COVID-19 und Kopfschmerzen
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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich University Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2021 COVID-19 und Kopfschmerzen Pohl, Heiko ; Gantenbein, Andreas R Abstract: Zusammenfassung. Kopfschmerzen sind ein häufiges Symptom einer COVID-19-Infektion und werden typischerweise als bilateral lokalisiert, frontal betont, drückend und mittelstark bis stark beschrieben. Die Unterscheidung von primären Kopfschmerzerkrankungen gelingt in der Regel durch die systematische Suche nach «Red Flags»; meist werden die Kopfschmerzen von Fieber, Husten oder erhöhten Entzündungsparametern im Blut begleitet. Früher geäusserte Bedenken gegen den Einsatz von Ibuprofen zur symptomatischen Kopfschmerztherapie bei Patientinnen und Patienten mit COVID- 19 werden durch prospektive Studien nicht unterstützt. Während das Tragen von Masken sehr oft zu Kopfschmerzen führt, die wahrscheinlich durch Kompression sensibler Nerven ausgelöst werden, wirkt sich der Lockdown in der Regel positiv auf eine vorbestehende Migräne aus. Die Behandlung von Betrof- fenen mit primären Kopfschmerzen wird durch Quarantäneregeln erschwert, weshalb viele Zentren auf virtuelle Konsultationen setzen. COVID-19 and Headaches Abstract. Headaches are a common symptom of COVID-19 infections. Patients generally describe them as bilateral, predominantly frontal, squeezing and of moderate or severe intensity. Searching for “Red Flags” often allows distinction from primary headaches – usually fever, cough, and elevated inflammatory markers accompany COVID-19-associated headaches. Prospective studies did not confirm caveats against the use of ibuprofen as symptomatic treatment. While carrying facial masks often caused headaches, probably by compressing sensory nerves, many patients’ migraine frequencies dropped during lockdown. Treatment of patients with primary headaches was complicated by quarantine and many centres offered online consultations. Résumé. Des maux de tête accompagnent souvent les infections au COVID-19. En général, les patients les décrivent comme bilatéraux, frontaux, oppressants et modérés à sévères. En cherchant des «Red Flags», on réussit normalement à les distinguer des maux de têtes primaires. Des études prospectives n’ont pas confirmées la crainte que l’usage de l’ibuprofène pour le traitement de la douleur accompagnant l’infection pourrait compliquer le cours de la maladie. Tandis que porter un masque suscite souvent des maux de tête prob- ablement en comprimant des nerfs sensibles du visage, le confinement réduit souvent la fréquence des crises de migraine. Le traitement des patients souffrants des céphalées primaires a été rendu difficile par le confinement, d’où l’offerte de consultations online par beaucoup de médecins. DOI: https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003661 Other titles: COVID-19 and Headaches Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-209817 Journal Article Published Version Originally published at: Pohl, Heiko; Gantenbein, Andreas R (2021). COVID-19 und Kopfschmerzen. Praxis, 110(4):201-206.
