Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen

Die Seite wird erstellt Emil Weber
 
WEITER LESEN
Stefanie Molthagen-Schnöring, Jan Wöpking

                                                 Gute wissenschaftliche
                                    Politikberatung nach der Pandemie:
                                                    Zehn Empfehlungen
      NETZWERK
       WISSENSCHAFT
                                                   IMPULSPAPIER FÜR DIE FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

 In der Pandemie ist Wissenschaft politischer und         Dies bedeutet eine enorme Chance. Um den gestie-
 Politik wissenschaftlicher geworden. Zugleich sind       genen Erwartungen an wissenschaftliche Politikbe-
 die Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse von            ratung zu entsprechen, sind Wissenschaft und Po-
 Wissenschaft und Politik komplexer und mitunter          litik aufgerufen, die Praktiken und Standards ihrer
 komplizierter geworden. Wissenschaftliche Politik-       Zusammenarbeit weiter zu entwickeln. Das vorlie-
 beratung ist stärker als bisher in die Aufmerksam-       gende Papier soll dazu beitragen und entwickelt
 keit von Medien und Gesellschaft geraten.                zehn Empfehlungen für gute wissenschaftliche Po-
                                                          litikberatung.

                                                          zugleich über Podcasts, Talkshows und Zeitungsar-
AUSGANGSLAGE                                              tikel die Gesellschaft informiert und aufgeklärt. Of-
                                                          fenbar mit Erfolg – denn der Wissenschaft wurde in
In der Corona-Pandemie hat die Wissenschaft so un-        der Pandemie seitens der Bevölkerung großes Ver-
mittelbar und sichtbar Einfluss auf die Politik und       trauen entgegengebracht (vgl. Wissenschaft im Dia-
den Alltag der Menschen genommen wie selten zuvor.        log 2020). Eine auf Fokusgruppen basierende Studie
Entsprechend bekommt die Frage, wie wissenschaft-         der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt zudem, dass in der
liche Politikberatung nach der Pandemie aussehen          Gesellschaft ein klares Bild über die Aufgabenvertei-
soll, zunehmend Aufmerksamkeit: „Wir müssen die           lung zwischen Wissenschaft und Politik vorherrscht:
Politikberatung neu aufstellen!“, fordern etwa Caro-      Die Wissenschaft stellt Informationen, Analysen und
line Schmutte und Heyo Kroemer (2021). Denn für           Empfehlungen zur Verfügung, während die letztliche
die wissenschaftsgeleitete Bekämpfung von Covid-19        Verantwortung und Entscheidungskompetenz bei der
war neben der Erforschung des Virus und der präze-        Politik liegt (vgl. FES/pollytix 2021: 24). Kurz: Wissen-
denzlos schnellen Entwicklung eines hochwirksamen         schaft berät, Politik entscheidet.
Impfstoffs vor allem die Beratung der Politik entschei-
dend: „Viele wissenschaftliche Akteure haben zur In-      Ist also alles in Ordnung zwischen Wissenschaft, Politik
formation und Beratung politischer Entscheidungs-         und Gesellschaft? Ganz so einfach ist es nicht. Denn der
träger einschließlich der Arbeitsebene beigetragen“       anfängliche Eindruck passgenauer Zusammenarbeit zwi-
(Wissenschaftsrat 2021: 18). Wissenschaftler_innen
haben Regierungen und Parlamente zu Abstandsre-
geln, Inzidenzwerten und Impfstrategien beraten und
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                 Seite 02 /7

