"Denn grau ist alle Theorie " Ein empirisch fundierter Diskussionsbeitrag zur Selbstverständnisdebatte der Schweizer Kommunikationswissenschaft ...
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Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 «Denn grau ist alle Theorie …» Ein empirisch fundierter Diskussionsbeitrag zur Selbstverständnisdebatte der Schweizer Kommunikationswissenschaft “All theory is gray…” An empirically based contribution to the debate on disciplinary identity in communication science Franziska Oehmer-Pedrazzi*, University of Applied Sciences Graubünden, Switzerland Tobias Rohrbach, University of Fribourg, Department of Communication and Media Research DCM, Switzerland * Corresponding author: franziska.oehmer@fhgr.ch **Der Beitrag wurde zu jeweils gleichen Anteilen vom Autorenteam verfasst. Die Autorenreihen- folge ist alphabetisch Abstract Verstärkt wird in den vergangenen Jahren in Fachzeitschriften und auf Tagungspanels über die Identität und das Selbstverständnis der Kommunikationswissenschaft diskutiert und reflektiert. Im Fokus dieser Debat- ten stehen die Fragen nach dem Gegenstand, den Theorien, den Methoden und damit auch nach der ge- sellschaftlichen Rolle und Leistungsfähigkeit der Kommunikationswissenschaft in Zeiten der Digitalisierung. Aus Schweizer Perspektive gilt es zudem nach der Rolle verschiedener Sprach- und Kulturräume sowie der stark etablierten Fachhochschulen für das Theorien- und Methodenrepertoire des Fachs und damit nach der Existenz einer Kommunikationswissenschaft «helvetischer Manier» zu fragen. Die Diskussionen werden zumeist durch die jeweilige «Brille» eigener Berufserfahrung sowie präferierter theoretisch-konzeptioneller Ansätze der FachvertreterInnen, jedoch kaum unter Berücksichtigung empirischer Daten geführt. Der vorlie- gende Beitrag formuliert auf der Basis einer diachronen und quantitativen Analyse von verwendeten Theori- en, Methoden und Fachgegenständen an Schweizer kommunikationswissenschaftlichen Instituten Thesen zu den debattierten Fragen und stellt diese zur Diskussion. Analysiert werden studentische Abschlussarbei- ten verschiedener Qualifikationsniveaus. Die bisher vor allem theoretisch und erfahrungsbasierte Debatte wird so um empirische Befunde zur «gelebten» Forschungs- und Lehrpraxis angereichert. The disciplinary identity and self-image of communication science have recently been objects of intense discussion and reflection in scholarly journals and conference panels. These debates focus on the questions of the objects, theories, methods, and thus also on the social role of communication science in times of digitalization. From a Swiss perspective, it is also necessary to ask about the role of different language and cultural areas as well as the strongly positioned universities of applied sciences on the subject’s repertoire of theories and methods and thus the existence of a communication science “Helvetian Manner.” So far, these discussions have been led through the lens of researchers’ own professional experience and their preferred theoretical and conceptual approaches. However, they lack empirical data. Based on a diachronic and synchronic quantitative analysis of the theories, methods and objects used at Swiss communication science institutes, this article derives propositions regarding the current debate and submits them for fur- ther discussion. The analysis draws on an original sample of graduate theses of different qualification levels. This study thus enriches current discussions with empirical findings on the discipline’s “lived” research and teaching practice. Keywords Fachidentität, Fachgeschichte, Abschlussarbeiten, quantitative Inhaltsanalyse, Digitalisierung disciplinary identity, history of communication science, graduate theses, quantitative content analysis, dig- italization https://doi.org/10.24434/j.scoms.2022.02.002 © 2022, the authors. This work is licensed under the “Creative Commons Attribution – NonCommercial – NoDerivatives 4.0 International” license (CC BY-NC-ND 4.0).
2 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 1 Einleitung eigenen Fachs genutzt (Brosius & Haas, 2009). Verstärkt wird in den vergangenen Jah- Aufgrund der starken personellen und ren im deutschsprachigen Raum über die institutionellen Verflechtung der Fach- Identität und das Selbstverständnis der vertreterInnen und -gesellschaften v. a. Kommunikationswissenschaft reflektiert im deutschsprachigen Raum, haben die- (siehe u. a. die Beiträge von Brosius, 2016; se mehrheitlich von deutschen Wissen- Hepp, 2016; Jarren, 2016; Krüger & Meyen, schaftlerInnen adressierten Fragestellun- 2018; Strippel et al., 2018a, 2018b; Theis- gen auch für die Schweiz Relevanz. Berglmair, 2016). Im Zentrum der Debat- Darüber hinaus ist aus Schweizer Per- ten stehen die Fragen nach dem Gegen- spektive bei der disziplinären Selbstrefle- stand, den Theorien und Methoden und xion konkret auch nach der Rolle verschie- damit auch nach den Grenzen des Fachs in dener Sprach- und Kulturräume sowie der Zeiten der Digitalisierung und «Datafizie- stark etablierten Fachhochschulen auf das rung» (Hepp, 2016): Was kann unter dem Theorien- und Methodenrepertoire des Medien-, Kommunikations- und Öffent- Fachs und damit nach der Existenz einer lichkeitsbegriff alles gefasst werden und spezifischen Kommunikationswissen- was nicht (mehr) (Brosius, 2016; Hepp, schaft «helvetischer Manier» (Saxer, 2002) 2016; Strippel et al., 2018a)? Können aktu- zu fragen. Ziel des vorliegenden Beitrages elle Kommunikationsphänomene mit den ist es, die aktuelle Debatte zur Identität bestehenden Theorien erklärt werden? Ist der Kommunikationswissenschaft um das Methodenrepertoire ausreichend, um empirische Befunde zur «gelebten Praxis» die sich stetig verändernden Kommuni- an kommunikationswissenschaftlichen kationsinhalte und -formen empirisch zu Instituten in der Schweiz in diachroner erforschen (Jünger & Schade, 2018; Strip- und synchroner Perspektive anzureichern. pel et al., 2018b)? Oder ganz grundsätzlich: So kann nicht nur aufgezeigt werden, was Welchen gesellschaftlichen Beitrag kann aktuell im Fach erforscht wird, sondern die Kommunikationswissenschaft als Wis- es können auch Entwicklungsschübe aus senschaftsdisziplin leisten (Krüger & Mey- einer historischen Perspektive nachge- en, 2018; Strippel et al., 2018a)? zeichnet und eingeordnet werden. Dies Diese grenz- und Forschungsgemein kann zur Einschätzung gegenwärtiger und schaft übergreifenden Diskussionen wer- zukünftiger