Das Chakren-Modell in der Yoga-Psychologie - ALLTAG ALS TRANSFORMATIONSPROZESS
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26 | Lehre | Deutsches Yoga-Forum | Heft 01/2019 ALLTAG ALS TRANSFORMATIONSPROZESS Das Chakren-Modell in der Yoga-Psychologie © EzraPortent /Photocase.com Im abschließenden Teil dieser zweiteiligen Reihe kommen wir zu einem yoga- psychologischen Modell des Chakren-Systems. Auch hier geht es darum zu verstehen, wie die Ebenen des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns zugeordnet sind. Diese Perspektive ermöglicht eine innovative und praxisorien- tierte Lesart für die Beratung von KlientInnen sowie für den eigenen Weg der Persönlichkeitsentwicklung. Text: Martin Witthöft Das Modell der Chakren hat seine Wur- im Körper, die Verbindung zu psychologi- (Brandt, Witthöft. 2018). Es spielt eine zeln im tantrischen Yoga. Im Gegensatz zu schen Themen, zu Mantren, Mudras, Far- zentrale Rolle dabei, individuell Muster vielen anderen Traditionen wird der Kör- ben, Symbolen und Anderem sehr genau zu verstehen und zu verändern. per hier nicht als etwas Minderwertiges beschrieben. Nicht zuletzt werden auch betrachtet. Vielmehr werden die uns um- die einzelnen Elemente, die Wahrneh- Die Alte Gestalt (AG) entsteht durch ne- gebende Welt, unser Körper, die Emotio- mungsorgane (jñānendrya) und Hand- gative biographische Prägungen, die zu nen und der Geist in ihrer gegenseitigen lungsorgane (karmendriya) den Chak- körperlichen, emotionalen und geistigen Wechselwirkung als Ausdruck eines leben- ren zugeordnet, womit wir bei der Ver- Mustern führen, welche uns vom wah- dig pulsierenden Ganzen betrachtet. In- bindung zu Sānkhya und den embryolo- ren Selbst und seinem Ausdruck trennen. nere Zyklen sind hier Ausdruck des göttli- gischen Keimschichten angekommen sind Fehlte es uns in der Kindheit beispielweise chen Rhythmus, unsere Liebe ein Zeichen (Witthöft, 2018). an Anerkennung, erleben wir uns vielleicht der vollkommenen Verbundenheit. auch als Erwachsene noch manchmal häss- Das Blockade- und Ressourcenmodell in lich und klein, fühlen uns ängstlich und Die Chakren, welche in enger Verbindung der Yoga-Psychologie niedergeschlagen und unser Geist ist er- zu den kosha stehen, verkörpern hier sie- In der Yoga-Psychologie arbeiten wir un- füllt von Misstrauen und Zweifel. Die In- ben archetypische Lebensfelder. Dabei ter anderem mit dem Modell der Neuen halte der Alten Gestalt verstehen wir als werden sowohl ihre jeweilige Verortung und Alten Gestalt aus der MAP Sadhana erstarrte Biographie.
Deutsches Yoga-Forum | Heft 01/2019 | Lehre | 27 Unsere Neue Gestalt (NG) als Ressourcen- Ein Chakren-Modell der Yoga-Psycho- Das System der sieben Haupt-Chakren modell besteht dagegen aus unterstützen- logie stellt zugleich alle menschlichen Aus- den Qualitäten, welche wir nicht ausrei- Der folgende Abschnitt mit seinem Blick drucksformen dar: chend erfahren haben, sodass sie uns nur auf die Chakren möchte traditionelle Dar- • Wir können denken und erkennen: eingeschränkt zugänglich sind. Auch sie stellungen weder in Frage stellen noch mit ājñā-chakra. setzt sich aus körperlichen, emotionalen ihnen konkurrieren. Vielmehr geht es um • Wir können uns mitteilen und sprechen: und geistigen Inhalten zusammen, wie si- eine Perspektive, welche die psychologi- vishuddha-chakra. cher, stabil, freudvoll, selbstbewusst, ru- sche Dimension der Chakren erweitert, • Wir können uns verbinden: anāhata- hig, klar. vertieft und die Möglichkeit einer praxis- chakra. nahen Anwendbarkeit aufzeigt. • Wir speichern Energie und können