DOI: https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003661 2
Mini-Review 201 COVID-19 und Kopfschmerzen COVID-19 and Headaches Heiko Pohl1 und Andreas R. Gantenbein1, 2 1 Klinik für Neurologie, Universitätsspital Zürich 2 Neurologie & Neurorehabilitation, RehaClinic Bad Zurzach https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1661-8157/a003661 - Thursday, December 02, 2021 11:27:08 PM - IP Address:145.40.212.112 Zusammenfassung: Kopfschmerzen sind ein häufiges Symptom einer COVID-19-Infektion und werden typischerweise als bilateral lokalisiert, frontal betont, drückend und mittelstark bis stark beschrieben. Die Unterscheidung von primären Kopf- schmerzerkrankungen gelingt in der Regel durch die systematische Suche nach «Red Flags»; meist werden die Kopfschmer- zen von Fieber, Husten oder erhöhten Entzündungsparametern im Blut begleitet. Früher geäusserte Bedenken gegen den Einsatz von Ibuprofen zur symptomatischen Kopfschmerztherapie bei Patientinnen und Patienten mit COVID-19 werden durch prospektive Studien nicht unterstützt. Während das Tragen von Masken sehr oft zu Kopfschmerzen führt, die wahrscheinlich durch Kompression sensibler Nerven ausgelöst werden, wirkt sich der Lockdown in der Regel positiv auf eine vorbestehende Migräne aus. Die Behandlung von Betroffenen mit primären Kopfschmerzen wird durch Quarantäneregeln erschwert, weshalb viele Zentren auf virtuelle Konsultationen setzen. Schlüsselwörter: SARS-COV2, Maske, Migräne, Quarantäne, Lockdown Abstract: Headaches are a common symptom of COVID-19 infections. Patients generally describe them as bilateral, predomi- nantly frontal, squeezing and of moderate or severe intensity. Searching for “Red Flags” often allows distinction from primary headaches – usually fever, cough, and elevated inflammatory markers accompany COVID-19-associated headaches. Prospec- tive studies did not confirm caveats against the use of ibuprofen as symptomatic treatment. While carrying facial masks often caused headaches, probably by compressing sensory nerves, many patients' migraine frequencies dropped during lockdown. Treatment of patients with primary headaches was complicated by quarantine and many centres offered online consultations. Keywords: SARS-COV2, mask, migraine, quarantine, lockdown Résumé: Des maux de tête accompagnent souvent les infections au COVID-19. En général, les patients les décrivent comme bilatéraux, frontaux, oppressants et modérés à sévères. En cherchant des «Red Flags», on réussit normalement à les distin- guer des maux de têtes primaires. Des études prospectives n'ont pas confirmées la crainte que l'usage de l'ibuprofène pour le traitement de la douleur accompagnant l'infection pourrait compliquer le cours de la maladie. Tandis que porter un masque suscite souvent des maux de tête probablement en comprimant des nerfs sensibles du visage, le confinement réduit souvent la fréquence des crises de migraine. Le traitement des patients souffrants des céphalées primaires a été rendu difficile par le confinement, d'où l'offerte de consultations online par beaucoup de médecins. Mots-clés: SARS-COV2, masque, migraine, quarantaine, confinement Die Symptome des ersten nachweislich mit COVID-19 in- zu charakterisieren und Unterschiede zu anderen fizierten Patienten traten im Dezember 2019 auf [1]. Das Kopfschmerztypen herauszufinden [9–12]. Virus breitete sich in den folgenden Wochen rasch welt- Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, wurden