Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise
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Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023 © Author(s) 2023. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise Lilith Kuhn Westfälische-Wilhelms-Universität, Münster, Germany Correspondence: Lilith Kuhn (lilithkuhn@uni-muenster.de) Received: 10 November 2021 – Revised: 7 December 2022 – Accepted: 19 December 2022 – Published: 10 January 2023 Kurzfassung. This article examines the constitution of affective atmospheres that arise through the encounter of scientific and theatre practices. Using an autoethnographic approach, the presented work focuses on a colla- borative theatre project on the climate crisis. Here, the author performed in the role of a scientific expert next to colleagues that have a climate change-related research background. Three aspects of affective atmospheres emer- ging in the rehearsal process are analysed: one’s position in the interplay of powerful materialities, the relationa- lity of sensual bodies, and the (in)stability of scientific identities. This paper shows that the artistic collaboration opens up space for reflecting on science that seek to overcome ostensible dualisms of subject/object, mind/body, and reason/emotion. It emphasizes the opportunity of art to bring into account body, more-than-humanity and relationality as part of scientific practices in times of anthropocentric debates facing climate change. 1 Einleitung ne Performance gebracht werden (Konzept Stand Dezem- ber 2020). Wie viel Körper müssen wir haben, um Wissen zu produzie- In diesem künstlerisch-kollaborativen Theaterprojekt gab ren? Wie viel Wissen braucht Theater, um kreativ zu werden? es keine Schauspieler:innen. Stattdessen wurden Wissen- Wie viel Kreativität braucht Politik, um handlungsfähig zu schaftler:innen (inklusive mir) angefragt2 , von denen einer- sein? (Notizen Dezember 2020) seits ganz konkretes theoretisches Wissen und andererseits Im November 2020 betrat ich den Proberaum 4 der frei- eine emotionale Interpretation dessen auf der Bühne erwartet en Theaterproduktion „Denkraum der Utopien – Eine Per- wurde. Unser3 theoretisches Wissen durchlief eine Transfor- formance der Wissenschaften“ in Münster. Dieser Raum mation von Flipcharts über tanzende Körper hin zu experi- mit hohen Decken, schwarzem Tanzboden und schweren, mentellen Sounds und Moosfiguren. Wir hatten oft Schwie- dunklen Vorhängen diente in den darauffolgenden Monaten1 rigkeiten, unsere Rolle als „Wissenschaftlerinnen“ in diesem dazu, „auf Basis der Forderungen der Fridays-for-Future- 2 Als Performerinnen auf der Bühne standen Nicole de Vries Bewegung in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen Handlungskonzepte zur Einhaltung der 1,5◦ Celsius maxi- (Stadt- und Partizipationsforscherin), Dr. Leandra Praetzel (Land- malen Erderwärmung“ zu entwickeln. Diese sollten bis Ende schaftsökologin) und Lilith Kuhn (Humangeographin). Aus Orts- Februar zusammen mit Künstler:innen aus der freien Thea- und Zeitgründen per Videoaufnahme eingespielt wurden Zuwena Kikoti (Landschaftsökologin), Lagipoiva Cherelle Jackson (Klima- terszene und Aktivist:innen von Fridays for Future in ei- journalistin) und Dr. Laura Mae Herzog (Umweltwissenschaftle- rin). 1 Ursprünglich waren die Aufführungen bereits für Februar 2021 3 Nicole, Leandra und ich waren im Probenprozess eine feste geplant. Sie wurden aufgrund der Coronapandemie jedoch auf Ju- Gruppe als „die Wissenschaftlerinnen“. Wir führten viele Gesprä- li 2021 verschoben. Die intensivsten Proben fanden trotzdem im che über unsere Erfahrungen während des Projekts. Ich spreche des- Januar und Februar 2021 statt. Darauf basiert ein Großteil des em- halb immer wieder von „uns“, wenn wir als Gruppe gemeint sind pirischen Materials. und vor ähnlichen Herausforderungen standen. Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
16 L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären Zusammenspiel zu verstehen. Anknüpfend an diese Beob- Entwurf zu kommentieren, um Fehlschlüsse offenzulegen. achtung möchte ich untersuchen, inwiefern die künstlerisch- Dieser Methodenmix ergänzt einerseits meine lückenhaften kollaborative Zusammenarbeit zur Bearbeitung der Klima- Erinnerungen an einzelne Proben (vgl. Adams et al., 2020) krise eine Reflexion wissenschaftlicher Identitäten und Sub- und zeichnet andererseits ein differenzierteres Bild meines jektivitäten anstoßen kann. Während sich jede von uns im ,situierten Wissens‘ (Haraway, 1995). Probenprozess mindestens einmal fragte, „wie [soll] ich die Im Anschluss an geographisch-künstlerische Forschungs- Theorie mit meinen Gefühlen verbinden [. . . ]“ (Leandra Ju- arbeiten werde ich im Folgenden mein Erkenntnisinteres- ni 2021), entstanden im Zusammenspiel unterschiedlicher se herleiten sowie den konzeptionellen und methodologi- Erwartungen an eine „Performance der Wissenschaften“ und schen Rahmen erläutern. Anschließend werden empirische künstlerischer Mittel emotional aufgeladene Atmosphären. Beispiele aus den Proben betrachtet und mit dem Kon- Diese sowohl intendierten als auch nicht intendierten Stim- zept affektiver Atmosphären analysiert. Gegenstand dieses mungen auf der Probe- und Theaterbühne werden im Fol- Artikels sind in diesem Zusammenhang weniger die in- genden als affektive Atmosphären gefasst und analysiert. tendierten Atmosphären des Theaterstücks, sondern nicht- Affektive Atmosphären stellen eine Art der Erfahrung dar, intendierte Irritationen entlang vielfältiger Subjektivierungen die „vor und neben der Herausbildung von Subjektivität auf- innerhalb der künstlerisch-kollaborativen Zusammenarbeit. tritt, über menschliche und nicht-menschliche Materialitäten Diese legen einerseits starre Vorstellungen über „die Wis- hinweg und zwischen Subjekt/Objekt-Unterscheidungen“ senschaft“ offen und bergen andererseits das Potenzial, darin (vgl. Anderson, 2009: 78, eigene Übersetzung). Das Affek- verhaftete Dualismen durch eine künstlerisch-kollaborative tive beschreibt die Beziehung zwischen Körpern „in Bezug Arbeit aufzubrechen. Der Artikel gibt einerseits wichtige auf ihre Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden“ (Mc- Impulse zur Debatte um affektive Atmosphären und kann Cormack, 2008: 426, eigene Übersetzung). Dies kann sowohl eine empirische Anwendung im Bereich autoethnographi- im Kontext von Temperatureinflüssen und wütenden Blicken scher Forschungsansätze beisteuern. Er zeigt andererseits die als auch einer summenden Soundbox