Fachfoki genutzt werden, oder den zumeist durch die jeweilige Brille in Analogie eines Zitats des Universalge- eigener Berufserfahrungen und -beobach- lehrten Wilhelm von Humboldt «Nur wer tungen sowie präferierter theoretisch-kon- die Vergangenheit [hier: der Kommunika- zeptioneller Ansätze (z. B. Wissenssoziolo tionswissenschaft, d. Verf.] kennt, hat eine gie / Bourdieu: Krüger & Meyen, 2018) Zukunft». Im Zentrum des vorliegenden oder disziplingeschichtlicher Einbettung Beitrages steht folgende Fragestellung: (Hepp, 2016 mit Verweis auf Groths Über- Welche Fachgegenstände, Theorien und legungen zur Zeitungswissenschaft) und Methoden werden in kommunikationswis- selten unter Berücksichtigung empiri- senschaftlicher Forschung (im Zeitverlauf) scher Daten zu verwendeten Theorien, an Schweizer Instituten zu Grunde gelegt? Methoden und Fachgegenständen ge- Zur Beantwortung dieser Frage wird führt. Damit können nur beschränkt über auf eine quantitative Inhaltsanalyse stu- die subjektivierte Perspektive hinausge- dentischer Abschlussarbeiten an kommu- hende Aussagen über die Katalysatoren nikationswissenschaftlichen Instituten in des Fachs und plausible Prognosen über der Schweiz zurückgegriffen. Anders als die Fachentwicklung getätigt werden. Zu- an ein internationales Publikum gerichte- dem werden auch Studien und Aufsätze, te Zeitschriftenartikel oder Konferenzbei- die Daten zu verwendeten Theorien, Me- träge, spiegeln Abschlussarbeiten in erster thoden und Fachgegenständen erfassen, Linie die konkreten Forschungsschwer- kaum zur Reflexion über die Identität des punkte und Lehrcurricula der Dozieren- den und Institute wider und bilden daher
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 3 im besonderen Masse die gelebte For- Die kommunikationswissenschaftli- schungs- und Lehrpraxis einer Disziplin in che Selbsterforschung hat eine Vielzahl ihrem nationalen Bildungskontext ab. von Ansätzen zur Analyse von Fachidenti- Nachfolgend wird zunächst der For- tät hervorgebracht, welche sich nach ihrer schungsstand zur kommunikationswis- zentralen Erkenntnisperspektive in zwei senschaftlichen Fachidentität, der als Er- Forschungslinien – eine historische und kenntnis- und Leitfolie für die empirische eine sozialwissenschaftlich-empirische – Erhebung und anschliessende Diskussion einteilen lassen (für einen Überblick sie- dienen soll, skizziert. Auf der Basis dieser he Günther & Domahidi, 2017; Rohrbach, Erkenntnisse werden im Anschluss die Oehmer, & Schönhagen, 2017). Nachfol- Methode entwickelt, die Ergebnisse vor- gend werden die zentralen und für diese gestellt und kontextualisiert. Als Fazit wer- Studie relevanten Befunde beider For- den Thesen zur Zukunft der Kommunika- schungstraditionen nachgezeichnet: tionswissenschaft zur Diskussion gestellt. Beiträge zur Fachgeschichte durch- leuchten den institutionellen, sozialen und kognitiven Werdegang des Faches und 2 Forschungsstand zur Analyse von bilden Veränderungen der Fachidentität Fachidentität erklärend im Zeitverlauf ab. Dabei wird beispielsweise in biographischen Unter- Die aktuelle Debatte um die Zukunft des suchungen die Rolle einzelner Persönlich- Faches ist nicht neu: Seit den Anfängen des keiten für die Fachentwicklung heraus- Faches erschweren der heterogene, sich gearbeitet (z. B. Averbeck & Kutsch, 2005; dynamisch wandelnde Gegenstandsbe- zur Schweiz siehe Schade, 2005) oder in reich, die unterschiedlichen disziplinären Dokumenten- und Inhaltsanalysen spe- Ausrichtungen der FachvertreterInnen, zifische Indikatoren von Institutionalisie- der Praxisbezug und die vergleichsweise rungsprozessen nachgezeichnet (Löblich, junge Wissenschaftstradition die kommu- 2010; Wendelin, 2008; Wilke, 2014). Um nikationswissenschaftliche Profilbildung Entwicklungslinien und -muster inner- (Löblich & Scheu, 2011). Besonders Um- halb des Fachs nachzeichnen und sichtbar wälzungen im Gegenstandsbereich die- machen zu können, entwickeln fachhis- nen als Ausgangspunkt zur Beschäftigung torische Arbeiten dabei vielfach Phasen- des Faches mit sich selbst, wie z. B. der modelle, die jeweils spezifischen gegen- Aufstieg der «neuen» Rundfunkmedien standsbezogenen, epistemologischen und oder die Privatisierungswelle des Rund- theoretischen Annahmen unterstehen funkbereichs (Koenen, 2018; Löffelholz & (Losee, 2004, S. 3–6). Quandt, 2003). Dieser Beitrag versteht Auf der Basis des wissenschaftssozio- Fachidentität als ein im Grunde minimal logischen Modells der disziplinären Insti- konsensuelles Selbstbild einer Disziplin, tutionalisierung von Bühl (1974; in leich- das ihren Zweck, Funktionsweise und ter Variation: Clark, 1974) beschreibt bspw. Geltungsbereich festhält (Löblich, 2010). Jürgen Wilke (2010, 2014) die Entfaltung Es dient als Orientierungsrahmen für ein- der deutschen Kommunikationswissen- zelne FachvertreterInnen und deren For- schaft anhand von drei Phasen: schungs- und Lehrtätigkeit (Peckhaus & Thiel, 1999). Das Konzept der Fachidenti- 1. Die Phase der Amateurwissenschaft tät hat einerseits eine analytische Dimen- (Anfang 20. Jahrhundert) mit einem sion (d. h.: Was sind / waren die Inhalte ersten Satz an kohärenten Wissens- des Faches?), welche im Rahmen von em- zusammenhängen zum Erkenntnis- pirischen Arbeiten zum Fachverständnis objekt Zeitung basierend auf Arbeiten beschrieben wird. Andererseits wird Fachi- einzelner «einsamer Wissenschaftler» dentität in aktuellen Beiträgen vor allem in (Gelehrter und Pressepraktiker, z. B. ihrer normativen Dimension (was sollen Karl Bücher, Emil Dovifat, Karl Jäger die Inhalte eines Faches sein?) diskutiert. usw.).
