit.                                    Orientierungswortschatz) gesprochen,
• Der Gesamtwortschatz fällt um ein Viel-              welche jedoch auch häufige Wörter, ins-
   faches größer aus, ist aber in seiner Ge-           besondere Funktionswörter umschlie-
   samtheit nicht (dauerhaft) bestimmbar               ßen (Augst, 1990; Spitta, 1983). Dies
   (Rieger, 1979). Entwicklungen hinsicht-             folgt der Logik, dass die Schreibung ein-
   lich verschiedener Ansätze zur Generie-             zelner Wörter als beispielhaft für analog
   rung von Grundwortschatzkorpora füh-                gebildete Wörter erkannt werden soll
   ren Krohn (1992) bzw. Schnörch (1999)               (Mutter → Futter; Land → Hand). Er
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   „dient den Schülerinnen und Schülern        Zusammenhang auch der Begriff des Orien-
   in erster Linie anhand geeigneter Bei-      tierungswortschatzes eingeführt.
   spiele, die Regelhaftigkeit der deutschen       Die Mehrheit der veröffentlichten Min-
   Schreibweisen zu erkennen, damit sie        destwortschätze umfassen zudem metho-
   im Laufe der stetigen Erweiterung ihres     disch-didaktische Hinweise (z.B. zum struk-
   aktiven Wortschatzes in der Lage sind,      turierten Einführen von Rechtschreibregeln)
   sich die korrekte Schreibweise immer        oder gar konkrete Übungen für die Schüle-
   neuer Wörter regelbasiert zu erschlie-      rinnen und Schüler, um die praktische Ar-
   ßen“ (Hessisches Kultusministerium,         beit im Unterricht zu unterstützen. Als we-
   2017, S. 1).                                sentliche Funktionen der Arbeit mit Min-
                                               dest- bzw. Modellwortschätzen werden fol-
Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf       gende Aspekte angeführt (Ministerium für
den Ansatz eines Mindest- bzw. Modell-         Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklen-
wortschatzes als didaktisches Mittel im        burg-Vorpommern, 2016; Niedersächsi-
Rechtschreibunterricht der Grundschule.        sches Kultusministerium, 2015):
Derartige Vorgehensweisen waren insbe-         • Hilfestellung für Lehrpersonen, altersan-
sondere in der DDR (Riehme, 1987), später          gemessene schriftsprachliche Kompe-
auch in westdeutschen Bundesländern                tenzen der Schülerinnen und Schüler zu
(Sennlaub, 1985; Naumann, 1987) vertre-            sichern
ten. Als Begründung hierfür wurde die z.T.     • Implementierung der Rahmenpläne und
eingeschränkte Regelhaftigkeit in der deut-        Bildungsstandards im Deutschunterricht
schen Orthografie (viele Regeln mit häufig     • Entwicklung individueller Verfahren zur
jeweils verschiedenen Ausnahmen) ange-             Leistungsfeststellung
führt (Brinkmann & Brügelmann, 2014).          • Gezielte Erarbeitung spezifischer Recht-
                                                   schreibphänomene
Die Bedeutung von Mindestwortschät-            • Bereitstellung von Material für Schüle-
zen in den Bundesländern                           rinnen und Schüler zum eigenständigen
                                                   Erkennen von Strukturen der Schriftspra-
Aktuell erfahren Mindestwortschätze erneut         che und der Ableitung von Regeln
eine wachsende Bedeutung in den Bundes-
ländern. Es ist zu beobachten, dass in den     Insgesamt werden in den zuvor aufgeführ-
letzten Jahren in fast allen Bundesländern     ten Wortschätzen der Bundesländer 1915
Mindestwortschätze eingeführt wurden           Wörter explizit gelistet. Als Schnittmenge
(vgl. Tabelle 1). Es handelt sich dabei um     aller verfügbaren Wortschätze lassen sich
Sammlungen von Wortmaterial, welches           jedoch lediglich 8 Wörter ausmachen (vgl.
die Wörter ausweist, die besonders häufig      Abbildung 1). Auffällig ist zudem ein großer
im Sprach- und Schriftgebrauch von Er-         Anteil von N = 724 Wörtern, die lediglich
wachsenen als auch Grundschulkindern zu        einmal in einem der 12 Grundwortschätze
finden sind bzw. dafür besonders wichtig       aufgeführt werden. Festzuhalten ist dabei,
erscheinen (Sennlaub, 1983). Mehrheitlich      dass 579 davon den Beispielwörtern des
wird jedoch neben diesem frequentiellen        Orientierungswortschatzes Niedersachsens
Ansatz darauf hingewiesen, dass die darge-     entstammen.
botenen Wörter als Modell für umfassende-
re Phänomene und Strategien der Recht-
schreibung anzusehen sind („Modellwör-
ter“). Dies findet insbesondere Betonung in
Niedersachsen (Niedersächsisches Kultus-
ministerium, 2015). Hier wird in diesem
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze                  283

