DAS ENDE DER MASKERADE - Polen nach den Abtreibungsprotesten - Bibliothek der Friedrich ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PER SPEK T I V E Das Abtreibungsurteil wurde als die Aufkündigung eines gesellschaftlichen Vertrages DEM OK R AT I E U N D M ENSCH EN RECH T E gewertet. Formal der Kirche Respekt zollend, konnten die Bürger einem zunehmend DAS ENDE DER liberal-individualistischen Lebensstil nachgehen. Die- sen Vertrag haben die Kirche MASKERADE und die PiS gekündigt. Polen nach den Abtreibungsprotesten Die graduelle Liberalisierung ist nicht zu stoppen. Die Katholische Kirche steht ihr ratlos gegenüber. Der fun- damentalistische Flügel des PiS-Lagers unterliegt der Jacek Sokołowski Fehleinschätzung, diese Ent- November 2020 wicklung sei revidierbar. Die PiS hat das Vertrauen der Gesellschaft verloren. Die internen Spannungen im PiS-Lager zwischen Modera- ten und Fundamentalisten werden in den kommen- den Jahren zunehmen.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Ende der Maskerade DEM OK R AT I E U N D M ENSCH EN RECH T E DAS ENDE DER MASKERADE Polen nach den Abtreibungsprotesten
Abtreibung als Symbolthema Mit der Beginn der großen Protestwelle gegen das Abtrei- Zur Herrin der Formen, nicht aber der Inhalte, das heißt bungsurteil des polnischen Verfassungsgerichts wurde viel- der realen Verhaltensweisen. Diese wandelten sich – über- fach erklärt, dass dies das Ende der PiS bedeutet. Das Ende raschend langsam, aber unerbittlich. Bezeichnenderweise der PiS wurde allerdings schon öfter ausgerufen. Dennoch fällt es schwer, in dieser Entwicklung Zäsuren zu bestimmen, deutet einiges darauf hin, dass die gegenwärtige Krise der Punkte, an denen sich bestimmte – im Vergleich zum bis da- konservativen Regierungskoalition um die PiS (Vereinigte hin Gewesenen durchaus radikale – Veränderungen vollzo- Rechte) sich signifikant von früheren unterscheidet. Und gen. Wann wurde die Empfängnisverhütung zur gängigen dass die aktuellen Ereignisse tiefgreifende und langfristige und selbstverständlichen Praxis? Wann wurde es normal, Folgen haben könnten. dass junge Paare schon vor der Heirat zusammenzogen? Wann begannen Zwölfjährige, Pornovideos zu schauen? DIE GETRÄUMTE (SEXUELLE) Diese und andere Entwicklungen liefen unbemerkt ab. Das REVOLUTION Internet, insbesondere soziale Medien, beschleunigten den Prozess radikal. Für die jüngste Generation polnischer Teen- Allen politischen Akteuren war bewusst, dass mit dem ager werden dort die identitätsprägenden Verhaltenscodes Anzetteln einer Diskussion über den sogenannten Abtrei- geschaffen. Die LGBT-Subkultur ist ein Beispiel dafür. Nicht bungskompromiss von 1993 eine Geist aus der Flasche ge- im Sinne einer milieuhaften »Schwulenkultur« (obwohl lassen werden würde. Dieser Geist ist aber heute ein anderer diese natürlich existiert), sondern als jugendliche Subkultur, ist als in den 1990er Jahren. Was heute in Polen geschieht, für die eine affirmative Einstellung zum Sex sowie die ab- erinnert an die Ereignisse des Jahres 1968 im Westen. Da- solute Freiheit der diesbezüglichen Auto-Identifikation die mals entstand die Gegenkultur als Reaktion auf einen sich bestimmenden Faktoren der eigenen Identität bilden. Und seit den 1950er Jahren verstärkenden gesellschaftlichen natürlich den symbolischen Kommunikationsrahmen für die Wandel, der beschleunigt wurde durch eine technologische adoleszenztypischen Probleme (Sensibilität, Rebellion, Un- Revolution: die Erfindung der Verhütungspille. In Polen ist es verständnis der »Alten«). heute ähnlich, aber – weil es Polen ist – in mehrerlei Hinsicht auch anders. Die polnische sexuelle Revolution hat bereits stattgefunden, unser Verhalten ist ein anderes als zu Beginn ABTREIBUNG ALS SYMBOLTHEMA der Dritten Republik 1989. Doch es handelt sich um eine gleichsam geträumte Revolution: Sie wurde