4 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 2. Die Phase der akademischen Wissen- ihrerseits vier Phasen zur Geschichte der schaft (kurz nach Ende des 2. Weltkrie- deutschen Zeitungswissenschaft: ges), die sich durch eine längerfristige Ressourcensicherung für Lehre, For 1. Demnach markieren die der Zeitung schung und den wissenschaftlichen als Materialobjekt gewidmeten Publi- Nachwuchs auszeichnet. kations- und Lehrleistungen um 1900 3. Die Phase der Big Science (ab den die erste Phase der Problemidentifizie- 1970er-Jahren) als Folge der Ausdiffe rung. renzierung zu einem Wissenschafts- 2. Darauf folgt mit dem zunehmenden teilsystem mit einer Vielzahl an Fokus auf die Vermittlungsfunktion Forschungsbereichen mit jeweils spe- von Zeitung und Hörfunk in der Zwi- zifischen methodischen und theoreti- schenkriegszeit die zweite Phase der schen Zugängen. Problemdefinition, in welcher die öf- fentliche Kommunikation und ihre Ulrich Saxers (2002, 2005, 2007) «histori- sozialen Bedingungen als «exklusives sche Wissenschaftssoziologie» zeichnet Problem [d. h. Formalobjekt, d. Verf.]» ebenfalls mit Blick v. a. auf die Schweiz (S. 60) festgelegt wird. anhand von drei Phasen die fachliche Ent- 3. Die ideologische und organisatorisch- wicklung nach: pragmatische Überformung unter dem NS-Regime und 1. Die vorinstitutionelle Zeitungswis- 4. die Entideologisierung und Problemre- senschaft beschäftigt sich aus geis- konstruktion der Zeitungswissenschaft tes- und wirtschaftswissenschaftlicher der Nachkriegszeit veranschaulichen Perspektive vorwiegend mit Anliegen Beispiele von retardierenden Prozes- der Presse. sen der fachlichen Identitätskonstruk- 2. Die elementaren Fachstrukturen er- tion. fahren in der zweiten Phase der Publi- zistikwissenschaft ab den 1970er Jahren Obschon kein explizites Phasenmodell, einen inhaltlichen (Ausdifferenzierung so lässt sich die von Maria Löblich (2010) eines Formalobjekts) und organisa- dokumentierte empirisch-sozialwissen- torisch-institutionellen (Binnendiffe schaftliche Wende als solches lesen. Dem- renzierung von Forschungsgebieten nach wurde in den 1960er Jahren ein und -instituten) Konsolidierungsschub bei gleichzeitiger Komplexitätsstei- 1. bis anhin dominierendes geisteswissen gerung des sozial- und in geringerem schaftliches Fachverständnis einer her- Masse kulturwissenschaftlich domi- meneutisch und normativ arbeitenden nierten Beobachtungsfeldes. Kommunikationswissenschaft durch 3. In der integralen Phase, in der sich die ein deutschsprachige Kommunikations- 2. empirisch-sozialwissenschaftliches wissenschaft seit den 1990er-Jahren Fachverständnis mit einem Schwer- befindet und mit der Saxers Modell en- punkt auf analytisch-quantitative Ver- det, ist das Fach transinstitutionell or- fahren abgelöst. ganisiert, durch eine multidisziplinäre Logik geregelt und durch Forschung Wie diese Beispiele (siehe Übersicht in zur (öffentlichen) Medienkommunika- Ta belle 1) deutlich machen, erlauben tion und -gesellschaft charakterisiert. Phasenmodelle das Sichtbarmachen von fach lichen Entwicklungen. Ihnen fehlt Stefanie Averbeck und Arnulf Kutsch (2002) es jedoch meist an einer systematischen kritisieren solche rein deskriptiven Pha- Erfassung und Analyse der Gegenstände, senmodelle als eine (implizit lineare) Er- Theorien und Methoden des Fachs. folgsgeschichte, die sich jeglicher norma- Dies wird hingegen durch sozialwis- tiver Diskussion entzieht. Sie präsentieren senschaftlich-empirische Standortbestim- mungen häufig mittels standardisierter
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 5 Tabelle 1: Übersicht kommunikationswissenschaftlicher Phasenmodelle Modell 1. Phase 2. Phase 3. Phase 4. Phase Wilke Amateurwissenschaft Akademische Wissenschaft Big Science (ab 1970er) (ca. 1900–1945) (1945–1970) Saxer Elementare ZW Komplexe PW Integrale KW (ab 1990er) (ca. 1900–1970) (1970–1990) Averbeck & Problemidentifizierung Problemdefinition Ideologische Überformung Problemrekonstruktion Kutsch (ca. 1900–1925) (1925–1933) (1933–1945) (ab 1945) Löblich Orientierung an geisteswissenschaftlichem Orientierung an empirisch-sozialwissenschaftlichem Fach- Fachverständnis (bis 1960er) verständnis (ab 1960er) Anmerkung: ZW = Zeitungswissenschaft; PW = Publizistikwissenschaft; KW = Kommunikationswissenschaft. Jahreszahlen bezeichnen grobe Zeiträume. Inhaltsanalysen von Fachzeitschriften haltsanalysen von Fachzeitschriften oder (Brosius & Haas, 2009, 2015; Donsbach, Abschlussarbeiten das Ziel, Einblicke in Laub, Haas, & Brosius, 2005) und Ab- die Inhalte der publizierten Forschung ei- schlussarbeiten sowie Befragungen von nes Faches zu geben (u. a. Brosius & Haas, Fachgesellschaftsmitgliedern geleistet 2009, 2015; Donsbach et al., 2005; Gün- (Altmeppen, Weigel, & Gebhard, 2011; Pei- ther & Domahidi, 2017; Hagen, Koch, & ser, Hastall, & Donsbach, 2003). Frey, 2015). Studien konnten zeigen, dass Die teilweise bereits einige Jahre alten Print und Fernsehen aufgrund des rasant Befragungen von Mitgliedern der Deut- wachsenden Interesses an Onlinemedien schen Gesellschaft für Publizistik- und zwischen 2003 und 2014 an Bedeutung Kommunikationswissenschaft (DGPuK) einbüssen, allerdings nach wie vor zen- zeigen, dass Themen wie die Erforschung trale Materialobjekte bleiben. Mit Radio von Massenmedien, Mediensystemen und und Film beschäftigt sich die gegenwärti- -strukturen, politische Kommunikation, ge Forschung hingegen nur noch marginal Kommunikationspolitik und Medienöko- (Donsbach et al., 2005, S. 56; Günther & nomie zwar als besonders relevant emp- Domahidi, 2017, S. 3063). Inhaltsanaly- funden werden (Peiser et al., 2003), aber sen von Fachzeitschriften als «Barometer die eigene Forschungsaktivität v. a. in Be- für den Fokus einer Disziplin» (Brosius & reichen wie Journalismus- und Medien- Haas, 2009, S. 3) bieten allerdings aufgrund inhaltsforschung, Mediennutzung und der Selektionsprozesse und umstrittenen -wirkung, Unternehmens- und Organisa- (Peer-)Reviewverfahren (Thurner & Ha- tionskommunikation sowie Medienwir- nel, 2011; für eine Diskussion siehe Koch & kungsforschung verortet wird (Altmeppen Geiß, 2019) kein repräsentatives Bild von et al., 2011). Die als relevant eingestuften der Gesamtheit der Fachaktivitäten. Dies gesellschaftlichen Makrothemen rücken in trifft v. a. auf Inhaltsanalysen mit einem Fo- den Forschungsprojekten der Fachvertre kus auf besonders renommierte Fachzeit- terInnen also in den Hintergrund (Alt- schriften (z. B. Brosius & Haas, 2009, 2015; meppen et al., 2011). Die letzte Mitglie- Donsbach et al., 2005) oder jenen mit ho- derbefragung der DGPuK aus dem Jahr hem Impact Factor (Günther & Domahidi, 2017 fokussiert die Theoriearbeit von DG- 2017) zu. So zeigt beispielsweise die bisher PuK-Mitgliedern und zeigt, dass diese 16 % einzige Inhaltsanalyse von Abschlussar- ihrer verwendeten Ansätze keinem von beiten aus der TRANSFER-Datenbank1 32 vorgegebenen Theoriefeldern zuordnen können bzw. wollen (Altmeppen, Franzet- 1 Die TRANSFER-Datenbank ist ein Projekt der DGPuK und enthält Abstracts sehr guter ti, & Evers, 2017). und guter Magister-, Diplom-, Master- und Anders als Befragungen zur Fachiden- Lizenziatsarbeiten und Dissertationen sowie tität, die nur Erkenntnisse über die Selbst- sehr guter Bachelorarbeiten aus einer Reihe wahrnehmung und -einschätzung von kooperierender Institute (http://transfer.dg- FachvertreterInnen bieten, verfolgen In- puk.de/).
