"Denn grau ist alle Theorie " Ein empirisch fundierter Diskussionsbeitrag zur Selbstverständnisdebatte der Schweizer Kommunikationswissenschaft ...

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Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

«Denn grau ist alle Theorie …» Ein empirisch fundierter
Diskussionsbeitrag zur Selbstverständnisdebatte der Schweizer
Kommunikationswissenschaft
“All theory is gray…” An empirically based contribution to the
debate on disciplinary identity in communication science
Franziska Oehmer-Pedrazzi*, University of Applied Sciences Graubünden, Switzerland
Tobias Rohrbach, University of Fribourg, Department of Communication and Media Research DCM,
Switzerland
* Corresponding author: franziska.oehmer@fhgr.ch
**Der Beitrag wurde zu jeweils gleichen Anteilen vom Autorenteam verfasst. Die Autorenreihen-
folge ist alphabetisch

Abstract
Verstärkt wird in den vergangenen Jahren in Fachzeitschriften und auf Tagungspanels über die Identität und
das Selbstverständnis der Kommunikationswissenschaft diskutiert und reflektiert. Im Fokus dieser Debat-
ten stehen die Fragen nach dem Gegenstand, den Theorien, den Methoden und damit auch nach der ge-
sellschaftlichen Rolle und Leistungsfähigkeit der Kommunikationswissenschaft in Zeiten der Digitalisierung.
Aus Schweizer Perspektive gilt es zudem nach der Rolle verschiedener Sprach- und Kulturräume sowie der
stark etablierten Fachhochschulen für das Theorien- und Methodenrepertoire des Fachs und damit nach der
Existenz einer Kommunikationswissenschaft «helvetischer Manier» zu fragen. Die Diskussionen werden
zu­meist durch die jeweilige «Brille» eigener Berufserfahrung sowie präferierter theoretisch-konzeptioneller
Ansätze der FachvertreterInnen, jedoch kaum unter Berücksichtigung empirischer Daten geführt. Der vorlie-
gende Beitrag formuliert auf der Basis einer diachronen und quantitativen Analyse von verwendeten Theori-
en, Methoden und Fachgegenständen an Schweizer kommunikationswissenschaftlichen Instituten Thesen
zu den debattierten Fragen und stellt diese zur Diskussion. Analysiert werden studentische Abschlussarbei-
ten verschiedener Qualifikationsniveaus. Die bisher vor allem theoretisch und erfahrungsbasierte Debatte
wird so um empirische Befunde zur «gelebten» Forschungs- und Lehrpraxis angereichert.

The disciplinary identity and self-image of communication science have recently been objects of intense
discussion and reflection in scholarly journals and conference panels. These debates focus on the questions
of the objects, theories, methods, and thus also on the social role of communication science in times of
digitalization. From a Swiss perspective, it is also necessary to ask about the role of different language and
cultural areas as well as the strongly positioned universities of applied sciences on the subject’s repertoire
of theories and methods and thus the existence of a communication science “Helvetian Manner.” So far,
these discussions have been led through the lens of researchers’ own professional experience and their
preferred theoretical and conceptual approaches. However, they lack empirical data. Based on a diachronic
and synchronic quantitative analysis of the theories, methods and objects used at Swiss communication
science institutes, this article derives propositions regarding the current debate and submits them for fur-
ther discussion. The analysis draws on an original sample of graduate theses of different qualification levels.
This study thus enriches current discussions with empirical findings on the discipline’s “lived” research and
teaching practice.

Keywords
Fachidentität, Fachgeschichte, Abschlussarbeiten, quantitative Inhaltsanalyse, Digitalisierung
disciplinary identity, history of communication science, graduate theses, quantitative content analysis, dig-
italization

                                https://doi.org/10.24434/j.scoms.2022.02.002
                                © 2022, the authors. This work is licensed under the “Creative Commons Attribution –
                                NonCommercial – NoDerivatives 4.0 International” license (CC BY-NC-ND 4.0).
2                           Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