Tabelle 1:Überblick über die Verfügbarkeit von Mindestwortschätzen in den Bundesländern
Bundesland           Anzahl der      Anmerkungen                                  In Anwendung
                     Wörter im                                                    seit
                     Mindest-
                     wortschatz
Baden-                     -         Keine Angaben zu finden                      -
Württemberg
Bayern                    973        Unterscheidung in häufig gebrauchte          Mai 2014
                                     Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie
                                     Jahrgangsstufen 3 und 4
Berlin                    858        Unterscheidung in häufig gebrauchte          August 2011
                                     Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie
                                     Jahrgangsstufen 3 und 4; als Schülerma-
                                     terial aufgelegt; orientiert an Bayern
Brandenburg               841      Unterscheidung in häufig gebrauchte            November 2011
                                   Wörter, Jahrgangsstufen 1 und 2 sowie
                                   Jahrgangsstufen 3 und 4; orientiert an
                                   Bayern
Bremen                    324      Obwohl ca. 800 Wörter ausgewiesen              Oktober 2015
                                   werden, sind nur 324 explizit benannt
Hamburg                 1108       Auch als digitaler Basiswortschatz             2014
                                   verfügbar
Hessen                    741      Unterscheidung in Funktionswörter,             Juni 2017
                                   Modellwörter 1/2 und Modellwörter 3/4
Mecklenburg-              749      Unterscheidung in Jahrgangsstufen 1            August 2016
Vorpommern                         und 2 sowie Jahrgangsstufen 3 und 4;
                                   orientiert an Bayern
Niedersachsen           1108       Orientierungswortschatz statt Grund-           2015
                     (explizit als wortschatz; Unterteilung nach Schwie-
                     beispielhaft  rigkeitsgrad; Zugang zu einer elektroni-
                     ausgewiesen) schen Orientierungsliste mit 3.300
                                   Wörtern für hiesige Schulen
Nordrhein-                533      Mittels eines interaktiven Wortfilters         Schuljahr
Westfalen                          können gezielt Wörter nach Recht-              2019/20
                                   schreibprinzipien sowie Wortarten und
                                   weiteren Aspekten gefiltert werden
Rheinland-Pfalz           858      Orientiert an Berlin                           s. o.
Saarland                     -       Keine Angaben zu finden                      -
Sachsen                   100        Lediglich Anzahl häufiger Wörter im          -
                                     Lehrplan ausgewiesen
Sachsen-Anhalt            100        Lediglich Anzahl häufiger Wörter im          -
                                     Lehrplan ausgewiesen
Schleswig-                825        Orientiert an Hessen; Unterscheidung in      September 2018;
Holstein                             Funktionswörter, Modellwörter 1/2 und        verbindlich zum
                                     Modellwörter 3/4; wissenschaftliche          Schuljahr
                                     Begleitung an 10 Schulen                     2019/20
Thüringen                    -       Keine Angaben zu finden                      -
Anmerkungen. Da die Veröffentlichung des Mindestwortschatzes von Nordrhein-Westfalen erst zum Ende
der Arbeit an diesem Beitrag erfolgte, konnte das Wortmaterial bei den weiteren Analysen nicht berück-
sichtigt werden.
284                                                     Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal

Abbildung 1: Worthäu-
figkeit in den Wort-
schätzen der Bundes-
länder (N = 12). Da die
Veröffentlichung      des
Mindestwortschatzes
von Nordrhein-Westfa-
len erst zum Ende der
Arbeit an diesem Bei-
trag erfolgte, konnte das
Wortmaterial bei den
weiteren Analysen nicht
berücksichtigt werden.

Kritik an der Arbeit mit Mindestwort-              werden sollte (Brinkmann & Brügel-
schätzen                                           mann, 2014).
                                                c) … diese Handreichungen aus sprach-
Wenngleich das Engagement der Bundes-              wissenschaftlicher Perspektive teilweise
länder, den Lehr-Lern-Prozess durch diffe-         Fehler beinhalten (Siekmann, 2018).
renziert ausgearbeitete Mindestwortschätze      d) … die Wortauswahl offenbar jeweils
zu unterstützen, positiv zu bewerten ist,          aufgrund praktischer Überlegungen ge-
bleibt jedoch kritisch anzumerken, dass            troffen wurde. Empirische Ansätze zur
a) … das Wortmaterial nie vollständig den          Wortauswahl beschränken sich lediglich
    gebräuchlichen Wortschatz von Schüle-          auf frequentielle Aspekte hinsichtlich
    rinnen und Schülern abbildet und man           der Stellung eines Lemmas im Sprachge-
    dahingehend kritisch fragen kann, ob           brauch (Krohn, 1992). Bislang scheinen
    die Arbeit mit diesen Mindestwortschät-        keine Befunde empirischer Untersu-
    zen sinnvoll ist (Ulrich, 2010).               chungen zu den Itemstatistiken des ver-
b) … die Wortauswahl sich zum Teil nicht           wendeten Wortmaterials berücksichtigt
    mit den gebräuchlichen Wörtern von             worden zu sein, obwohl hierin ein (wei-
    Grundschülerinnen und Grundschülern            terer) wichtiger Aspekt zur Auswahl und
    deckt (Siekmann, 2018). Dabei bleibt           Strukturierung der Wörter zu sehen ist.
    anzumerken, dass die Wortauswahl               Insbesondere Angaben zu Schwierigkei-
    nicht lediglich nach Verwendungshäu-           ten der Wörter stellen hier einen großen
    figkeit (Vorkommen in einer Text-Stich-        Mehrwert dar.
    probe) erfolgen sollte, sondern zudem
    um die Verwendungsbreite (Personenan-       Während die Aspekte a) und b) in vielen der
    teil, der das Wortmaterial nutzt) ergänzt   verfügbaren Handreichungen direkt aufge-
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze               285