6 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 der DGPuK (Schweiger, Rademacher, & nen. Zudem bilden sie in erster Linie eine Grabmüller, 2009), dass sich bei den the- Momentaufnahme des Fachs ab und kön- matischen Interessen von Studierenden, nen daher fachhistorische Entwicklungsli- anders als in veröffentlichten Fachzeit- nien nur bedingt erfassen. schriftenbeiträgen, eine gewisse Resistenz gegenüber fachlicher Forschungstrends feststellen lässt. Befragungen oder Inhalts- 3 Methode und Vorgehen analysen zur Fachidentität in der Schweiz liegen aktuell keine vor. Um den diskutierten grundsätzlichen Hingegen gibt es zur Schweizer Hoch- Fragen nach Zweck und Inhalt der zu- schullandschaft für Kommunikationswis- künftigen Kommunikationswissenschaft senschaft sozialwissenschaftlich-empi- angemessenen empirischen Tiefgang und rische Standortbestimmungen in Form historischen Kontext zu verleihen, bedarf von umfassenden «Kartografien» (Buh- es einer möglichst umfassenden Konzepti- mann, Ingenhoff, & Lepori, 2015; Lepori, on von Fachidentität: Die gleichzeitige Be- Probst, & Ingenhoff, 2012; Probst, Buh- rücksichtigung historischer und sozialwis- mann, Ingenhoff, & Lepori, 2019; Probst & senschaftlich-empirischer Perspektiven, Lepori, 2007). Diese Arbeiten erstellen an- so das Kernargument und auch gewählte hand von verschiedenen materiellen (z. B. empirische Vorgehen des vorliegenden finanzielle Mittel, institutionelle Kennzah- Beitrages, kann daher für die Analyse und len) und themenbezogenen Indikatoren Diskussion der Fachentwicklung beson- (z. B. Schwerpunkte von Studiengängen ders ertragreich sein (Rohrbach, Oeh- sowie Inhalte, Ort und Umfang der Publi- mer, & Schönhagen, 2017). kationsoutputs einzelner Institute) Profile Zur Beantwortung der forschungs- von einzelnen Instituten, welche danach leitenden Fragestellung nach Fachgegen untereinander verglichen werden. Obwohl ständen, Theorien und Methoden der die daraus resultierenden Cluster von In- Kommunikationswissenschaft wurde da stituten mit jeweils ähnlichen Profilen je her eine quantitative Inhaltsanalyse stu nach Vorgehen verschieden ausfallen, las- dentischer Abschlussarbeiten verschie- sen sich dennoch gewisse Ähnlichkeiten dener Qualifikationsniveaus (Lizen ziat, bzw. Trennlinien erkennen. Gemeinsam Diplom, Master, Doktorat) an Schweizer ist den Kartografien, dass sie die Schwei- Hochschulen in diachroner und synchro- zer Kommunikations- und Medienwissen- ner Perspektive durchgeführt. Abschluss- schaftslandschaft als ein Ensemble von arbeiten waren bisher kaum Gegenstand grösstenteils eigenständigen, geografisch kommunikationswissenschaftlicher For- und inhaltlich dispersen (Teil-)Commu- schung (Ausnahme: Schweiger et al., nities beschreiben, deren organisatori 2009), obwohl Untersuchungen aus Nach- scher Zusammenhalt hauptsächlich bardisziplinen gezeigt haben, dass sie durch die Schweizerische Gesellschaft für in besonderem Masse die Forschungs- Kommunikations- und Medienwissen schwerpunkte der Dozierenden und In- schaft (SGKM) gewährleistet wird. Die stitute widerspiegeln und damit die ge- themenspezifischen Clustergrenzen ver- lebte Forschungs- und Lehrpraxis einer laufen dabei teilweise parallel zu sprachre- Disziplin und erlernten Wissenskanon gionalen Unterschieden und einer trans- von Absolvierenden abbilden (siehe z. nationalen Orientierung an der Forschung B. Truong & Dietrich, 2018; Zong et al., der jeweiligen Next Door Giants (siehe z. B., 2013). Anders als Publikationen in Fach- Averbeck, 2008a, 2008b). Ein Nachteil die- zeitschriften und Sammelbänden unter- ser kartografischen Ansätze ist allerdings, liegen sie keiner inhaltlichen Selektion dass sie aufgrund ihrer Makroperspektive durch GutachterInnen und sind als erste nur am Rande zwischen feingranularen wissenschaftliche Arbeiten «Grundstock Unterschieden in Fachinhalten, um die für die Publikationstätigkeit des wissen- es in Debatten um das Fachverständnis schaftlichen Nachwuchses» (Schweiger schlussendlich geht, differenzieren kön- et al. 2009, S. 535). Fachzeitschriften und
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 7 Tabelle 2: Übersicht der analysierten Abschlussarbeiten pro Hochschule Institution (Beginn Erhebungszeitraum) Anzahl Arbeiten je Studiengänge BA MA/PhD HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich (2008*) 442 115 Universität Bern (1992*) 334** Universität St. Gallen (1999*) 138 318 Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (2005) 158 72 Universität Freiburg / Université de Fribourg (1966*) *** 1412**** Université de Neuchâtel (2010 *) 113 Università della Svizzera italiana Lugano (2000) *** 224 Gesamt 1072 2254 Anmerkungen: * Zugleich Gründungsjahr. **Davon 260 sog. Facharbeiten vor 2010 (entsprechen Bachelorarbeiten). ***Abschlussarbeiten werden nicht archiviert und sind daher nicht verfügbar. ****Davon 435 Diplom- bzw. Lizenziatsarbeiten vor 2002 (entsprechen ungefähr Masterarbeiten). Abschlussarbeiten ermöglichen damit werden, die entweder in den Bibliotheks- als Analysegegenstände komplementäre katalogen und Datenbanken der Hoch- Perspektiven auf Fachidentität: Während schulen erfasst wurden und im Sommer Fachzeitschriften primär die jeweils ak- 2016 zugänglich waren oder für die auf tuellen Trends und den «State of the art» Anfrage ein Zugang über die Archive der im Output der etablierten Forschungsge- jeweiligen Institute ermöglicht werden meinschaft abbilden, spiegeln Abschluss- konnte. Institute, die keine dieser Voraus- arbeiten, die von den jeweiligen Instituten setzungen erfüllen konnten oder wollten, und Dozierenden häufig im Rahmen eines wurden demzufolge nicht in der Analyse längeren Prozesses ausgehandelten und berücksichtigt. Das Institut für Publizis- in Reglementen und Curricula festgesetz- tikwissenschaft und Medienforschung ten Schwerpunkte in der Lehre. Ferner (IPMZ, jetzt: IKMZ) der Universität Zürich müssen unter Berücksichtigung der aus und das Institut für Marketing und Kom- Studierendenperspektive zum Teil häufig munikation der Hochschule Luzern haben nur als Mittel zum Zweck des Studien- zum Zeitpunkt der Datenerhebung die abschlusses verstandenen Arbeiten und Teilnahme an der Analyse abgelehnt. Das damit häufig die nicht auf wissenschaftli- Departement für Künste, Medien, Philo- chen Fortschritt gerichtete Motivation ein- sophie der Universität Basel verfügt über schränkend berücksichtigt werden. Aber kein Archiv der Abschlussarbeiten. Der auch im Fall, dass Abschlussarbeiten der Datensatz ist dadurch insgesamt weniger einzige wissenschaftliche Output der Ab- repräsentativ. Mit 3326 analysierten Ar- solvierenden bleiben, prägen sie dennoch beiten verfasst an Universitäten und Fach- «das Bild, das spätere Medien- und Kom- hochschulen aus allen drei Landesteilen munikationspraktiker von unserem Fach reflektiert er jedoch die Heterogenität der haben» (Schweiger et al., 2009, S. 535). gelebten Lehr- und Forschungspraxis in der Schweiz. Tabelle 2 gibt einen Über- 3.1 Stichprobe blick über die miteinbezogenen Institute Die vorliegende Untersuchung zielt erst und die Anzahl der jeweils vorhandenen mals auf eine Vollerhebung aller an und codierten Abschlussarbeiten. Schweizer kommunikationswissenschaft- lichen Studiengängen (die auf der Websei- 3.2 Operationalisierung te der SGKM gelistet sind),2 verfassten Ab- Im Fokus der Inhaltsanalyse stehen vor al- schlussarbeiten ab. Es konnten jedoch nur lem die in Abschlussarbeiten verwendeten solche Abschlussarbeiten berücksich tigt Fachgegenstände, Methoden sowie Theo- rien. Die Ausprägungen der Variablen wur- 2 Abgerufen unter https://sgkm.ch/de/uber- den zum einen induktiv an Teilen des Ana- uns/kmw-atlas.