vollzogen, aber Und die Kirche? Die Kirche konnte nur zusehen. Sie war nicht erfahren, sie wurde dem Inhalt nach vollzogen, nicht machtlos, denn es waren kleine Strömungen, die das so- aber in der Form und in der Sprache. ziale Gewebe wie einen Schwamm durchtränkten. Im Zuge dieses Prozesses entfernten sich die traditionellen Formen Im Jahr 1989 trat die von katholischer Kirche und Kommunis- und die lebensweltliche Substanz immer weiter vonein- mus geprägte polnische Gesellschaft in den Kontakt mit der ander. Selbst der Klerus blieb nicht unberührt, schließlich (auch in puncto Sex) konsumistischen Kultur des Westens. haben auch Geistliche Zugang zum Internet. Dieses Gefühl Es handelte sich um eine sittlich konservative Gesellschaft, der Ohnmacht angesichts des Wandels wurde r zu einer der wurzelnd in Familienritualen, die nicht ohne Beteiligung der Ursachen für die Totemisierung der Abtreibungsfrage durch Kirche vollzogen werden konnten. Die polnische Familie ist die Kirche nach 1989. nicht denkbar ohne gemeinsames Heiligabendmahl, ohne Friedhofsbesuch an Allerheiligen, ohne kirchliche Trauung Während der Volksrepublik Polen stand die Frage einer ge- und Hochzeit. Das sicherte der Kirche die organische Ver- setzlichen Regelung der Abtreibung bezeichnenderweise bindung zum gesellschaftlichen Gewebe und machte sie nicht allzu weit oben auf politischen Agenda der Kirche. zur Herrin der Formen, in denen sich die grundlegendsten Man mahnte die Gläubigen in Hirtenbriefen und die Hier- Elemente des Soziallebens der Polen manifestierten. archen vertraten in dieser Sache einen klaren Standpunkt. Doch sie unternahmen keinen Versuch, dieses (für die Kom- munisten politisch eher neutrale) Thema zum Gegenstand 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Ende der Maskerade von Verhandlungen oder Konflikten mit dem Regime zu Doppeldenk leben lassen wollt (das zwar unbequem ist, uns machen (im Gegensatz etwa zur Frage des Kirchenbaus, in aber ermöglicht, die Bindung an die Tradition mit unserem der die Kirche starken – und durchaus erfolgreichen – Druck tatsächlichen Lebensstil in Einklang zu bringen), sondern die ausübte). Warum rückte die Kirche nach dem Zusammen- Schraube fester ziehen wollt, dann werden wir es euch jetzt bruch des Kommunismus also ausgerechnet diese Frage zeigen. ins Zentrum ihrer politischen Agenda? Einerseits sicher aus Hochmut und aus dem Gefühl, man könne es sich jetzt leis- ten (zumal zu Beginn der 1990er Jahre). Andererseits aber DEN PROTESTIERENDEN GEHT ES auch mehr und mehr aus dem Gefühl, man müsse, wenn NICHT UM POLITIK man die Entwicklung schon nicht stoppen konnte, wenigs- tens die Symbole retten. Die Forderung nach einem (in der Die Proteste haben zwei wichtige Merkmale. Das erste – was Realität angesichts der breit verfügbaren und von der Kirche die Politiker des Regierungslagers nicht verstehen – ist das meines Wissens nie bekämpften Möglichkeiten zur illegalen Fehlen konkreter politischer Forderungen (und die mehr- Abtreibung letztendlich bedeutungslosen) Abtreibungsver- heitliche Ablehnung radikal linker Forderungen). Deshalb bot wurde zum Banner, zum Totem, durch das man den sind die Proteste keine Reaktion auf eine legislative Ände- Menschen (aber wohl mehr noch sich selbst) zu verstehen rung, sondern eine Reaktion auf die Beendigung des Spiels gab, dass sich nichts ändern werde, dass die polnische Ge- der Illusionen durch die Regierung. Die Regierung sagte sellschaft konservativ und den Lehren Johannes Pauls II. treu den Menschen: Schluss mit der Heuchelei, jetzt werdet ihr bleibe werde. wirklich konservativ. Und die Menschen erwiderten: Ach, verpisst euch; wenn wir nicht mehr heucheln dürfen, dann Und die polnische Gesellschaft ging auf dieses Spiel der werden wir jetzt die, die wir schon lange sind. Ich zitiere den Illusionen ein. Zumal die