beobachtet werden. Relevanz künstlerisch-kollaborativer Zusammenarbeit vor Für den vorliegenden Artikel sind affektive Atmosphären der dem Hintergrund posthumanistischer Gesellschaft-Umwelt- Rahmen von „kollektiven Affekten, in denen wir leben“, die Verständnisse4 in der Humangeographie. auch kleinräumig entstehen und wirken können (Anderson, 2009: 77, eigene Übersetzung). Diese Betrachtung ermög- 2 Künstlerisch-kollaborative Geographien licht die Analyse von Subjektpositionen innerhalb affekti- ver Atmosphären (wie der folgenden), die im Zusammen- An der Schnittstelle von Kunst und Geographie finden sich spiel von technischen Mitteln, Körpern sowie inhaltlichen zunehmend wissenschaftliche Arbeiten – vor allem in der Elementen immer neu hervorgebracht werden und Wirkung englischsprachigen Literatur: Einige betrachten Kunst als entfalten: Forschungsgegenstand, schauen sich künstlerisches Mate- rial an und interpretieren darin eingeschriebene Raumvor- Als wir dann aber auf der Bühne sind – das Licht stellungen und -konstruktionen (vgl. im Kontext von Thea- ist dunkel, die Musik geht an und irgendetwas ter: Rogers, 2017). Andere nutzen theatrale Ausdrucksfor- Chaotisches wird auf der Leinwand projiziert – wir men für eine kreative Wissenschaftskommunikation ihrer Er- haben keine klare Aufgabe und beginnen uns zu gebnisse. Raynor spricht hier von „testimonial theatre“ mit bewegen. Am Anfang fühle ich mich etwas über- Geschichten aus dem Feld (Raynor, 2018: 693). Theater fordert und verloren. Aber irgendwann merke ich, wird als „kreative“ Methode der Wissenschaftskommunikati- dass wir zu spielen beginnen. Ich krieche Leandra on genutzt. Das vorliegende Projekt baut im Gegensatz dazu gegenüber wie ein Tier, dann kommt Nicole und auf geographischen Ansätzen auf, die künstlerische Arbeiten bleibt stehen und wir frieren alle drei ein. Es fühlt „als Ensemble von Praktiken, Artefakten, Performances und sich toll an. Wir beginnen gleichzeitig von neuem Erfahrungen“ betrachten (Hawkins, 2011: 472, eigene Über- und das Spiel ändert sich (Vignette Februar 2021). setzung). Dieses Verständnis zeigt sich auch in sogenann- ten „,kreativen Geographien‘, bei denen Geograph:innen mit Ich halte Situationen der Performance in Vignetten fest Künstler:innen oder Kurator:innen kollaborieren, um zu ar- und fertige Gedächtnisprotokolle zu einzelnen Proben an. beiten, zu recherchieren, Ausstellungen zu entwickeln oder Inspiriert von feministischen Ansätzen nutze ich so den verschiedene kreative Techniken zu praktizieren“ (Hawkins, eigenen Körper als Forschungsinstrument (Schurr, 2014). 2011: 465, eigene Übersetzung). Die autoethnographische Herangehensweise beinhaltet auch die Analyse transkribierter Audioaufnahmen der Proben, 4 Die westlich geprägte Philosophie basiert auf Gedanken der Reflexionsfragen an den Regisseur und an Performance- Moderne, die den aufgeklärten Menschen der Natur gegenüberge- Kolleginnen sowie die Betrachtung entstandener Dokumente stellt. Dieses dualistische Verständnis wird jedoch von posthuma- des Probenprozesses (Konzept des Stücks, Bühnenskript). Im nistischen Theorien immer mehr in Frage gestellt (vgl. Barad, 2012; Schreibprozess hat das Team außerdem die Möglichkeit, den Latour, 2017; Haraway, 2018). Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären 17 Kreative Forschungsansätze als immer prominenter wer- worlds, our own academic worlds included“ (Hawkins, 2018: dender Teil der Geographie diskutiert Hawkins unter dem 17). Begriff eines „creative turn“, der eine Reihe an kreativen For- schungspraktiken aus Film, Fotografie, Theater, Tanz oder Learning about others’ protocols, techniques and Poesie vereint (Hawkins, 2018: 1). Kreativität verstehe ich skills can show up aptitudes you all too easily im Anschluss an Nina Williams jedoch nicht an einen Thea- take-for-granted: illuminating the points and pla- tersaal gebunden, sondern als prozesshafte Kraft („creative ces from which research leads are taken; sho- agency“), die sich aus einem Zusammenspiel vieler kon- wing how seemingly disparate things are pieced stitutiver Elemente ergibt – „rather than sustained through together; and, how material builds, and gathers co- a wilful subject“ (Williams, 2016: 1550). Kreative Prak- herence or momentum (Foster und Lorimer, 2007: tiken sind nicht auf geplante künstlerische Praktiken be- 427) schränkt und können sich auch zufällig ergeben. Die Arbeit der Künstler:innen des Theaterprojekts wird im Folgenden Eine erste Forschungsidee, die „künstlerische Schaffung deshalb nicht als „kreative Praktiken“ bezeichnet, sondern von Emotionen und Affekten“ im Kontext der Klimakrise zu unter „künstlerischen Praktiken“ gefasst. In den Theaterpro- untersuchen, scheiterte an meinen Erwartungen an die Thea- ben werde ich zwar Teil davon, bringe jedoch einen ande- terarbeit. Es gibt kaum Gespräche über künstlerische Mittel ren Hintergrund aus meiner humangeographischen Disziplin des Theaterstücks, die spezifische Emotionen oder Affekte mit. Hinsichtlich der Gefahr eines „Forschungstourismus“ hervorrufen sollen. Der Soundartist beschreibt, er habe mehr im Kontext künstlerischer Forschungspraktiken (Hawkins, „so ein Gefühl davon, wie etwas klingen könnte“ und pro- 2018: 13, eigene Übersetzung) verstehe ich die Zusammen- biere es dann aus (Kai Juli 2021). Von den beteiligten Künst- arbeit mit den Künstler:innen als wechselseitigen Prozess: ler:innen5 wird (zumindest in Anwesenheit von uns) wenig Ich beforsche nicht „das Theater“ oder imitiere künstlerische über „gewollte“ Emotionen oder Charakteristika der Projek- Praktiken, sondern analysiere affektive Atmosphären unserer tionen, Sounds, des Bühnenbildes oder der Choreographie gemeinsamen Arbeit. Die künstlerisch-kollaborative Praxis gesprochen, sondern meist werden Dinge ausprobiert und als bietet mir einen Raum „that embraces creativity and expe- „funktionierend“ betrachtet – oder eben nicht. rimentation in the production of public knowledge“ (Puwar und Sharma, 2012: 43). Meine verkörperte Forschungspra- Ich hab jetzt zum Einen mal eine Art abstrakte In- xis weist in diesem Zusammenhang das besondere Potenzial terpretation von, naja, Rückkopplungseffekten in auf, den Bogen zwischen sinnlichem Erleben und sprachli- der Atmosphäre wo gewisse Dinge passieren. Da chem Verstehen neu zu spannen und zu verhandeln (vgl. Bau- gibt es gar nicht so viel zu kommentieren, könnt er und Nöthen, 2021; Dickel und Keßler, 2019; Klein, 2018). ihr euch ja mal angucken (Sven Februar 2021). Performative Ansätze diskutieren mögliche Paradoxien zwi- Dieses Scheitern meiner ersten Idee, die künstlerische schen akademischen und künstlerischen Herangehensweisen Gestaltung der Bearbeitung der Klimakrise zu untersuchen, nicht als störend, sondern als produktives Element der Wis- führte mich schlussendlich zum Forschungsgegenstand die- sensproduktion (vgl. Carter, 2020; Ernst und Hutta, 2020). ser Arbeit: Unsere gemeinsame „Performance der Wissen- Daran anknüpfend analysiere ich, inwiefern die künstlerisch- schaften“, welche immer neue affektive Atmosphären her- performative Herstellung „wissenschaftlicher“ Subjekte in vorbringt, und die Identitäten, Subjektivitäten und Erwartun- den gemeinsamen Proben und Aufführungen Irritationen her- gen der Teilnehmenden in Frage stellt. vorbringt. Die „Performance[s] der Wissenschaften“ werden damit zur Forschungspraxis und zum Forschungsgegenstand gleichzeitig. 