1   Einleitung                               eigenen Fachs genutzt (Brosius & Haas,
                                             2009).
Verstärkt wird in den vergangenen Jah-           Aufgrund der starken personellen und
ren im deutschsprachigen Raum über die institutionellen Verflechtung der Fach-
Identität und das Selbstverständnis der vertreterInnen und -gesellschaften v. a.
Kommunikationswissenschaft reflektiert im deutschsprachigen Raum, haben die-
(siehe u. a. die Beiträge von Brosius, 2016; se mehrheitlich von deutschen Wissen-
Hepp, 2016; Jarren, 2016; Krüger & Meyen, schaftlerInnen adressierten Fragestellun-
2018; Strippel et al., 2018a, 2018b; Theis-­ gen auch für die Schweiz Relevanz.
Berglmair, 2016). Im Zentrum der Debat-          Darüber hinaus ist aus Schweizer Per-
ten stehen die Fragen nach dem Gegen- spektive bei der disziplinären Selbstrefle-
stand, den Theorien und Methoden und xion konkret auch nach der Rolle verschie-
damit auch nach den Grenzen des Fachs in dener Sprach- und Kulturräume sowie der
Zeiten der Digitalisierung und «Datafizie- stark etablierten Fachhochschulen auf das
rung» (Hepp, 2016): Was kann unter dem Theorien- und Methodenrepertoire des
Medien-, Kommunikations- und Öffent- Fachs und damit nach der Existenz einer
lichkeitsbegriff alles gefasst werden und spezifischen        Kommunikationswissen-
was nicht (mehr) (Brosius, 2016; Hepp, schaft «helvetischer Manier» (Saxer, 2002)
2016; Strippel et al., 2018a)? Können aktu- zu fragen. Ziel des vorliegenden Beitrages
elle Kommunikationsphänomene mit den ist es, die aktuelle Debatte zur Identität
bestehenden Theorien erklärt werden? Ist der Kommunikationswissenschaft um
das Methodenrepertoire ausreichend, um empirische Befunde zur «gelebten Praxis»
die sich stetig verändernden Kommuni- an           kommunikationswissenschaftlichen
kationsinhalte und -formen empirisch zu Instituten in der Schweiz in diachroner
erforschen (Jünger & Schade, 2018; Strip- und synchroner Perspektive anzureichern.
pel et al., 2018b)? Oder ganz grundsätzlich: So kann nicht nur aufgezeigt werden, was
Welchen gesellschaftlichen Beitrag kann aktuell im Fach erforscht wird, sondern
die Kommunikationswissenschaft als Wis- es können auch Entwicklungsschübe aus
senschaftsdisziplin leisten (Krüger & Mey- einer historischen Perspektive nachge-
en, 2018; Strippel et al., 2018a)?           zeichnet und eingeordnet werden. Dies
     Diese grenz- und Forschungsgemein­ kann zur Einschätzung gegenwärtiger und
schaft übergreifenden Diskussionen wer- zukünftiger Fachfoki genutzt werden, oder
den zumeist durch die jeweilige Brille in Analogie eines Zitats des Universalge-
ei­gener Berufserfahrungen und -beobach- lehrten Wilhelm von Humboldt «Nur wer
tungen sowie präferierter theoretisch-kon- die Vergangenheit [hier: der Kommunika-
zeptioneller Ansätze (z. B. Wissenssoziolo­ tionswissenschaft, d. Verf.] kennt, hat eine
gie / Bourdieu: Krüger & Meyen, 2018) Zukunft». Im Zentrum des vorliegenden
oder disziplingeschichtlicher Einbettung Beitrages steht folgende Fragestellung:
(Hepp, 2016 mit Verweis auf Groths Über- Welche Fachgegenstände, Theorien und
legungen zur Zeitungswissenschaft) und Methoden werden in kommunikationswis-
selten unter Berücksichtigung empiri- senschaftlicher Forschung (im Zeitverlauf)
scher Daten zu verwendeten Theorien, an Schweizer Instituten zu Grunde gelegt?
Methoden und Fachgegenständen ge-                Zur Beantwortung dieser Frage wird
führt. Damit können nur beschränkt über auf eine quantitative Inhaltsanalyse stu-
die subjektivierte Perspektive hinausge- dentischer Abschlussarbeiten an kommu-
hende Aussagen über die Katalysatoren nikationswissenschaftlichen Instituten in
des Fachs und plausible Prognosen über der Schweiz zurückgegriffen. Anders als
die Fachentwicklung getätigt werden. Zu- an ein internationales Publikum gerichte-
dem werden auch Studien und Aufsätze, te Zeitschriftenartikel oder Konferenzbei-
die Daten zu verwendeten Theorien, Me- träge, spiegeln Abschlussarbeiten in erster
thoden und Fachgegenständen erfassen, Linie die konkreten Forschungsschwer-
kaum zur Reflexion über die Identität des punkte und Lehrcurricula der Dozieren-
                                             den und Institute wider und bilden daher
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                       3

