Lexikon der bedrohten Wörter - Bodo Mrozek Leseprobe aus: Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.

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Leseprobe aus:

                 Bodo Mrozek

Lexikon der bedrohten Wörter

    Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.

          (c) 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Auf ein Wort

«Man lass ein Lexikon nur den Verdammten schreiben.»
Kaspar von Stieler, Enzyklopädie (1691)

Das Aussterben von Wörtern ist ein Prozess, der bislang
wenig Beachtung fand. Als Ende des Jahres 2005 der erste
Band des «Lexikons der bedrohten Wörter» erschien, war
selbst dem Verfasser, der sich eingehend mit der Materie
befasst hatte, die Brisanz des Themas nicht in vollem Um-
fang bewusst. Und auch heute, da der zweite Band vorliegt,
sind wir noch weit davon entfernt, das ganze Ausmaß des
Verschwindens nur annähernd zu erkennen. Warum?
    Wer die 80er Jahre noch selbst miterlebt hat, war mit
Bedrohungen aller Art konfrontiert. Waldsterben und Wal-
sterben waren in aller Munde, denn aussterbende Tiere
und Pflanzen erregen – vollkommen zu Recht – Mitleid.
Das Wörtersterben hingegen ist ein schleichender Prozess,
der zumeist im Verborgenen und in aller Stille stattfindet.
Dabei sind Wörter oft viel älter als Menschen, Tiere oder
Pflanzen. Sie sind von Mund zu Mund gegangen und haben
so viele Geschichten erzählt, dass sie auch selbst eine Ge-
schichte haben. Wer sich mit dieser Geschichte beschäftigt,
wird feststellen, dass es sich bei den bedrohten Wörtern
nicht etwa um bloße Worthülsen handelt. Wörter erschei-
nen dann vielmehr als lebendige Wesen in unserer Sprache.
Ihr Tod muss deshalb schmerzen. Meist vollzieht er sich so

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allmählich, dass wir den Verlust erst bemerken, wenn es
    schon zu spät ist: wenn uns die Worte fehlen.
         Die Idee zum «Lexikon der bedrohten Wörter» geht
    auf verschiedene Ereignisse zurück. Zum einen gab es die
    Rechtschreibreform, die bekanntlich wenig erfreulich ver-
    lief und zu heftigen ➹ Zwistigkeiten führte. Doch ging es
    hier meist um die Form und kaum um Inhalte unserer Spra-
    che. Im Vordergrund aller Debatten standen Schreibweisen,
    Kommaregeln, Bindestriche. Mindestens so wichtig wie
    diese zweifellos notwendigen Verkehrsregeln der deutschen
    Sprache erscheinen jedoch die Autos, also die Wörter, und –
    um bei diesem Bild zu bleiben – ihre Insassen: wir selbst. Wo
    kommen wir her und wo fahren wir hin? Wer Sprachwandel
    und Sprachgeschichte ergründen möchte, muss Wort für
    Wort vorgehen und sich gewissermaßen archäologisch in
    die Tiefensedimente des Sprachgedächtnisses hineinarbei-
    ten. Die Ergebnisse sind oftmals überraschend.
         In der vergangenen Zeit erregten Neuwörter, so ge-
    nannte Neologismen, einigen Unmut, vor allem modische
    Anglizismen riefen viele Sprachfreunde auf die Barrikaden.
    Energisch wird gegen Neuwörter gekämpft. Für alte Wörter,
    die es doch zu bewahren gilt, interessierte man sich dabei
    weniger. Wer sich eingehender mit ihnen beschäftigt, wird
    feststellen, dass viele ebenfalls aus Fremdsprachen stam-
    men. Wer weiß schon, dass der Anorak der Sprache der
    Eskimos entlehnt ist und der Kummerbund der indischen
    Sprache Hindi?
         Das Wort Lexikon stammt aus dem Griechischen. Es
    leitet sich von den Wörtern lexis (die Rede, das Wort) bzw.
    legein (sammeln, lesen) und biblion (Buch) ab. Ein Lexikon