3 Das Konzept affektiver Atmosphären Die körperliche Erfahrung durch künstlerische Herange- hensweisen schafft neue Möglichkeiten einer „emotionalen Atmosphären können als Phänomene des Alltags gefasst Verbundenheit mit unseren Räumen und Landschaften“ und werden, die unterschiedliche räumliche Dimensionen affek- kann dynamische Relationen zwischen Menschlichem und tiv umfassen. Aus geographischer Perspektive eignet sich das Nicht-Menschlichem herausarbeiten (Hawkins, 2011: 473, Analysekonzept affektiver Atmosphären, um die räumliche eigene Übersetzung). Hawkins stellt insbesondere das Poten- Dimension von Gefühlen zu betrachten (vgl. Shaw, 2014; zial heraus, Verflechtungen der Welt jenseits von cartesiani- Stephens, 2016; Fregonese, 2017). Als ursprünglich phä- schen Dualismen in den Vordergrund zu stellen „für ein in- nomenologisches Konzept der Philosophie werden im Zu- tersubjektiveres und relationaleres Verständnis von künstleri- 5 Philip Gregor Grüneberg [Regisseur], Nina Hecker [Regie- scher Arbeit und der Welt“ (Hawkins, 2011: 473). Daran an- assistenz], Manfred Kerklau [Dramaturg], Marcela Ruiz Quinte- schließend will diese Arbeit binäre Denkmuster von Kunst- ro [Choreographin], Kai Niggemann [Soundartist], Sven Stratmann /Wissenschaft innerhalb des Theaterprojekts hinterfragen. [Videokünstler], Susanne Kudielka und Linda Hofmann [Bühnen- Die Reibungsmomente im Zusammentreffen unterschiedli- bild und Ausstattung], Timo von der Horst und Nick Hedemann cher Arbeitsbereiche eröffnet uns die Möglichkeit „to remake [Lichtdesign]. https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023 Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
18 L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären sammenhang mit Atmosphären die Wahrnehmungen fühlen- 2014: 3). Auch wenn Affekte eher einer materiellen und kör- der Subjekte von affektiven Qualitäten bestimmter Situatio- perlichen Ebene zugeordnet werden können, als Bestandteil nen oder Orte betrachtet (vgl. Schmitz, 1969; Tellenbach, von „embodied practices“ (Thrift, 2004: 60), stehen sie in ei- 1968). Eine „affektive Betroffenheit“ durch leibliche Erfah- nem Wechselverhältnis zu sagbaren Emotionen. Körperliche rung stellt dabei die Ausgangsbasis aller Welterfahrung dar Affekte und sagbare Emotionen lassen sich weder auf einer (Andermann und Eberlein, 2012: 8). Atmosphären werden analytischen noch pragmatischen Ebene trennen (vgl. An- als „Halbdinge“ im Spannungsfeld von Ursache und Einwir- derson, 2009), denn „bodies and sociolinguistic expressions kung (Schmitz, 2014) und bei Böhme als „Zwischenphäno- are inseparable and intertwined“ (Bille und Simonsen, 2021: men“ (Böhme, 2011) von Subjekt und Objekt thematisiert. 297). Beides kann aus sozialkonstruktivistischer Perspektive Daran anknüpfend diskutieren geographische Zugänge (z.B. nicht als essentialistische Eigenschaft eines vordiskursiven Hasse, 2012) Atmosphären als Ergebnisse gebauter Umwelt Körpers, sondern nur als Ergebnisse sozialer Prozesse gefasst beziehungsweise „räumlicher Inszenierung“ (Hasse, 2014). werden (vgl. Schurr und Strüver, 2016). Dabei stellen weder Raumperspektiven in Anknüpfung des spatial turns verste- Emotionen noch Affekte Repräsentationen einer diskursiven hen Räume jedoch nicht als statische Ergebnisse architekto- Wirklichkeit dar, sondern sie sind Ko-Produzent:innen der nischer oder ästhetischer Gegebenheiten, sondern als relatio- Welt. Sie sind nicht als etwas Passives zu betrachten, das ei- nal hervorgebrachte Konstruktionen (Runkel, 2016: 9f.). Ka- nem Körper widerfährt, sondern „emotions and atmospheres zig diskutiert Atmosphären im humangeographischen Kon- are also something people do“ (Bille und Simonsen, 2021, text als Medium zwischen Mensch und Umwelt, die „sich 305). im Empfinden in einer spezifischen wechselseitigen Verbin- Im Nachgang des material turns wird Materialität glei- dung zueinander herausbilden“ (Kazig, 2007: 170–171). In chermaßen als affektiver Resonanzkörper sowie „als ,Part- ihren Versuchen, binäre Distinktionen zwischen „inner and ner‘ bzw. ,aktiver Konstrukteur‘, der an der Herstellung von outer world, medium and content, meaning and matter, in- Wissen und Wirklichkeit beteiligt ist“, angesehen (Wiertz, dividual and collective, body and mind, subject and ob- 2021: 298). Affektive Atmosphären lassen sich damit nicht ject“ zu überwinden (Riedel, 2019: 86), sind affektive At- nur auf stimmungsvolle Atmosphären zwischen menschli- mosphären nicht mehr das Ergebnis der Wahrnehmung eines chen Körpern beziehen, sondern auch auf Räume, die durch statischen Subjekts, sondern der „shared ground“ zur Her- affektive Qualitäten nicht-menschlicher Relationen und Be- ausbildung von Subjekten und Emotionen (Anderson, 2009: wegungen hervorgebracht werden. Im Kontext der Klima- 78). Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Perspekti- krise kommen machtvolle klimatische Veränderungen der ven werden Subjektpositionen als brüchig (vgl. Anderson, Erdatmosphäre in den Blick, „denn die irreversiblen revolu- 2009; Fregonese, 2017) beschrieben: Körper besitzen keine tionären Taten von Menschen wurden abgelöst von der Träg- stabilen Identitäten, sondern verändern sich in Relation zu- heit der Meereserwärmung, vom Albedowandel der Pole, einander (vgl. McCormack, 2014). Das Erkenntnisinteresse von der Versauerung der Ozeane“ (Latour, 2017: 74). Nicht- liegt dementsprechend nicht darauf, welche Atmosphäre ein menschliche Wesen und Materialitäten zeigen sich als Wir- Raum hat und wie diese intentional konstruiert wird, son- kungsmächte, „die mit dem, was wir sind und tun, nicht mehr dern inwiefern Atmosphären kollektive Wirklichkeiten und ohne Verbindung sind“ (ebd.: 112). McCormack spricht in Subjekte hervorbringen und verändern können (vgl. Riedel, diesem Zusammenhang von einer Atmosphäre als „einem 2019). Affektive Atmosphären sind damit dynamische Teile Raum, dessen sich darin bewegende Materialität es unmög- der Wirklichkeit, die sich immer wieder neu konstituieren: lich macht, das Meteorologische vom Affektiven zu trennen“ (2008: 417, eigene Übersetzung). Damit werden bei der Ana- Atmospheres are perpetually forming and defor- lyse affektiver Atmosphären nicht nur Grenzen, sondern auch ming, appearing and disappearing, as bodies enter Hierarchiemuster zwischen einem Subjekt als aktiv handeln- into relation with one another. They are never fi- de:r Akteur:in und einem passiven Objekt sowie zwischen nished, static or at rest. Atmospheres are indeter- Mensch und Umwelt aufgebrochen. In diesem Zusammen- minate. They are resources that become elements hang beziehe ich mich auf die Annahmen posthumanistischer within sense experience (Anderson, 2009: 79). Theorien, die Mensch und Materie als verschränkt ansehen (Barad, 2012), Identitäten als partiell (Haraway, 1995) und Affekte als sinnliche Erfahrung im Kontext affektiver At- nicht-menschliche Wesen als wirkmächtige Akteure wahr- mosphären verstehe ich als räumliche Kräfte, die um kollek- nehmen (Latour, 2017). tive Körper entstehen, wirken und sie bewegen. Die geogra- Materie wird produziert und ist produktiv; sie phische Affektforschung nimmt explizit auch Präkognitives, wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein Unterbewusstes, Trans- und mehr-als-Humanes in den Blick Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft (Schurr, 2014: 150). Ob diese affektiven Qualitäten von Kör- von Dingen (Barad, 2012: 14). pern oder Räumen ausgehen, lässt sich nicht unterscheiden, denn „both are always in the process of actively enhancing Affektive Atmosphären werden nicht nur von Menschen and dampening the qualities of one another“ (McCormack, beeinflusst oder intentional gestaltet, sondern auch von Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären 19 nicht-menschlichen Techniken oder Materialitäten (vgl. Ash, ce, and may or may not understand [themselves] explicitly 2013). Als Analyseaspekt einer geographischen Atmosphä- as subjects of their own research“ (Butz, 2010: 139). Ich renforschung nimmt Michels in seinem Aufsatz „Resear- nutze meinen eigenen Körper als Forschungsinstrument (vgl. ching affective atmospheres“ die räumlich-materielle Kom- Schurr und Strüver, 2016) und untersuche ihn in „the interre- position im Zusammenhang mit den sinnlichen Fähigkei- lation of self/other/language/body/context“ (Spry, 2016: 14). ten menschlicher Körper in den Blick (Michels, 2015). Dar- Der Körper wird zum Medium der Wahrnehmung mit ei- auf aufbauend fragt er „how habitualised bodies and mate- ner „haptischen Raumdimension“ (Kattenbelt, 2010: 27, ei- rially modulated environments are stabilised, how they can gene Übersetzung). Ich „beforsche“ dabei nicht allein mei- fall apart and how they sometimes change and allow for ne körperliche Erfahrung, sondern blicke aus meinem Kör- the emergence of new atmospheric compositions“ (Michels, per auf Atmosphären, mit denen ich verschränkt bin und die 2015: 261). Daran anknüpfend werde ich (1) Materialitäten, ich selbst mit hervorbringe. Ein autoethnographischer Zu- (2) Körper und Affekte sowie (3) (In-)Stabilitäten von Sub- gang ermöglicht keinen Zugriff auf vordiskursive Affekte jektpositionen als Bestandteile und Produkte affektiver At- (vgl. Timm, 2016), macht jedoch die eigene Position im Kon- mosphären der künstlerisch-kollaborativen Theaterarbeit in text des Forschungsgegenstandes transparent. Mit einer Au- den Blick nehmen (vgl. ebd.). Im Dazwischen oder der „In- toethnographie lassen sich Erkenntnisse über die Konstrukti- traaktion“ (vgl. Barad, 2012) von Körpern, Bedeutungen und on von affektiven Atmosphären „in ihrer Verwobenheit mit Materialitäten finden wir keine abschließenden Antworten der Subjektivität der ForscherInnen“ ziehen, die ein Blick darüber, wie die Welt ist: Wir können jedoch unsere Vorstel- von außen nicht möglich gemacht hätte (Geimer, 2011: 301). lungen davon herausfordern. Als Beteiligte des untersuchten Im Forschungsprozess beziehe ich auch andere For- Theaterprojekts nehme ich dafür eine autoethnographische schungssubjekte mit ein: Ich ergänze meine Gedächtnispro- Perspektive ein. tokolle und Vignetten um Stimmen außerhalb meines Kör- pers, indem ich Audioaufnahmen der Proben mache und transkribiere. Diese Stimmen sprechen jedoch nicht unab- 4 Ein autoethnographischer Zugang zu affektiven hängig von mir und ich partizipiere – beim Versuch zu ver- Atmosphären stehen – aktiv an den Atmosphären, die ich untersuche. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Einerseits nehme ich als Person Die Analyse der Arbeit des Theaterprojekts wird – abge- Einfluss auf die Inhalte und die Konzeption des Stückes – sehen von einer Offenlegung vorläufiger Ergebnisse in der zum Beispiel mit meinen wissenschaftlichen Inputs auf die Gruppe – nur von mir vorgenommen. Allumfassende Fra- Ausgestaltung der Szenen, die ich danach untersuche. Ande- gen bleiben unbeantwortet, da ich „den göttlichen Trick, al- rerseits ist auch der Forschungsprozess mit den Ergebnissen les von nirgendwo aus sehen zu können“ nicht beherrschen verschränkt: kann (Haraway, 1995: 81). Aus diesem Grund greife ich auf Die Anderen sagen überhaupt nicht so viel bei den Haraways Verständnis einer partialen Perspektive zurück, die Reflexionen, was ich schade finde – auch weil ich meinen Blick als nur einen Bestandteil einer objektiven Be- mein Aufnahmegerät anhabe und an meinen Arti- trachtung der Wirklichkeit ansieht. Mein Wissen entsteht si- kel denke (Vignette Februar 2021). tuiert, als ein Ergebnis meines Körpers, meiner Einbettung in soziale Prozesse, meiner Arbeitstechniken sowie Geräte, Hätte ich Einblicke in die dramaturgische Arbeit hinter und unterscheidet sich damit von anderen Perspektiven. Mei- der Bühne erfragt, hätte ich meine Rolle, die ich als Per- ne performative Involviertheit weist mir während des For- formerin in dem Prozess einnahm und aus der heraus sich schungsprozesses bestimmte Rollen und Identitäten inner- meine Erfahrungen ergeben, in dieser Form verloren. Im Fo- halb der Gruppe zu und eröffnet mir so nur einen bestimmten kus der nachfolgenden Analyse steht deshalb nicht das Thea- Zugang zu Informationen. Als Performerin bin ich nicht