       NETZWERK
        WISSENSCHAFT
schen Wissenschaft und Politik bekam mit steigenden In-
zidenzzahlen Risse: Die Politik klagte über die Vielstim-
                                                                                  ZEHN EMPFEHLUNGEN
migkeit teilweise widersprüchlicher Einschätzungen und
Empfehlungen der Wissenschaft. Diese wiederum zeigte                              1.     Transparenz
sich irritiert, dass ihre Papiere nicht genug gelesen und
ihre Ratschläge nicht genug beachtet würden. In Teilen                            Wie die aktuelle FES-Studie zeigt, wissen die Bürger_
der Bevölkerung nahm die „Skepsis gegenüber wissen-                               innen wenig bis nichts über den Prozess wissenschaft-
schaftlicher Expertise“ zu (Wissenschaftsrat 2021: 23).                           licher Politikberatung. Damit gehen Zweifel an der
Und medial besonders engagierte Wissenschaftler_innen                             Objektivität sowie Annahmen einer möglichen Beein-
wurden zum Feindbild von Populist_innen und Quer-                                 flussung durch (wirtschaftliche) Lobbyinteressen ein-
denker_innen und bekamen sogar Morddrohungen.                                     her, die sich negativ auf das Vertrauen in Politik und
                                                                                  Wissenschaft auswirken können (FES/pollytix 2021:
Die bereits zitierte FES-Studie listet weitere Unsicher-                          25).1 Umso wichtiger ist es, größtmögliche Transparenz
heiten auf Seiten der Gesellschaft auf: Auswahl- und                              im Beratungsprozess herzustellen. Die Transparenz hat
Entscheidungskriterien von wissenschaftlichen Bera-                               wenigstens drei Aspekte:
tungsgremien können häufig nicht beurteilt werden
bzw. erscheinen intransparent. Darüber hinaus beste-                              (1) Wissenschaftler_innen sollten sich ihrer Rolle als
hen Zweifel hinsichtlich der Neutralität von wissen-                              Berater_innen – und eben nicht Entscheider_innen
schaftlicher Politikberatung bis hin zum Vorwurf der                              - bewusst sein und dies auch gegenüber der Öffent-
unlauteren, einseitigen Beeinflussung (vgl. FES/polly-                            lichkeit immer klar kommunizieren. Politiker_innen
tix 2021: 25). Diese Diagnose gibt Anlass zur Sorge,                              sollten wiederum grundsätzlich erklären können, wa-
zumal vor dem Hintergrund von Verschwörungserzäh-                                 rum sie sich von wem wozu beraten lassen. Dies ver-
lungen und verbreiteter Impfskepsis. Laut der jüngsten                            kennt nicht, dass es einen Bedarf an vertraulicher Be-
„Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmte je-                           ratung geben kann. Doch gerade bei Beratungen, die
der Fünfte der Aussage zu, „Politiker_innen und ande-                             so erhebliche Auswirkungen auf den Alltag aller Men-
re Führungspersönlichkeiten seien Marionetten dahin-                              schen haben, ist zumindest eine Angabe darüber, wer
terstehender Mächte“ (Lamberty/Rees 2021: 289).                                   wen und warum beraten hat, wichtig, um Vertrauen zu
                                                                                  sichern. Deshalb scheint es auch grundsätzlich sinn-
Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, einge-                              voll, über wenigstens gelegentliche öffentliche Bera-
hender über die Praxis wissenschaftlicher Politikbera-                            tungen nachzudenken, wo das nicht bereits geschehen
tung zu diskutieren. Zwar kann die Beratung der Poli-                             ist.
tik durch die Wissenschaft in der Pandemie, getragen
durch außerordentliches Engagement unzähliger Wis-                                (2) Zur Wissenschaft gehört dazu, in Zweifel zu ziehen,
senschafter_innen, insgesamt als erfolgreich beurteilt                            abzuwägen, Hypothesen zu formulieren und wieder zu
werden. Zugleich ist aber deutlich geworden, dass das                             verwerfen, einen neuen Ansatz zu wählen.2 Ein Merk-
Zusammenspiel beider Systeme von einer verstärkten                                mal der Corona-Pandemie war, dass die Gesellschaft
Reflexion über Standards weiter profitieren kann. Für                             genau das live und weitgehend ungefiltert miterlebt
diese Standards möchten wir im Folgenden zehn Vor-                                hat. Die Leopoldina (2021) betont deshalb zu Recht:
schläge zur Diskussion stellen.                                                   „Es ist wichtig, dass die Wissenschaft […] Unsicher-
                                                                                  heiten und Grenzen des Wissenstandes erklärt, um fal-
                                                                                  schen Erwartungshaltungen entgegen zu wirken.“

                                                                                  (3) Wissenschaftler_innen sollten klar sichtbar zwi-
                                                                                  schen Information, Analyse (inkl. Szenarienerstellung)
                                                                                  und möglicher Empfehlung trennen (vgl. Niebuhr
                                                                                  2021).