griffen werden (kein kontextfreies Vokabel-            der Einsatz von Funktionswörtern in ei-
lernen, stattdessen vielfältige Wortschatzar-          nem Wortdiktat zu hinterfragen) und
beit anhand von Wörtern mit Modellcha-               • 10 ließen keine eindeutige Aussage über
rakter, um Regelhaftigkeiten zu erkennen /             die korrekte Schreibweise in einem
zu erklären, ergänzt um schüler- bzw. klas-            Wortdiktat zu (bspw. „paar“ oder
senspezifisches Wortmaterial), gibt der ge-            „Paar“).
nannte Aspekt c) Grund zum Anlass, diese
Dokumente erneut kritisch zu prüfen. Der             Im Resultat wurden insgesamt 539 relevan-
vorliegende Beitrag greift den zuletzt ge-           te Wörter identifiziert. Abschließend wur-
nannten Aspekt d) auf. Ziel der empirischen          den die Elemente des Wortpools den Klas-
Studie ist es daher, Indikatoren zur Bestim-         senstufen 1 und 2 bzw. 3 und 4 zugeordnet.
mung der Schwierigkeit häufiger Wörter für           Grundlage dieser Zuordnung stellen – so-
den Grundschulunterricht zu ermitteln.               fern vorhanden – die Ausführungen der ge-
Diese ergeben sich zum einen aufgrund in-            sichteten Mindestwortschätze der Bundes-
haltlicher Überlegungen zu Rechtschreib-             länder dar.
strategien und -phänomenen und können                     Zur Pilotierung der ermittelten Wörter
zum anderen empirisch erhoben werden.                wurden diese mittels eines Multi-Matrix-
Beide Ausgangspunkte werden im Rahmen                Designs (Mislevy, Beaton, Kaplan & Shee-
dieser Studie genutzt.                               han, 1992) jeweils getrennt nach Klassen-
                                                     stufe auf unterschiedliche Wortlisten ver-
                                                     teilt. Diese Wörter wurden der Stichprobe
                                                     als Wortdiktate durch die in den Klassen
Methodik                                             unterrichtenden Lehrkräfte dargeboten. Die
                                                     Auswertung der Ergebnisse der Kinder er-
Vorgehen
                                                     folgte durch geschulte studentische Hilfs-
Zur Definition des Wortkorpus wurde in der           kräfte. Dabei wurde jeweils vermerkt, ob
vorliegenden Studie eine Schnittmenge ver-           ein Wort richtig oder falsch geschrieben
schiedener geltender Grundwortschatzlis-             wurde.
ten gebildet (vgl. Tabelle 1). Der Fokus lag              Das verwendete Multi-Matrix-Design
dabei nicht darauf, möglichst alle in den            sah vor, dass jede Wortliste über einen An-
Handreichungen der Bundesländer aufge-               teil identischer Wörter innerhalb einer Klas-
führten Wörter (N = 1915) aufzunehmen,               senstufe und jeweils aufeinanderfolgender
sondern im Sinne eines Modellwortschatzes            Klassenstufen verfügte. Insgesamt wurden
eine Auswahl mit beispielhaftem Charakter            275 der Wörter zur Verlinkung eingesetzt,
zu treffen. Dazu wurde entschieden, dass             98 über die Klassenstufen hinweg und 177
alle Wörter miteinbezogen werden, die in             innerhalb der Klassenstufen. Zur Auswahl
der Mehrheit der geläufigen Wortschatzlis-           dieser Ankeritems wurde auf eine bestimm-
ten aufgeführt sind, d. h. die 650 Wörter, die       te Verteilung zu beachtender Rechtschreib-
in zumindest sieben der zwölf Grundwort-             phänomene geachtet, sodass eine Streuung
schatzlisten (vgl. Tabelle 1) vorkommen.             der Itemschwierigkeiten über die Anker-
Aus diesem Wortmaterial wurden mehrere               items angenommen werden kann. In Klasse
Wörter aus unterschiedlichen Gründen eli-            1 wurden demnach insbesondere (aber
miniert:                                             nicht ausschließlich) lautgetreue kurze
• Bei 89 waren Ableitungen bereits vor-              Wörter genutzt, in Klasse 2 vorwiegend
    handener Wörter (bspw. Pluralbildun-             lautgetreue komplexere oder häufige Wör-
    gen),                                            ter sowie Wörter mit Mehrfachkonsonanz,
• 12 waren Funktionswörter (aufgrund                 in Klasse 3 Wörter mit doppeltem Mitlaut,
    fehlender lexikalischer Bedeutung, ist           Komposita, Dehnungs-h oder den Konso-
                                                     nantenverbindungen ck oder tz, in Klasse 4
286                                                     Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal

Wörter mit Doppelvokal, der Konsonanten-        te euklidische Distanz) ohne Vorgabe der
verbindung chs, Adjektive mit Endung -ig        Clusteranzahl die entsprechende Menge
oder Fremdwörter.                               der vermuteten Cluster ermittelt. Anschlie-
    Anhand dieser Ankeritems konnte später      ßend wurde unter Festlegung der zuvor er-
ein übergreifend verlinkter Datensatz gene-     mittelten Zielclusterzahl eine Clusterzent-
riert werden, der eine Ermittlung psycho-       renanalyse (K-Means-Clusteranalyse) auf
metrischer Kennwerte für alle Items auf Ba-     Basis des Gesamtdatensatzes berechnet.
sis der Gesamtstichprobe ermöglichte.           Ob es sich jeweils um distinkte Clustergrup-
Hierzu wurde in einem ersten Schritt eine       pen handelt, wurde in einem dritten Schritt
Skalierung nach der Item-Response-Theorie       anhand von nach Klassenstufe 1 und 2 bzw.
über alle Items vorgenommen. Da die vor-        3 und 4 getrennten Varianzanalysen geprüft
liegende Datenmatrix eine binäre Codie-         (abhängige Variablen: Itemparameter σ; un-
rung in „richtig gelöst“ bzw. „falsch gelöst“   abhängige Variable: Clusterzugehörigkeit).
aufweist, wurde ein dichotomes Rasch-Mo-        Abschließend erfolgt eine qualitative Be-
dell zugrunde gelegt. Die Rasch-Analysen        schreibung der resultierenden Cluster. In
wurden mit dem Statistikprogramm R (R           Anlehnung an das Kompetenzstufenmodell
Core Team, 2013) mithilfe des Pakets pair-      der Kultusministerkonferenz (2014) werden
wise (Heine, 2014) durchgeführt. Die Mo-        hierzu die Anteile der Wörter aller Cluster,
dellpassung der Items wurde anhand ihrer        die Lupenstellen entsprechend dem phono-
geschätzten Infit-Werte beurteilt. Auf die      graphischen (z.B. regelhaft phonographi-
Analyse der Outfit-Statistiken wurde dabei      sche Schreibung), dem silbischen (z.B. ver-
verzichtet, da diese – gemäß Linacre (2002)     doppelter Vokal), dem morphologischen
– sensibler auf Ausreißer reagieren und da-     (z.B. Auslautverhärtung bei Flexion) bzw.
mit für die vorliegende Untersuchung weni-      dem syntaktischen Prinzip (Großschreibung
ger aussagekräftig sind als die Infit-Werte.    bestimmter Wortarten) beinhalten (vgl.
    Zur weiteren Analyse der Güte der Items     auch Furhop, 2015) berichtet. Sofern ein
wurden gängige Itemstatistiken (Schwierig-      Wort mehrere Lupenstellen umschließt,
keit, Trennschärfe) berechnet, wobei sich       wird es mehrfach berücksichtigt.
die Itemschwierigkeiten aus den im
Rasch-Modell nach Thurston geschätzten          Stichprobe
Schwellenwerten (σ; z-skaliert) und die
Trennschärfen als punktbiseriale Korrelatio-    Zur Pilotierung des generierten Wortpools
nen der Items mit dem jeweiligen Gesamt-        wurde insgesamt 4091 Kindern aus 192 ers-
wert (rpbis) ergeben. Mittels der ermittelten   ten bis vierten Klassen aus 24 Schulen je-
Fit-Statistiken sowie der geschätzten Item-     weils eine Auswahl entsprechenden Wort-
schwierigkeiten und Trennschärfen wurde         materials als Wortdiktat dargeboten. Um
sodann entschieden, welche Items, auf-          möglichst repräsentative Daten zu erhalten,
grund ungünstiger Werte, aus dem Itempool       wurden Grundschulen in ländlichen, klein-
eliminiert werden mussten.                      städtischen sowie städtischen Regionen ge-
    In einem zweiten Schritt sollten Schwie-    wählt. In dieser Studie war es aufgrund da-
rigkeitskategorien separiert werden. Ge-        tenschutzrechtlicher Einwände seitens der
trennt für die Klassenstufen 1 und 2 bzw. 3     Schulen und Eltern nicht möglich, Angaben
und 4 wurden hierzu Clusteranalysen (Ba-        zum Migrations- oder sozioökonomischen
cher, Pöge & Wenzig, 2010) durchgeführt.        Hintergrund der getesteten Schülerinnen
In die Clusteranalysen gingen die anhand        und Schüler zu erhalten. Die Stichproben-
der Rasch-Skalierung geschätzten Schwie-        zusammensetzung in den unterschiedli-
rigkeitsparameter aller Items ein. Zunächst     chen Klassenstufen ist Tabelle 2 zu entneh-
wurde mittels hierarchischer Clusteranalyse     men.
(Clustermethode: Ward-Methode, quadrier-
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze                   287

Tabelle 2: Charakteristika der Stichprobe getrennt nach Klassenstufe

  Klassenstufe            N                 Alter            Anteil Mädchen        Anzahl Klassen
        1               1066             17;6 Jahre               48.6 %                48
        2               1062             18;7 Jahre               51.0 %                52
        3               0984             19;9 Jahre               46.8 %                48
        4               0979             11;1 Jahre               51.7 %                44