bei terstück selbst, sondern affektive Atmosphären, die sich in jedem Treffen des künstlerischen Teams anwesend und soll der künstlerisch-kollaborativen Erarbeitung ergeben. Dafür beispielsweise auch keine Videoaufnahmen der Generalpro- nutze ich im Sinne einer Autoethnographie eine „ästhetisch be anschauen. dichte Beschreibung persönlicher und zwischenmenschlicher Diese Involviertheit legt für den vorliegenden Artikel ei- Erfahrungen“ (Adams et al., 2020: 5). ne autoethnographische Herangehensweise nahe, denn Au- toethnographien werden retrospektiv und selektiv über Er- 5 Das Theater mit den Wissenschaften eignisse geschrieben, „die daraus resultieren, dass sie [die Autor:innen] Teil einer Kultur sind und/oder eine bestimm- Das Theaterstück „Denkraum der Utopien – eine Performan- te soziokulturelle Identität besitzen“ (Adams et al., 2020: ce der Wissenschaften“ ist als interaktive Performance aufge- 474). Ich bin Forschende und Beteiligte und damit „,insider‘ baut: Die erste Hälfte besteht aus individuellen Lecture Per- and ,complete-member‘ academic researcher[s] who study a formances sowie einer gemeinsamen Choreographie von Le- group or social circumstances of which [they are] part, use andra, Lilith und Nicole. Inhaltlich knüpfen die performati- [their] insiderness as a methodological and analytical resour- ven Vorträge zu Permafrost, Mensch-Umwelt-Verhältnissen https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023 Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
20 L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären und Partizipation im Kontext der Klimakrise an unsere je- weiligen Forschungsinteressen an. Darauf aufbauend folgen in der zweiten Hälfte interaktive Gruppenarbeiten: Vor dem Theater wird eine aktivistisch motivierte Straßensperrung durchgeführt, auf der Bühne debattiert ein Parlament der Dinge den sofortigen Kohleausstieg und es werden Ideen zur utopischen Stadt gesponnen. Die Aktivist:innen von Fridays for Future organisieren rahmend eine spielerische Einlass- prozedur, erscheinen als Tannenfigur, Mooswesen und Imke- rin auf der Bühne und helfen bei der Straßensperrung. Zuwe- na, Cherelle und Laura sind mit kurzen Inputs zur Klimakri- se per Videoprojektion auf der Bühne zu sehen und erweitern die vorhandenen Perspektiven mit globalen Sichtweisen. Al- le Komponenten werden von künstlerischen Mitteln beglei- tet. Das Bühnenbild ist in einen Teil vor der transparenten Leinwand („Gase“) und dahinter aufgeteilt. Die Dramaturgie Abb. 1. Lecture Performance Permafrost ©Dominic Sehak. wechselt mit Hilfe der räumlichen Aufteilung und des zeit- lichen Ablaufs von Dystopie zur Utopie und vom Zuhören zum Mitmachen. Sie fordert uns „als Wissenschaftlerinnen“ Die Projektionen auf der Leinwand sollen nicht nur das in vielfältigen Subjektivierungen innerhalb affektiver Atmo- Gesprochene unterstützen, sondern auch einen eigenen qua- sphären heraus: als Teil einer räumlich-materiellen Umge- litativen Beitrag zur Szene leisten. Bei der Generalprobe im bung, als affizierte Körper und als wissenschaftliche Identi- Theater treten zu Beginn des Vortrags einzelne Mikroben aus täten. dem Boden. Als Leandra die hungrigen Mikroben erwähnt, die beim Auftauen des Permafrosts aus ihrem Winterschlaf 5.1 Materialitäten machtvoller Atmosphären: Mensch, erwachen, tauchen zusätzlich Mikroben auf dem Boden um Mikrobe und Musik sie herum auf. Als sie von den Kipppunkten spricht, ist nur noch ein Gewimmel auf der Leinwand hinter ihr zu sehen Das Licht, die Bühne, die Projektion, am Ende bin und es tönt ein durchdringendes Dröhnen aus den Lautspre- ich nur ein Teil davon und gar nicht allein im Mit- chern. Ein Besucher des Theaters berichtet, dass ihn diese telpunkt wie bisher immer. Es wird total viel über dystopische Atmosphäre sehr gepackt hätte (Gedächtnispro- technische Details gesprochen und gar nicht mehr tokoll Juli 2021). Die künstlerisch-technische Komposition so viel darüber, was und wie ich es sage (Vignette spielt bei der „packenden“ Atmosphäre eine große Rolle, was Februar 2021). ein Blick in den Ablaufplan verdeutlicht: Dass die künstlerisch-technische Komposition nicht nur Die Lecture Performance von Leandra thematisiert Kipp- eine passive Begleitung von Leandras Performance ist, wird punkte im Klimasystem. Die Atmosphäre erwärmt sich, der in der Probe bei einer Diskussion über die Lautstärke der Mu- Permafrost taut auf und Mikroben erwachen aus ihrem tau- sik deutlich. sendjährigen Winterschlaf. Sie sind hungrig, zersetzen orga- nisches Material und stoßen dabei Methan aus. Methan be- Manfred [Dramaturg]: Es ist eigentlich gerade als schleunigt den Temperaturanstieg wiederum, weshalb noch sie dann sagt, nicht mehr als sie über den gan- mehr Permafrost auftaut. „In der Wissenschaft nennen wir zen Permafrost spricht, sondern dann kommt diese das positive feedback-loops“ erklärt sie immer wieder in un- Wende, was man eigentlich tun soll. Das fand ich seren Proben. Gleichzeitig macht sich der Videokünstler Ge- bisschen komisch, dass man das gerade nicht hört. danken darüber, was zur gleichen Zeit auf der Leinwand pas- Also die Idee find ich gut, dass die redet und es ist sieren könnte: so laut, aber vom Inhalt her, kommt dann: Deshalb müssen wir CO2 senken. Das bekommt man dann Es gab ja jetzt zu Leandras Permafrost Thema nicht mit. mal eine Idee, was Permafrostartiges runterläuft. Philip [Regisseur]: Es werden Leute verstehen, Dann haben wir das gemacht, das war aber dann aber sie werden auch merken, man hört es fast tatsächlich halt einfach, sah nicht super realis- nicht mehr. Weil es zu spät ist. (Februar 2021) tisch aus, aber sah eben aus wie schmelzendes Permafrost-Zeugs und da haben wir auch irgend- Die Musik verstärkt nicht den Inhalt des Gesagten im Hin- wie entschieden, es ist ein bisschen 1 zu 1 und 1 tergrund, sondern sie übertönt in diesem Moment die gespro- zu 1 ist auch immer ein bisschen langweilig (Sven chene Sprache und übernimmt damit eine bedeutungsvolle Februar 2021). Sprechposition. Leandras Erklärungen über eine nötige Re- Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären 21 Tabelle 1. Ablaufplan Szene 8 (Stand März 2021). Szene Was Wo Wer Sound Projektion Licht 8 Vortrag Bühne: Leandra, Tanne (auf Leandra_Vortrag Boden: Straße Mitte hinten 60 % Permafrost vor der Licht achten!) (Bei Mikroben lauter, Mikroben („Winterschlaf“) Gaze wenn leiser, geht der Mikroben „Winterschlaf“: Am Ende um- Vortrag weiter) Gaze: Straße raus, Spot schwach drehen, langsam auf Methan 1 (nach Mikroben) rein, langsamer