1    Siehe auch das Papier von Ricarda Ziegler und Markus Weißkopf mit Empfehlungen zur Wissenschaftskommunikation, das ebenfalls
     auf Grundlage der Ergebnisse der Fokusgruppendiskussionen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung entstanden ist: Ziegler/Weißkopf
     2021
2    Vgl. Matthias Kleiner in Weidenfeld 2020.
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                   Seite 03/7

       NETZWERK
        WISSENSCHAFT
2.          Pluralität                                                            auch, dass bei aller akuten Kurzfristigkeit gerade
                                                                                  große politische Vorhaben einen sehr langen Zeitrah-
Die Pandemie hat die Gesellschaft als Ganzes betrof-                              men haben – und in diesem Fall sollte der Zeitbedarf
fen und Auswirkungen auf alle ihre sozialen Systeme                               wissenschaftlich fundierter Forschung respektiert und
gehabt, von Gesundheit über Wirtschaft bis Bildung.                               entsprechend eingeplant werden.
Die kommenden Herausforderungen wie Klimawan-
del oder die Veränderung der Arbeitswelt durch dis-
ruptive Technologien brauchen nicht nur ähnlich                                   4.     Gesicherte Qualität
viel Beratung, sondern sind auch mindestens genau
so komplex und vieldimensional wie die Pandemie.                                  Es ist von überragender Bedeutung, dass wissen-
Wissenschaftliche Politikberatung muss dieser Kom-                                schaftliche Expertise, auf die sich Politik in ihren Ent-
plexität angemessen sein. Dafür muss sie das Wissen                               scheidungen stützt, von gesicherter (hoher) Qualität
und die Perspektiven einerseits vieler Fachdisziplinen                            ist. Das hat wenigstens drei Dimensionen:
und andererseits vieler gesellschaftlicher Gruppen
zusammenführen (vgl. Wissenschaftsrat 2021: 18-                                   (1) Wissenschaftliche Beratung sollte robust sein,
19), gerade weil sich dadurch ein vielschichtiges Bild                            was nicht mit „absolut sicher“ zu verwechseln ist. Ein
ergibt. Während die Öffentlichkeit wissenschaftliche                              Best-Practice-Beispiel sind die IPCC-Klimaberichte,
Beratung zumeist mit Naturwissenschaften assoziiert                               die jeweils den Level of Confidence bei ihren Einschät-
(vgl. FES/pollytix 2021: 8), sind gerade auch Geistes-                            zungen angeben. 3 Eine Variante davon ist die Angabe
und Sozialwissenschaften wichtig, etwa wenn es um                                 darüber, ob die vertretene Einschätzung weitgehen-
historische Kontextualisierung oder die Eigenlogik                                der Konsens in der jeweiligen Disziplin ist oder ob sie
sozialer Systeme geht. In der Pandemie brauchte es                                Gegenstand kontroverser Beratung ist, wie es etwa bei
nicht nur Virolog_innen, sondern auch Bildungsfor-                                vielen Fragen zu Beginn der Covid-19-Pandemie der
scher_innen, Ökonom_innen und Ethiker_innen. Die                                  Fall war.
entsprechenden Expert_innengremien sollten selbst
divers besetzt sein, um auch hier blinde Flecken und                              (2) Beratung sollte innerhalb der wissenschaftlichen
einseitige Perspektiven zu vermeiden und daher bes-                               Expertise erfolgen und die Grenzen dieser Expertise
sere Beratung sicherzustellen. Hinzu kommt, dass                                  sollten im Zweifelsfall mitkommuniziert werden („Ich
eine diverse Gremienbesetzung die öffentliche Auf-                                bin Virologe, aber kein Kinderarzt“). Dies ist einer-
nahmebereitschaft gegenüber den Empfehlungen er-                                  seits eine Selbstverantwortung der Wissenschaft. An-
höht.                                                                             dererseits ist es eine Aufforderung an die Politik, auf
                                                                                  tatsächlich ausgewiesene Expert_innen zurückzugrei-
                                                                                  fen. Diese zu finden, oft in kurzer Zeit, ist keine tri-
3.          Passendes Timing                                                      viale Aufgabe. Es sollte deshalb noch weiter darüber
                                                                                  nachgedacht werden, der Politik transparente Such-
Der Faktor Zeit ist in der wissenschaftsbasierten Po-                             methoden für Expert_innen zur Verfügung zu stel-
litikberatung von zentraler Bedeutung, denn Politik                               len - idealerweise natürlich durch die Wissenschaft
und Wissenschaft folgen sehr unterschiedlichen zeit-                              selbst. Eine wichtige Rolle nehmen hier bereits die
lichen Logiken. Während Politik schnelle Beratung                                 Akademien ein, wie in der Pandemie besonders am
mit exakten Szenarien fordert, arbeitet Wissenschaft                              Fall der Leopoldina deutlich wurde.
mit „Wahrscheinlichkeiten und Ungewissheiten, ent-
wickelt, verwirft und überarbeitet Hypothesen meist                               (3) Sensibel sind Grauzonen, in denen sich wissen-
über lange Zeiträume“ (Burk/Hetze 2021). Doch Po-                                 schaftliche Politikberatung und wissenschaftliches
litiker_innen haben wenig Zeit und zwar tendenziell                               Lobbying berühren. Beide sind legitim, sollten aber
umso weniger, je herausgehobener ihre Position ist.                               nicht unbewusst vermischt werden. Dies betrifft etwa
Für die beratende Wissenschaft heißt das, sich da-                                Fälle, in denen das Potenzial neuer Forschungsfelder
rauf einzulassen, also kompakt und dem jeweiligen                                 skizziert wird („Wir brauchen hierzu mehr Forschung“,
Adressaten entsprechend zu kommunizieren, Ergeb-                                  „das wird unsere Gesellschaft bahnbrechend verän-
niszusammenfassungen oder andere Kurzformen                                       dern“). Hier gilt es die oben angesprochene Klarheit
von Studien zu erstellen. Das liegt nicht allen Wis-                              über Motive und Rollen zu schaffen.
senschaftler_innen gleichermaßen. Zugleich gilt aber