zahlenmäßig sehr starke Genera- Vulgarismus wörtlich, weil er das Wesen des Widerstands tion des »demographischen Hochs« der 1980er Jahre. Aber ausdrückt, der ebenso sehr durch Wut wie durch Überdruss auch die folgende, ein Jahrzehnt jüngere Generation. Diese charakterisiert ist. Menschen haben eine starke Bindung an die traditionellen volkskatholischen Formen (anders als die schon erwähnte Zweitens – was die Opposition nicht begreift – sind nicht jüngste Generation). Aber ihr Alltagsleben steht in völligem die radikalen Linken und die »Generation TikTok und Gegensatz zur kirchlichen Sexualethik: Sie waren die ersten, LGBT« die treibende Kraft der Proteste. Ein großer Teil der die ohne Trauschein zusammenzogen, sie nutzen routine- Teilnehmer_innen – vielleicht die Mehrheit, in der Provinz mäßig Verhütungsmittel und haben in ihrem Leben mehr sicher die Mehrheit – gehört den oben erwähnten ins als nur einen Partner (schwerere Sünden lasse ich außen »Doppeldenk« zwischen Traditionsbindung und alltäglicher vor, weil seriöse Untersuchungen zu Prostitution, Ehebruch Lebenspraxis verstrickten Jahrgängen an. Ihnen geht es usw. fehlen). Diese beiden Generationen stellen die demo- weder um die Liberalisierung des Abtreibungsrechts noch graphisch größte polnische Wählergruppe, gerade in der darum, unbedingt die PO (oder sonst eine Partei) an die Provinz. Sie gingen zur Kirche, lauschten den Worten des Regierung zu bringen. Sie, und vor allem die Frauen unter Pfarrers und ignorierten sie. Das Credo dieser Generation ihnen, protestieren dagegen, dass ihnen eine gewisse Illu- lautete im Grunde: »Etwas ist verboten, aber man möchte sion genommen wurde – das Gefühl, dass sie ein Recht auf es sehr – also kann man es tun.« Sie lebten – und leben – in Teilhabe an ihrer traditionellen Kultur haben, obwohl sie einem permanenten Doppeldenk, einer permanenten ko- seit langem gegen die Gebote verstoßen, die die symboli- gnitiven Dissonanz. Doch mit der Zeit wuchs die dadurch schen Herrscherin dieser Kultur, die katholische Kirche, vor- verursachte innere Spannung und sie entfernten sich – das gibt. Schließlich hatte die Kirche bisher diese Gebote nicht ist empirisch belegt – von der Kirche. durchgesetzt: Sie hatte mehr oder weniger nachdrücklich gemahnt, aber die Beichtväter hatten massenhaft die Abso- Doch warum entlud sich diese Spannung nach dem Ab- lution für den Gebrauch von Verhütungspillen erteilt. Doch treibungs-Urteil des Verfassungsgerichts? Vielleicht deshalb, jetzt wollte sie mit Hilfe des Regierungslagers (als Urheber weil der Abtreibungs-«Kompromiss« ein großes Symbol des unseligen Urteils werden nämlich Kaczyński und die der sozialen Scheinheiligkeit war, die diese merkwürdige Kirche angesehen) unter all diesen nichtdurchgesetzten Ge- Gesellschaft irgendwie zusammenhielt. Der Kern dieses boten ausgerechnet die Umsetzung desjenigen erzwingen, Kompromisses betraf nämlich nicht den Ausgleich wider- das den Betroffenen den größten Heroismus abverlangt streitender ideologischer Positionen (weil diese sich – so wie und den größten Widerstand weckt. sie formuliert wurden – nicht ausgleichen lassen), sondern die Wirklichkeit, in der trotz nominellen Verbots Abtrei- bungen leicht durchgeführt werden konnten, weil diese DIE WIDERSPRÜCHE DES PIS-LAGERS Praxis weder strafrechtlich verfolgt noch auf andere Weise erschwert wurde. Das Verfassungsgerichts-Urteil wurde als All das hatten offensichtlich weder Kaczyński noch sein Ankündigung der Regierung begriffen, dass dies nun anders Umfeld im Blick. Seine Reaktion auf die erste Protestwelle werde. Die Menschen sahen es als Drohung, dass aus dem zeigt, dass er die polnische Gesellschaft so wahrnimmt, wie »man darf nicht« nun ein »man kann nicht« werde. Und er sie 2011 in seinem Buch »Polska naszych marzeń« (Das reagierten nach dem Motto: Wenn ihr uns nicht weiter im Polen unserer Träume) beschrieb: »Das einzige Wertesystem, das in Polen real funktioniert, ist das System der von der 2
