Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise

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Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise
Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
© Author(s) 2023. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

                   Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive
                   Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen
                            Bearbeitung der Klimakrise
                                                             Lilith Kuhn
                                       Westfälische-Wilhelms-Universität, Münster, Germany
                                   Correspondence: Lilith Kuhn (lilithkuhn@uni-muenster.de)

         Received: 10 November 2021 – Revised: 7 December 2022 – Accepted: 19 December 2022 – Published: 10 January 2023

        Kurzfassung. This article examines the constitution of affective atmospheres that arise through the encounter
        of scientific and theatre practices. Using an autoethnographic approach, the presented work focuses on a colla-
        borative theatre project on the climate crisis. Here, the author performed in the role of a scientific expert next to
        colleagues that have a climate change-related research background. Three aspects of affective atmospheres emer-
        ging in the rehearsal process are analysed: one’s position in the interplay of powerful materialities, the relationa-
        lity of sensual bodies, and the (in)stability of scientific identities. This paper shows that the artistic collaboration
        opens up space for reflecting on science that seek to overcome ostensible dualisms of subject/object, mind/body,
        and reason/emotion. It emphasizes the opportunity of art to bring into account body, more-than-humanity and
        relationality as part of scientific practices in times of anthropocentric debates facing climate change.

1   Einleitung                                                        ne Performance gebracht werden (Konzept Stand Dezem-
                                                                      ber 2020).
Wie viel Körper müssen wir haben, um Wissen zu produzie-                 In diesem künstlerisch-kollaborativen Theaterprojekt gab
ren? Wie viel Wissen braucht Theater, um kreativ zu werden?           es keine Schauspieler:innen. Stattdessen wurden Wissen-
Wie viel Kreativität braucht Politik, um handlungsfähig zu            schaftler:innen (inklusive mir) angefragt2 , von denen einer-
sein? (Notizen Dezember 2020)                                         seits ganz konkretes theoretisches Wissen und andererseits
   Im November 2020 betrat ich den Proberaum 4 der frei-              eine emotionale Interpretation dessen auf der Bühne erwartet
en Theaterproduktion „Denkraum der Utopien – Eine Per-                wurde. Unser3 theoretisches Wissen durchlief eine Transfor-
formance der Wissenschaften“ in Münster. Dieser Raum                  mation von Flipcharts über tanzende Körper hin zu experi-
mit hohen Decken, schwarzem Tanzboden und schweren,                   mentellen Sounds und Moosfiguren. Wir hatten oft Schwie-
dunklen Vorhängen diente in den darauffolgenden Monaten1              rigkeiten, unsere Rolle als „Wissenschaftlerinnen“ in diesem
dazu, „auf Basis der Forderungen der Fridays-for-Future-
                                                                         2 Als Performerinnen auf der Bühne standen Nicole de Vries
Bewegung in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen
Handlungskonzepte zur Einhaltung der 1,5◦ Celsius maxi-               (Stadt- und Partizipationsforscherin), Dr. Leandra Praetzel (Land-
malen Erderwärmung“ zu entwickeln. Diese sollten bis Ende             schaftsökologin) und Lilith Kuhn (Humangeographin). Aus Orts-
Februar zusammen mit Künstler:innen aus der freien Thea-              und Zeitgründen per Videoaufnahme eingespielt wurden Zuwena
                                                                      Kikoti (Landschaftsökologin), Lagipoiva Cherelle Jackson (Klima-
terszene und Aktivist:innen von Fridays for Future in ei-
                                                                      journalistin) und Dr. Laura Mae Herzog (Umweltwissenschaftle-
                                                                      rin).
    1 Ursprünglich waren die Aufführungen bereits für Februar 2021        3 Nicole, Leandra und ich waren im Probenprozess eine feste
geplant. Sie wurden aufgrund der Coronapandemie jedoch auf Ju-        Gruppe als „die Wissenschaftlerinnen“. Wir führten viele Gesprä-
li 2021 verschoben. Die intensivsten Proben fanden trotzdem im        che über unsere Erfahrungen während des Projekts. Ich spreche des-
Januar und Februar 2021 statt. Darauf basiert ein Großteil des em-    halb immer wieder von „uns“, wenn wir als Gruppe gemeint sind
pirischen Materials.                                                  und vor ähnlichen Herausforderungen standen.

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise
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Zusammenspiel zu verstehen. Anknüpfend an diese Beob-            Entwurf zu kommentieren, um Fehlschlüsse offenzulegen.
achtung möchte ich untersuchen, inwiefern die künstlerisch-      Dieser Methodenmix ergänzt einerseits meine lückenhaften
kollaborative Zusammenarbeit zur Bearbeitung der Klima-          Erinnerungen an einzelne Proben (vgl. Adams et al., 2020)
krise eine Reflexion wissenschaftlicher Identitäten und Sub-     und zeichnet andererseits ein differenzierteres Bild meines
jektivitäten anstoßen kann. Während sich jede von uns im         ,situierten Wissens‘ (Haraway, 1995).
Probenprozess mindestens einmal fragte, „wie [soll] ich die         Im Anschluss an geographisch-künstlerische Forschungs-
Theorie mit meinen Gefühlen verbinden [. . . ]“ (Leandra Ju-     arbeiten werde ich im Folgenden mein Erkenntnisinteres-
ni 2021), entstanden im Zusammenspiel unterschiedlicher          se herleiten sowie den konzeptionellen und methodologi-
Erwartungen an eine „Performance der Wissenschaften“ und         schen Rahmen erläutern. Anschließend werden empirische
künstlerischer Mittel emotional aufgeladene Atmosphären.         Beispiele aus den Proben betrachtet und mit dem Kon-
Diese sowohl intendierten als auch nicht intendierten Stim-      zept affektiver Atmosphären analysiert. Gegenstand dieses
mungen auf der Probe- und Theaterbühne werden im Fol-            Artikels sind in diesem Zusammenhang weniger die in-
genden als affektive Atmosphären gefasst und analysiert.         tendierten Atmosphären des Theaterstücks, sondern nicht-
   Affektive Atmosphären stellen eine Art der Erfahrung dar,     intendierte Irritationen entlang vielfältiger Subjektivierungen
die „vor und neben der Herausbildung von Subjektivität auf-      innerhalb der künstlerisch-kollaborativen Zusammenarbeit.
tritt, über menschliche und nicht-menschliche Materialitäten     Diese legen einerseits starre Vorstellungen über „die Wis-
hinweg und zwischen Subjekt/Objekt-Unterscheidungen“             senschaft“ offen und bergen andererseits das Potenzial, darin
(vgl. Anderson, 2009: 78, eigene Übersetzung). Das Affek-        verhaftete Dualismen durch eine künstlerisch-kollaborative
tive beschreibt die Beziehung zwischen Körpern „in Bezug         Arbeit aufzubrechen. Der Artikel gibt einerseits wichtige
auf ihre Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden“ (Mc-   Impulse zur Debatte um affektive Atmosphären und kann
Cormack, 2008: 426, eigene Übersetzung). Dies kann sowohl        eine empirische Anwendung im Bereich autoethnographi-
im Kontext von Temperatureinflüssen und wütenden Blicken         scher Forschungsansätze beisteuern. Er zeigt andererseits die
als auch einer summenden Soundbox beobachtet werden.             Relevanz künstlerisch-kollaborativer Zusammenarbeit vor
Für den vorliegenden Artikel sind affektive Atmosphären der      dem Hintergrund posthumanistischer Gesellschaft-Umwelt-
Rahmen von „kollektiven Affekten, in denen wir leben“, die       Verständnisse4 in der Humangeographie.
auch kleinräumig entstehen und wirken können (Anderson,
2009: 77, eigene Übersetzung). Diese Betrachtung ermög-
                                                                 2   Künstlerisch-kollaborative Geographien
licht die Analyse von Subjektpositionen innerhalb affekti-
ver Atmosphären (wie der folgenden), die im Zusammen-
                                                                 An der Schnittstelle von Kunst und Geographie finden sich
spiel von technischen Mitteln, Körpern sowie inhaltlichen
                                                                 zunehmend wissenschaftliche Arbeiten – vor allem in der
Elementen immer neu hervorgebracht werden und Wirkung
                                                                 englischsprachigen Literatur: Einige betrachten Kunst als
entfalten:
                                                                 Forschungsgegenstand, schauen sich künstlerisches Mate-
                                                                 rial an und interpretieren darin eingeschriebene Raumvor-
     Als wir dann aber auf der Bühne sind – das Licht
                                                                 stellungen und -konstruktionen (vgl. im Kontext von Thea-
     ist dunkel, die Musik geht an und irgendetwas
                                                                 ter: Rogers, 2017). Andere nutzen theatrale Ausdrucksfor-
     Chaotisches wird auf der Leinwand projiziert – wir
                                                                 men für eine kreative Wissenschaftskommunikation ihrer Er-
     haben keine klare Aufgabe und beginnen uns zu
                                                                 gebnisse. Raynor spricht hier von „testimonial theatre“ mit
     bewegen. Am Anfang fühle ich mich etwas über-
                                                                 Geschichten aus dem Feld (Raynor, 2018: 693). Theater
     fordert und verloren. Aber irgendwann merke ich,
                                                                 wird als „kreative“ Methode der Wissenschaftskommunikati-
     dass wir zu spielen beginnen. Ich krieche Leandra
                                                                 on genutzt. Das vorliegende Projekt baut im Gegensatz dazu
     gegenüber wie ein Tier, dann kommt Nicole und
                                                                 auf geographischen Ansätzen auf, die künstlerische Arbeiten
     bleibt stehen und wir frieren alle drei ein. Es fühlt
                                                                 „als Ensemble von Praktiken, Artefakten, Performances und
     sich toll an. Wir beginnen gleichzeitig von neuem
                                                                 Erfahrungen“ betrachten (Hawkins, 2011: 472, eigene Über-
     und das Spiel ändert sich (Vignette Februar 2021).
                                                                 setzung). Dieses Verständnis zeigt sich auch in sogenann-
                                                                 ten „,kreativen Geographien‘, bei denen Geograph:innen mit
   Ich halte Situationen der Performance in Vignetten fest
                                                                 Künstler:innen oder Kurator:innen kollaborieren, um zu ar-
und fertige Gedächtnisprotokolle zu einzelnen Proben an.
                                                                 beiten, zu recherchieren, Ausstellungen zu entwickeln oder
Inspiriert von feministischen Ansätzen nutze ich so den
                                                                 verschiedene kreative Techniken zu praktizieren“ (Hawkins,
eigenen Körper als Forschungsinstrument (Schurr, 2014).
                                                                 2011: 465, eigene Übersetzung).
Die autoethnographische Herangehensweise beinhaltet auch
die Analyse transkribierter Audioaufnahmen der Proben,               4 Die westlich geprägte Philosophie basiert auf Gedanken der
Reflexionsfragen an den Regisseur und an Performance-            Moderne, die den aufgeklärten Menschen der Natur gegenüberge-
Kolleginnen sowie die Betrachtung entstandener Dokumente         stellt. Dieses dualistische Verständnis wird jedoch von posthuma-
des Probenprozesses (Konzept des Stücks, Bühnenskript). Im       nistischen Theorien immer mehr in Frage gestellt (vgl. Barad, 2012;
Schreibprozess hat das Team außerdem die Möglichkeit, den        Latour, 2017; Haraway, 2018).

Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023                                                          https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären einer künstlerisch-kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären                                                            17

   Kreative Forschungsansätze als immer prominenter wer-          worlds, our own academic worlds included“ (Hawkins, 2018:
dender Teil der Geographie diskutiert Hawkins unter dem           17).
Begriff eines „creative turn“, der eine Reihe an kreativen For-
schungspraktiken aus Film, Fotografie, Theater, Tanz oder              Learning about others’ protocols, techniques and
Poesie vereint (Hawkins, 2018: 1). Kreativität verstehe ich            skills can show up aptitudes you all too easily
im Anschluss an Nina Williams jedoch nicht an einen Thea-              take-for-granted: illuminating the points and pla-
tersaal gebunden, sondern als prozesshafte Kraft („creative            ces from which research leads are taken; sho-
agency“), die sich aus einem Zusammenspiel vieler kon-                 wing how seemingly disparate things are pieced
stitutiver Elemente ergibt – „rather than sustained through            together; and, how material builds, and gathers co-
a wilful subject“ (Williams, 2016: 1550). Kreative Prak-               herence or momentum (Foster und Lorimer, 2007:
tiken sind nicht auf geplante künstlerische Praktiken be-              427)
schränkt und können sich auch zufällig ergeben. Die Arbeit
der Künstler:innen des Theaterprojekts wird im Folgenden             Eine erste Forschungsidee, die „künstlerische Schaffung
deshalb nicht als „kreative Praktiken“ bezeichnet, sondern        von Emotionen und Affekten“ im Kontext der Klimakrise zu
unter „künstlerischen Praktiken“ gefasst. In den Theaterpro-      untersuchen, scheiterte an meinen Erwartungen an die Thea-
ben werde ich zwar Teil davon, bringe jedoch einen ande-          terarbeit. Es gibt kaum Gespräche über künstlerische Mittel
ren Hintergrund aus meiner humangeographischen Disziplin          des Theaterstücks, die spezifische Emotionen oder Affekte
mit. Hinsichtlich der Gefahr eines „Forschungstourismus“          hervorrufen sollen. Der Soundartist beschreibt, er habe mehr
im Kontext künstlerischer Forschungspraktiken (Hawkins,           „so ein Gefühl davon, wie etwas klingen könnte“ und pro-
2018: 13, eigene Übersetzung) verstehe ich die Zusammen-          biere es dann aus (Kai Juli 2021). Von den beteiligten Künst-
arbeit mit den Künstler:innen als wechselseitigen Prozess:        ler:innen5 wird (zumindest in Anwesenheit von uns) wenig
Ich beforsche nicht „das Theater“ oder imitiere künstlerische     über „gewollte“ Emotionen oder Charakteristika der Projek-
Praktiken, sondern analysiere affektive Atmosphären unserer       tionen, Sounds, des Bühnenbildes oder der Choreographie
gemeinsamen Arbeit. Die künstlerisch-kollaborative Praxis         gesprochen, sondern meist werden Dinge ausprobiert und als
bietet mir einen Raum „that embraces creativity and expe-         „funktionierend“ betrachtet – oder eben nicht.
rimentation in the production of public knowledge“ (Puwar
und Sharma, 2012: 43). Meine verkörperte Forschungspra-                Ich hab jetzt zum Einen mal eine Art abstrakte In-
xis weist in diesem Zusammenhang das besondere Potenzial               terpretation von, naja, Rückkopplungseffekten in
auf, den Bogen zwischen sinnlichem Erleben und sprachli-               der Atmosphäre wo gewisse Dinge passieren. Da
chem Verstehen neu zu spannen und zu verhandeln (vgl. Bau-             gibt es gar nicht so viel zu kommentieren, könnt
er und Nöthen, 2021; Dickel und Keßler, 2019; Klein, 2018).            ihr euch ja mal angucken (Sven Februar 2021).
Performative Ansätze diskutieren mögliche Paradoxien zwi-
                                                                     Dieses Scheitern meiner ersten Idee, die künstlerische
schen akademischen und künstlerischen Herangehensweisen
                                                                  Gestaltung der Bearbeitung der Klimakrise zu untersuchen,
nicht als störend, sondern als produktives Element der Wis-
                                                                  führte mich schlussendlich zum Forschungsgegenstand die-
sensproduktion (vgl. Carter, 2020; Ernst und Hutta, 2020).
                                                                  ser Arbeit: Unsere gemeinsame „Performance der Wissen-
Daran anknüpfend analysiere ich, inwiefern die künstlerisch-
                                                                  schaften“, welche immer neue affektive Atmosphären her-
performative Herstellung „wissenschaftlicher“ Subjekte in
                                                                  vorbringt, und die Identitäten, Subjektivitäten und Erwartun-
den gemeinsamen Proben und Aufführungen Irritationen her-
                                                                  gen der Teilnehmenden in Frage stellt.
vorbringt. Die „Performance[s] der Wissenschaften“ werden
damit zur Forschungspraxis und zum Forschungsgegenstand
gleichzeitig.                                                     3   Das Konzept affektiver Atmosphären
   Die körperliche Erfahrung durch künstlerische Herange-
hensweisen schafft neue Möglichkeiten einer „emotionalen          Atmosphären können als Phänomene des Alltags gefasst
Verbundenheit mit unseren Räumen und Landschaften“ und            werden, die unterschiedliche räumliche Dimensionen affek-
kann dynamische Relationen zwischen Menschlichem und              tiv umfassen. Aus geographischer Perspektive eignet sich das
Nicht-Menschlichem herausarbeiten (Hawkins, 2011: 473,            Analysekonzept affektiver Atmosphären, um die räumliche
eigene Übersetzung). Hawkins stellt insbesondere das Poten-       Dimension von Gefühlen zu betrachten (vgl. Shaw, 2014;
zial heraus, Verflechtungen der Welt jenseits von cartesiani-     Stephens, 2016; Fregonese, 2017). Als ursprünglich phä-
schen Dualismen in den Vordergrund zu stellen „für ein in-        nomenologisches Konzept der Philosophie werden im Zu-
tersubjektiveres und relationaleres Verständnis von künstleri-        5 Philip Gregor Grüneberg [Regisseur], Nina Hecker [Regie-
scher Arbeit und der Welt“ (Hawkins, 2011: 473). Daran an-        assistenz], Manfred Kerklau [Dramaturg], Marcela Ruiz Quinte-
schließend will diese Arbeit binäre Denkmuster von Kunst-         ro [Choreographin], Kai Niggemann [Soundartist], Sven Stratmann
/Wissenschaft innerhalb des Theaterprojekts hinterfragen.         [Videokünstler], Susanne Kudielka und Linda Hofmann [Bühnen-
Die Reibungsmomente im Zusammentreffen unterschiedli-             bild und Ausstattung], Timo von der Horst und Nick Hedemann
cher Arbeitsbereiche eröffnet uns die Möglichkeit „to remake      [Lichtdesign].