Fade Gaze zu (so weit, Mikro Rückkopplung dass kein Schatten Methan 2 (nach Gefühl) Mikroben verschwinden: geworfen wird) Nach letztem Satz, Spot langsam heller (paral- L vor Gaze: lauter, ste- lel), dann langsam Straße hen lassen bis Video zu Methan 3 (Tipping Point) dazu, schwächer (30 s Fade) Ende Wenn L vor Gaze: Black Methan 4 Fade Interviews (wenn L vor Gaze, Übergang Interviews) duktion der Verbrennung fossiler Rohstoffe ist kaum noch in der Theaterarbeit sind machtvolle Bestandteile einer af- hörbar und nimmt den Zuhörer:innen die theoretische Mög- fektiven Atmosphäre. Sie unterstützen das Verständnis wirk- lichkeit, noch einen Lösungsweg gegen die Feedback-Loops mächtiger nicht-menschlicher Akteur:innen einerseits hin- zu erfahren. Gleichzeitig verliert Leandra zwischen wim- sichtlich der Klimakrise und andererseits gibt die verkörperte melnden Mikroben und lauter Musik ihre machtvolle Posi- Forschungspraxis einen Hinweis auf „viele und wundervol- tion auf der Bühne: le Formen“ von Akteur:innen (Haraway, 1995: 93), die uns tagtäglich affizieren. Die irritierende Erfahrung, in der Probe Ich fand auch, dass es sehr schnell sehr laut war. oder auf der Bühne hinter technischen Mitteln zu verschwin- Und es ist schon auch ein beschissenes Gefühl, den, lässt uns konkret spüren, dass wir nur ein (kleiner) Teil wenn man so redet und weiß, es versteht einen kei- der Welt unter vielen sind. ner (Leandra Februar 2021). Im Zusammenspiel von Körpern und Techniken verschie- 5.2 Affizierte Körper in relationalen Atmosphären aus ben sich Machtverhältnisse. Während Leandra spricht, be- Theorie, Tanz und Tränen stimmt ihre Stimme den Raum, als handelndes Subjekt ist sie vermeintlich die Urheberin der Atmosphäre, sobald die Ich stehe im Raum mit dem Rücken zu den an- Musik jedoch lauter und das Licht dunkler wird, tritt sie in deren. Ich versuche zu fühlen, wann die anderen den Hintergrund und die Unterscheidung von Subjekt und den Impuls zum Loslaufen geben. Oder gebe ich Objekt versagt. Tritt sie selbstbestimmt in den Hintergrund ihn? Während ich noch darüber nachdenke, haben oder schiebt der Tontechniker sie ins Abseits? Und wel- wir uns schon in Bewegung gesetzt (Vignette Janu- chen Anteil daran hat die Art der Musik, die Anweisung des ar 21). Regisseurs oder etwa die Beschaffenheit der Lautsprecher? Wann bestimmt das Skript die Atmosphäre und wann wird Nach einer Lecture Performance zu posthumanistischen sie von eigenwilligen Maschinen oder vergesslichen Körpern Ansätzen von Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen folgt im beherrscht? Stück eine Choreographie (basierend auf Improvisation), be- In diesem Konglomerat aus menschlichen und nicht- gleitet von Projektionen, Sounds und „Naturwesen“, die die menschlichen Akteur:innen kann kein:e Urheber:in der At- Verflechtung von Mensch und Natur künstlerisch-körperlich mosphäre im architektonischen Sinne Böhmes (2006) aus- bearbeitet – und uns oft überfordert. Die Choreographin Mar- gemacht werden, sondern materielle und soziale Vorausset- cela bezieht die theoretischen Gedanken aus den Proben im- zungen und Annahmen bestimmen diese Verbindungen im- mer wieder in ihre choreographische Arbeit mit unseren Kör- mer wieder neu (vgl. Bauer und Nöthen, 2021). „They [at- pern ein: mospheres] are indeterminate with regard to the distinction between the subjective and objective“ (Anderson, 2009: 80). This is my body, and this body has the possibility Vielmehr verschieben sich Subjektpositionen innerhalb der to do things. How is this body? Which kind of po- räumlich-materiellen Komposition, springen zwischen un- tential? What happens if all this energy of outside terschiedlichen Akteur:innen und zeigen „the agency of the comes inside. And all this ideas, and all these ab- built environment in co-shaping sensorial experiences“ (Fre- stractions and all this blablabla, it arrives into the gonese, 2017: 9). Die technischen und künstlerischen Mittel body? (Marcela Februar 2021) https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023 Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
22 L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären a possibility to go somewhere else. Ja? (Marcela Februar 2021) In der materiellen Verbindung mit dem Tanzboden, der die Grenzen meiner körperlichen Hülle verwischt, erkenne ich „things are an extension of my body, just as my body is an extension of the world“ (Dornberg und Fetzner, 2020: 232). Die affektive Atmosphäre stellt sich dabei als kollektive Si- tuation im Proberaum dar und fühlt sich für mich gleich- zeitig sehr persönlich an (vgl. Anderson, 2009). Sie fordert die Vorstellung von Gefühlen „als privaten mentalen Zustän- den eines bewussten Subjekts“ heraus und zeigt sich statt- dessen „als kollektiv verkörpert, räumlich ausgedehnt, mate- riell und kulturell beeinflusst“ (Riedel, 2019: 85). Gleichzei- tig ist das Kollektive nicht statisch, sondern verändert sich Abb. 2. Choreographie © Dominic Sehak. in Ko-Präsenz mit den Affekten, die sich in der Bewegung zwischen uns dreien entwickeln. Bei der körperlichen Arbeit soll die Theorie nicht ver- schwinden, „but you just have your body to say – how can I Sie erklärt uns die nächste Übung und sagt zu Le- manage to talk through my body?“ (Marcela Februar 2021). andra und Nicole, dass sie mich mitnehmen sol- Das ganze künstlerische Team ist an diesem Tag anwesend len. Das erleichtert mich. Wir sollen ein Organis- und unsere improvisierten Bewegungen werden zum ersten mus sein, ein Dreieck mit Verbindungen. Wir be- Mal zum Mittelpunkt der Probe. Da ich aufgrund persönli- ginnen zusammen und plötzlich geht es ganz leicht, cher Umstände bereits angespannt den Proberaum betrete, weil ich auf die Anderen reagieren kann. Leandra fühle ich mich den Zuschauenden in einer erwartungsvollen geht auf den Boden, dann bleibe ich oben, als sie Atmosphäre ausgesetzt und bin den Tränen nahe: hochkommt, gehe ich nach unten, Nicole läuft auf die Seite, und ich laufe zwischendurch. Es ist viel Jetzt weiß ich nicht, mit welchem Körperteil ich leichter. Ich werde entspannt und gelöst. Danach anfangen soll. Wie soll ich ein Mensch-Natur- sind alle ganz glücklich und beeindruckt und meine Verhältnis ausdrücken? Lange bleibe ich stehen. Stimmung von davor ist wie weggeblasen (Vignette Ich fühle die Augen der Anderen auf mir. Als sich Februar 2021). Nicole und Leandra anfangen zu bewegen, ma- che ich irgendwas. Ich versuche an das Erste zu Die Choreographin lenkt unsere Aufmerksamkeit weg von denken, was mir aus meinem