8 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 lysematerials entwickelt. Zum anderen tische Theorien), Theorien mittlerer Reich- wurden die Kategorien deduktiv aus vor- weite (Nachrichtenwerttheorie, PR-Theo- liegenden Systematisierungsvorschlägen rien, diverse Rezeptions-, Nutzungs-, und des Faches herausgearbeitet (u. a. Altmep- Wirkungstheorien) und Praktikertheorien pen, Franzetti, & Kössler, 2013). Das detail- bzw. -modelle (d. h. Konzepte und Mo- lierte Codebuch kann online eingesehen delle, die auf einen konkreten Prozess, werden (Rohrbach & Oehmer, 2021). Die Sachverhalt oder Gegenstand angewen- Codierung erfolgte durch vier geschulte det werden und eher als Anleitung als zur CodiererInnen. Erklärung dienen). Zwar entspricht der Fachgegenstände, unterteilt in For- tiefe Reliabilitätskoeffizient der im Fach malobjekt (Erkenntnisinteresse und Kom- bekannten Schwierigkeit zur trennschar- munikationssphäre) und Materialobjekt fen Systematisierung der «poly morphen (Wagner & Starkulla, 1997, S. 72–77), wur- theoretischen Verästelungen» (Altmeppen den anhand von drei Variablen codiert. et al., 2017, S. 175). Aufgrund der besonde- Ausprägungen für das 1) Erkenntnis ren Relevanz dieser Kategorie für die Aus- interesse (Reliabilitätswert nach Krippen- wertung wurden jedoch alle Codierungen dorff’s Alpha α = .86) wurden entlang der zur Qualitätssicherung zusätzlich manuell Forschungsbereiche der Lasswell-Formel durch die AutorInnen der Studie überprüft systematisiert und auf Ebene der Teilbe- und gegebenenfalls angepasst. reiche codiert. Zur Kommunikatorfor- Zur Analyse des methodischen Vorge- schung zählten bspw. Erkenntnisinteres hens der Abschlussarbeiten wurde zunächst sen im Bereich von Journalismus, PR / die Methode der Datenerhebung (= .75) er- Organisationskommunikation, politischer fasst, wobei zwischen Inhaltsanalyse (inkl. Kommunikation (Fokus auf Akteure) und Film-, Bild- und Dokumentenanalyse), Be- Individualkommunikation. Erfasst wur- fragung, (standardisiert schriftlich/telefo- de 2) die Kommunikationssphäre (α = .91) nisch/elektronisch), qualitativem Interview analog zu den drei Öffentlichkeitsebenen (ExpertInneninterviews, Gruppendiskussi- von Gerhards und Neidhardt (1990) ent- onen, narrative Interviews), experimentel- weder als nicht-öffentlich, teilöffentlich len Untersuchungsdesigns, Beobachtung, oder gesamtöffentlich. Beim 3) Material hermeneutisch-phänomenologischen bzw. objekt (α = .82) wurde zwischen Fernse- historisch-interpretativen Ansätzen und hen, Print, Radio, (Kino-)filmen, Bildern / Methodenkombination differenziert wur- Comics, online – institutionalisiert (Quelle de. Zusätzlich wurde codiert, welche Art des Online-Angebotes ist eine Instituti- von Daten (quantitative, qualitative, eine on / Organisation, die professionell Inhal- Kombination; α = .90) erhoben wurde. te produziert, z. B. Angebote von Nach- richtenportalen, Twitter-Accounts von Nachrichtenmedien), und online – nicht 4 Resultate und Diskussion institutionalisiert (Quelle des Online-An- gebotes ist keine Institution Organisation, Insgesamt wurden 3326 Arbeiten analy- sondern meist ein Individuum, das eigen- siert. Die Anzahl der Abschlussarbeiten ständig Inhalte produziert, z. B. individu- zeigt sich dabei aufgrund der unterschied- elle Blogs, Accounts auf Facebook, Twitter, lichen Gründungszeiträume und Insti- YouTube, usw.) unterschieden. tutionalisierungsschübe der Schweizer Als verwendete theoretische Perspek Institute im Zeitverlauf als nicht kons- tive (α = .67) wurden u. a. folgende tant. Anhand des Kurvenverlaufs (siehe Konzepte und Ansätze erhoben: Meta- / Abb. S1 im Online Supplement) und un- Universaltheorien (z. B. Systemtheorie, ter Berücksichtigung der in der fachhis- Symbolischer Interaktionismus, Theorie torischen Literatur identifizierten Phasen des rationalen Handelns, Öffentlichkeits- (siehe Kap. 2, v. a. die Phasen Saxers) des theorien, Cultural Studies, Feldtheorie der Forschungstands zur Schweizer Kommu- Massenkommunikation, Ökonomische nikationswissenschaft sowie relevanter Theorien, Neoinstitutionalismus, Feminis Ereignisse, lässt sich induktiv und deduk-
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 9 tiv der Analysezeitraum in folgende drei dieser drei Phasen. Damit wurde in dieser Abschnitte strukturieren: Studie einer theorie- und empiriegeleite- ten Phaseneinteilung vor einer vergleichs- 1. 1966–1995 (vgl. Saxers 2. Phase der weise eher willkürlichen Zeitraumsetzung «komplexen Publizistikwissenschaft»): von beispielsweise fünf- oder zehn Jah- Neben der Institutsgründung in Frei- resintervallen der Vorzug gegeben. Zudem burg (1966) und einer massiven Um- wird in synchroner Perspektive ein Ver- strukturierung in Bern (1992), erfährt gleich zwischen den Sprachregionen und das Fach in dieser Phase durch die den Hochschultypen – Universität und Gründung der SGKM im Jahr 1974 ei- Fachhochschule – angestrebt. nen Konsolidierungsschub (Probst & Lepori, 2007; Saxer, 2007). 4.1 Konturierung der kommunikations 2. 1996–2008 (vgl. Saxers 3. Phase der wissenschaftlichen Fachidentität: «integralen Kommunikationswissen- Fachgegenstände schaft», vgl. auch Wilkes Phase der «Big Science»): Das Fach wächst in Erste kommunikationswissenschaftliche dieser Phase durch die Neugründung Forschung in institutionellem Rahmen ist universitärer Institute mit jeweils so- in der Schweiz – ähnlich wie in Deutsch- zial-, kultur- oder wirtschaftswissen- land – anfänglich durch Überlegungen zur schaftlicher Aus richtung sowie wei- Funktionsweise und Struktur der Presse terer Standorte mit starken Bezügen durch einzelne VertreterInnen der jour- zur Journalismus- bzw. Kommunika- nalistischen Praxis an den Universitäten tionspraxis an (Fach-)Hochschulen Zürich (die hier aufgrund des fehlen- (Probst & Lepori, 2007). den Zugangs nicht mit analysiert werden 3. 2009–2016: Um aktuelle Entwicklun- konnte), Freiburg und Bern geprägt. Die gen im Fach und damit auch Daten damals gängige Bezeichnung des Fachs zur in der Einleitung skizzierten Fach- als Journalistik spiegelt die zentrale Stel- debatte abbilden zu können, wird eine lung der Presse als Material- und Formal weitere Phase ergänzt. Der Beginn die- objekt dieser ersten Phase wider (Saxer, ser dritten analysierten Phase wird auf 2005, S. 80). Entsprechend dominieren in das Jahr 2009 datiert und nimmt damit den Abschlussarbeiten zwischen 1966– Bezug auf im Fach breit diskutierte Ak- 1995 Erkenntnisinteressen mit starkem tivitäten der Fachgesellschaften und Pressebezug, namentlich die Medienin- ihrer zentralen Akteure zur Positio- haltsforschung (23 %) und die Journalis- nierung der Disziplin (bspw. die Rede musforschung (16 %) (siehe Abb. 1). Über von Sonia Livingstone, der damaligen alle analysierten Phasen hinweg dominie- ICA-Präsidentin, anlässlich der Jahres- ren öffentliche Phänomene und Prozesse tagung 2008 zur «mediation of every als Analysegegenstand mit einem Anteil thing» oder auch das 2008 verabschie- von je über 75 % (siehe Abb. S2 im Online dete DGPuK-Selbstverständnispapier; Supplement). DGPuK, 2008). Abgesehen von der Eine starke Gesellschaftsorientierung Gründung eines Masterstudiengangs in dieser Phase zeigt sich beispielswei- in Journalismus an der Université de se in der erstaunlichen Anzahl von Ab- Neuchâtel im Jahr 2010 bleibt die ins- schlussarbeiten zur Beschaffenheit von titutionelle Situation des Fachs in der Me diensystemen des globalen Südens dritten Phase bei steigenden Studie- (13 %) – dies vor dem Hintergrund der in- rendenzahlen stabil. ternationalen Diskussionen rund um die New World Information Order (NWIO) der Um Muster und Unterschiede in der Ver- 1970er und 1980er Jahre (z. B. Masmoudi, wendung der Fachgegenstände, Theorien 1979). Ähnlich interessieren sich immer- und Methoden identifizieren und sinnvoll hin 6 % der Abschlussarbeiten für medi- interpretieren zu können, erfolgt nachfol- enpolitische und -rechtliche Fragestel- gend die Auswertung der Daten anhand lungen, was zeitlich mit der kontrovers