füh- Pratipaksha-bhāvanā: In der yoga-psy- len: manipūra-chakra. chologischen Praxis geht es immer darum, In der unten abgebildeten Grafik fällt so- • Wi r können uns bewegen: genau jene Qualitäten zu finden, welche fort ein markanter Unterschied zu allen svādhisthāna-chakra. der Alten Gestalt diametral gegenüber- herkömmlichen Darstellungen des Chak- • Unser Körper kann eine Form anneh- stehen. Im Yoga-Sūtra nennt sich dieser ren-Systems ins Auge. Wir sehen hier kein men: mūlādhāra-chakra. Perspektivwechsel pratipaksha-bhāvanā vertikales, hierarchisch angeordnetes Mo- • Das sahasrāra-chakra steht für unsere (YS. 2.33). Eine nachhaltige Integration dell, sondern einen Aufbau, in welchem Fähigkeit der Integration. dieser neuen Qualitäten kann die von der die einzelnen Ebenen gleichberechtig zu- Alten Gestalt verursachten Blockaden lö- einanderstehen. Auf diese Weise sind alle Erinnern wir uns an das Ressourcen-Mo- sen und damit einen freien Ausdruck des Felder ebenbürtig mit dem Zentrum, un- dell der Neuen Gestalt: für die Integra- Selbst ermöglichen. So findet das Selbst in serer inneren Essenz, verbunden. So lässt tion ihrer Eigenschaften ist es hilfreich, seine natürliche Form, es bewegt uns, ge- sich gut darstellen, dass es, wie in der Hal- sie auf möglichst vielen Ebenen unseres neriert Energie, verbindet, drückt sich aus, tung des Tantra, kein Höheres oder Nie- Seins zu üben. Je konsequenter wir das erkennt und unterscheidet. In Kontakt mit deres gibt, sondern nur unterschiedliche tun, umso effektiver werden ihre Quali- unserer Essenz erleben wir uns vollständig Ausdrucksformen im Gewebe des Ganzen. täten neuronal vernetzt und damit nach- und eingebunden in das Ganze. haltig wirksam. Die NG Die Welt GEISTIGE ausdrücken erkennen EBENE 2 1 Die innere Die NG Stimme der erkennen NG hören 3 4 Mit der NG EMOTIONAL/ Die NG In mir In der Welt in Beziehung INTEGRATION ENERGETISCHE fühlen aufladen aufladen gehen EBENE Die NG Die NG bewegen formen & halten 5 6 SOMATISCHE Die NG in der Die NG in der EBENE Welt bewegen Welt halten
28 | Lehre | Deutsches Yoga-Forum | Heft 01/2019 Die Arbeitsfelder der Yoga-Psychologie unterstützenden Bildern, die Verbindung 4 Laden: manipūra-chakra Für die yoga-psychologische Praxis erge- zu einem starken Willen (samkalpa). Eine AG: Im vierten Feld kommen wir auf die ben sich sechs klar definierte Arbeitsfel- vom Willen generierte Kraft ist notwen- Ebene unseres vegetativen Ausdrucks. der. Jedes Feld ermöglicht eine differen- dig, um alten, gewohnten Mustern zu wi- Dazu gehören alle Muster des Umgangs zierte Orientierung auf dem Weg unse- derstehen und sich auf die Qualitäten der mit unserer Energie. Wie geht die Alte rer Entwicklung. Uns als Yogalehrenden Neuen Gestalt ausrichten zu können. Gestalt mit meiner Energie um? Verbrau- gibt das aber auch in der yoga-psycho- che ich mehr als mir zur Verfügung steht? logischen Praxis die Möglichkeit, ganz 2 Tönen: vishuddha-chakra Gibt es eine dahinter liegende, vielleicht gezielt jede Ebene und ihre Ressourcen AG: Unser Ausdruck kann sehr stark von biographisch begründete Motivation von anzusprechen und zu unterstützen. Wir der Alten Gestalt beeinflusst sein. Was wir »verdienen müssen«? können zum Beispiel mehrteilige Übungs- sagen, wie wir es sagen, aber auch wel- programme entlang dieser Ordnung auf- chen Klang unsere Stimme hat, ist häu- NG: Noch wichtiger aber: Wie reguliert bauen oder darauf achten, in einer Yoga- fig von biographischen Anpassungsmus- die Neue Gestalt meine Energie? Wie at- Stunde möglichst zu jeder Ebene Kontakt tern geprägt. met