Vortrag einfällt, ein uns selbst hin zu den Anderen. Wir sind nicht mehr allein auf Baum, lege mich auf den Boden und fahre die Wur- der Bühne, sondern stehen als Körper mit affektiven Fähig- zeln nach. Letztes Mal kam mir der Boden wie ein keiten (vgl. McCormack, 2014; Michels, 2015) in einer reso- Fremdkörper vor. Heute ist er mein Schutz, und nanten Verbindung mit den anderen. Affektive Räume sind oben fühle ich mich allem ausgesetzt und nackt. Ich relational und dynamisch, „they involve nonreducible relati- bewege mich, aber ich fühle nichts. Ich bekomme ons between bodies, and between bodies and other kinds of Panik, bleibe stehen und weiß, dass das nicht lange things, including artifacts, ideas, and concepts, where neither geht, ohne zu erklären. Irgendwann gehe ich, sage, these things nor bodies are ever stable themselves“ (McCor- ich brauche eine Pause (Vignette Februar 2021). mack, 2014: 4). Als Organismus finden wir eine gemeinsame Sprache in der Bewegung, die die ganze Atmosphäre verän- Die Materialität des Bodens bekommt aus der Emotiona- dert und deutlich macht, dass intime Momente des Einzelnen lität heraus in Verbindung zum Körper eine neue Bedeutung. in größere Strukturen eingebettet sind. Und genauso überfor- Während ich erfolglos versuche, wissenschaftliche Konzep- dernd der körperliche Anspruch an theoretische Gedanken, te und Vorstellungen körperlich zu übersetzen, nutze ich den so unbedeutend ein Tanzboden oder unveränderlich ein Ge- Boden als Zufluchtsort meiner Überforderung. Dies passiert mütszustand erscheint, genauso schnell bemerken wir, dass jedoch nicht unabhängig von erlernten Praktiken durch die wir mehr Körper sind und brauchen als wir dachten. künstlerische Arbeit in den Proben, die unsere Körper in die materielle Umwelt einbettet: 5.3 (In-)stabile Wissenschaftssubjekte zwischen Poststrukturalismus, Performance und Pappmaché You become one, the skin of your body becomes one with the skin of the floor. And THIS connec- Ich sage, dass ich es verstehe; dass das wohl Teil tion, this interconnection, this relationship give us eines kollaborativen Prozesses ist, dass wir hier Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären 23 nicht nur einfach einen Vortrag abliefern und fer- tig, sondern dass wir gemeinsam immer weiter daran arbeiten und auch aus unserer Komfortzone rausmüssen (Gedächtnisprotokoll Februar 2021). In den Proben wird immer wieder deutlich, wie Identitäts- ordnungen reproduziert, aber in der Komposition einer At- mosphäre auch herausgefordert werden. Die Konzeptidee ei- ner „Performance der Wissenschaften“ mit klaren Vorstel- lungen des Regisseurs an „die Wissenschaft“, Handlungs- empfehlungen zu präsentieren, rückt mit der Zeit in den Hin- tergrund. Unsere Gespräche kommen an Grenzen, wenn Phi- lip als Regisseur fragt, „wie man denn jetzt mit Poststruktu- ralismus der Klimakrise begegnen kann“ (Gedächtnisproto- koll Dezember 2020). Ich habe in der Humangeographie ge- Abb. 3. Performance Lecture Mensch-Natur-Verhältnisse © Domi- lernt, gesellschaftliche Zusammenhänge zu beobachten, zu nic Sehak. dekonstruieren und zu kritisieren. Ich kann erklären, inwie- fern ein modernes Mensch-Natur-Verständnis mit der Klima- krise zusammenhängt; jedoch nicht, wie wir das im Dreisch- senschaftsposition und emotionalen Praktiken immer wieder ritt überwinden können. Anstatt uns also weiter in „When I nach: rule the world“-Rollenspiele zu stecken, lässt uns die künst- lerische Leitung erstmal unabhängig des Konzepts das ma- Und immer dann, wenn es für meinen Geschmack chen, was wir in der Rolle als Wissenschaftlerinnen gewohnt zu ,schauspielerisch‘ wurde, war ich raus. Weil es sind: Wir bereiten Vorträge zu unseren Forschungsthemen mir zu albern und aufgesetzt war, und weil ich ver- vor. Als wir beginnen, daraus eine Performance zu entwi- wirrt war, ob das nicht meiner Rolle als Wissen- ckeln, stoßen wir an klar abgesteckte Vorstellungen über wis- schaftlerin widerspricht (Nicole Februar 2021). senschaftliche Praktiken und Routinen, die wir selbst mit- Vor allem der zweite Teil der Aufführung – eine Klein- bringen. Unsere Inhalte sind in den Proben jedoch nicht der gruppenarbeit mit dem Publikum – stellt mich vor die Her- Kritik eines Fachpublikums, sondern einer sich dynamisch ausforderung, meine Vorstellungen von mir als „Wissen- entwickelnden Dramaturgie ausgesetzt, der wir uns anpas- schaftlerin“ zu überdenken. Ich schaffe es nicht, eine Grup- sen müssen. Diese Herausforderung wird dadurch verstärkt, penarbeit zu entwickeln, die meinen Ansprüchen einer theo- dass das künstlerische Team weniger unseren Worten, son- retisch tiefsinnigen Darstellung meiner Forschungsinteres- dern viel mehr unseren Körpern beim Sprechen zuhört. Der sen entspricht – verständlich für eine unvorhersehbare Ziel- Vortrag wird als eine Praktik angesehen, die mehr Dimensio- gruppe – und gleichzeitig der Klimakrise eine Utopie entge- nen umfasst als nur die inhaltliche: genstellt, die den in unserem Kontext geforderten Vorstellun- gen einer sinnlichen Theateratmosphäre standhält. Manchmal ist es sehr technisch. Natürlich seid ihr keine Schauspieler [sic], aber wenn man so Ich bin von der Situation genervt. Ich habe das Ge- ein Wort betont, einen Punkt macht, ein Break fühl, ich bin verantwortlich, mir etwas Kreatives macht, dann kommt manchmal die Emotion, weil aus der Nase zu ziehen, obwohl ich das eigentlich es einen Rhythmus hat. Es hat einen Rhythmus und nicht in meiner Verantwortung sehe. Ich merke das dann vielleicht, wenn ihr den Rhythmus wieder- auch an und Philip [Regisseur] meint, wir würden holt, dann kommt eine Musik. Und man spürt diese doch miteinander reden und ob ich nicht das Ge- Musik irgendwie. Es ist nicht die Emotion, ich wei- fühl hätte, dass auch neue Dinge zur Sprache kom- ne hier oder ich bin total wütend, weil das ist sehr men. Doch. Aber ich hab trotzdem das Gefühl, et- plakativ besonders hier mit diesem ganzen Thema. was abliefern zu müssen, weil er immer fragt, wie Ja, ich würde sagen wie so ein Gulasch, es kocht ich mir das vorstelle. Er meint, es läge eben daran, so langsam und am Ende hat es einen guten Ge- da ich es ja auch durchführen werde, müsse es zu schmack (Marcela Februar 2021). mir passen. Aber ich sage, dass ich nicht die kreati- ve Kompetenz hätte und das nicht leisten kann (Ge- Wir stehen also als wissenschaftliche Expertinnen auf der dächtnisprotokoll Februar 2021). Bühne und sollen mit Kohlenstoff, Donna Haraway und au- tofreien Innenstädten Gulasch kochen. Bis zum Ende des Am Ende nenne ich meine spielerische Interaktion „Par- Probenprozesses tun wir uns damit schwer und zeichnen lament der Dinge“ – angelehnt an Bruno Latour – und schi- die Grenzen zwischen einer vermeintlich vernünftigen Wis- cke der Bühnenbildnerin Ideen für Spielfiguren der Braun- https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023 Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