3    Eine Übersicht der Reporte findet sich unter https://www.ipcc.ch/about/preparingreports/
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                Seite 04/7

     NETZWERK
      WISSENSCHAFT
5.       Nach der Beratung: Kommunikation                                      Wir empfehlen dafür vorsorglich Krisenschutzmecha-
         und Fairness                                                          nismen einzurichten, etwa entlang der Vorschläge der
                                                                               #FactoryWisskomm (vgl. BMBF 2021).
Der Prozess wissenschaftlicher Politikberatung endet
nicht mit der Abgabe des Dokuments, das Empfeh-
lungen enthält. Denn gerade in der anschließenden                              7.     Kein Rosinenpicken
Phase entscheidet sich, welche Wirkung die Empfeh-
lungen entfalten können. Das gilt besonders, wenn                              Wissenschaftliche Politikberatung lebt von Unabhän-
mediales und öffentliches Interesse an den Empfeh-                             gigkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Empfehlungen:
lungen besteht. Dann kommt es nicht nur auf die                                „Sie wird vom Stand der Forschung und nicht von
Empfehlungen an, sondern auch auf ihre Kommuni-                                wirtschaftlichen Gewinn- oder politischen Machtin-
kation. Grundsätzlich scheint es sinnvoll, die Empfeh-                         teressen geleitet.“ (Leopoldina 2021) Daraus bezieht
lungen öffentlich zu erläutern, auf Fragen und auch                            sie ihre Glaubwürdigkeit und kann fundierte Grund-
kritische Einwände einzugehen. Am besten geschieht                             lagen für politische Entscheidungen schaffen. Der Be-
das durch die Expert_innen selbst: „Wirklich erfolg-                           ratungsprozess sollte diese Unabhängigkeit nicht nur
reich kann wissenschaftliche Politikberatung nur sein,                         schützen, sondern idealerweise gezielt fördern. Wer-
wenn sie die Entscheidungen auch plausibel erklärt.                            den hingegen von politischer Seite immer wieder und
Dabei ist es wichtig, zwischen tatsächlichen wissen-                           bevorzugt Wissenschaftler_innen herangezogen, von
schaftlich unstrittigen Erkenntnissen und […] Abwä-                            denen man erwartet, dass sie die eigene politische Po-
gungselementen zu unterscheiden.“ (Dullien 2021)                               sition stützen und bekräftigen, ist das problematisch.
                                                                               Denn auf Dauer kann es das Vertrauen der Gesell-
Ebenso entscheidend ist, wie die Politik mit den                               schaft in Politikberatung unterminieren, wenn diese
Empfehlungen umgeht, besonders wenn sie in eine                                als Bestätigungs- oder Legitimierungsfunktion dessen
andere Richtung gehen, als sich die Politik das er-                            wahrgenommen würde, was politisch ohnehin schon
hofft. Gemäß des Grundsatzes Wissenschaft berät,                               vorher gewusst oder gefordert wurde. Umgekehrt ist
Politik entscheidet ist das zwar völlig normal und an                          es besonders begrüßenswert, wenn Politik auch dann