die Neue Gestalt? Wie pulsiert sie herzustellen. Nicht zuletzt bauen diese Ar- zwischen Aktivität und Entspannung? beitsfelder eine praxisnahe Brücke in den NG: Die Aufgabe der Neuen Gestalt ist Mit dem Sympathikus und Parasympathi- Alltag: Wir können lernen, Yoga zu den- es, unsere Bedürfnisse zu äußern. Zu sa- kus, welche dieses Verhältnis regeln, ha- ken, zu sprechen, zu fühlen, zu laden/ent- gen, was wir wollen, und zu sagen, was ben wir zugleich eine enge Beziehung mit spannen, zu bewegen und zu formen. So wir nicht wollen. Mitzuteilen, was wir er- dem emotionalen Feld. schaffen wir ein ganzheitliches Bewusst- lebt haben und wie wir uns damit fühlen. sein und sorgen für die lebendige Verbin- Zu sagen, wer wir sind, welche Meinungen 5 Bewegen: svādhisthāna-chakra dung zwischen Körper, Gefühl und Geist. und Werte wir haben, aber auch, wer wir AG: Mit dem fünften Feld betreten wir die werden wollen und was wir überwinden Ebene unserer Bewegungen, Handlungen Die Felder, ihre Themen und mögliche möchten. Die Art, wie wir uns fühlen, be- und Taten. Welche Handlungen begehe Aufgaben: einflusst dabei den Klang unserer Stimme. ich oder unterlasse ich aus der Identifi- 1 Erkennen: Themen der inneren Blocka- Umgekehrt gilt das genauso: die Art wie kation mit der Alten Gestalt? Der Bewe- den und Ressourcen, Wille und Vision wir unserer Stimme einsetzen und klingen gungscharakter der Alten Gestalt ist häu- 2 Tönen: Themen des Ausdrucks unserer lassen, wirkt sich auf unsere Psyche aus. fig vermeidend, indirekt, ausweichend, Erfahrungen und Bedürfnisse verlangsamt. Welchen Charakter hat die 3 Fühlen: Themen der Emotionen, Bezie- 3 Fühlen: anāhata-chakra Qualität meiner Bewegungen, wenn ich hung und Grenzen AG: Unsere Gefühle sind das zentrale mit der Alten Gestalt in Kontakt bin? 4 Laden: Themen der Energie und des Ve- Element unbewusster Verhaltensmuster, getativen Nervensystems denn sie vertreten unsere Bedürfnisse – NG: Wenn ich lerne, die Bewegungsqua- 5 Bewegen: Themen der Bewegung und lange bevor der Verstand sie interpretie- litäten meiner Neuen Gestalt zu üben, Handlungsmöglichkeiten ren und beurteilen kann. Biographisch ge- komme ich mit ihren emotionalen und 6 Formen: Themen der körperlichen und prägte Gefühle der Alten Gestalt haben ei- geistigen Qualitäten in Kontakt. Wie inneren Haltung nen tiefen und vorbewussten Einfluss auf kann ich mich von Freude, Mut, Stabili- Integration: Themen des Mitgefühls, der unser Denken und Handeln. tät, Ruhe, Klarheit bewegen lassen? Zu Achtsamkeit und Pulsation welchen Handlungen fühle ich mich in der NG: Am direktesten können wir mit den Lage, wenn ich mich mit den Eigenschaf- 1 Erkennen: ājñā-chakra Gefühlen der Neuen Gestalt auf der Bezie- ten der Neuen Gestalt verbinde? AG: Dies ist die Ebene der Unterschei- hungsebene arbeiten. Hier geht es einer- dungsfähigkeit, viveka. In der yoga-psy- seits um Bedürfnisse von klaren Grenzen, 6 Formen: mūlādhāra-chakra chologischen Arbeit geht es um unser ausreichend Abstand und einem siche- AG: Im sechsten Feld begegnen wir dem Vermögen, die bisher unbewussten Mus- ren Raum. Auf der anderen Seite begeg- Thema unserer Haltung. Die Art, wie ich ter der Alten Gestalt zu erkennen, um nen wir hier den Bedürfnissen nach un- denke und fühle, bestimmt meinen kör- nicht länger aus ihnen heraus zu handeln terstützendem Kontakt, warmer Gebor- perlichen Ausdruck. Und auch hier gilt und ihre leidbringenden Verstrickungen genheit und erreichbarer Nähe: Wie kann umgekehrt, dass die Art meiner körper- (dukha) fortzuführen. ich in Kontakt gehen und ein Bedürfnis lichen Haltung großen Einfluss auf meine nach Nähe jenseits von Schuld und Scham Gefühle und Gedanken hat: Wie formt N G : Zugleich finden wir im ers- vertreten? mich meine Alte Gestalt? ten Feld, mithilfe von Vorstellung und