Ergebnisse                                            Analyse von Schwierigkeitsclustern
Analyse der Itemstatistiken
                                                      Da die Verteilungen der Itemschwierigkei-
Von den ursprünglich 539 pilotierten Wör-             ten σ innerhalb des Gesamtwortpools sowie
tern wurden 46 Wörter aufgrund zu gerin-              getrennt nach den Klassenstufen 1 und 2
ger Schwierigkeit (Lösungsrate bei 100%),             bzw. 3 und 4 sehr breit ausfielen (vgl. Tabel-
zu geringer Trennschärfe (rpbis < 0.2) oder           le 3 bzw. Tabelle 4), wurde anhand von
aufgrund einer ungenügenden Passung zum               Clusteranalysen untersucht, inwieweit jeder
Rasch-Modell (0.7 < Infit < 1.3; Bond &               Wortpool (Klassenstufe 1 und 2 vs. Klassen-
Fox, 2015) aus dem Gesamtwortpool elimi-              stufe 3 und 4) aus nach Itemschwierigkeit
niert, damit dieser auch als Grundlage zur            getrennten Subkategorien besteht. Die Er-
Generierung von Testinstrumenten geeignet             gebnisse von hierarchischen Clusteranaly-
ausfällt. Insgesamt erwiesen sich 493 Wör-            sen (Ward-Methode, quadrierte euklidische
ter unter psychometrischen Gesichtspunk-              Distanz) deuteten auf eine 4-Cluster-Lösung
ten als passend. Die differenzierte Analyse           in Klassenstufe 1 und 2 sowie eine 5-Clus-
der Itemschwierigkeiten zeigt, dass sowohl            ter-Lösung in Klassenstufe 3 und 4 hin. Die
die mittleren Schwierigkeiten als auch die            Ergebnisse der anschließenden Clusterzent-
Standardabweichungen über die Klassen-                renanalysen      (K-Means-Clusteranalysen)
stufen hinweg ansteigen (vgl. Tabelle 3).             werden in Tabelle 4 dargestellt. Es sind je-
Eine ANOVA zum Einfluss der Klassenstufe              weils die Anteile als auch die mittleren
auf die Itemschwierigkeit der Wörter weist            Itemschwierigkeiten der einzelnen Cluster-
einen signifikanten Haupteffekt aus                   zentren aufgeführt.
(F(3,489) = 153.97, p < .001, η = .483). Die              Über beide Klassenstufenbereiche (1
Post-Hoc-Tests nach Bonferroni offenbaren             und 2 vs. 3 und 4) gibt es sowohl leichte als
unterschiedliche Itemschwierigkeiten zwi-             auch schwere Wörter. Die Verteilungen der
schen den Klassenstufen. Ausnahme bilden              Cluster 1 weisen zwischen den Klassenstu-
hier die Itemstatistiken zwischen den Klas-           fenbereichen Ähnlichkeiten auf. Es handelt
senstufen 1 und 2, hier fallen die Schwierig-         sich um sehr leichte Wörter, z.B. Hase oder
keiten im Mittel gleich aus.                          Vogel. Weitere Analogien in den Verteilun-

Tabelle 3: Verteilungen der Itemschwierigkeiten getrennt nach Klassenstufe

   Klassenstufe         N Items            M               SD               Min           Max
         1                 45           −1.46              0.72            −2.76          0.57
         2                170           −1.24              1.00            −3.86          2.44
         3                178             0.14             1.19            −2.98          2.87
         4                100             1.44             1.23            −1.12          3.78
288                                                          Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal

gen lassen sich auch zwischen Cluster 3 der         den jeweils nach Klassenstufenbereichen
Klassenstufen 1 und 2 sowie Cluster 2 der           gebildeten Clustern um in ihrer Schwierig-
Klassenstufen 3 und 4 finden. Es handelt            keitsausprägung verschiedene Wortcluster
sich um noch eher leichte Items, wie kom-           handelt. Dies gilt sowohl für den Wortpool
men bzw. kratzen. Erwartungskonform ist in          der Klassenstufen 1 und 2 als auch den
Klassenstufe 1 und 2 der Bereich leichter           Wortpool der Klassenstufen 3 und 4.
Items weiter ausdifferenziert, so weisen drei
der vier Cluster eine mittlere Itemschwierig-       Qualitative Beschreibung der
keit von σ < 0 auf, in Klassenstufe 3 und 4         Schwierigkeitscluster
sind es zwei der fünf Cluster. Auffällig ist
der Cluster 5 in Klassenstufe 3 und 4. Hier         Eine qualitative Veranschaulichung erfolgt
sind ausschließlich sehr schwere Wörter             auf Grundlage einer Zuordnung zu Recht-
(σ > 2) wie bspw. bequem oder brav.                 schreibprinzipien nach Furhop (2015), die
    Varianzanalytisch (Tabelle 4, letzte Zei-       auch den Bildungsstandards zugrunde lie-
le) konnte bestätigt werden, dass es sich bei       gen (vgl. Abbildung 2). Über die Cluster 1-4

Tabelle 4: Ergebnisse der Clusterzentrenanalysen der nach IRT ermittelten Itemschwierigkeiten für die
beiden Wortpools (Klassenstufe 1 und 2 vs. Klassenstufe 3 und 4); die Cluster sind geordnet von
„leicht“ bis „schwer“

             Parameter                                Klassenstufe 1 und 2 Klassenstufe 3 und 4
         N (% vom Gesamtwortpool)                          215 (43.61)             278 (56.39)
         mittlere Itemschwierigkeit σ
Wortpool                                                   -1.35 (0.97)            0.54 (1.33)
         (Standardabweichung)
         Range                                           -3.95 – -2.36            -3.07 – 3.72
             N (% vom Gesamtwortpool)                        42 (8.52)               20 (4.06)
             Clusterzentrum mittlere Itemschwie-
Cluster 1                                                  -2.65 (0.43)           -2.08 (0.50)
             rigkeit σ (Standardabweichung)
             Range                                       -3.95 – -2.14           -3.07 – -1.43
             N (% vom Gesamtwortpool)                       84 (17.04)              60 (12.16)
             Clusterzentrum mittlere Itemschwie-
Cluster 2                                                  -1.66 (0.25)           -0.65 (0.35)
             rigkeit σ (Standardabweichung)
             Range                                       -2.13 – -1.22           -1.39 – -0.18
             N (% vom Gesamtwortpool)                       71 (14.40)              93 (18.86)
             Clusterzentrum mittlere Itemschwie-
Cluster 3                                                  -0.73 (0.30)            0.36 (0.30)
             rigkeit σ (Standardabweichung)
             Range                                       -1.18 – -0.88            -0.17 – 0.88
             N (% vom Gesamtwortpool)                        18 (3.65)              73 (14.81)
             Clusterzentrum mittlere Itemschwie-
Cluster 4                                                  0.66 (0.56)             1.49 (0.35)
             rigkeit σ (Standardabweichung)
             Range                                         0.03 – 2.36             0.92 – 2.07
           N (% vom Gesamtwortpool)                            -                     32 (6.49)
           Clusterzentrum mittlere Itemschwie-
Cluster 5                                                      -                   2.80 (0.43)
           rigkeit σ (Standardabweichung)
           Range                                               -                  2.16 – 3.72
Haupteffekt ANOVA über die                     F(1,211) = 508.24,            F(1,273) = 877.56,
Schwierigkeitscluster                          p < .001, η2 = .878           p < .001, η2 = .928
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze                                     289