10 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 Abbildung 1: Erkenntnisinteresse nach Phasen in Prozent (N = 3021) Medieninhaltsforschung PR/Organisationskommunikation Journalismusforschung Mediennutzungsforschung Medienwirkungsforschung Mediensysteme Medienökonomie/-management Sonstiges Umwelt/Kontext Politische Kommunikation Phase Medien-/Kommunikationsgeschichte 1966–1995 Medienpolitik/-recht 1996–2008 2009–2017 Gender Medientechnik/-ästhetik Sonstige Kanäle Medien und Kirche Öffentlichkeit/Demokratie Medienpädagogik Sonstige Kommunikatorforschung Individualkommunikation 0% 10 20 30 diskutierten Neuordnung des Rundfunk- munikation (16 %) rückt ins Zentrum der bereichs zusammenfällt (Künzler, 2009). Abschlussarbeiten, während die früheren In der zweiten Phase (1996–2008) Forschungsschwerpunkte der Meso- und zeichnet sich trotz der institutionellen Makroebene zu Mediensystemen und Me Expansion der Kommunikationswissen- dienpolitik und -recht fast gänzlich ver- schaft zu einer «Familie mit vielen Na- schwinden (siehe Abb. 1). Veränderungen men und Gesichtern» (Süss, 2000, S. 19) zeigen sich auch bei den untersuchten eine sozialwissenschaftliche Konturie- Materialobjekten: Kino(-filme), Radio und rung ab: Die breit diskutierte empirisch- Printmedien erhalten deutlich weniger sozialwissenschaftliche Wende (Löblich, Beachtung, obwohl letztere weiterhin in 2010) – oder «Versozialwissenschaftli- rund einem Drittel der studentischen Un- chung» (Wagner, 1993) – der deutschen tersuchungen herangezogen werden. Das Kommunikationswissenschaft lässt sich Internet kommt als neues Materialobjekt zeitlich verschoben auch in den Schwei- von vorerst marginalem Stellenwert hin- zer Abschlussarbeiten zusammengefasst zu – 5 % der Abschlussarbeiten untersu- als eine Abwendung von Makrophänome- chen Onlineinhalte professioneller und nen und einer Hinwendung zu Mikro- und 6 % solche nicht-professioneller Herkunft Mesophänomenen beschreiben. Mehr (siehe Abb. S3 im Online Supplement). Abschlussarbeiten untersuchen zwischen Die dritte Phase (2009–2017) lässt drei 1996–2008 Phänomene der eher indivi- pa rallele Entwicklungen im Gegen duumszentrierten und vergleichsweise stands bereich erkennen. Erstens zeigt einfacher operationalisierbaren (Jarren, sich in Abschlussarbeiten eine Akzentu Künzler, & Puppis, 2019) Wirkungs- und ierung der sozialwissenschaftlichen Kon Nutzungsforschung (6 % und 7 %). Auch turenbildung durch eine Erweiterung der Forschung zu PR und Organisationskom- sozialwissenschaftlich-empirisch ausge
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 11 Abbildung 2: Die fünf häufigsten Erkenntnisinteressen (N = 3021) und Materialobjekte (N = 2987) pro Sprachregion und Hochschultyp in Prozent Erkenntnisinteressen Deutsch Französisch Italienisch Universität Fachhochschule Inhaltsforschung Journalismus Medienpolitik/-recht Medientechnik/-ästhetik Medienökonomie Nutzungsforschung PR-/Org.Komm. Wirkungsforschung Materialobjekte Fernsehen Kino/Film Online (nicht inst.) Online (inst.) Print Radio Sonstige Medien 0% 20 40 0% 20 40 0% 20 40 0% 20 40 0% 20 40 richteten Erkenntnisinteressen in Ab sichtigten Bilder und Comics. Drittens ist schluss arbeiten um die politische Kom- ein starker Anstieg der Forschung zu PR munikation (7 %). Laut Schulz (2018, und Organisationskommunikation zu ver- S. 13) ist dieser Aufschwung nicht zuletzt zeichnen, für die sich 38 % aller Abschluss- dem Aufkommen des Internets und des- arbeiten an erster Stelle interessieren – sen «ganz offensichtlich[en] Folgen» für dies zulasten von Forschungsbereichen die politische Kommunikationsforschung mit starkem Journalismusbezug (siehe geschuldet. Tatsächlich werden in dieser Abb. 1). Dieser Boom lässt sich vor dem letzten Phase in 46 % der Abschlussarbei- Hintergrund einer sich wandelnden Be- ten zu politischer Kommunikation Online rufspraxis erklären: War die journalistische inhalte als Materialobjekt herbeigezogen, Praxis anfänglich die «indirekte Taktgebe- wobei sich 42 % der Arbeiten keinem spe- rin» der Fachentwicklung (Wiedemann, zifischen Medium widmen. Damit kann 2019, S. 15), so sind es später Impulse aus zweitens der im Fach breit diskutierte Ein- der Praxis der PR- / Unternehmens- und zug von Onlinephänomenen auch empi- Organisationskommunikation, welche die risch in studentischen Abschlussarbeiten studentischen Bedürfnisse und Lehrpläne belegt werden. Professionell-journalis- mitdirigieren (Bigl, Schultze, & Heinisch, tisch (18 %) oder nicht professionell auf- 2017). bereitete (11 %) Onlineinhalte bilden den Rückt man vor allem die synchrone Kern der Untersuchung fast jeder dritten Analyse und damit den Vergleich zwischen Abschlussarbeit, wodurch Printmedien den Sprachregionen und den Hochschul- (22 %) erstmalig als beliebtestes Material- typen in den Vordergrund, so lassen sich objekt abgelöst werden (siehe Abb. S3 im neben den Gemeinsamkeiten auch teil- Online Supplement). Während Schwei- weise deutliche Unterschiede ausmachen: ger et al. (2009, S. 543) bei TRANSFER- Das Erkenntnisinteresse in der franzö- Abschluss arbeiten von einer «Konstanz sischsprachigen Kommunikations- und der Medienauswahl» sprechen, handelt es Medienwissenschaft richtet sich im hohen sich bei dieser Verschiebung der Material- Masse auf den Journalismus (siehe Abb. 2). objekte nur bedingt um eine «Aktualitäts- Fragen zur Wirkung und Nutzung von Me- dominanz» infolge synchronisierter Me- dien und Kommunikation werden hinge- dienentwicklung und -forschung (Wilke, gen kaum adressiert. Die deutsch- und ita- 2019, S. 27). Denn auch in dieser letzten lienischsprachige Forschung widmet sich Phase wird in Abschlussarbeiten das ge- hingegen und als Folge der Etablierung samte Medienspektrum behandelt – mit von Professuren mit entsprechender De- Ausnahme der seit jeher marginal berück- nomination deutlich stärker der PR- und