Deutsches Yoga-Forum | Heft 01/2019 | Lehre | 29 NG: Was ist die Haltung der Neuen Ge- Anwendungsmöglichkeiten. Sie schafft Ein besonderer Dank gilt meinem langjäh- stalt? Wenn wir lernen, uns von der Neuen Erfahrungsräume und damit das Poten- rigen Lehrer David Boadella. Die oben ver- Gestalt aufrichten zu lassen und diese Hal- tial für nachhaltige Verarbeitung, Integ- wendete Idee einer kreisförmigen Anord- tung zu pflegen, wird sie stark auf unsere ration und Wachstum. nung der Chakren geht auf ihn und seine kognitive und emotionale Ebene zurück- wegweisende Arbeit im Bereich der Kö- wirken. Nicht zuletzt ist das Üben einer in- perpsychotherapie zurück. dividuell angepassten Āsana-Sequenz eine Literatur großartige Möglichkeit, die Haltung der Boadella, David: Befreite Lebensenergie, Über Rückmeldungen und Fragen zu dem Neuen Gestalt zu üben. 1997. Kempten: Kösel Verlag Artikel oder die Yoga-Psychologie freue Brand, Steffen; Witthöft, Martin, 2018. ich mich sehr. Integration: sahasrāra-chakra Wege in die Balance. Deutsches Yoga- Fo- Im Zentrum der Grafik geht es um die In- rum, Heft 1. tegration unserer geklärten Persönlichkeit Brand, Steffen; Witthöft, Martin, 2018. mit all ihren individuellen Eigenheiten. Aus Purushartha – Vollständig sein um über der Perspektive der MAP Sadhana führen sich hinausgehen zu können. Deutsches MARTIN WITTHÖFT Ausbildung in »Biosynthese – somatische und tie- die transpersonalen Qualitäten von Mitge- Yoga- Forum, Heft 2. fenpsychologisch fundierte Psychologie« bei Da- fühl, Achtsamkeit und Pulsation von hier Brand, Steffen; Witthöft, Martin, 2018. vid Boadella. Arbeitet seit 1995 als Yogalehrer und über die Identifikation mit der Person hi- Handeln aus innerer Verbundenheit. Deut- begleitet Menschen seit 2004 in eigener Praxis für naus in eine lebendig pulsierende Spiritu- sches Yoga- Forum, Heft 3. transpersonale Psychologie. Dozent für Yoga-Psy- chologie. Leitung von Gruppen, Seminaren und alität (Witthöft, 2010). Feuerstein, Georg: Die Yoga Tradition, Weiterbildungen. Entwicklung einer Synthese von 2009. Wiggensbach: Yoga Verlag Psychologie und Spiritualität zum eigenständigen Fazit Huchzermeyer, Wilfried. Das Yoga-Le- Ansatz, der »MAP Sadhana«. Ausbildungsleitung, Ein gutes Verständnis der beschriebe- xikon, 2015. Karlsruhe: Edition sawitri Gründungsmitglied und Leitungsteam des »Insti- tuts für Yoga-Psychologie«. nen Arbeitsfelder kann bei der Befreiung Verlag. www.yoga-psychologie.com von leidbringenden, biografischen Mus- Odier, Daniel: Das entflammte Herz, 2009. info@yoga-psychologie.com tern eine starke und tiefgreifende Unter- Grafing: Aquamarin Verlag. stützung bieten. In der yoga-psychologi- Radha, Swami Sivananda: Kundalini Praxis, schen Beratung ist es eine Grundlage für 1992.Freiburg im Breisgau: Verlag Herman die ganzheitliche Wahrnehmung unserer Bauer KG KlientInnen. In der prozesshaften Wech- Trökes, Anna. Die kleine Yoga-Philosophie, selwirkung zwischen Gefühlen, Gedan- 2013. München: O.W. Barth Verlag ken und Körper entfaltet die Yoga-Psy- Trökes, Anna. Yoga bei Depression, 2017. chologie dabei ein breites Spektrum an Freiburg im Breisgau: Herder Verlag Witthöft, Martin, 2010. Mitgefühl, Acht- samkeit und Pulsation. Energie und Charakter, Zeitschrift für Biosynthese. Bühler: Orgon Verlag
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