https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023                                                           Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
18                                                  L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären

sammenhang mit Atmosphären die Wahrnehmungen fühlen-            2014: 3). Auch wenn Affekte eher einer materiellen und kör-
der Subjekte von affektiven Qualitäten bestimmter Situatio-     perlichen Ebene zugeordnet werden können, als Bestandteil
nen oder Orte betrachtet (vgl. Schmitz, 1969; Tellenbach,       von „embodied practices“ (Thrift, 2004: 60), stehen sie in ei-
1968). Eine „affektive Betroffenheit“ durch leibliche Erfah-    nem Wechselverhältnis zu sagbaren Emotionen. Körperliche
rung stellt dabei die Ausgangsbasis aller Welterfahrung dar     Affekte und sagbare Emotionen lassen sich weder auf einer
(Andermann und Eberlein, 2012: 8). Atmosphären werden           analytischen noch pragmatischen Ebene trennen (vgl. An-
als „Halbdinge“ im Spannungsfeld von Ursache und Einwir-        derson, 2009), denn „bodies and sociolinguistic expressions
kung (Schmitz, 2014) und bei Böhme als „Zwischenphäno-          are inseparable and intertwined“ (Bille und Simonsen, 2021:
men“ (Böhme, 2011) von Subjekt und Objekt thematisiert.         297). Beides kann aus sozialkonstruktivistischer Perspektive
Daran anknüpfend diskutieren geographische Zugänge (z.B.        nicht als essentialistische Eigenschaft eines vordiskursiven
Hasse, 2012) Atmosphären als Ergebnisse gebauter Umwelt         Körpers, sondern nur als Ergebnisse sozialer Prozesse gefasst
beziehungsweise „räumlicher Inszenierung“ (Hasse, 2014).        werden (vgl. Schurr und Strüver, 2016). Dabei stellen weder
Raumperspektiven in Anknüpfung des spatial turns verste-        Emotionen noch Affekte Repräsentationen einer diskursiven
hen Räume jedoch nicht als statische Ergebnisse architekto-     Wirklichkeit dar, sondern sie sind Ko-Produzent:innen der
nischer oder ästhetischer Gegebenheiten, sondern als relatio-   Welt. Sie sind nicht als etwas Passives zu betrachten, das ei-
nal hervorgebrachte Konstruktionen (Runkel, 2016: 9f.). Ka-     nem Körper widerfährt, sondern „emotions and atmospheres
zig diskutiert Atmosphären im humangeographischen Kon-          are also something people do“ (Bille und Simonsen, 2021,
text als Medium zwischen Mensch und Umwelt, die „sich           305).
im Empfinden in einer spezifischen wechselseitigen Verbin-         Im Nachgang des material turns wird Materialität glei-
dung zueinander herausbilden“ (Kazig, 2007: 170–171). In        chermaßen als affektiver Resonanzkörper sowie „als ,Part-
ihren Versuchen, binäre Distinktionen zwischen „inner and       ner‘ bzw. ,aktiver Konstrukteur‘, der an der Herstellung von
outer world, medium and content, meaning and matter, in-        Wissen und Wirklichkeit beteiligt ist“, angesehen (Wiertz,
dividual and collective, body and mind, subject and ob-         2021: 298). Affektive Atmosphären lassen sich damit nicht
ject“ zu überwinden (Riedel, 2019: 86), sind affektive At-      nur auf stimmungsvolle Atmosphären zwischen menschli-
mosphären nicht mehr das Ergebnis der Wahrnehmung eines         chen Körpern beziehen, sondern auch auf Räume, die durch
statischen Subjekts, sondern der „shared ground“ zur Her-       affektive Qualitäten nicht-menschlicher Relationen und Be-
ausbildung von Subjekten und Emotionen (Anderson, 2009:         wegungen hervorgebracht werden. Im Kontext der Klima-
78). Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Perspekti-     krise kommen machtvolle klimatische Veränderungen der
ven werden Subjektpositionen als brüchig (vgl. Anderson,        Erdatmosphäre in den Blick, „denn die irreversiblen revolu-
2009; Fregonese, 2017) beschrieben: Körper besitzen keine       tionären Taten von Menschen wurden abgelöst von der Träg-
stabilen Identitäten, sondern verändern sich in Relation zu-    heit der Meereserwärmung, vom Albedowandel der Pole,
einander (vgl. McCormack, 2014). Das Erkenntnisinteresse        von der Versauerung der Ozeane“ (Latour, 2017: 74). Nicht-
liegt dementsprechend nicht darauf, welche Atmosphäre ein       menschliche Wesen und Materialitäten zeigen sich als Wir-
Raum hat und wie diese intentional konstruiert wird, son-       kungsmächte, „die mit dem, was wir sind und tun, nicht mehr
dern inwiefern Atmosphären kollektive Wirklichkeiten und        ohne Verbindung sind“ (ebd.: 112). McCormack spricht in
Subjekte hervorbringen und verändern können (vgl. Riedel,       diesem Zusammenhang von einer Atmosphäre als „einem
2019). Affektive Atmosphären sind damit dynamische Teile        Raum, dessen sich darin bewegende Materialität es unmög-
der Wirklichkeit, die sich immer wieder neu konstituieren:      lich macht, das Meteorologische vom Affektiven zu trennen“
                                                                (2008: 417, eigene Übersetzung). Damit werden bei der Ana-
     Atmospheres are perpetually forming and defor-             lyse affektiver Atmosphären nicht nur Grenzen, sondern auch
     ming, appearing and disappearing, as bodies enter          Hierarchiemuster zwischen einem Subjekt als aktiv handeln-
     into relation with one another. They are never fi-         de:r Akteur:in und einem passiven Objekt sowie zwischen
     nished, static or at rest. Atmospheres are indeter-        Mensch und Umwelt aufgebrochen. In diesem Zusammen-
     minate. They are resources that become elements            hang beziehe ich mich auf die Annahmen posthumanistischer
     within sense experience (Anderson, 2009: 79).              Theorien, die Mensch und Materie als verschränkt ansehen
                                                                (Barad, 2012), Identitäten als partiell (Haraway, 1995) und
   Affekte als sinnliche Erfahrung im Kontext affektiver At-    nicht-menschliche Wesen als wirkmächtige Akteure wahr-
mosphären verstehe ich als räumliche Kräfte, die um kollek-     nehmen (Latour, 2017).
tive Körper entstehen, wirken und sie bewegen. Die geogra-
                                                                     Materie wird produziert und ist produktiv; sie
phische Affektforschung nimmt explizit auch Präkognitives,
                                                                     wird erzeugt und ist zeugungsfähig. Materie ist ein
Unterbewusstes, Trans- und mehr-als-Humanes in den Blick
                                                                     Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft
(Schurr, 2014: 150). Ob diese affektiven Qualitäten von Kör-
                                                                     von Dingen (Barad, 2012: 14).
pern oder Räumen ausgehen, lässt sich nicht unterscheiden,
denn „both are always in the process of actively enhancing        Affektive Atmosphären werden nicht nur von Menschen
and dampening the qualities of one another“ (McCormack,         beeinflusst oder intentional gestaltet, sondern auch von

Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023                                                        https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären                                                         19

nicht-menschlichen Techniken oder Materialitäten (vgl. Ash,      ce, and may or may not understand [themselves] explicitly
2013). Als Analyseaspekt einer geographischen Atmosphä-          as subjects of their own research“ (Butz, 2010: 139). Ich
renforschung nimmt Michels in seinem Aufsatz „Resear-            nutze meinen eigenen Körper als Forschungsinstrument (vgl.
ching affective atmospheres“ die räumlich-materielle Kom-        Schurr und Strüver, 2016) und untersuche ihn in „the interre-
position im Zusammenhang mit den sinnlichen Fähigkei-            lation of self/other/language/body/context“ (Spry, 2016: 14).
ten menschlicher Körper in den Blick (Michels, 2015). Dar-       Der Körper wird zum Medium der Wahrnehmung mit ei-
auf aufbauend fragt er „how habitualised bodies and mate-        ner „haptischen Raumdimension“ (Kattenbelt, 2010: 27, ei-
rially modulated environments are stabilised, how they can       gene Übersetzung). Ich „beforsche“ dabei nicht allein mei-
fall apart and how they sometimes change and allow for           ne körperliche Erfahrung, sondern blicke aus meinem Kör-
the emergence of new atmospheric compositions“ (Michels,         per auf Atmosphären, mit denen ich verschränkt bin und die
2015: 261). Daran anknüpfend werde ich (1) Materialitäten,       ich selbst mit hervorbringe. Ein autoethnographischer Zu-
(2) Körper und Affekte sowie (3) (In-)Stabilitäten von Sub-      gang ermöglicht keinen Zugriff auf vordiskursive Affekte
jektpositionen als Bestandteile und Produkte affektiver At-      (vgl. Timm, 2016), macht jedoch die eigene Position im Kon-
mosphären der künstlerisch-kollaborativen Theaterarbeit in       text des Forschungsgegenstandes transparent. Mit einer Au-
den Blick nehmen (vgl. ebd.). Im Dazwischen oder der „In-        toethnographie lassen sich Erkenntnisse über die Konstrukti-
traaktion“ (vgl. Barad, 2012) von Körpern, Bedeutungen und       on von affektiven Atmosphären „in ihrer Verwobenheit mit
Materialitäten finden wir keine abschließenden Antworten         der Subjektivität der ForscherInnen“ ziehen, die ein Blick
darüber, wie die Welt ist: Wir können jedoch unsere Vorstel-     von außen nicht möglich gemacht hätte (Geimer, 2011: 301).
lungen davon herausfordern. Als Beteiligte des untersuchten         Im Forschungsprozess beziehe ich auch andere For-
Theaterprojekts nehme ich dafür eine autoethnographische         schungssubjekte mit ein: Ich ergänze meine Gedächtnispro-
Perspektive ein.                                                 tokolle und Vignetten um Stimmen außerhalb meines Kör-
                                                                 pers, indem ich Audioaufnahmen der Proben mache und
                                                                 transkribiere. Diese Stimmen sprechen jedoch nicht unab-
4   Ein autoethnographischer Zugang zu affektiven                hängig von mir und ich partizipiere – beim Versuch zu ver-
    Atmosphären                                                  stehen – aktiv an den Atmosphären, die ich untersuche. Dies
                                                                 geschieht auf zwei Ebenen: Einerseits nehme ich als Person
Die Analyse der Arbeit des Theaterprojekts wird – abge-          Einfluss auf die Inhalte und die Konzeption des Stückes –
sehen von einer Offenlegung vorläufiger Ergebnisse in der        zum Beispiel mit meinen wissenschaftlichen Inputs auf die
Gruppe – nur von mir vorgenommen. Allumfassende Fra-             Ausgestaltung der Szenen, die ich danach untersuche. Ande-
gen bleiben unbeantwortet, da ich „den göttlichen Trick, al-     rerseits ist auch der Forschungsprozess mit den Ergebnissen
les von nirgendwo aus sehen zu können“ nicht beherrschen         verschränkt:
kann (Haraway, 1995: 81). Aus diesem Grund greife ich auf
                                                                      Die Anderen sagen überhaupt nicht so viel bei den
Haraways Verständnis einer partialen Perspektive zurück, die
                                                                      Reflexionen, was ich schade finde – auch weil ich
meinen Blick als nur einen Bestandteil einer objektiven Be-
                                                                      mein Aufnahmegerät anhabe und an meinen Arti-
trachtung der Wirklichkeit ansieht. Mein Wissen entsteht si-
                                                                      kel denke (Vignette Februar 2021).
tuiert, als ein Ergebnis meines Körpers, meiner Einbettung
in soziale Prozesse, meiner Arbeitstechniken sowie Geräte,          Hätte ich Einblicke in die dramaturgische Arbeit hinter
und unterscheidet sich damit von anderen Perspektiven. Mei-      der Bühne erfragt, hätte ich meine Rolle, die ich als Per-
ne performative Involviertheit weist mir während des For-        formerin in dem Prozess einnahm und aus der heraus sich
schungsprozesses bestimmte Rollen und Identitäten inner-         meine Erfahrungen ergeben, in dieser Form verloren. Im Fo-
halb der Gruppe zu und eröffnet mir so nur einen bestimmten      kus der nachfolgenden Analyse steht deshalb nicht das Thea-
Zugang zu Informationen. Als Performerin bin ich nicht bei       terstück selbst, sondern affektive Atmosphären, die sich in
jedem Treffen des künstlerischen Teams anwesend und soll         der künstlerisch-kollaborativen Erarbeitung ergeben. Dafür
beispielsweise auch keine Videoaufnahmen der Generalpro-         nutze ich im Sinne einer Autoethnographie eine „ästhetisch
be anschauen.                                                    dichte Beschreibung persönlicher und zwischenmenschlicher
   Diese Involviertheit legt für den vorliegenden Artikel ei-    Erfahrungen“ (Adams et al., 2020: 5).
ne autoethnographische Herangehensweise nahe, denn Au-
toethnographien werden retrospektiv und selektiv über Er-        5   Das Theater mit den Wissenschaften
eignisse geschrieben, „die daraus resultieren, dass sie [die
Autor:innen] Teil einer Kultur sind und/oder eine bestimm-       Das Theaterstück „Denkraum der Utopien – eine Performan-
te soziokulturelle Identität besitzen“ (Adams et al., 2020:      ce der Wissenschaften“ ist als interaktive Performance aufge-
474). Ich bin Forschende und Beteiligte und damit „,insider‘     baut: Die erste Hälfte besteht aus individuellen Lecture Per-
and ,complete-member‘ academic researcher[s] who study a         formances sowie einer gemeinsamen Choreographie von Le-
group or social circumstances of which [they are] part, use      andra, Lilith und Nicole. Inhaltlich knüpfen die performati-
[their] insiderness as a methodological and analytical resour-   ven Vorträge zu Permafrost, Mensch-Umwelt-Verhältnissen