weit aus. In der Schweiz wurde der erste Fall am Massnahmen getroffen, die weitreichende Auswirkun- 25.02.2020 bestätigt [2]. Nachdem die Weltgesundheits- gen auf das Leben fast aller Menschen hatten. Da Migrä- organisation WHO am 30.01.2020 den internationalen neattacken wahrscheinlich oft durch Umweltreize ausge- Gesundheitsnotstand («Public Health Emergency of In- löst werden [13], stellte sich deshalb die Frage, wie deren ternational Concern») erklärt hatte, sprach sie ab dem Häufigkeit durch die Pandemie beeinflusst [14, 15] und 11.03.2020 von einer Pandemie [3, 4]. Wie schon bei früheren Pandemien [5] gehören Kopf- schmerzen auch bei der COVID-19-Infektion zu den häu- Im Artikel verwendete Abkürzungen figen Symptomen [6, 7]. Da diese aber auch unabhängig ACE2 Angiotensin-Converting Enzyme 2 FFP Filtering Face Piece von viralen Infekten sehr häufig sind [8], war deren NSAR Nicht-steroidale Antirheumatika diagnostischer Wert zunächst unklar. Aus diesem Grund SARS Severe Acute Respiratory Syndrome versuchten zahlreiche Forschungsgruppen ihren Phänotyp WHO World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation © 2021 Hogrefe Praxis 2021; 110 (4): 201–206 https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003661
202 Mini-Review wie sich die Kopfschmerzbehandlung selbst verändern aber nur bei rund einem Drittel aller Patientinnen und würde [16–19]. Patienten mit COVID-19-assoziierten Kopfschmerzen Das Ziel dieses Mini-Reviews ist es, den Kenntnisstand auf [11]. Eine Studie untersuchte daher, wie gut es im kli- über die Kopfschmerzen infolge einer COVID-19-Infek- nischen Alltag gelingt, COVID-19-assoziierte Kopf- tion und die Auswirkungen der Pandemie auf Kopfschmer- schmerzen von primären Kopfschmerzen zu unterschei- zen und deren Behandlung zusammenzufassen. den [12]. Garcia-Azorin et al. stellten hierbei fest, dass Verwechslungen mit primären Kopfschmerzen in den meisten Fällen unwahrscheinlich sind. Voraussetzung ist aber, dass man systematisch nach «Red Flags» sucht, also Krankheitszeichen, die auf einen sekundären Kopf- Kopfschmerzen als Symptom https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1661-8157/a003661 - Thursday, December 02, 2021 11:27:08 PM - IP Address:145.40.212.112 schmerz hinweisen [31]. In ihrer Studie wurden bei allen einer COVID-19-Infektion 104 Patientinnen und Patienten mit bestätigter COVID- 19-Infektion und Kopfschmerzen «Red Flags» gefunden Eine COVID-19-Infektion geht oft mit Kopfschmerzen – am häufigsten waren Fieber, Husten oder erhöhte Ent- einher [6]. Studien berichten eine Häufigkeit zwischen 7 zündungsparameter im Blut [12]. und 75 % [1, 20–25]. Interessanterweise liegen die Zahlen in asiatischen Ländern zwischen 7 und 14 % [1, 24, 25] und somit niedriger als in Europa, wo Kopfschmerzen bei 24 bis 75 % [20, 21, 23] dokumentiert wurden. Nachdem schon länger bekannt war, dass die Prävalenz primärer Pathophysiologie der mit COVID-19 Kopfschmerzen in China niedriger ist [8], scheint sich die assoziierten Kopfschmerzen Anfälligkeit auch für sekundäre Kopfschmerzen in ähn- licher Weise zu unterscheiden. Die Pathophysiologie der COVID-19-assoziierten Kopf- Mehrere Studien – nicht alle [11, 26] – zeigen zudem, schmerzen ist nicht bekannt. Eine virale Meningitis ist un- dass Frauen mit einer COVID-19-Infektion häufiger Kopf- wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass das Virus in ei- schmerzen haben als Männer [9, 20, 21, 23]. Somit scheint ner Fallserie bei