sich unproblematisch, wichtig ist aber, dass dies von                          die Wissenschaft zu Rate zieht, wenn sie davon aus-
Seiten der Politik transparent und fair kommuniziert                           gehen muss, dass sie die eigene Position (der Politik)
wird. Schädlich wäre, wenn ein Dissens in der Sache                            in Frage stellt, wo kein Einvernehmen zu vermuten
in Form personalisierter Kritik ausgedrückt würde.                             ist.
Auch eine pauschale Disqualifizierung der Empfeh-
lungen ist problematisch, wenn beispielsweise eine
Kommission unwillkommene Empfehlungen zum Re-                                  8.     Daten: mehr, besser, schneller!
formbedarf sozialer Sicherungssysteme ausspricht.
Schließlich: Wenn Politik Entscheidungen trifft, die                           Wissenschaft, Politik und auch wissenschaftliche Po-
erkennbar von den wissenschaftlichen Empfehlungen                              litikberatung werden künftig viel stärker auf Grund-
abweichen, dann sollte sie dies in transparenter Wei-                          lage empirischer Daten stattfinden. In diesem Bereich
se tun, ohne die wissenschaftlichen Empfehlungen in                            hat Deutschland substanziellen Nachholbedarf, denn
ihrem Wert herabzusetzen.                                                      „Politik und Wissenschaft sind datentechnisch mehr
                                                                               oder weniger blind durch die Pandemie gestolpert“
                                                                               (Schularick 2021: 75). Auch eine jüngste Studie im
6.       Wissenschaftler_innen schützen                                        Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und For-
                                                                               schung kommt zu dem Ergebnis, dass „es in vielen
Gerade in der Pandemie sind Wissenschaftler_innen,                             Bereichen deutliche Datendefizite gibt und wichtige
die Politik in kontroversen Fragen beraten haben oder                          Datenbestände für eine krisenbezogene Politikbera-
sich in Podcasts oder Talkshows öffentlich zu diesen                           tung fehlen“ (Kuhlmann et al. 2021: 3). Nur ein Bei-
Empfehlungen geäußert haben, teilweise massiv an-                              spiel: Zu dem Zeitpunkt, in dem dieses Papier verfasst
gegriffen worden. Ähnliches kannte man bereits von                             wird, ist noch immer nicht verlässlich klar, wie viele
Klimawissenschaftler_innen. Das Spektrum der An-                               Menschen in Deutschland eigentlich gegen Covid-19
griffe reicht im Falle der Pandemie von Beleidigungen                          geimpft sind. Die Konsequenz ist klar: Es braucht
über Diffamierungen bis hin zu Morddrohungen. Hier                             mehr Daten, die systematischer erhoben werden. Ge-
stehen Wissenschaftseinrichtungen und Politik glei-                            rade in Krisenzeiten muss die Datensammlung und
chermaßen in der Verantwortung, Wissenschaftler_in-                            Bereitstellung deutlich agiler geschehen. Es muss
nen zu schützen und gegen Angriffe zu verteidigen.                             möglich sein, ad hoc essenzielle Daten zu identifizie-
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                     Seite 05/7