wird eine Abnahme der Anteile von Wör-                        ter zu verzeichnen. In den schwereren Clus-
tern mit Lupenstellen gemäß dem phono-                        tern fällt der Anteil von Nomen geringer aus
graphischen Prinzip (regelhaft lautgetreue                    und wird abgelöst durch einen höheren An-
Wörter) in den Klassenstufen 1 und 2 deut-                    teil von Adjektiven, Adverbien und Kon-
lich. Wörter mit Lupenstellen entsprechend                    junktionen.
des silbischen sowie morphologischen Prin-                        Weiterhin zeigt sich, dass bei der Ver-
zips kommen, bis auf die Ausnahme des                         schriftlichung der Wörter der Klassenstufen
silbischen Prinzips in Cluster 4, vergleichs-                 3 und 4 häufiger mehr Rechtschreibprinzi-
weise selten vor (5.6% bis 15.5%). In Clus-                   pien angewendet werden müssen (im Mittel
ter 4 ist innerhalb der Klassenstufen 1 und 2                 1.6 bis 1.9 Prinzipien) als in den Klassen-
ein höherer Anteil der Wörter mit Lupen-                      stufen 1 und 2 (im Mittel 1.3 bis 1.5 Prinzi-
stellen entsprechend des silbischen Prinzips                  pien). Ebenso nimmt der Anteil von langen
(44.4%) zu verzeichnen. Anteile von Wör-                      Wörtern über die Cluster innerhalb der
tern, die gemäß des syntaktischen Prinzips                    Klassenstufen, jedoch auch über die Klas-
groß geschrieben werden müssen, fallen                        senstufen hinweg zu (Wortlänge Klassenstu-
über die Cluster der Klassenstufe 1 und 2                     fen 1 und 2: Mittelwert zwischen 4.3 und
hinweg relativ konstant (27.8% bis 36.9%)                     5.4, Standardabweichung zwischen 1.5
aus.                                                          und 1.7; Wortlänge Klassenstufen 3 und 4:
     In den Klassenstufen 3 und 4 liegen die                  Mittelwert zwischen 5.4 und 7.3, Standard-
Anteile der Wörter mit Lupenstellen ent-                      abweichung zwischen 1.1 und 2.3).
sprechend der vier Rechtschreibprinzipien
zwischen 20% und 50%. Höher fällt das
Vorkommen von Wörtern aus, bei deren
Verschriftung das silbische (Cluster 1), das                  Diskussion
phonographische (Cluster 5) oder das syn-
taktische Prinzip (Cluster 1-3) berücksich-                   Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
tigt werden muss. Generell ist ein Abfall der                 man mit einem relativ kleinen Wortpool ei-
Anteile von Wörtern, die dem syntaktischen                    nen verhältnismäßig großen Anteil von Tex-
Prinzip zugeordnet werden, über die Clus-                     ten umschreiben kann (Spitta, 2000), er-

 100%
  90%
  80%
  70%
  60%
  50%
  40%
  30%
  20%
  10%
   0%
         Cluster 1   Cluster 2   Cluster 3   Cluster 4     Cluster 1   Cluster 2   Cluster 3   Cluster 4   Cluster 5
                     Klassenstufe 1 und 2                                    Klassenstufe 3 und 4

         Phonographisches Prinzip     Silbisches Prinzip      Morphologisches Prinzip      Syntaktisches Prinzip

Abbildung 2: Prozentuale Anteile von Wörtern mit Lupenstellen entsprechend dem phonographi-
schen, dem silbischen, dem morphologischen sowie dem syntaktischen Prinzip getrennt nach Klas-
senstufenbereichen und Clustern.
290                                                    Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal

scheint die Arbeit mit einem Mindestwort-      den, im Wortpool der Klassenstufe 3 und 4
schatz im Grundschulunterricht sehr sinn-      sind dafür mehr Wörter mit größerer Wort-
voll (Siekmann, 2018).                         länge sowie komplexerem Aufbau (im Sin-
    Zwar sind die Bestrebungen der Länder,     ne mehrerer Rechtschreibprinzipien, die
Mindestwortschätze und teilweise didakti-      bei der Verschriftung beachtet werden müs-
sche Anregungen bis hin zu konkreten Un-       sen) zu finden. Jedoch weisen die Cluster-
terrichtsanregungen zur Verfügung zu stel-     analysen auch komplexere Wörter dem
len, als sehr hilfreich für den praktischen    Wortpool der Klassenstufe 1 und 2 bzw.
Einsatz im Deutschunterricht der Grund-        eher leichte Wörter dem Wortpool der Klas-
schule einzuschätzen, es muss jedoch fest-     senstufe 3 und 4 zu. Damit unterstützen die
gehalten werden, dass die Auswahl des          Ergebnisse der vorliegenden Studie die An-
Wortmaterials der Korpora sehr unter-          nahme einer hierarchischen Parallelität un-
schiedlich ausfällt und in den meisten Fäl-    terschiedlicher Phasen des Schriftspracher-
len nicht hinreichend nachvollziehbar be-      werbs (Eichler, 1976). D. h., dass Kinder
schrieben ist.                                 zeitgleich verschiedene Schreibungen von
    Der vorliegende Beitrag hat sich zum       Phänomenen unterschiedlicher Phasen vor-
Ziel gesetzt, den Fachdiskurs um die Arbeit    nehmen, wobei jeweils von der Dominanz
mit Mindestwortschätzen um eine empiri-        einer Phase auszugehen ist (Thomé, 2006).
sche Grundlage zu ergänzen. In der vorlie-     Ausgehend von dieser Annahme scheint
genden Studie wurde hierzu ein Wortpool        eine parallele Berücksichtigung unter-
von 539 grundschulrelevanten Wörtern ge-       schiedlicher Rechtschreibprinzipien im Un-
bildet. Ausgangspunkt stellte eine Zusam-      terricht auch im frühen Grundschulalter
menschau der verfügbaren Mindestwort-          möglich und sinnvoll.
schätze der deutschen Bundesländer sowie           Methodenkritisch sei angemerkt, dass
deren Wortkorpora dar. Eine Pilotierung der    aufgrund datenschutzrechtlicher Bestim-
in den Mindestwortschätzen häufig verwen-      mungen innerhalb der Stichprobe keine Er-
deten Wörter im Multi-Matrix-Design und        fassung sonderpädagogischer Förderbedar-
eine anschließende Auswertung auf Grund-       fe oder des Migrationshintergrundes statt-
lage der Item-Response-Theorie (eindimen-      fand. Damit bleibt offen, inwieweit die Be-
sionales Rasch-Modell) gestattete die Schät-   funde für die hier untersuchte Gesamtgrup-
zung von Itemschwierigkeiten über die ge-      pe auf die Teilgruppe der Schülerinnen und
samte Stichprobe von Kindern erster bis        Schüler mit sonderpädagogischem Förder-
vierter Grundschulklassen. Aus psychomet-      bedarf oder Migrationshintergrund über-
rischer Sicht konnten 493 Wörter als geeig-    tragbar sind oder ob hier differentielle Be-
net identifiziert werden. Aufgrund hoher       funde, ggf. sogar innerhalb der unterschied-
Streuungen der Wortschwierigkeiten, selbst     lichen Förderschwerpunkte, vorgelegen
bei differenzieller Betrachtung auf Klassen-   hätten. Zudem ist die Regionalität der Stich-
stufenebene, wurde der Wortpool in sich in     probe einschränkend anzumerken. Zwar ist
ihrer Schwierigkeit unterscheidende Item-      der Stichprobenumfang beachtlich und um-
cluster separiert. Hierzu erfolgte eine Un-    fasst verschiedene Sozialräume, bezieht
terscheidung in die Klassenstufenbereiche 1    sich jedoch lediglich auf ein Bundesland.
und 2 sowie 3 und 4 (analog zur Einteilung     Das ist hinsichtlich der Generalisierbarkeit
der Mindestwortschätze in mehreren Bun-        der vorliegenden Befunde insofern zu be-
desländern). In jedem der beiden gebilde-      rücksichtigen, als dass erhebliche Unter-
ten Wortpools (Klasse 1/2 vs. Klasse 3/4)      schiede im Kompetenzbereich Orthografie
sind jeweils leichte als auch schwere Item-    im Bundesländervergleich bestehen (Stanat
cluster festzustellen. Erwartungskonform       et al., 2017).
sind im Wortpool der Klassenstufe 1 und 2          Die hier vorgestellten Befunde ergeben
anteilmäßig eher lautgetreue Wörter zu fin-    sich auf der Basis von Itemschwierigkeiten,
Brav ist schwer, Vogel ist leicht – Eine Analyse geläufiger Mindestwortschätze                291