https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023                                                         Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
20                                                   L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären

und Partizipation im Kontext der Klimakrise an unsere je-
weiligen Forschungsinteressen an. Darauf aufbauend folgen
in der zweiten Hälfte interaktive Gruppenarbeiten: Vor dem
Theater wird eine aktivistisch motivierte Straßensperrung
durchgeführt, auf der Bühne debattiert ein Parlament der
Dinge den sofortigen Kohleausstieg und es werden Ideen zur
utopischen Stadt gesponnen. Die Aktivist:innen von Fridays
for Future organisieren rahmend eine spielerische Einlass-
prozedur, erscheinen als Tannenfigur, Mooswesen und Imke-
rin auf der Bühne und helfen bei der Straßensperrung. Zuwe-
na, Cherelle und Laura sind mit kurzen Inputs zur Klimakri-
se per Videoprojektion auf der Bühne zu sehen und erweitern
die vorhandenen Perspektiven mit globalen Sichtweisen. Al-
le Komponenten werden von künstlerischen Mitteln beglei-
tet. Das Bühnenbild ist in einen Teil vor der transparenten
Leinwand („Gase“) und dahinter aufgeteilt. Die Dramaturgie      Abb. 1. Lecture Performance Permafrost ©Dominic Sehak.
wechselt mit Hilfe der räumlichen Aufteilung und des zeit-
lichen Ablaufs von Dystopie zur Utopie und vom Zuhören
zum Mitmachen. Sie fordert uns „als Wissenschaftlerinnen“          Die Projektionen auf der Leinwand sollen nicht nur das
in vielfältigen Subjektivierungen innerhalb affektiver Atmo-    Gesprochene unterstützen, sondern auch einen eigenen qua-
sphären heraus: als Teil einer räumlich-materiellen Umge-       litativen Beitrag zur Szene leisten. Bei der Generalprobe im
bung, als affizierte Körper und als wissenschaftliche Identi-   Theater treten zu Beginn des Vortrags einzelne Mikroben aus
täten.                                                          dem Boden. Als Leandra die hungrigen Mikroben erwähnt,
                                                                die beim Auftauen des Permafrosts aus ihrem Winterschlaf
5.1   Materialitäten machtvoller Atmosphären: Mensch,
                                                                erwachen, tauchen zusätzlich Mikroben auf dem Boden um
      Mikrobe und Musik
                                                                sie herum auf. Als sie von den Kipppunkten spricht, ist nur
                                                                noch ein Gewimmel auf der Leinwand hinter ihr zu sehen
      Das Licht, die Bühne, die Projektion, am Ende bin         und es tönt ein durchdringendes Dröhnen aus den Lautspre-
      ich nur ein Teil davon und gar nicht allein im Mit-       chern. Ein Besucher des Theaters berichtet, dass ihn diese
      telpunkt wie bisher immer. Es wird total viel über        dystopische Atmosphäre sehr gepackt hätte (Gedächtnispro-
      technische Details gesprochen und gar nicht mehr          tokoll Juli 2021). Die künstlerisch-technische Komposition
      so viel darüber, was und wie ich es sage (Vignette        spielt bei der „packenden“ Atmosphäre eine große Rolle, was
      Februar 2021).                                            ein Blick in den Ablaufplan verdeutlicht:
                                                                   Dass die künstlerisch-technische Komposition nicht nur
   Die Lecture Performance von Leandra thematisiert Kipp-       eine passive Begleitung von Leandras Performance ist, wird
punkte im Klimasystem. Die Atmosphäre erwärmt sich, der         in der Probe bei einer Diskussion über die Lautstärke der Mu-
Permafrost taut auf und Mikroben erwachen aus ihrem tau-        sik deutlich.
sendjährigen Winterschlaf. Sie sind hungrig, zersetzen orga-
nisches Material und stoßen dabei Methan aus. Methan be-             Manfred [Dramaturg]: Es ist eigentlich gerade als
schleunigt den Temperaturanstieg wiederum, weshalb noch              sie dann sagt, nicht mehr als sie über den gan-
mehr Permafrost auftaut. „In der Wissenschaft nennen wir             zen Permafrost spricht, sondern dann kommt diese
das positive feedback-loops“ erklärt sie immer wieder in un-         Wende, was man eigentlich tun soll. Das fand ich
seren Proben. Gleichzeitig macht sich der Videokünstler Ge-          bisschen komisch, dass man das gerade nicht hört.
danken darüber, was zur gleichen Zeit auf der Leinwand pas-          Also die Idee find ich gut, dass die redet und es ist
sieren könnte:                                                       so laut, aber vom Inhalt her, kommt dann: Deshalb
                                                                     müssen wir CO2 senken. Das bekommt man dann
      Es gab ja jetzt zu Leandras Permafrost Thema                   nicht mit.
      mal eine Idee, was Permafrostartiges runterläuft.              Philip [Regisseur]: Es werden Leute verstehen,
      Dann haben wir das gemacht, das war aber dann                  aber sie werden auch merken, man hört es fast
      tatsächlich halt einfach, sah nicht super realis-              nicht mehr. Weil es zu spät ist. (Februar 2021)
      tisch aus, aber sah eben aus wie schmelzendes
      Permafrost-Zeugs und da haben wir auch irgend-               Die Musik verstärkt nicht den Inhalt des Gesagten im Hin-
      wie entschieden, es ist ein bisschen 1 zu 1 und 1         tergrund, sondern sie übertönt in diesem Moment die gespro-
      zu 1 ist auch immer ein bisschen langweilig (Sven         chene Sprache und übernimmt damit eine bedeutungsvolle
      Februar 2021).                                            Sprechposition. Leandras Erklärungen über eine nötige Re-

Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023                                                        https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären                                                                               21

Tabelle 1. Ablaufplan Szene 8 (Stand März 2021).