Patientinnen und Patienten mit sich auch hier das von den meisten primären Kopfschmer- Kopfschmerzen im Liquor nicht nachgewiesen wurde [32]. zen gewohnte Bild zu bestätigen [8]. Wahrscheinlicher ist das Vorliegen eines «Kopfschmerz Der Kopfschmerzphänotyp wird häufig als bilateral, zurückzuführen auf eine systemische virale Infek- frontal betont, drückend und mittelstark bis stark beschrie- tion» [28]. ben [9–11]. Zudem hatten etwas mehr als die Hälfte der Eine Hypothese ist, dass Endäste des Nervus trigemi- Betroffenen eine Überempfindlichkeit auf sensorische Rei- nus direkt durch das Virus infiltriert und dadurch aktiviert ze und somit einen eher migräneartigen Phänotyp [9, 11]. werden könnten. Dagegen spricht aber, dass Rezeptoren Die Schwere der COVID-19-Infektion scheint zwar des Angiotensin-Converting Enzyme 2 (ACE2), welches nicht in Zusammenhang mit dem Vorhandensein oder für die Infiltration essenziell zu sein scheint, in den trige- Nicht-Vorhandensein der Kopfschmerzen zu stehen [27]. minalen Nervenendigungen nicht nachgewiesen wurden Es gibt aber Hinweise darauf, dass Kopfschmerzen mit [33]. Da ACE2 aber im Endothel exprimiert wird, könnte einem kürzeren Verlauf der Infektionserkrankung ver- das Virus dort eindringen und so den Trigeminusnerv bunden sein könnten [20]. Sie treten bei ca. einem Viertel reizen. Schliesslich könnten auch im Blut zirkulierende der Betroffenen als Erstsymptom auf [9] und sistieren bei Entzündungsmediatoren zur Entstehung der Schmerzen ca. zwei Drittel spontan wieder; bei ca. einem Drittel per- beitragen [33]. sistierten sie jedoch auch noch nach mehreren Wochen Da Kopfschmerzen häufig mit Anosmie und Ageusie (s.u.) [20]. einhergehen, wird auch ein Eindringen des Virus in das Kopfschmerzen, die während einer viralen Infektion zentrale Nervensystem über das Riechepithel diskutiert auftreten, werden als «Akuter Kopfschmerz zurückzufüh- [11, 34]. Coppola et al. vermuten zudem, dass die Ursache ren auf eine systemische virale Infektion [ICHD-3 9.2.2.1]» der Schmerzen eher im mit der Erkrankung assoziierten klassifiziert. Bestehen die Kopfschmerzen insgesamt län- Stress liegen könnte statt in den Viren selbst [35]. ger als drei Monate, die Abheilung der Infektion selbst Einzelne Fallberichte und eine Fallserie deuten darauf liegt aber weniger als drei Monate zurück, liegt ein «Chro- hin, dass die Kopfschmerzen in manchen Fällen auch nischer Kopfschmerz zurückzuführen auf eine systemi- durch eine intrakranielle Drucksteigerung ausgelöst wur- sche virale Infektion [ICHD-3 9.2.2.2]» vor. den [32, 36–38]. Interessanterweise waren Frauen hiervon Inzwischen werden Kopfschmerzen als ein auf eine häufiger betroffen – ähnlich wie bei der idiopathischen int- COVID-19-Erkrankung hinweisendes Symptom interpre- rakraniellen Drucksteigerung [32, 39, 40]. tiert [29]. Da aber Kopfschmerzen auch bei Personen Die Kopfschmerzen der Patientinnen und Patienten mit ohne Infektion häufig sind [8], ist der positiv prädiktive intrakranieller Drucksteigerung wurden als holozephal Wert dieses Symptoms alleine zu gering [30]. Eine be- und pulsierend beschrieben und bestanden jeden Tag [32]. gleitende Anosmie oder Ageusie deutet zwar mit hoher Eine Lageabhängigkeit der Schmerzen, die als «Red Flag» Sensitivität auf einen sekundären Kopfschmerz hin, trat auf eine intrakrankielle Drucksteigerung hindeuten könn- Praxis 2021; 110 (4): 201–206 © 2021 Hogrefe