die sich durch die binäre Zuordnung in                  dere für Ausnahmefälle allgemeiner Re-
„richtig geschriebenes Wort“ bzw. „falsch               geln. Ältere empirische Befunde weisen
geschriebenes Wort“ ergeben. Es ist fachdi-             auf einen Übungseffekt bei der Arbeit
daktischer Konsens, dass zur Erfassung or-              mit Wortschätzen hin, der jedoch nicht
thografischer Kompetenz und Ableitung pä-               bzw. nur bedingt generalisiert wird (s.
dagogischer Konsequenzen nicht nur wort-                zusammenfassend Brinkmann & Brügel-
bezogene Fehler gezählt werden sollten (im              mann, 2014). Bei der Arbeit mit Wort-
Sinne einer quantitativen Auszählung).                  listen sollte daher in erster Linie der Mo-
Wichtig ist eine qualitative Fehleranalyse              dellcharakter der Wörter erarbeitet und
der Lupenstellen innerhalb eines Wortes,                betont werden (Hessisches Kultusminis-
um zu erkennen, welche orthografischen                  terium, 2017; Niedersächsisches Kultus-
Prinzipien die Schülerinnen und Schüler                 ministerium. 2015).
bereits bzw. noch nicht beherrschen. Dies            2. Die Arbeit mit einem Mindestwortschatz
bildet wiederum die Voraussetzung für eine              darf nicht als der ausschließliche Ver-
gezielte Förderung. Um Lehrkräfte bei die-              mittlungsansatz für Rechtschreibkompe-
ser Arbeit zu unterstützen, wurde auf                   tenzen verstanden werden. Im Sinne ei-
Grundlage der hier pilotierten sowie weite-             ner Methodenpluralität sollte in Abhän-
rer psychometrisch geeigneter Wörter ein                gigkeit von den Lernausgangslagen der
Konzept zur multimodalen Diagnostik der                 Schülerinnen und Schüler eine Kombi-
Rechtschreibleistungen von Grundschul-                  nation verschiedener didaktischer Kon-
kindern erarbeitet, welches bei der indivi-             zepte erfolgen (z.B. Brinkmann & Brü-
dualisierten Förderung unterstützen soll                gelmann, 2014). Risel (2008, S. 95) be-
(Voß, Blumenthal, Ehrich & Mahlau, 2020)                schreibt neben dem Grundwortschatz-
und auf dem Internetportal www.lernlinie.               konzept drei sachlogische didaktische
de kostenfrei bereitgestellt wird. Automati-            Konzepte zum Rechtschreiberwerb: Sil-
siert werden die Schreibweisen der Schüle-              benkonzepte (Zergliederung von Wör-
rinnen und Schüler für die Wörter des hin-              tern in kleinere Einheiten, z.B. Silben-
terlegten Wortpools ausgewertet und zu ei-              schwingen, Silbengliederung durch
nem Profil zusammengefasst. Dazu werden                 farbliche Markierungen oder Silbenbö-
verschiedene nach wissenschaftlichen Stan-              gen im Text), Regelkonzepte (einzelheit-
dards geprüfte Testinstrumente zur Lernver-             liches Erarbeiten und Einüben spezifi-
laufsdiagnostik (frei nutz- und modifizierbar           scher orthografischer Phänomene und
nach Creative Commons CC BY NC SA 4.0)                  Regeln) sowie den Spracherfahrungsan-
bereitgestellt, es können jedoch auch eige-             satz (eigenständige Abstraktion/Rekonst-
ne Wörter und Texte verarbeitet werden.                 ruktion allgemeiner Muster im Schrift-
Das Tool bietet erhebliches Potenzial für die           system aus situativen Erfahrungen).
Wortschatzarbeit im schulischen Alltag. In           3. Auszählungen von freien Schülertexten
diesem Zusammenhang sei jedoch auf ver-                 deuten darauf hin, dass als vermeintlich
schiedene Bedeutsamkeiten und Implikati-                häufig auftretend angenommene Phäno-
onen bei der Arbeit mit Mindestwortschät-               mene deutlich seltener im Schriftge-
zen im Grundschulunterricht hingewiesen:                brauch von Schülerinnen und Schülern
1. Die Arbeit mit Wortschatzlisten wird im              vorkommen (Siekmann & Thomé 2012;
    Fachdiskurs zu Recht kritisiert, wenn sie           Siekmann, 2018). Dies hat Auswirkun-
    als bloßes Auswendiglernen von Wort-                gen auf die Einführung verschiedener
    material verstanden und umgesetzt                   Rechtschreibphänomene.            Siekmann
    wird. Es ist unumstritten, dass einzelne            (2018) verdeutlicht dies am Beispiel des
    Wortschreibweisen durch wiederholen-                Lautes /f/. Dieser kann auf vier unter-
    de Übung automatisiert und memori-                  schiedliche Weisen verschriftet werden:
    siert werden müssen. Dies gilt insbeson-            , ,  oder . Entgegen der
292                                                        Stefan Blumenthal & Yvonne Blumenthal

   Annahme ist nicht die Doppelkonso-                  zeptionelle_Grundlagen_Rechtschreibun-
   nanz ( ca. 2%) das häufigste Phäno-             terricht.pdf.
   men neben dem  (ca. 80%), sondern            Brinkmann, E. (2003). „Farrat da war nichz
   das  (ca. 20%).                                  Schwirich...“ In E. Brinkmann, N. Kruse &
4. Die Auswahl von Wortmaterial für den                C. Osburg (Hrsg.), Kinder schreiben und
   Unterricht sollte nicht ausschließlich auf          lesen. Beobachten – Verstehen – Lehren (S.
   empirischer Grundlage (Wortfrequenz                 147-154). Freiburg: Fillibach.
   oder -schwierigkeit) getroffen werden.          Brinkmann, E. (2013). Wie kann man Kinder
   Insbesondere sind Interessen der Kinder             auf dem Weg zum Rechtschreiben unter-
   – im Sinne eines lebensweltbezogenen                stützen? Stärken und Schwächen verschie-
   Unterrichts – zu berücksichtigen. So ist            dener Konzeptionen des Rechtschreibun-
   eine Ergänzung eines Mindestwortschat-              terrichts. Grundschule aktuell, 123, 9-13.
   zes um persönlich bedeutsame oder be-           Eichler W. (1976). Zur linguistischen Fehler-
   sonders fehlerträchtige Wörter hin zu               analyse von Spontanschreibungen bei Vor-
   einem individuellen oder klassenbezo-               und Grundschulkindern. In A. Hofer
   genen     Übungswortschatz        sinnvoll          (Hrsg.), Lesenlernen: Theorie und Unter-
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