     NETZWERK
      WISSENSCHAFT
ren und zu erheben. Die gesammelten Daten müssen                               10.     Das Fundament:
dann für Forschungszwecke flexibel, nutzbar und un-                                    Herausragende Wissenschaft
bürokratisch zur Verfügung gestellt werden. Eine de-
taillierte Analyse des Handlungsbedarfs geben Kuhl-                            Kein Papier zu Bedingungen guter wissenschaftlicher
mann et al. 2021.                                                              Politikberatung sollte schließen, ohne auf die wich-
                                                                               tigste dieser Bedingungen einzugehen: herausra-
                                                                               gende Wissenschaftler_innen. Deshalb lässt sich mit
9.       Politikberatung zwischen Normalzustand                                Christian Bermes (2021) festhalten: „Wenn es darum
         und Krisenmodus                                                       geht, wissenschaftliche Politikberatung zu stärken
                                                                               und zu sichern, so bedeutet dies gerade in Zeiten
Die deutsche Politik verfügt über viele wissenschaft-                          manifester Krisen, die Orte zu stärken, an denen For-
liche Beratungsgremien, die überwiegend auf den                                schung stattfindet“.
Normalzustand ausgelegt sind. Die Corona-Pandemie
war deshalb auch ein Stresstest für das Beratungs-
system, den es insgesamt nicht nur gut bestanden                               Fazit
hat, sondern der zugleich eine steile Lernkurve dar-
stellte. Die Reaktionszeit wissenschaftlicher Gremien                          In der Pandemie ist Wissenschaft politischer und Po-
auf politischen Beratungsbedarf hat sich wesentlich                            litik wissenschaftlicher geworden. Zugleich sind ihre
verkürzt: Was früher Monate bis Wochen brauch-                                 Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse komple-
te, verkürzte sich in der Pandemie auf wenige Tage.                            xer und mitunter komplizierter geworden. Wissen-
Dennoch sind die Erfahrungen der Pandemie Anlass,                              schaftliche Politikberatung ist stärker als bisher in die
über die Anforderungen an Politikberatung unter                                Aufmerksamkeit von Medien und Gesellschaft gera-
den extremen Bedingungen einer Krise nachzuden-                                ten. Das bedeutet eine enorme Chance. Denn wissen-
ken, die sich merklich von Politikberatung im Nor-                             schaftliche Politikberatung wird für die Bewältigung
malzustand unterscheidet: „Die Krise hat allerdings                            der kommenden Herausforderungen, insbesondere
eine weitere zentrale Herausforderung deutlich zu-                             der Bewältigung der Klimakrise, essenziell sein. Die
tage treten lassen, nämlich auch unter hohem                                   Aufforderung „Listen to the Science“ der Fridays-for-
Zeit- und Handlungsdruck fundierte, gut begründete                             Future-Bewegung bringt das auf den Punkt. Doch die-
und ausgewogene Beratung situations- und adressa-                              ses listen to / follow the science ist, auch das hat uns die
tengerecht bereitzustellen.“ (Wissenschaftsrat 2021:                           Pandemie gelehrt, kein Selbstläufer. Die Gesellschaft
18) Zwei Punkte sind hier wichtig: Erstens braucht                             hat zurecht hohes Vertrauen in die Wissenschaft und
es verstärkte Reflexion und Sensibilisierung darüber,                          setzt große Hoffnungen in wissenschaftliche Politik-
wie Wissenschaft qualitätsgesichert beraten kann,                              beratung. Darin mag sich auch die Erwartung äußern,
wenn sie unter dem extremen Zeit- und Handlungs-                               dass das diskursgeleitete, wahrheitssuchende Vorge-
druck einer Krise nicht auf den etablierten Qualitäts-                         hen der Wissenschaft politische Entscheidungen bes-
sicherungsmechanismus Peer Review zurückgreifen                                ser machen kann. Um diese Erwartung zu realisieren,
kann, schlicht weil das viel zu lange dauern würde                             sind Wissenschaft und Politik aufgerufen, die Prak-
(vgl. Leopoldina 2021). Zweitens wäre zu diskutieren,                          tiken und Standards ihrer Zusammenarbeit weiter zu
ob Deutschland ein eigenständiges Gremium braucht,                             entwickeln. Wir sollten auch in dieser Hinsicht aus
das den expliziten Auftrag der politischen Beratung in                         der Pandemie lernen. Denn: Je besser die wissen-
Krisen und Notfallsituationen hat. Als erfolgreiches                           schaftliche Politikberatung, desto besser die politi-
Modell wurde wiederholt auf die britische Scienti-                             schen Entscheidungen, die auf ihr basieren.
fic Advisory Group on Emergencies (SAG E) verwiesen
(Schularick 2021; Schmutte/Kroemer 2021).
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                        Seite 06 /7