Mini-Review 203 te [31], wurde nur in einem Fall berichtet [37]. Eine Pa- Langzeitfolgen einer COVID-19- pillenschwellung bestand ebenfalls nicht in allen Fällen, sodass unklar ist, ob die Drucksteigerung immer mit der Erkrankung Gefahr der Erblindung einhergeht [32]. Die kleinen Fall- zahlen erschweren die Interpretation der Daten zudem. Nicht nur Kopfschmerzen können als Residualsymptom Die Kopfschmerzen besserten sich bei den meisten Betrof- nach einer COVID-19-Infektion persistieren. Die WHO fenen mit intrakranieller Drucksteigerung innerhalb weni- berichtete Ende Oktober 2020, dass einige Beschwerden ger Tage [32]. Es ist somit möglich, dass sich auch der auch noch zwei Wochen nach der Infektion bestehen kön- Druck rasch wieder normalisiert. Eine definitive Aussage nen [52, 53]. Ähnliche Erfahrungen waren bereits nach der ist noch nicht möglich. SARS-Pandemie von 2003 gemacht worden [54, 55]. https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1661-8157/a003661 - Thursday, December 02, 2021 11:27:08 PM - IP Address:145.40.212.112 Keine der zitierten Publikationen berichtet Prävalenz- Die persistierenden Symptome sind häufig unspezi- daten zur intrakraniellen Drucksteigerung bei COVID- fisch, wie Kopfschmerzen, Müdigkeit, Konzentrations- 19-Patientinnen und -Patienten. Zudem scheint sich der störungen; die Frage der Kausalität ist noch nicht geklärt. berichtete Phänotyp von anderen Kopfschmerztypen nicht Um ähnlichen, vorwiegend versicherungsmedizinischen deutlich zu unterscheiden, sodass aktuell nicht klar ist, wie Schwierigkeiten, wie sie z.B. bei der Borreliose oder bei Betroffene identifiziert werden könnten und wie häufig die posttraumatischen Kopfschmerzen bestehen, vorzubeu- Erkrankung ist. Bis zur Sammlung weiterer klinischer gen, sollten unbedingt Kohorten prospektiv begleitet und Daten empfehlen wir, die Indikation für weiterführende Risikofaktoren für die Chronifizierung erkannt werden. Untersuchungen grosszügig zu stellen, wenn Patientinnen und Patienten über Sehprobleme berichten. Auswirkungen von Pandemie Behandlung COVID-19-assoziierter und Quarantäne auf Kopfschmerzen Kopfschmerzen Die rasche Verbreitung des unsichtbaren Virus, die grund- sätzlichen Schwierigkeiten, asymptomatische Patientin- Bei akuten Kopfschmerzen werden häufig nicht-steroi- nen und Patienten zu identifizieren und die v.a. zu Beginn dale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt. Da aus einem der Pandemie geringe Anzahl zur Verfügung stehender Tierexperiment abgeleitet wurde, dass Ibuprofen mög- Tests waren und bleiben grosse Herausforderungen der licherweise die Expression von ACE2-Rezeptoren steigert COVID-19-Pandemie. Um Ansteckungen zur verhindern, und COVID-19 über diese in Wirtszellen eindringt, wurde wurden daher in vielen Ländern Schutzmassnahmen ein- ein schwererer Krankheitsverlauf durch Einsatz dieser geführt (Quarantäne, Mobilitätseinschränkungen, «lock Medikamente befürchtet [41–43]. Unbekannt war jedoch, down»). ob es diesen Effekt beim Menschen gibt und er im klini- Auch wenn sich Regeln zur Isolation im Krankheitsfall schen Alltag eine Rolle spielen würde. Dementsprechend bereits in der Thora bzw. dem Alten Testament (3. Mose betonten Medikamentenbehörden und die Therapiekom- 13,4 ff.) finden, wurde die erste institutionalisierte Quaran- mission der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft, dass täne erst im 14. Jahrhundert verhängt. Damals wurden zur aufgrund der Datenlage ein Verzicht auf diese Medika- Eindämmung der Pestepidemie potenziell infizierte