12 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 Abbildung 3: Die fünf häufigsten Theorien pro Sprachregion und Hochschultyp in Prozent (N = 3014) Deutsch Französisch Italienisch Universität Fachhochschule Handlungstheorien Journalismustheorien Medientheorien PR-Theorien Politische Theorien Praktikertheorien Rezeptions/-Nutzungstheorien Sprach-/Zeichentheorien Werbetheorien Wirkungstheorien 0% 25 50 0% 25 50 0% 25 50 0% 25 50 0% 25 50 Organisationskommunikation. Abschluss- als in späteren Phasen stützen sich Ab- arbeiten, die an Fachhochschulen verfasst schlussarbeiten zwischen 1966 und 1995 worden sind, analysieren Medieninhal- vor allem auf Makrotheorien, wie zum te oder beleuchten die Arbeitsweise und Beispiel auf fachferne politische (5 %) oder Prozesse im Journalismus. Neben Online-, Kulturtheorien (6 %), aber auch auf frühe Print- und TV-Medien, wird hier auch das facheigene Massenkommunikationsmo- Radio beleuchtet. Die meist nur anhand delle (4 %) oder umfassende Medientheo- von aufwendigen Befragungen (im Expe- rien (8 %). Hingegen wird nach 1995 in Ab- rimentaldesign) bestimmbare Medien- schlussarbeiten stärker auf Theorien der nutzung und auch -wirkung ist nur selten Nutzungs-, Wirkungs- und PR-Forschung Gegenstand der studentischen Forschung rekurriert. Darunter finden sich primär an Fachhochschulen. Theorien mit geringerem Abstraktions- grad («mittlerer Reichweite»), die sich be- 4.2 Konturierung der kommunikations vorzugt mit kleinteiligeren, leichter ope- wissenschaftlichen Fachidentität: rationalisierbaren Phänomenen befassen Theorien und daher charakteristische Kennzeichen Im Fokus der frühen fachlichen Theorie- einer sozialwissenschaftlich-empirischen arbeit stehen erste systematische Ausein- Forschungstradition sind (dazu kritisch andersetzungen mit der Funktionsweise Wagner, 1993). Darüber hinaus bestechen des Pressesystems anhand von Beschrei- gerade in der aufsteigenden PR-Forschung bungen der journalistischen Berufspra- Theorien mittlerer Reichweite auch auf- xis, wobei allerdings nicht von einer ko- grund ihrer praktischen Anwendbarkeit ordinierten facheigenen Theoriebildung (Szyszka, 2013). Noch eindeutiger wird der ausgegangen werden kann (Saxer, 2007, Trend zur Praxisnähe durch den markan- S. 241). Der noch eher bescheidene Stel- ten Anstieg an Praktikertheorien und -mo- lenwert der theoretischen Auseinander- dellen in der letzten Phase (23 %). setzung ist in den Daten daran erkennbar, Vergleicht man die theoretischen Pers- dass 35 % der Abschlussarbeiten der ersten pektiven nach Sprachregion (siehe Abb. 3), Phase ohne zentrale Theorie auskommen so lassen sich neben dem gemeinsamen (siehe Abb. S4 im Online Supplement). Fokus auf Praktikertheorien, auch Spezifi- Der Anteil «theorieloser» Arbeiten sinkt in ka erkennen, die sich durch transnationa- der zweiten Phase auf 22 % und auf 15 % le Einflüsse der Fachtraditionen der Next in der dritten Phase, was neben etwaigen Door Giants (u. a. Frankreich, Deutsch- Verschärfungen der wissenschaftlichen land) plausibilisieren lassen (Averbeck, Standards auch für einen wachsenden 2008a, 2008b; Probst & Lepori, 2007): So Theoriefundus spricht. finden sich in französischsprachigen Ab- Weiter lässt sich die Verschiebung der schlussarbeiten bspw. Sprach- und Zei- Forschungsschwerpunkte von Phänome- chentheorien, die auch in Frankreich ei- nen der Makroebene zu jenen der Mikro- nen hohen Stellenwert besitzen (Averbeck, und Mesoebene auch anhand der verwen- 2008b). Die generelle grosse Bedeutung der deten Theorien nachzeichnen. Häufiger politischen Kommunikationsforschung
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 13 Abbildung 4: Verwendete Methoden der Datenerhebung in Abschlussarbeiten in Prozent (N = 3154) Inhaltsanalyse Standardisierte Befragung Qualitative Interviews Methodenkombination Phase Sonstige Methode 1966–1995 1996–2008 2009–2017 Experimentelles Design Hermeneutik/Phänomenologie Beobachtung 0% 20 40 60 im deutschsprachigen Raum (Altmeppen finden sich auch Methodenkombinatio- et al., 2011) spiegelt sich u. a. auch in der nen (6 %), qualitative Interviews (6 %) und vergleichsweise häufigen Verwendung phänomenologische / hermeneutische politischer Theorien in Deutschschwei- Verfahren (5 %) (siehe Abb. 4). Obwohl zer Abschlussarbeiten wider. Mit Blick auf quantitative Verfahren der Datenerhe- die Rolle des Hochschultyps stellt sich die bung in diesem ersten Zeitraum mit 36 % Frage nach theoretischen Besonderheiten (vs. 21 % qualitativ) leicht dominieren (sie- universitärer Abschlussarbeiten gegen- he Abb. S5 im Online Supplement), kann über «praktischen und potenziell theo- dennoch von einem frühen Pluralismus rieschwachen Medienstudiengängen an methodischer Zugänge mit unterschied- Fachhochschulen» (Schweiger et al., 2009, lichen disziplinären Wurzeln ausgegan- S. 545). Anzeichen einer stärkeren Praxis- gen werden (Saxer, 2002). Dass allerdings orientierung der Fachhochschulen zeigen über 40 % aller Abschlussarbeiten ohne sich im häufigeren Einsatz von Praktiker-, Datenerhebung auskommen, ist Indiz für PR-, sowie Werbetheorien. Augenfällig die insgesamt untergeordnete Stellung wird dabei jedoch weniger ein Defizit in methodischer Auseinandersetzungen in der Theoriearbeit von Fachhochschulen, der frühen Kommunikationswissenschaft sondern vielmehr eine gewisse Komple- (Meyen & Averbeck-Lietz, 2016, S. 2). mentarität zwischen den Hochschultypen. Zwischen 1996 und 2008 wird die sozi- alwissenschaftlich-empirische Umorien- 4.3 Konturierung der kommunikations tierung neben dem Fachgegenstands- und wissenschaftlichen Fachidentität: Theoriebereich auch im Methodenreper- Methoden toire erkennbar. Dies wird einerseits durch Abschlussarbeiten des ersten Zeitraumes das Aufkommen der experimentellen weisen ein breites Methodenspektrum auf: Forschung (4 %) als Ausdruck der Hin- Neben Inhaltsanalysen (61 %) und stan- wendung zur Wirkungs- und Nutzungs- dardisierten Befragungen (22 %), die von forschung sowie durch das Verschwinden Anfang an den kommunikationswissen- phänomenologischer / hermeneutischer schaftlichen Methodenkern ausmachen, Verfahren deutlich (siehe Abb. 4). Ande-