    NETZWERK
     WISSENSCHAFT

LITERATURVERZEICHNIS

Bermes, C. (2021): „Wir müssen die Universitäten stärken                       Niebuhr, C. (2021): Darf Wissenschaft aktivistisch sein? On-
in der Krise“. Online: https://www.faz.net/aktuell/wissen/for-                 line: https://merton-magazin.de/darf-wissenschaft-aktivistisch-
schung-politik/wissenschaftliche-politikberatung-universitaeten-               sein. [letzter Zugriff: 20.09.2021]
in-krise-staerken-17509285.html?printPagedArticle=true#pageI
ndex_2 [letzter Zugriff: 20.09.2021]                                           Schmutte, C.; Kroemer. H. K.: „Wir müssen die Politikberatung
                                                                               neu aufstellen.“ Online: https://www.faz.net/aktuell/wissen/for-
Bundesministerium für Bildung und Forschung (2021):                            schung-politik/wissenschaft-staerken-politikberatung-im-land-
#FactoryWisskomm, Handlungsperspektiven für die Wissen-                        neu-aufstellen-17495548.html [letzter Zugriff: 20.09.2021]
schaftskommunikation. Online:        https://www.bmbf.de/bmbf/
shareddocs/downloads/files/factorywisskommpublikation.pdf?__                   Schularick, M. (2021): Der entzauberte Staat. Was Deutsch-
blob=publicationFile&v=1. [letzter Zugriff: 20.09.2021]                        land aus der Pandemie lernen muss. München: C.H. Beck.

Burk, M.; Hetze, P. (2021): COVID-19-Pandemie: Hochschu-                       Weidenfeld, U. (2020): „Tonspur Wissen. Virologen als Pop-
len in der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Ergebnisse                  stars – wie kommuniziert die Wissenschaft in Corona-Zeiten?“
des Hochschul-Barometers 2021. Policy Paper 6 des Stif-                        Podcast. 30.04.2020. Online: https://www.leibniz-gemeinschaft.
terverbands. Online: https://www.stifterverband.org/medien/                    de/fileadmin/user_upload/Bilder_und_Downloads/Neues/Me-
hochschul-barometer-2021-politikberatung    [letzter  Zugriff:                 diathek/Podcast/podcast_10463_coronavirus_tonspur_wissen_
20.09.2021]                                                                    episode_212160_virologen_als_popstars_wie_kommuniziert_
                                                                               die_wissenschaft_in_corona_zeiten_1_.mp3    [letzter  Zugriff:
Dullien, S. (2021): Die „sauschlaue“ Stiko kann ihre Nicht-                    20.09.2021]
Empfehlung nicht erklären. Online: https://www.welt.de/wirt-
schaft/article232904643/Impfungen-fuer-Jugendliche-Stiko-                      Wissenschaft im Dialog (2020): Wissenschaftsbarometer Co-
kann-die-Impfempfehlung-nicht-erklaeren.html. [letzter Zugriff:                rona Spezial. Online: https://www.wissenschaft-im-dialog.de/
20.09.2021]                                                                    projekte/wissenschaftsbarometer/wissenschaftsbarometer-coro-
                                                                               na-spezial/. [letzter Zugriff: 20.09.2021]
Friedrich-Ebert-Stiftung; pollytix strategic research (Faus,
J.; Alin, S.; Sperl, M.) (2021): Wissenschaft für das Allgemein-               Wissenschaftsrat (2021): Impulse aus der COVID-19-Kri-
wohl, die Wirtschaft oder die Politik? Wahrnehmung von                         se für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in
Wissenschaft und wissenschaftlicher Politikberatung, Online:                   Deutschland. Online: https://www.wissenschaftsrat.de/down-
https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/                load/2021/8834-21.pdf?__blob=publicationFile&v=15 [letzter
artikelseite/studie-wahrnehmung-von-wissenschaft-und-wissen-                   Zugriff: 20.09.2021]
schaftlicher-politikberatung
                                                                               Ziegler, R.; Weißkopf, M. (2021): Wer forscht warum wozu?
Kuhlmann, S.; Franzke, J.; Dumas, B., Heine, M. (2021):                        Transparenz über Förderung, Interessen und Motive als He-
Daten als Grundlage für wissenschaftliche Politikberatung.                     rausforderung für die Wissenschaftskommunikation. Policy
Online: https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/ls-kuh-                  Paper der Friedrich-Ebert-Stiftung. Online: https://www.fes.de/
lmann/Politikberatung/Daten-Politikberatung-Kuhlmann-et-                       themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/artikelseite/policy-
al-13-9-21.pdf [letzter Zugriff: 20.09.2021]                                   paper-wer-forscht-warum-wozu