24 L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären kohlethematik aus Pappmaché. Ich hoffe, anhand der Mate- als ich das niederschreibe6 , bemerke ich, wie viel Mühe rialität eines Braunkohlebaggers oder Spechts eine sinnliche sich das künstlerische Team mit uns gemacht hat, um die- Atmosphäre schaffen zu können. Und tatsächlich: Das Publi- se Schranken in unseren Köpfen zu öffnen und wie sehr wir kum scheut sich nicht (egal ob Professor oder Schulgruppe), uns daran festklammerten. Wie gerne wären wir stereotypi- in der Rolle eines Radieschens die Zukunft Lützeraths mit sche „Wissenschaftlerinnen“ geblieben, hätten unsere Notiz- einem Kohlebagger auszuhandeln. Ich versuche immer wie- bücher in der Hand behalten wollen, uns beim Tanzen hin- der, mich selbst in meiner Doppelrolle als Wissenschaftlerin ter unseren Brillen versteckt und beim Sprechen in natur- und Performerin in den spielerischen Umgangsweisen einzu- wissenschaftlichen Fakten verheddert. Fokussiert auf text- finden und meine starren Vorstellungen über wissenschaftli- basierte Forschungsmethoden wollten wir insgeheim dua- che Praktiken aufzubrechen. Doch selbst nach drei geglück- listische Denkmuster zwischen Subjekt/Objekt, Geist/Kör- ten Aufführungen fühle ich mich zwischen den Figuren, der per und Vernunft/Emotion reproduzieren. Doch wir kamen Thematik und dem Publikum verunsichert, wer ich eigent- nicht umhin, unsere Komfortzone zu verlassen, die techni- lich sein soll: Dozierende? Wissenschaftlerin? Schauspiele- schen Mittel als machtvolle und relationale Bestandteile des rin? Spielkind? Raumes wahrzunehmen, die transformativen Verbindungen Und so sind sowohl die Regie und Dramaturgie als auch unserer Körper zuzulassen und unsere Identitäten als brü- wir „Performerinnen“ mit unterschiedlichen Vorstellungen chig anzunehmen. In den affektiven Atmosphären der Thea- und Erwartungen auf der Suche nach „der Wissenschaft“ als terarbeit zeigen sich damit einerseits Emotionen und Prak- spielerische Praxis im Sinne einer „artistic mode“ (Klein, tiken, die machtvollen dualistischen Diskursen folgen und 2018). Wir werden in den affektiven Atmosphären der ge- Identitätsordnungen an ihrem Platz halten (wollen). Ande- meinsamen Theaterproben dazu herausgefordert, uns als rerseits zeigen sie deren Veränderlichkeit hin zu der Idee Wissenschaftlerinnen in einem neuen Kontext zu konstru- einer spielerisch-künstlerischen Wissenschaft und ihrem er- ieren und konnten beobachten wie „atmospheres may in- kenntnistheoretischen Potenzial im Kontext posthumanisti- terrupt, perturb and haunt fixed persons, places or things“ scher Theorien (vgl. Haraway, 2018). (Anderson, 2009: 78). Während ich Identitäten aus einer Trotz der spielerischen Neuverhandlung von Dualismen in wissenschaftlich-poststrukturalistischen Perspektive als par- den Proben muss aus feministischer Perspektive jedoch auch tiell und dynamisch begreife, scheitere ich in der künstle- hinterfragt werden, inwiefern Machtverhältnisse auch repro- rischen Praxis genau daran: Durch unterschiedliche Anru- duziert wurden. Befeuern wir mit unseren weiblich gelese- fungen im Prozess zeigen sich unsere Identitäten und Prak- nen Körpern und sinnlichen Elementen nicht genau dieselben tiken als instabile Konstruktionen – wir sind Wissenschaft- Dualismen, die wir hinterfragen sollten? Schaffen wir damit lerinnen, Tänzerinnen, Freundinnen, Kolleginnen und Per- eine Verbindung von Frau/Körper/Emotion/Natur, die im Ge- formerinnen –, reproduzieren jedoch statische Kategorien. gensatz zu Mann/Geist/Verstand/Kultur steht? Warum sind Entgegen dualistischer Vorstellungen zwischen der Wissen- alle Performenden sowie beispielsweise die Choreographin schaft und künstlerischen Praktiken lerne ich, dass es auch und Bühnenbildnerinnen weiblich gelesen und alle, die die spielerisch-kreative Wissenschaft geben kann – und viel- Technik machen sowie Regisseur und Dramaturg – als Ent- leicht geben muss – mit einem Spielkind, dem Publikum oder scheidungsträger – männlich? Ist die Theaterbranche nicht den Pappmaché-Figuren auf der Bühne. tief durchzogen von patriarchalen Strukturen, die sich hier ebenfalls zeigen? Ist es Zufall, dass die „emotionalen“ Vor- bilder unseres Regisseurs Maja Göpel und Greta Thunberg waren und nicht etwa Herr Schellnhuber7 ? Und taten wir 6 Fazit uns deshalb so schwer, uns auf emotionale Ausdrucksformen einzulassen, weil wir in einem dualistisch denkenden und Wir stehen auf der Bühne als fühlende und tanzende Körper. patriarchalen Wissenschaftssystem wissen, dass wir uns an Im Laufe der Proben erkunden wir die Emotionen unseres männlich konnotierten Praktiken orientieren sollten, um dort Wissens und im gemeinsamen Spiel verlieren wir uns in un- Bestand zu haben? Ob es dem Stück gelingt, diese aufzu- terschiedlichen Rollen und verwandeln all das in Bewegun- brechen, indem ausschließlich Wissenschaftlerinnen zu Wort gen. Mit dem Umzug von der Probebühne in den Theatersaal kommen, bleibt – vor allem vor dem Hintergrund männli- geraten unsere Körper in den Hintergrund. Sie geben nicht cher Kollegen in höheren Positionen, die sich auf Anfrage mehr das Tempo vor, sondern erstrahlen in Lichtkegeln, ver- keine Zeit dafür nahmen – fraglich. Wir saßen zum Teil stil- stummen in lauten Sounds und verstecken sich hinter Pro- lend, mit auslaufenden Verträgen und gestresst von universi- jektionen. Als Teil affektiver Atmosphären der künstlerisch- kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise lernen wir, dass 6 Vgl. dazu „den Schreibprozess als ein Denk-, Erfahrungs- und wir als Menschen nur ein Teil der Welt unter vielen sind, Konstitutionsprozess“ nicht-repräsentationaler Forschung (Bert- ein verwobener Körper, der fühlt und affiziert. Der künst- ram, 2016: 287). lerische Rahmen fordert unsere Identitätsordnungen heraus 7 Prof. Schellnhuber ist u.a. Gründungsdirektor des Potsdam- und destabilisiert starre Subjektpositionen. Und erst jetzt, Instituts für Klimafolgenforschung. Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023 https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
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