Per- mente nicht empfohlen werden kann [44–47]. Inzwischen sonen zunächst in Dubrovnik, Kroatien, später in Venedig, bestätigten zwei prospektive Studien, dass ihr Einsatz den Italien, und schliesslich auch in vielen anderen Ländern Verlauf einer COVID-19-Infektion nicht negativ beein- von der restlichen Bevölkerung isoliert. Dabei deutet der flusst [48, 49]. Name Quarantäne (von ital. quaranta – vierzig) die Dauer Bei längerfristig bestehenden Kopfschmerzen sollten der Ausgangssperre von 40 Tagen an. Auch wurde in Ve- nicht nur Akutmedikamente, sondern auch medikamen- nedig schon in dieser Zeit ein Sicherheitsabstand («social töse Prophylaxen eingesetzt werden. Welches Medika- distancing») bei der Kommunikation mit den Kapitänen ment bei bleibenden Kopfschmerzen nach einer COVID- einlaufender Frachtschiffe eingehalten [56]. 19-Infektion nützlich sein könnte, wurde bislang nicht Konzeptuell bedeutet das Verhängen solcher Schutz- untersucht. Es gibt Erfahrungen aus sehr kleinen Stich- massnahmen, dass der Krankheitseindämmung höhere proben, auf die zurückgegriffen werden kann. Priorität beigemessen wird als wirtschaftlichen Interes- Prakash und Shah berichteten, dass alle neun Patien- sen, Reisefreiheit und Bedürfnissen nach sozialer Interak- tinnen und Patienten, die wegen persistierender post- tion. So überrascht es nicht, dass Menschen, die sich in der infektiöser Kopfschmerzen mit Methylprednisolon be- Vergangenheit in Quarantäne begeben mussten, neben handelt wurden, eine Besserung berichteten [50]. Andere Angst vor Ansteckung auch über finanzielle Sorgen, Zu- Empfehlungen beinhalten eine Behandlung mit Doxycyc- kunftsängste und Einsamkeit sowie einen veränderten lin, Nervenblockaden mit Bupivacain, Botox-Injektionen, Tag-Nacht-Rhythmus berichteten [57, 58]. intravenöse Gabe von Lidocain und Ketamin sowie Nimo- Die Auswirkung einer Quarantäne auf Migränepatien- dipin [51]. tinnen und -patienten war vor Beginn der COVID-19-Pan- © 2021 Hogrefe Praxis 2021; 110 (4): 201–206
204 Mini-Review demie noch nie untersucht worden. Da aber viele Betroffe- Schutzbrillen trugen. Neuartige Kopfschmerzen wurden ne Stress, Ängste oder unregelmässigen Schlaf als Auslöser dabei von der grossen Mehrheit aller Befragten (81,1 %) ihrer Migräneanfälle erleben [13], war zu befürchten, dass berichtet – unabhängig davon, ob zusätzlich Schutzbrillen die Quarantäne zu einer Zunahme der Migränetage füh- getragen wurden. Die Schmerzen betrafen dabei in erster ren könnte [59]. Zwei inzwischen publizierte Studien be- Linie die Stellen, die durch Maske, Schutzbrille oder Gum- stätigen diese Sorge aber nicht [14, 15]. mibänder komprimiert wurden. Bei den meisten Betroffe- Delussi et al. führten ungefähr einen Monat nach Be- nen traten die Schmerzen sehr schnell auf, meist innerhalb ginn der Quarantänemassnahmen Telefoninterviews mit von weniger als 60 Minuten, und verschwanden nach Ab- 433 Migränepatientinnen und -patienten durch, von de- setzen der Schutzausrüstung auch wieder schnell, in der nen die meisten unter einer episodischen Migräne litten. Regel innerhalb von 30 Minuten. Die wichtigsten Risiko- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1661-8157/a003661 - Thursday, December 02, 2021 11:27:08 PM - IP Address:145.40.212.112 Sie stellten fest, dass sich die Migräne im Allgemeinen faktoren für das Auftreten von Kopfschmerzen waren vor- leicht gebessert hatte und das Ausmass der Besserung mit bestehende primäre Kopfschmerzen und das Tragen