14 Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 rerseits geht der Anteil an Arbeiten ohne kombinationen finden sich vor allem in Datenerhebung stark zurück (ohne Abbil- der deutsch- und italienischsprachigen dung), was als Anzeichen für den «Sieges Schweiz. Dies kann als Indiz für eine star- zug standardisierter Erhebungs- und da- ke – auch personelle – Vernetzung der In- tenanalytischer Auswertungsverfahren» stitute in der Deutschschweiz sowie der (Meyen & Averbeck-Lietz, 2016, S. 2) be- Università della Svizzera italiana in Luga- trachtet werden kann. Die zunehmende no gewertet werden. empirische Ausrichtung studentischer Ab- schlussarbeiten ist dabei vermutlich weni- ger eine direkte Folge des Methodenstreits 5 Fazit: Thesen zur Zukunft der auf Fachebene, sondern vielmehr Ergeb- Schweizer Kommunikations nis der Verfügbarkeit der operationalisie- wissenschaft rungsfreundlicheren Theorien mittlerer Reichweite bei gleichzeitiger Einführung Im Fokus aktueller Debatten zum kom- methodologischer Standards an Schweizer munikationswissenschaftlichen Fachver Universitäten (Meier, 2005). ständnis stehen die Fragen nach dem Ge- Parallel zur deutlich «empirisch arbei- genstand, den Theorien, den Methoden und tenden Sozialwissenschaft», die Schweiger damit auch nach der gesellschaftlichen et al. (2009, S. 547) in Abschlussarbeiten Rolle und Leistungsfähigkeit der Kommu- aus der TRANSFER-Datenbank beobach- nikationswissenschaft. Für die Schweiz in- ten, verfestigt sich die dominierende Stel- teressiert darüber hinaus auch der Einfluss lung sozialwissenschaftlicher Methoden verschiedener Sprach- und Kulturräume in studentischen Abschlussarbeiten in sowie der bedeutsamen Fachhochschulen der letzten Phase (2008–2017) weiter. Ne- für die Fachidentität «helvetischer Ma- ben dem weiteren Rückgang «datenloser» nier» (Saxer, 2002). Auf der Basis einer kur- Abschlussarbeiten auf nur 20 % bleiben zen Zusammenfassung und Interpretation Inhaltsanalysen (32 %), standardisierte der empirischen, diachronen und syn- Befragungen (20 %) und qualitative Inter- chronen Daten zur fachgegenständlichen views (27 %) weiterhin die meistverwen- (Materialobjekt, Formalobjekt: Erkenntni- deten Zugänge (siehe Abb. S5 im Online sinteresse, Kommunikationssphäre), theo- Supplement). Trotz einer leichten Zunah- retischen und methodischen Entwicklung me bleiben Untersuchungen mit Experi- der kommunikationswissenschaftlichen mentaldesign (6 %) eher selten. Dass in Abschlussarbeiten in der Schweiz sol- immerhin 15 % aller Abschlussarbeiten len nachfolgend jeweils Antworten in mehrere Methoden der Datenerhebung Thesenform auf die eingangs debattierten kombiniert werden, spricht für einen normativen Fragen zur Diskussion gestellt stärkeren studentischen Fokus auf der werden. Methodenarbeit. So sind auch «digitale Dabei müssen jedoch zwei Einschrän- Methoden», obwohl seit über einem Jahr- kungen berücksichtigt werden: Erstens zehnt fester Teil der kommunikationswis- dient der Inhalt von Abschlussarbeiten senschaftlichen Forschungspraxis (Nie- nur als einer von mehreren Indikatoren mann-Lenz et al., 2019), in studentischen (wie bspw. Publikationen, Tagungsbeiträ- Abschlussarbeiten kaum vertreten. ge und Lehr-Curricula) zur Messung der Die starke hermeneutisch-qualita- Fachidentität. Er allein kann daher kei- tiv geprägte französische Fachtradition nesfalls Anspruch auf Repräsentativität (Averbeck, 2008b) zeigt sich auch verstärkt erheben. Zweitens handelt es sich bei Ab- im Einsatz qualitativer Interviews in Ab- schlussarbeiten um träge Indikatoren für schlussarbeiten der französischsprachigen die Fachidentität, da Abschlussarbeiten Schweiz (siehe Abb. S6 im Online Supple- meist im Kontext von oder angeregt durch ment). Auch an Fachhochschulen wird Lehrinhalte entstehen, die meist auf lang dominierend auf diese Methode der Da- konzipierten Curricula basieren. Innova- tenerhebung zurückgegriffen. Standar di tive und aktuelle Entwicklungen spiegeln sierte Befragungen und auch Methoden-
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22 15 sich erst mit zeitlicher Verzögerung in der lysen, Erklärungen und Lösungsansätze ver- Lehre wider. mittelt. 5.1 Fachgegenstände (Materialobjekt) Wie die Daten zum Fachgegenstand der 5.2 Fachgegenstände (Formalobjekt) Kommunikationswissenschaft deutlich Konfliktreicher für die Bestimmung der machen, orientiert sich die Forschung am Fachidentität ist im Weiteren die Klärung jeweilig aktuellen technologischen «state der Frage zur Kommunikationssphäre of the art»: Analysiert wird, was sich für die und damit zum Merkmal der Öffentlich- vor allem öffentliche Kommunikation im keit als Bedingung bzw. Notwendigkeit jeweiligen Zeitraum als besonders relevant für eine kommunikationswissenschaft- erweist: Zunächst galt die wissenschaft- liche Auseinandersetzung. So plädiert liche Aufmerksamkeit der Presse, die im bspw. Andreas Hepp (2016) dafür, jegli- Rahmen von Studien zur Medieninhalts- che medienvermittelte Kommunikation oder Journalismusforschung im Fokus als Forschungsgegenstand zu begreifen, stand. Auch Filme waren Materialobjekt während Hans-Bernd Brosius (2016) kom- erster studentischer Abschlussarbeiten. munikationswissenschaftliche Forschung Im Verlauf der Zeit nahm das Interesse an als die Analyse öffentlicher Kommunikati- diesen Analysegegenständen in gleichem on verstanden wissen will. Wie die Analyse Masse ab, wie es für die sich neu etablie- der Abschlussarbeiten zeigt, war nicht-öf- renden Online-Medien zunahm. fentliche Kommunikation in keiner Phase Zumindest ein Teil der Schweizer Kom ein dominierender, jedoch auch immer munikationswissenschaft zeichnet sich ein berücksichtigter Analysegegenstand. mit Blick auf ihr Materialobjekt durch eine Basierend auf diesen Daten scheint es da- vergleichsweise Flexibilität aus (Theis- her plausibel anzunehmen, dass sich die Berglmair, 2016, S. 385). Dies stützt auch Kommunikationswissenschaft vor allem die Beobachtung einer Schweizer (Teil) mit öffentlicher und damit auch beob- Community (Buhmann et al., 2015), die achtbarer (Brosius, 2016) Kommunika- sich dezidiert an den «emerging fields» tion auseinandersetzt. Mit Blick auf die orientiert. Diese Offenheit ist jedoch auch zunehmend synchrone Mediennutzung, notwendig, wenn sie aktuelle technische das konvergente und über Algorithmen und gesellschaftliche Veränderungen personalisierte Medienangebot und die analysieren, erklären und ggf. auch mit- zahlreichen Interaktionsprozesse und In- gestalten will. Entscheidend ist dabei je- terdependenzen zwischen öffentlicher doch, die Kommunikationswissenschaft und nicht-öffentlicher Kommunikation nicht auf ihr präferiertes Materialobjekt ist eine dogmatische Trennung zwischen zu reduzieren (Strippel et al., 2018a) und den Kommunikationssphären nicht im- die Diskussion um das Materialobjekt als mer möglich oder gar sinnvoll. So liefern Debatte um die gesamte Fachidentität bspw. Analysen über den Einsatz und den deren Relevanz sowie theoretisches und Nutzen von geschlossenen Facebook- methodisches Werkzeug zu missdeuten. oder WhatsApp-Gruppen während der Zum Materialobjekt lassen sich folgende TV-Nutzung via Second Screen ebenso Thesen formulieren: relevante kommunikationswissenschaft- liche Einsichten wie die frühen Studien Das Materialobjekt der Kommunikationswis- zur Bedeutung der Meinungsführer bei senschaft spiegelt technische Entwicklungen der Wirkung von Medieninhalten in der und gesellschaftliche Nutzungsmuster wider Wahlkampfzeit (Lazarsfeld, Berelson, & und ist daher einem ständigen Wandel un- Gaudet, 1944). Entscheidend ist hier aus terworfen. Die Kommunikationswissenschaft Sicht der AutorInnen, dass die nicht-öf- wird damit ihrer Rolle als Sozial- und Gesell- fentliche Kommunikation eine Rolle für schaftswissenschaft gerecht – vor allem wenn gesellschaftliche Prozesse und / oder eine die Forschung gesamtgesellschaftliche Ana- relevante Einflussgrösse für das Verständ- nis und die Wirkung von öffentlicher Kom-
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