Kaczyńskis Irrtümer Kirche verkündeten Werte«. Als er das schrieb, war die Ge- men Absprungs bietet, sollte das Regierungslager in der Co- sellschaft – oder jedenfalls ein ausreichend großer Teil von vid-Krise an Zustimmung verlieren. In diesem Fall kann man ihr – wirklich noch so. Doch im Laufe des letzten Jahrzehnts Kaczyński unter dem Vorwurf mangelnder Prinzipientreue hat sich vieles verändert. in »den wichtigsten Fragen« fallen und untergehen lassen. Kaczynskis Plazet zur Verkündung des Abtreibungs-Urteils Diese drei Faktoren – ein mangelndes Verständnis für den durch das Verfassungsgericht, das sich als Funke im Pulver- gesellschaftlichen Wandel, die allmähliche Radikalisierung fass erwies, ist also bis zu einem gewissen Grad mit einer der Parteibasis und die Sorge, der Bündnispartner Solidarna Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Gemengelage zu Polska könne ihm im Kampf gegen die Pandemie den Dolch erklären. Aber nicht nur. in den Rücken stoßen – bewegten womöglich Kaczyński zu der Entscheidung, die das Verfassungsgericht am 22. Innerhalb der Vereinigten Rechten haben die Modernisierer Oktober verkündete. Doch diese Entscheidung verfehlte den Machtkampf mit den Radikalen verloren. Die »Reform- die Mehrheit der Polen, von denen sich in Umfragen und fraktion« scheiterte vor allem an den Barrieren des Alltags, Studien 60 Prozent für einen Beibehaltung des Abtreibungs- an denen alle Reformversuche abprallten. Das scheinbar kompromisses aussprechen. ungeteilt über alle Bereiche des Staatsapparats herrschende Regierungslager war nicht in der Lage, dessen Funktionieren Mit dieser Entscheidungt beendete Kaczyński nicht nur das qualitativ signifikant zu verbessern. Noch aus der kommu- große Gesellschaftsspiel der Illusionen, auf dessen Grund- nistischen Zeit stammende Mechanismen blockierten den lage sich der evolutionäre Prozess des kulturellen Wandels Apparat, und die Anstrengungen der Technokraten verpuff- bisher eher sanft vollzog. Er brach auch den ungeschriebe- ten. Und zwar zweifach: Weder führten sie zu strukturellen nen Pakt zwischen seiner Partei und ihren Wählen. Dessen Verbesserungen noch brachten sie den Verantwortlichen beiden Kernpunkte waren die Wertschätzung und symbo- politischen Nutzen. Mit institutionellen Veränderungen war lische Anerkennung der bisherigen Transformationsverlierer kein Blumentopf zu gewinnen, was besonders schmerzlich und die Nicht-Verärgerung der Mehrheit der Bevölkerung in der liberal-konservative Vize-Premier Jarosław Gowin und der Provinz. Diese Mehrheit wollte nie einen Kulturkampf. seine Leute erfuhren, die für die einzige komplexe Reform Es war ein Irrtum zu glauben, Andrzej Duda sei im Juli als dieser Regierung, nämlich für die Reform des Universitäts- Präsident wiedergewählt worden, weil und nicht obwohl er wesen, verantwortlich waren. diesen Kampf befeuerte. Die Radikalen um den Justizminister Zbigniew Ziobro und Die Abtreibungs-Entscheidung war bereits der zweite große seine Kleinst-Partei »Solidarna Polska« (Solidarisches Polen) Fehler des Parteichefs; der erste war das – von Jarosław Go- hingegen konnten ihr Kapital mehren: Laut und auf dem Ge- win gebremste – Drängen auf eine Briefwahl um jeden Preis biet der Governance unfähig (was sich besonders im Bereich im Corona-Frühjahr 2020. Dieses Mal gab es niemanden, der Justiz zeigt), erfreuen sie sich dennoch immer größerer der ihn hätte bremsen können. Auch weil das Regierungs- Popularität in den sozialen Medien, was sie geschickt auch in lager in der Falle seiner eigenen Propaganda gefangen ist. Resonanz in den traditionellen Medien umzusetzen wissen. Nicht, dass es ihr selbst glauben würde. Aber es ließ zu dass radikale, überwiegend ihrem