  Szene   Was          Wo        Wer                   Sound                       Projektion                         Licht
  8       Vortrag      Bühne:    Leandra, Tanne (auf   Leandra_Vortrag             Boden:                             Straße Mitte hinten 60 %
          Permafrost   vor der   Licht achten!)        (Bei Mikroben lauter,       Mikroben („Winterschlaf“)
                       Gaze                            wenn leiser, geht der                                          Mikroben „Winterschlaf“:
                                 Am     Ende    um-    Vortrag weiter)             Gaze:                              Straße raus, Spot schwach
                                 drehen, langsam auf                               Methan 1 (nach Mikroben)           rein, langsamer Fade
                                 Gaze zu (so weit,     Mikro Rückkopplung
                                 dass kein Schatten                                Methan       2   (nach   Gefühl)   Mikroben     verschwinden:
                                 geworfen wird)        Nach     letztem   Satz,                                       Spot langsam heller (paral-
                                                       L vor Gaze: lauter, ste-                                       lel), dann langsam Straße
                                                       hen lassen bis Video zu     Methan 3 (Tipping Point)           dazu, schwächer (30 s Fade)
                                                       Ende
                                                                                                                      Wenn L vor Gaze: Black
                                                                                   Methan 4 Fade Interviews
                                                                                   (wenn L vor Gaze, Übergang
                                                                                   Interviews)

duktion der Verbrennung fossiler Rohstoffe ist kaum noch                  in der Theaterarbeit sind machtvolle Bestandteile einer af-
hörbar und nimmt den Zuhörer:innen die theoretische Mög-                  fektiven Atmosphäre. Sie unterstützen das Verständnis wirk-
lichkeit, noch einen Lösungsweg gegen die Feedback-Loops                  mächtiger nicht-menschlicher Akteur:innen einerseits hin-
zu erfahren. Gleichzeitig verliert Leandra zwischen wim-                  sichtlich der Klimakrise und andererseits gibt die verkörperte
melnden Mikroben und lauter Musik ihre machtvolle Posi-                   Forschungspraxis einen Hinweis auf „viele und wundervol-
tion auf der Bühne:                                                       le Formen“ von Akteur:innen (Haraway, 1995: 93), die uns
                                                                          tagtäglich affizieren. Die irritierende Erfahrung, in der Probe
      Ich fand auch, dass es sehr schnell sehr laut war.
                                                                          oder auf der Bühne hinter technischen Mitteln zu verschwin-
      Und es ist schon auch ein beschissenes Gefühl,
                                                                          den, lässt uns konkret spüren, dass wir nur ein (kleiner) Teil
      wenn man so redet und weiß, es versteht einen kei-
                                                                          der Welt unter vielen sind.
      ner (Leandra Februar 2021).
   Im Zusammenspiel von Körpern und Techniken verschie-                   5.2     Affizierte Körper in relationalen Atmosphären aus
ben sich Machtverhältnisse. Während Leandra spricht, be-                          Theorie, Tanz und Tränen
stimmt ihre Stimme den Raum, als handelndes Subjekt ist
sie vermeintlich die Urheberin der Atmosphäre, sobald die                         Ich stehe im Raum mit dem Rücken zu den an-
Musik jedoch lauter und das Licht dunkler wird, tritt sie in                      deren. Ich versuche zu fühlen, wann die anderen
den Hintergrund und die Unterscheidung von Subjekt und                            den Impuls zum Loslaufen geben. Oder gebe ich
Objekt versagt. Tritt sie selbstbestimmt in den Hintergrund                       ihn? Während ich noch darüber nachdenke, haben
oder schiebt der Tontechniker sie ins Abseits? Und wel-                           wir uns schon in Bewegung gesetzt (Vignette Janu-
chen Anteil daran hat die Art der Musik, die Anweisung des                        ar 21).
Regisseurs oder etwa die Beschaffenheit der Lautsprecher?
Wann bestimmt das Skript die Atmosphäre und wann wird                        Nach einer Lecture Performance zu posthumanistischen
sie von eigenwilligen Maschinen oder vergesslichen Körpern                Ansätzen von Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen folgt im
beherrscht?                                                               Stück eine Choreographie (basierend auf Improvisation), be-
   In diesem Konglomerat aus menschlichen und nicht-                      gleitet von Projektionen, Sounds und „Naturwesen“, die die
menschlichen Akteur:innen kann kein:e Urheber:in der At-                  Verflechtung von Mensch und Natur künstlerisch-körperlich
mosphäre im architektonischen Sinne Böhmes (2006) aus-                    bearbeitet – und uns oft überfordert. Die Choreographin Mar-
gemacht werden, sondern materielle und soziale Vorausset-                 cela bezieht die theoretischen Gedanken aus den Proben im-
zungen und Annahmen bestimmen diese Verbindungen im-                      mer wieder in ihre choreographische Arbeit mit unseren Kör-
mer wieder neu (vgl. Bauer und Nöthen, 2021). „They [at-                  pern ein:
mospheres] are indeterminate with regard to the distinction
between the subjective and objective“ (Anderson, 2009: 80).                       This is my body, and this body has the possibility
Vielmehr verschieben sich Subjektpositionen innerhalb der                         to do things. How is this body? Which kind of po-
räumlich-materiellen Komposition, springen zwischen un-                           tential? What happens if all this energy of outside
terschiedlichen Akteur:innen und zeigen „the agency of the                        comes inside. And all this ideas, and all these ab-
built environment in co-shaping sensorial experiences“ (Fre-                      stractions and all this blablabla, it arrives into the
gonese, 2017: 9). Die technischen und künstlerischen Mittel                       body? (Marcela Februar 2021)

https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023                                                                           Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
22                                                    L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären

                                                                       a possibility to go somewhere else. Ja? (Marcela
                                                                       Februar 2021)

                                                                    In der materiellen Verbindung mit dem Tanzboden, der die
                                                                 Grenzen meiner körperlichen Hülle verwischt, erkenne ich
                                                                 „things are an extension of my body, just as my body is an
                                                                 extension of the world“ (Dornberg und Fetzner, 2020: 232).
                                                                 Die affektive Atmosphäre stellt sich dabei als kollektive Si-
                                                                 tuation im Proberaum dar und fühlt sich für mich gleich-
                                                                 zeitig sehr persönlich an (vgl. Anderson, 2009). Sie fordert
                                                                 die Vorstellung von Gefühlen „als privaten mentalen Zustän-
                                                                 den eines bewussten Subjekts“ heraus und zeigt sich statt-
                                                                 dessen „als kollektiv verkörpert, räumlich ausgedehnt, mate-
                                                                 riell und kulturell beeinflusst“ (Riedel, 2019: 85). Gleichzei-
                                                                 tig ist das Kollektive nicht statisch, sondern verändert sich
Abb. 2. Choreographie © Dominic Sehak.
                                                                 in Ko-Präsenz mit den Affekten, die sich in der Bewegung
                                                                 zwischen uns dreien entwickeln.
  Bei der körperlichen Arbeit soll die Theorie nicht ver-
schwinden, „but you just have your body to say – how can I             Sie erklärt uns die nächste Übung und sagt zu Le-
manage to talk through my body?“ (Marcela Februar 2021).               andra und Nicole, dass sie mich mitnehmen sol-
Das ganze künstlerische Team ist an diesem Tag anwesend                len. Das erleichtert mich. Wir sollen ein Organis-
und unsere improvisierten Bewegungen werden zum ersten                 mus sein, ein Dreieck mit Verbindungen. Wir be-
Mal zum Mittelpunkt der Probe. Da ich aufgrund persönli-               ginnen zusammen und plötzlich geht es ganz leicht,
cher Umstände bereits angespannt den Proberaum betrete,                weil ich auf die Anderen reagieren kann. Leandra
fühle ich mich den Zuschauenden in einer erwartungsvollen              geht auf den Boden, dann bleibe ich oben, als sie
Atmosphäre ausgesetzt und bin den Tränen nahe:                         hochkommt, gehe ich nach unten, Nicole läuft auf
                                                                       die Seite, und ich laufe zwischendurch. Es ist viel
     Jetzt weiß ich nicht, mit welchem Körperteil ich                  leichter. Ich werde entspannt und gelöst. Danach
     anfangen soll. Wie soll ich ein Mensch-Natur-                     sind alle ganz glücklich und beeindruckt und meine
     Verhältnis ausdrücken? Lange bleibe ich stehen.                   Stimmung von davor ist wie weggeblasen (Vignette
     Ich fühle die Augen der Anderen auf mir. Als sich                 Februar 2021).
     Nicole und Leandra anfangen zu bewegen, ma-
     che ich irgendwas. Ich versuche an das Erste zu                Die Choreographin lenkt unsere Aufmerksamkeit weg von
     denken, was mir aus meinem Vortrag einfällt, ein            uns selbst hin zu den Anderen. Wir sind nicht mehr allein auf
     Baum, lege mich auf den Boden und fahre die Wur-            der Bühne, sondern stehen als Körper mit affektiven Fähig-
     zeln nach. Letztes Mal kam mir der Boden wie ein            keiten (vgl. McCormack, 2014; Michels, 2015) in einer reso-
     Fremdkörper vor. Heute ist er mein Schutz, und              nanten Verbindung mit den anderen. Affektive Räume sind
     oben fühle ich mich allem ausgesetzt und nackt. Ich         relational und dynamisch, „they involve nonreducible relati-
     bewege mich, aber ich fühle nichts. Ich bekomme             ons between bodies, and between bodies and other kinds of
     Panik, bleibe stehen und weiß, dass das nicht lange         things, including artifacts, ideas, and concepts, where neither
     geht, ohne zu erklären. Irgendwann gehe ich, sage,          these things nor bodies are ever stable themselves“ (McCor-
     ich brauche eine Pause (Vignette Februar 2021).             mack, 2014: 4). Als Organismus finden wir eine gemeinsame
                                                                 Sprache in der Bewegung, die die ganze Atmosphäre verän-
   Die Materialität des Bodens bekommt aus der Emotiona-         dert und deutlich macht, dass intime Momente des Einzelnen
lität heraus in Verbindung zum Körper eine neue Bedeutung.       in größere Strukturen eingebettet sind. Und genauso überfor-
Während ich erfolglos versuche, wissenschaftliche Konzep-        dernd der körperliche Anspruch an theoretische Gedanken,
te und Vorstellungen körperlich zu übersetzen, nutze ich den     so unbedeutend ein Tanzboden oder unveränderlich ein Ge-
Boden als Zufluchtsort meiner Überforderung. Dies passiert       mütszustand erscheint, genauso schnell bemerken wir, dass
jedoch nicht unabhängig von erlernten Praktiken durch die        wir mehr Körper sind und brauchen als wir dachten.
künstlerische Arbeit in den Proben, die unsere Körper in die
materielle Umwelt einbettet:                                     5.3   (In-)stabile Wissenschaftssubjekte zwischen
                                                                       Poststrukturalismus, Performance und Pappmaché
     You become one, the skin of your body becomes
     one with the skin of the floor. And THIS connec-                  Ich sage, dass ich es verstehe; dass das wohl Teil
     tion, this interconnection, this relationship give us             eines kollaborativen Prozesses ist, dass wir hier

Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023                                                         https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären                                                           23

     nicht nur einfach einen Vortrag abliefern und fer-
     tig, sondern dass wir gemeinsam immer weiter
     daran arbeiten und auch aus unserer Komfortzone
     rausmüssen (Gedächtnisprotokoll Februar 2021).

   In den Proben wird immer wieder deutlich, wie Identitäts-
ordnungen reproduziert, aber in der Komposition einer At-
mosphäre auch herausgefordert werden. Die Konzeptidee ei-
ner „Performance der Wissenschaften“ mit klaren Vorstel-
lungen des Regisseurs an „die Wissenschaft“, Handlungs-
empfehlungen zu präsentieren, rückt mit der Zeit in den Hin-
tergrund. Unsere Gespräche kommen an Grenzen, wenn Phi-
lip als Regisseur fragt, „wie man denn jetzt mit Poststruktu-
ralismus der Klimakrise begegnen kann“ (Gedächtnisproto-
koll Dezember 2020). Ich habe in der Humangeographie ge-        Abb. 3. Performance Lecture Mensch-Natur-Verhältnisse © Domi-
lernt, gesellschaftliche Zusammenhänge zu beobachten, zu        nic Sehak.
dekonstruieren und zu kritisieren. Ich kann erklären, inwie-
fern ein modernes Mensch-Natur-Verständnis mit der Klima-
krise zusammenhängt; jedoch nicht, wie wir das im Dreisch-      senschaftsposition und emotionalen Praktiken immer wieder
ritt überwinden können. Anstatt uns also weiter in „When I      nach:
rule the world“-Rollenspiele zu stecken, lässt uns die künst-
lerische Leitung erstmal unabhängig des Konzepts das ma-             Und immer dann, wenn es für meinen Geschmack
chen, was wir in der Rolle als Wissenschaftlerinnen gewohnt          zu ,schauspielerisch‘ wurde, war ich raus. Weil es
sind: Wir bereiten Vorträge zu unseren Forschungsthemen              mir zu albern und aufgesetzt war, und weil ich ver-
vor. Als wir beginnen, daraus eine Performance zu entwi-             wirrt war, ob das nicht meiner Rolle als Wissen-
ckeln, stoßen wir an klar abgesteckte Vorstellungen über wis-        schaftlerin widerspricht (Nicole Februar 2021).
senschaftliche Praktiken und Routinen, die wir selbst mit-
                                                                   Vor allem der zweite Teil der Aufführung – eine Klein-
bringen. Unsere Inhalte sind in den Proben jedoch nicht der
                                                                gruppenarbeit mit dem Publikum – stellt mich vor die Her-
Kritik eines Fachpublikums, sondern einer sich dynamisch
                                                                ausforderung, meine Vorstellungen von mir als „Wissen-
entwickelnden Dramaturgie ausgesetzt, der wir uns anpas-
                                                                schaftlerin“ zu überdenken. Ich schaffe es nicht, eine Grup-
sen müssen. Diese Herausforderung wird dadurch verstärkt,
                                                                penarbeit zu entwickeln, die meinen Ansprüchen einer theo-
dass das künstlerische Team weniger unseren Worten, son-
                                                                retisch tiefsinnigen Darstellung meiner Forschungsinteres-
dern viel mehr unseren Körpern beim Sprechen zuhört. Der
                                                                sen entspricht – verständlich für eine unvorhersehbare Ziel-
Vortrag wird als eine Praktik angesehen, die mehr Dimensio-
                                                                gruppe – und gleichzeitig der Klimakrise eine Utopie entge-
nen umfasst als nur die inhaltliche:
                                                                genstellt, die den in unserem Kontext geforderten Vorstellun-
                                                                gen einer sinnlichen Theateratmosphäre standhält.
     Manchmal ist es sehr technisch. Natürlich seid
     ihr keine Schauspieler [sic], aber wenn man so                  Ich bin von der Situation genervt. Ich habe das Ge-
     ein Wort betont, einen Punkt macht, ein Break                   fühl, ich bin verantwortlich, mir etwas Kreatives
     macht, dann kommt manchmal die Emotion, weil                    aus der Nase zu ziehen, obwohl ich das eigentlich
     es einen Rhythmus hat. Es hat einen Rhythmus und                nicht in meiner Verantwortung sehe. Ich merke das
     dann vielleicht, wenn ihr den Rhythmus wieder-                  auch an und Philip [Regisseur] meint, wir würden
     holt, dann kommt eine Musik. Und man spürt diese                doch miteinander reden und ob ich nicht das Ge-
     Musik irgendwie. Es ist nicht die Emotion, ich wei-             fühl hätte, dass auch neue Dinge zur Sprache kom-
     ne hier oder ich bin total wütend, weil das ist sehr            men. Doch. Aber ich hab trotzdem das Gefühl, et-
     plakativ besonders hier mit diesem ganzen Thema.                was abliefern zu müssen, weil er immer fragt, wie
     Ja, ich würde sagen wie so ein Gulasch, es kocht                ich mir das vorstelle. Er meint, es läge eben daran,
     so langsam und am Ende hat es einen guten Ge-                   da ich es ja auch durchführen werde, müsse es zu
     schmack (Marcela Februar 2021).                                 mir passen. Aber ich sage, dass ich nicht die kreati-
                                                                     ve Kompetenz hätte und das nicht leisten kann (Ge-
   Wir stehen also als wissenschaftliche Expertinnen auf der         dächtnisprotokoll Februar 2021).
Bühne und sollen mit Kohlenstoff, Donna Haraway und au-
tofreien Innenstädten Gulasch kochen. Bis zum Ende des            Am Ende nenne ich meine spielerische Interaktion „Par-
Probenprozesses tun wir uns damit schwer und zeichnen           lament der Dinge“ – angelehnt an Bruno Latour – und schi-
die Grenzen zwischen einer vermeintlich vernünftigen Wis-       cke der Bühnenbildnerin Ideen für Spielfiguren der Braun-