der der Anzahl zu Hause verbrachter Tage korrelierte. Es zeig- Maske während mehr als vier Stunden pro Tag [62]. te sich auch, dass die Migränehäufigkeit nicht abnahm, Ramirez-Moreno et al. untersuchten 306 Mitarbeiten- wenn Personen Angst hatten, sich anzustecken [14]. de des Gesundheitssystems und berichteten über neuarti- Eine ähnliche Untersuchung führten Papetti et al. in ge Kopfschmerzen bei etwas mehr als der Hälfte der Be- einem pädiatrischen Sample durch und baten 707 Kinder fragten [63]. Sie waren häufiger bei Frauen, Pflegekräften und Jugendliche zwischen fünf und 18 Jahren während des (verglichen mit dem ärztlichen Personal und «anderen») «Lockdown» um das Ausfüllen eines Online-Fragebo- und der Verwendung von FFP2-Masken (verglichen mit gens. Knapp die Hälfte der Befragten (46 %) berichtete chirurgischen Masken). über eine Verbesserung, während 15 % eine Verschlechte- Da die Lokalisation der Kopfschmerzen mit den Orten rung ihrer Kopfschmerzerkrankung im Allgemeinen anga- der Kompression durch die Schutzausrüstung überein- ben. Die Anzahl der Kopfschmerztage sank von durch- stimmt [62], ist der Kopfschmerz am ehesten als «Kopf- schnittlich 7,38 Tage vor dem Lockdown auf 5,4 Tage. Am schmerz durch Einwirkung von Druck oder Zug auf den deutlichsten verbesserte sich die Migräne bei besonders Kopf» zu klassifizieren. Interessanterweise handelt es sich schwer Betroffenen [15]. dabei – gemäss der dritten Auflage der Internationalen Die Konzentration personeller Ressourcen im Gesund- Kopfschmerzklassifikation – um einen primären Kopf- heitssektor auf die Eindämmung der Pandemie führte zu schmerz [28]. Dieser Kopfschmerztyp war in der zweiten Versorgungslücken an anderer Stelle. Vielerorts war eine persönliche Konsultation des Neurologen zur Kopf- Key messages schmerzbehandlung nicht mehr möglich; stationäre The- • Kopfschmerzen treten häufig im Rahmen einer COVID- rapien wurden abgesagt und z.B. Injektionen mit Botu- 19-Infektion auf und werden typischerweise als bila- linum-Toxin konnten oftmals nicht erfolgen. Obwohl teral lokalisiert, frontal betont, drückend und mittel- Zuweisungen neuer Patientinnen und Patienten zurück- stark bis stark beschrieben. gingen, wuchsen die Wartelisten. In vielen Spitälern wich • Migränepatientinnen und -patienten berichteten im man auf Telefonkonsultationen oder Videokonferenzen Allgemeinen eine Besserung ihrer Kopfschmerzen aus, um den Bedürfnissen der Betroffenen bestmöglich während Quarantäne und Lockdown. gerecht zu werden [16–19, 60]. • Das Tragen einer Gesichtsmaske führt bei vielen Menschen zu Kopfschmerzen, die wahrscheinlich in erster Linie durch Kompression sensibler Gesichts- nerven ausgelöst werden. Kopfschmerzen als Folge Lernfragen des Tragens einer Gesichtsmaske 1. Wie hat der vielerorts verhängte Lockdown die An- fallsfrequenz bei Menschen mit Migräne im Allge- Nach anfänglichem Zögern wurde das Tragen einer Mund- meinen beeinflusst? (Einfachauswahl) Nasen-Maske, häufig verbunden mit dem Tragen einer a) Kein Einfluss Schutzbrille, fester Bestandteil der Strategie zur Krank- b) Es kam zu einer Zunahme der Migränetage. heitseindämmung in den Spitälern. Obwohl das Tragen c) Es kam zu einer Abnahme der Migränetage. einer FFP2-Maske mit einem signifikanten CO2-Anstieg einhergeht, kommt es nicht zu Hyperkapnie oder Hypoxie 2. Welches ist die wahrscheinlichste Ursache der durch [61]. Sehr viele Menschen berichten aber über durch das das Tragen einer FFP2-Maske ausgelösten Kopf- Tragen einer Maske ausgelöste Kopfschmerzen. Dieses schmerzen? (Einfachauswahl) Phänomen war bereits aus der Vergangenheit bekannt und a) Hyperkapnie wurde im Zusammenhang mit COVID-19 in zwei Studien b) Druckkompression sensibler Nerven untersucht [62, 63]. c) Es handelt sich um psychosomatische Schmerzen. Ong et al. befragten 158 Mitarbeitende eines Kranken- d) Hypoxie hauses, die während der Arbeitszeit Gesichtsmasken und Praxis 2021; 110 (4): 201–206 © 2021 Hogrefe