Wunschdenken verhaftete Dadurch entstand in der Vereinigten Rechten der Ein- Publizisten den Referenzrahmen bestimmen, in dem sich druck, die Agenda der Radikalen sei wichtig, sie habe ge- die Politiker bewegen. Und dieses Weltbild ist grundlegend sellschaftlichen Rückhalt und bringe die Partei nach vorn. falsch. Das mühselige Werkeln an funktionalen Verbesserungen im Staatsapparat versprach demgegenüber wenig Ertrag, es Einer Gesellschaft, die eben erst große Disziplin und großes galt als Neuauflage des »warmen Wassers aus dem Wasser- Verständnis gezeigt hatte, indem sie demütig den Frühjahrs- hahn« (ein früheres Motto Donald Tusks), das niemanden Lockdown ertrug, schleuderte die Regierung ins Gesicht, hinter dem Ofen hervorlocke. Ziobro und sein Umfeld, so dass sie sündig sei und sich bessern müsse – während sie die wachsende Wahrnehmung, repräsentiert die »Seele der selbst nicht in der Lage war, genügend Krankenhausbetten PiS« wirklich. bereitzustellen. Und sich im ungehemmten Ausnutzen von Privilegien nicht einmal symbolisch zu zügeln versuchte. Als die Menschen protestierten, erklärte Parteichef Kaczyński KACZYŃSKIS IRRTÜMER ihnen, dass Protestierende nicht Teil der Volksgemeinschaft seien. Die Idee der »Flucht nach vorn« durch das Anziehen der Abtreibungsschraube könnte aber auch aus einem Gefühl Möglicherweise tat er dies mit zynischer Berechnung, nach der Bedrohung erwachsen sein. Auch die auf Identitätsthe- seiner alten Praxis, Konflikte zu entfesseln, die nur er mana- men setzende Agenda des radikalen Flügels des PiS-Lagers gen kann. Und mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Ge- war eine Flucht – vor der Ineffizienz ihrer früheren Erzählung sellschaft auf etwas anderes zu lenken, weg vom Versagen vom in allen Zellen des Staates nistenden »Postkommunis- des Staates in der Pandemiebekämpfung. Es ist nicht aus- mus«, der alle Reformen blockiere. Zugleich fungiert sie geschlossen, dass sein Kalkül kurzfristig aufgeht: Der Protest aber auch als Trampolin, das die Möglichkeit eines beque- wird höchstwahrscheinlich irgendwann erlöschen, zumal 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Das Ende der Maskerade wenn niemand anderes als die aktuell bestimmenden Perso- Wenn er keine Fehler mehr macht, wird er überleben. Doch nen rund um den »Ogólnopolski Strajk Kobiet« die Führung das wird – ganz unabhängig vom Ausmaß der von der Pan- darin übernimmt. In einer längerfristigen Perspektive aber demie angerichteten Schäden – nicht mehr als eben ein ist für die nächsten Jahre eine Beschleunigung der Prozesse Überleben sein. Regieren wird die PiS nicht mehr können, zu erwarten, die sich bis jetzt schrittweise vollzogen. denn sie hat das gesellschaftliche Vertrauens verloren, so wie es seinerzeit die PO verlor, als klar wurde, dass das Ver- sprechen vom »Ende der Geschichte«, das mit dem EU-Bei- EINE REVOLUTION STEHT NICHT BEVOR tritt eintreten sollte, nicht stimmte und Polen statt dessen mit der Migrationskrise und dem Krieg in der Ukraine kon- Es ist nicht entscheidend, wie viele Menschen auf die Straße frontiert wurden. Zudem wird der kaum stoppbare interne gegangen sind. Entscheidend ist, wie viele sich in zweierlei Radikalisierungswettbewerb das Regierungslager in immer Hinsicht hintergangen fühlen: neue Krisen stürzen. – in Bezug auf die Prämissen, auf die sich ihre kulturelle Während dieses Sich-Dahinschleppens eines krisengeschüt- Identität gründete (wir können »modern« leben, ohne telten Regierungslagers werden sich neue gesellschaftliche die Tradition aufgeben zu müssen, niemand zwingt uns Trennlinien herausbilden, entlang derer die politische Bühne zu wählen) und bespielt werden wird. Denn die von PO und PiS geschaffene Trennlinie, die beiden Parteien jeweils zwei Regierungszeiten – in Bezug auf den Pakt mit der Partei, die sie gewählt bescherte, verbrennt