https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023                                                         Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023
24                                                  L. Kuhn: Das Theater mit den Wissenschaften: Affektive Atmosphären

kohlethematik aus Pappmaché. Ich hoffe, anhand der Mate-        als ich das niederschreibe6 , bemerke ich, wie viel Mühe
rialität eines Braunkohlebaggers oder Spechts eine sinnliche    sich das künstlerische Team mit uns gemacht hat, um die-
Atmosphäre schaffen zu können. Und tatsächlich: Das Publi-      se Schranken in unseren Köpfen zu öffnen und wie sehr wir
kum scheut sich nicht (egal ob Professor oder Schulgruppe),     uns daran festklammerten. Wie gerne wären wir stereotypi-
in der Rolle eines Radieschens die Zukunft Lützeraths mit       sche „Wissenschaftlerinnen“ geblieben, hätten unsere Notiz-
einem Kohlebagger auszuhandeln. Ich versuche immer wie-         bücher in der Hand behalten wollen, uns beim Tanzen hin-
der, mich selbst in meiner Doppelrolle als Wissenschaftlerin    ter unseren Brillen versteckt und beim Sprechen in natur-
und Performerin in den spielerischen Umgangsweisen einzu-       wissenschaftlichen Fakten verheddert. Fokussiert auf text-
finden und meine starren Vorstellungen über wissenschaftli-     basierte Forschungsmethoden wollten wir insgeheim dua-
che Praktiken aufzubrechen. Doch selbst nach drei geglück-      listische Denkmuster zwischen Subjekt/Objekt, Geist/Kör-
ten Aufführungen fühle ich mich zwischen den Figuren, der       per und Vernunft/Emotion reproduzieren. Doch wir kamen
Thematik und dem Publikum verunsichert, wer ich eigent-         nicht umhin, unsere Komfortzone zu verlassen, die techni-
lich sein soll: Dozierende? Wissenschaftlerin? Schauspiele-     schen Mittel als machtvolle und relationale Bestandteile des
rin? Spielkind?                                                 Raumes wahrzunehmen, die transformativen Verbindungen
   Und so sind sowohl die Regie und Dramaturgie als auch        unserer Körper zuzulassen und unsere Identitäten als brü-
wir „Performerinnen“ mit unterschiedlichen Vorstellungen        chig anzunehmen. In den affektiven Atmosphären der Thea-
und Erwartungen auf der Suche nach „der Wissenschaft“ als       terarbeit zeigen sich damit einerseits Emotionen und Prak-
spielerische Praxis im Sinne einer „artistic mode“ (Klein,      tiken, die machtvollen dualistischen Diskursen folgen und
2018). Wir werden in den affektiven Atmosphären der ge-         Identitätsordnungen an ihrem Platz halten (wollen). Ande-
meinsamen Theaterproben dazu herausgefordert, uns als           rerseits zeigen sie deren Veränderlichkeit hin zu der Idee
Wissenschaftlerinnen in einem neuen Kontext zu konstru-         einer spielerisch-künstlerischen Wissenschaft und ihrem er-
ieren und konnten beobachten wie „atmospheres may in-           kenntnistheoretischen Potenzial im Kontext posthumanisti-
terrupt, perturb and haunt fixed persons, places or things“     scher Theorien (vgl. Haraway, 2018).
(Anderson, 2009: 78). Während ich Identitäten aus einer            Trotz der spielerischen Neuverhandlung von Dualismen in
wissenschaftlich-poststrukturalistischen Perspektive als par-   den Proben muss aus feministischer Perspektive jedoch auch
tiell und dynamisch begreife, scheitere ich in der künstle-     hinterfragt werden, inwiefern Machtverhältnisse auch repro-
rischen Praxis genau daran: Durch unterschiedliche Anru-        duziert wurden. Befeuern wir mit unseren weiblich gelese-
fungen im Prozess zeigen sich unsere Identitäten und Prak-      nen Körpern und sinnlichen Elementen nicht genau dieselben
tiken als instabile Konstruktionen – wir sind Wissenschaft-     Dualismen, die wir hinterfragen sollten? Schaffen wir damit
lerinnen, Tänzerinnen, Freundinnen, Kolleginnen und Per-        eine Verbindung von Frau/Körper/Emotion/Natur, die im Ge-
formerinnen –, reproduzieren jedoch statische Kategorien.       gensatz zu Mann/Geist/Verstand/Kultur steht? Warum sind
Entgegen dualistischer Vorstellungen zwischen der Wissen-       alle Performenden sowie beispielsweise die Choreographin
schaft und künstlerischen Praktiken lerne ich, dass es auch     und Bühnenbildnerinnen weiblich gelesen und alle, die die
spielerisch-kreative Wissenschaft geben kann – und viel-        Technik machen sowie Regisseur und Dramaturg – als Ent-
leicht geben muss – mit einem Spielkind, dem Publikum oder      scheidungsträger – männlich? Ist die Theaterbranche nicht
den Pappmaché-Figuren auf der Bühne.                            tief durchzogen von patriarchalen Strukturen, die sich hier
                                                                ebenfalls zeigen? Ist es Zufall, dass die „emotionalen“ Vor-
                                                                bilder unseres Regisseurs Maja Göpel und Greta Thunberg
                                                                waren und nicht etwa Herr Schellnhuber7 ? Und taten wir
6    Fazit                                                      uns deshalb so schwer, uns auf emotionale Ausdrucksformen
                                                                einzulassen, weil wir in einem dualistisch denkenden und
Wir stehen auf der Bühne als fühlende und tanzende Körper.      patriarchalen Wissenschaftssystem wissen, dass wir uns an
Im Laufe der Proben erkunden wir die Emotionen unseres          männlich konnotierten Praktiken orientieren sollten, um dort
Wissens und im gemeinsamen Spiel verlieren wir uns in un-       Bestand zu haben? Ob es dem Stück gelingt, diese aufzu-
terschiedlichen Rollen und verwandeln all das in Bewegun-       brechen, indem ausschließlich Wissenschaftlerinnen zu Wort
gen. Mit dem Umzug von der Probebühne in den Theatersaal        kommen, bleibt – vor allem vor dem Hintergrund männli-
geraten unsere Körper in den Hintergrund. Sie geben nicht       cher Kollegen in höheren Positionen, die sich auf Anfrage
mehr das Tempo vor, sondern erstrahlen in Lichtkegeln, ver-     keine Zeit dafür nahmen – fraglich. Wir saßen zum Teil stil-
stummen in lauten Sounds und verstecken sich hinter Pro-        lend, mit auslaufenden Verträgen und gestresst von universi-
jektionen. Als Teil affektiver Atmosphären der künstlerisch-
kollaborativen Bearbeitung der Klimakrise lernen wir, dass         6 Vgl. dazu „den Schreibprozess als ein Denk-, Erfahrungs- und
wir als Menschen nur ein Teil der Welt unter vielen sind,       Konstitutionsprozess“ nicht-repräsentationaler Forschung (Bert-
ein verwobener Körper, der fühlt und affiziert. Der künst-      ram, 2016: 287).
lerische Rahmen fordert unsere Identitätsordnungen heraus          7 Prof. Schellnhuber ist u.a. Gründungsdirektor des Potsdam-
und destabilisiert starre Subjektpositionen. Und erst jetzt,    Instituts für Klimafolgenforschung.

Geogr. Helv., 78, 15–27, 2023                                                        https://doi.org/10.5194/gh-78-15-2023
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