Lamberty, P.; Ree, J. H. (2021): Verschwörungserzählungen
als Bedrohung für die Gesellschaft. In: Zick, A.; Küpper, B.
(Hrsg.): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratie-
gefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, S. 283-
299. Bonn: Dietz Verlag

Leopoldina (2021): Wissenschaftsbasierte Beratung von Ge-
sellschaft und Politik in Krisenzeiten. Online: https://www.
leopoldina.org/presse-1/nachrichten/wissenschaftliche-beratung-
von-gesellschaft-und-politik-in-der-coronakrise/ [letzter Zu-
griff: 20.09.2021]
Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen                                                 Seite 07/7

    NETZWERK
     WISSENSCHAFT

DIE AUTOR_INNEN DIESER                                                         NETZWERK WISSENSCHAFT
PUBLIKATION
                                                                               Das Netzwerk Wissenschaft behandelt aktuelle wis-
                                                                               senschafts- und hochschulpolitische Fragestellungen
Prof. Dr. Stefanie Molthagen-Schnöring ist Professorin                         in Form von Konferenzen und Publikationen. Ziel
für Wirtschaftskommunikation und Vizepräsidentin                               der Aktivitäten ist es, zur Herstellung von Bildungs-
für Forschung und Transfer an der Hochschule für                               gerechtigkeit im Hochschulwesen, zur zukünftigen
Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin.                                           Gestaltung des deutschen Hochschulsystems und
                                                                               zum Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in fort-
Dr. Jan Wöpking ist Geschäftsführer der German U15,                            schrittliche Politik beizutragen.
der strategischen Interessenvertretung forschungs-
                                                                               Digitale Versionen aller Publikationen:
starker und international sichtbarer medizinführen-
                                                                               http://www.fes.de/themen/bildungspolitik
der Universitäten.

IMPRESSUM                                                                      KONTAKT UND FEEDBACK

Copyright by Friedrich-Ebert-Stiftung 2021                                     Dr. Martin Pfafferott
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin                                               Leitung Bildung und Wissenschaft
Abt. Analyse, Planung und Beratung                                             Abteilung Analyse, Planung und Beratung
Redaktion: Dr. Martin Pfafferott, Marion Stichler                              Martin.Pfafferott@fes.de
Grafik Seite 1: Johannes Beck ©
Gestaltung & Satz: minus Design, Berlin
                                                                               Publikationen können Sie per E-Mail nachbestellen bei:
                                                                               Hochschulpolitik@fes.de
Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung dürfen
nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden.

                                                                                  Besuchen Sie unseren Bildungsblog
                                                                                  www.fes.de/bildungsblog

                           Folgen Sie uns auch auf twitter.
Sie können auch lesen