gerade vor unseren Augen im Feuer haben und die versprochen hat, auf die Stimme der pro- der Proteste, in denen es in Wirklichkeit gar nicht um die vinziellen Mehrheit zu hören . Abtreibung geht. Vermutlich sind viele derer, die sich hintergangen fühlen, Das wahre Polen ist ein ganz anderes als das, von dem nicht auf die Straße gegangen und werden auch nicht mehr Jarosław Kaczyński träumt(e). auf die Straße gehen. Deshalb besteht die Möglichkeit, dass entgegen der Hoffnungen der von Enthusiasmus gepack- ten Linken die Proteste im Sande verlaufen – es sei denn, Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann Kaczyński beginge einen weiteren großen Fehler, etwa durch die Verhängung des Ausnahmezustands. Dieser Aufsatz erschien ursprünglich unter dem Titel »Ostatni koniec PiS« (Das neuste Ende der PiS) am 6.11.2020 in der Wochenendausgabe der Zeitung Dziennik Gazeta Prawna 4
IMPRESSUM ÜBER DEN AUTOR IMPRESSUM Dr. Jacek Sokołowski ist Politikwissenschaftler und Jurist. Friedrich-Ebert-Stiftung | Vertretung in Polen Er arbeitet zur Zeit als Assistenzprofessor am Institut für ul. Podwale 11 | 00-252 Warschau | Polen Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen der Jagiellonen-Universität in Krakau. Verantwortlich: Dr. Ernst Hillebrand | Leiter des Büros der Friedrich-Ebert- Stiftung in Warschau www.fes-polska.org Bestellungen/Kontakt: biuro@feswar.org.pl Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert- Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schrift- liche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. ISBN 978-83-64062-50-6 978-3-96250-374-1
DAS ENDE DER MASKERADE Polen nach den Abtreibungsprotesten Das Abtreibungsurteil des polnischen Die kulturellen und normativen Ver- Die PiS hat das Vertrauen der Gesell- Verfassungsgerichts wurde als die Auf- änderungen in der polnischen Gesell- schaft verloren. Die Spannungen im kündigung eines gesellschaftlichen Ver- schaft verlaufen graduell, sind aber PiS-Lager zwischen Moderaten und trages gewertet, der seit 1989 in Polen nicht zu stoppen. Die Katholische Kir- Fundamentalisten um den Justizminis- galt: Hinter einer formal der Kirche Re- che steht diesem Prozess ratlos gegen- ter Z. Ziobro werden in den kommen- spekt zollenden Fassade konnten die über. Der fundamentalistische Flügel den Jahren zunehmen und das Regie- Menschen einem zunehmend liberal-in- des PiS-Lagers unterliegt dagegen der rungshandeln erschweren. Der Partei- dividualistischen Lebensstil nachgehen. Fehleinschätzung, diese Prozesse seien chef Jarosław Kaczyński hat mit dem Die Kirche wurde zur Hüterin alltagskul- mit einer offensiven Weltanschauungs- Urteil einen politischen Fehler gemacht, tureller Formen und Rituale des Katholi- politik revidierbar. Die Mehrheit der der die Verankerung der PiS in der Ge- zismus; dessen Verhaltensnormen wur- Gesellschaft – auch in der die PiS un- sellschaft stark beschädigt hat. Wenn den aber von der Gesellschaft zuneh- terstützenden Provinz – will aber keine Kaczynski keine weiteren Fehler macht, mend ignoriert. Diesen Vertrag haben Weltanschauungskriege. Sie wählt die wird er die Folgen des Abtreibungsur- die Kirche und die PiS nun gekündigt. PiS aus anderen Gründen. Allerdings teils politisch überleben, aber politisch Das Ergebnis wird eine Schwächung, sind auch die Protestierenden in ih- werden weder er noch die aktuelle Re- nicht eine Stärkung des konservativen rer Mehrheit nicht (partei)politisch mo- gierungskoalition noch viel gestalten Lagers sein, da die Liberalisierungspro- tiviert: Es geht ihnen um die Verteidi- können. zesses viel zu weit voran geschritten gung einer lebensweltlichen Praxis, die sind. Die jüngste Generation hat nur kulturellen Katholizismus mit Alltags- noch sehr geringe Bindungen an die Individualismus versöhnt. Kirche und traditionelle Normen.
Sie können auch lesen