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ist also eine das Wort betreffende Sammlung von Texten.
In diesem Sinn ist auch dieses Buch ein Lexikon. Anders
aber als wissenschaftliche Lexika oder rein der Sprache
gewidmete Wörterbücher leistet sich dieses Buch auch die
Freiheit subjektiver Betrachtungen jenseits des verbissenen
Ernstes der üblichen Sprachkämpfe. Damit steht es durch-
aus in der Tradition der Enzyklopädien des 18. und 19. Jahr-
hunderts. Auch in jenen Nachschlagewerken finden sich
ausgesprochen meinungsfreudige Texte.
    Enzyklopädien haben eine lange Geschichte. Das ers-
te bekannte Buch deutscher Sprache, der Abrogans (790
n. Chr.), war bereits ein Wörterbuch. «Sprachforschung […]
hat mich noch nie in der Weise befriedigen können, dass
ich nicht immer gern von den Wörtern zu den Sachen ge-
langt wäre.» Dieser Satz stammt von keinem Geringeren als
Jacob Grimm (1785–1863), der gemeinsam mit seinem Bru-
der Wilhelm nicht nur eine bekannte Märchensammlung,
sondern mit dem «Deutschen Wörterbuch» 1838 auch die
wichtigste Wörtersammlung in der Geschichte der deut-
schen Sprachwissenschaft begonnen hatte.
    Auch diesem Buch geht es nicht nur um die Sprache
selbst. Wenn Wörter verschwinden, dann hat sich nicht
nur die Sprache verändert, sondern meist auch etwas in
unserem Leben. Dabei kann es sich um vergleichsweise
geringfügige Änderungen wie die Kleiderordnung handeln,
aber auch um weitreichende Modernisierungsprozesse der
Moral oder des privaten Lebens. Ein bedrohtes Wort steht
gewissermaßen auf der Schneide dieses Prozesses. Ist es be-
reits kaum mehr bekannt, kann man es als einen Anker in
die Geschichte hinein betrachten. So mag aus der Gesamt-

                                                               
heit vieler Wortgeschichten im Idealfall so etwas wie eine
     kleine Geschichte des Alltags oder des privaten Lebens ent-
     stehen, die oftmals eine Sitten- oder Moralgeschichte ist –
     wie man am Bedeutungswandel von Wörtern wie ➹ Freier
     oder ➹ Hochzeitsnacht («Lexikon der bedrohten Wör-
     ter», Band I ) ablesen kann.
         Es würde mich freuen, wenn das vorliegende Buch
     das Ausmaß der Bedrohung alter Wörter nicht nur aus-
     loten und beispielhaft illustrieren würde, sondern wenn
     es einige Wörter vor dem traurigen Schicksal des Ver-
     gessens retten könnte. Dies ist freilich mehr, als ein Buch
     alleine leisten kann. Mit dem Erscheinen des ersten Ban-
     des wurde deshalb die «Aktion Artenschutz» ins Leben
     gerufen. Unter der Adresse www.bedrohte-woerter.de kann
     man Artenschutz für bedrohte Wörter eigener Wahl be-
     antragen, geeignete Exemplare werden in eine Rote Liste
     aufgenommen. Die Resonanz ist überraschend. Innerhalb
     weniger Monate gingen mehr als 20 000 Wortmeldungen
     ein. Darunter nicht nur bundesrepublikanische Wörter wie
     der ➹ Kündigungsschutz oder halb vergessenes DDR -
     Deutsch wie das ➹ Broika. Aus Österreich wurde etwa
     der Paradeiser (vgl. auch ➹ Paradiesapfel) gemeldet, aus
     der Schweiz das chiben bzw. ➹ keppeln. Regionalismen
     und Wörter aus Mundart und Dialekt sollen hier nicht
     berücksichtigt werden. Auch ist es nicht um alle Wörter
     schade. Manchen Begriffen – Schimpfwörtern etwa – wird
     man die ewige Ruhe gönnen, doch gelegentlich ist ihre Ge-
     schichte es wert, erzählt zu werden. Mittlerweile ist so ein
     lebendiges Forum entstanden, in dem Leser über Sprache,
     ihre Herkunft und ihre Bedrohung diskutieren.

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Das überraschend große Echo auf den ersten Band
bestärkte mich darin, einen zweiten vorzulegen. Etliche
der aufgenommenen Wörter haben Nutzer des Internet-
Forums vorgeschlagen. Viele sachdienliche, oft anonyme
Hinweise aus der Bevölkerung führten so zur Ergreifung
flüchtiger Wörter. Dafür möchte ich mich bedanken. Mein
Dank gilt auch meiner Lektorin Barbara Laugwitz, die mich
zu diesem Lexikon anstiftete. Für Korrekturen danke ich
Tanja Dückers, Michael Philipp und David Wagner. Ein per-
sönlicher Dank für Geduld und liebevolles Verständnis geht
an Claudia Winter.
    Der Kampf gegen das Vergessen ist mit diesem Band
keineswegs beendet. Im Gegenteil. Beim Wörterschutz
stehen wir noch immer am Anfang. Es sei deshalb darauf
hingewiesen, dass es mit dem Lesen dieses Buches allein
nicht getan ist. Zur Rettung bedrohter Wörter gibt es nur
ein Mittel. Mit etwas Mut können selbst Ammen, Berserker,
Beutelschneider, Dirnen, Dützer, Galane und Schlawuzis
bedrohte Wörter erhalten und zu neuem Leben erwecken.
Sie müssen sie nur in den Mund nehmen.

Bodo Mrozek
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