Mini-Review 205 Auflage in die Klassifikation aufgenommen, damals aber 9. López JT, García-Azorín D, Planchuelo-Gómez Á, García-Igle- noch nicht als primär, sondern als Neuralgie klassifiziert sias C, Dueñas-Gutiérrez C, Guerrero ÁL. Phenotypic charac- terization of acute headache attributed to SARS-CoV-2: An worden [64]. ICHD-3 validation study on 106 hospitalized patients. Cephal- Unklar ist, ob auch der Anstieg des CO2-Partialdrucks algia. 2020;40(13):1432–1442. zum Auftreten der Kopfschmerzen beitragen könnte, auch 10. Magdy R, Hussein M, Ragaie C, et al. Characteristics of head- wenn das Tragen einer Maske nicht zu Hyperkapnie führt ache attributed to COVID-19 infection and predictors of its frequency and intensity: A cross sectional study. Cephalalgia. [63, 65]. 2020;40(13):1422–1431. 11. Rocha-Filho PAS, Magalhaes JE. Headache associated with COVID-19: Frequency, characteristics and association with anosmia and ageusia. Cephalalgia. 2020;40(13):1443–1451. 12. García-Azorín D, Trigo J, Talavera B, et al. Frequency and type Ausblick https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1661-8157/a003661 - Thursday, December 02, 2021 11:27:08 PM - IP Address:145.40.212.112 of red flags in patients with Covid-19 and headache: a series of 104 hospitalized patients. Headache. 2020;60(8):1664– Die COVID-19-Pandemie weckte erhebliches Forschungsin- 1672. teresse, das zu einem rasanten Wissensanstieg führte. Be- 13. Park JW, Chu MK, Kim JM, Park SG, Cho SJ. Analysis of trigger factors in episodic migraineurs using a smartphone headache sonders wichtig erscheint uns gerade auch im Hinblick auf diary applications. PLoS One. 2016;11(2):e0149577. die Zeit nach der Quarantäne, dass sich eine Migräneerkran- 14. Delussi M, Gentile E, Coppola G, et al. Investigating the effects kung durch eine flexible Alltagsgestaltung und Verringerung of COVID-19 quarantine in migraine: an observational cross- der Verpflichtungen positiv beeinflussen lässt [62, 63]. Auch sectional study from the Italian National Headache Registry (RICe). Front Neurol. 2020;11:597881. wenn die gute Wirkung der nicht-medikamentösen Migrä- 15. Papetti L, Loro PAD, Tarantino S, et al. I stay at home with head- nebehandlung schon länger bekannt ist [66], haben Home- ache. A survey to investigate how the lockdown for COVID-19 Office und Gleitzeit noch keinen Eingang in die Therapie- impacted on headache in Italian children. Cephalalgia. empfehlungen gefunden. Ideal wäre, wenn die Ausrichtung 2020;40(13):1459–1473. 16. Kristoffersen ES, Faiz KW, Sandset EC, et al. Hospital-based des Lebensstils an den eigenen Bedürfnissen nach dem headache care during the Covid-19 pandemic in Denmark and Ende der Pandemie selbstverständlich würde. Norway. J Headache Pain. 2020;21(1):128. 17. López-Bravo A, García-Azorín D, Belvís R, et al. Impact of the COVID-19 pandemic on headache management in Spain: an analysis of the current situation and future perspectives. 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