im besonderen Masse die gelebte For-                            Die kommunikationswissenschaftli-
schungs- und Lehrpraxis einer Disziplin in                 che Selbsterforschung hat eine Vielzahl
ihrem nationalen Bildungskontext ab.                       von Ansätzen zur Analyse von Fachidenti-
    Nachfolgend wird zunächst der For-                     tät hervorgebracht, welche sich nach ihrer
schungsstand zur kommunikationswis-                        zentralen Erkenntnisperspektive in zwei
senschaftlichen Fachidentität, der als Er-                 Forschungslinien – eine historische und
kenntnis- und Leitfolie für die empirische                 eine sozialwissenschaftlich-empirische –
Erhebung und anschliessende Diskussion                     einteilen lassen (für einen Überblick sie-
dienen soll, skizziert. Auf der Basis dieser               he Günther & Domahidi, 2017; Rohrbach,
Erkenntnisse werden im Anschluss die                       Oehmer, & Schönhagen, 2017). Nachfol-
Methode entwickelt, die Ergebnisse vor-                    gend werden die zentralen und für diese
gestellt und kontextualisiert. Als Fazit wer-              Studie relevanten Befunde beider For-
den Thesen zur Zukunft der Kommunika-                      schungstraditionen nachgezeichnet:
tionswissenschaft zur Diskussion gestellt.                      Beiträge zur Fachgeschichte durch-
                                                           leuchten den institutionellen, sozialen
                                                           und kognitiven Werdegang des Faches und
2    Forschungsstand zur Analyse von                       bilden Veränderungen der Fachidentität
     Fachidentität                                         erklärend im Zeitverlauf ab. Dabei wird
                                                           beispielsweise in biographischen Unter-
Die aktuelle Debatte um die Zukunft des                    suchungen die Rolle einzelner Persönlich-
Faches ist nicht neu: Seit den Anfängen des                keiten für die Fachentwicklung heraus-
Faches erschweren der heterogene, sich                     gearbeitet (z. B. Averbeck & Kutsch, 2005;
dynamisch wandelnde Gegenstandsbe-                         zur Schweiz siehe Schade, 2005) oder in
reich, die unterschiedlichen disziplinären                 Dokumenten- und Inhaltsanalysen spe-
Ausrichtungen der FachvertreterInnen,                      zifische Indikatoren von Institutionalisie-
der Praxisbezug und die vergleichsweise                    rungsprozessen nachgezeichnet (Löblich,
junge Wissenschaftstradition die kommu-                    2010; Wendelin, 2008; Wilke, 2014). Um
nikationswissenschaftliche Profilbildung                   Entwicklungslinien und -muster inner-
(Löblich & Scheu, 2011). Besonders Um-                     halb des Fachs nachzeichnen und sichtbar
wälzungen im Gegenstandsbereich die-                       machen zu können, entwickeln fachhis-
nen als Ausgangspunkt zur Beschäftigung                    torische Arbeiten dabei vielfach Phasen-
des Faches mit sich selbst, wie z. B. der                  modelle, die jeweils spezifischen gegen-
Aufstieg der «neuen» Rundfunkmedien                        standsbezogenen, epistemologischen und
oder die Privatisierungswelle des Rund-                    theoretischen Annahmen unterstehen
funkbereichs (Koenen, 2018; Löffelholz &                   (Losee, 2004, S. 3–6).
Quandt, 2003). Dieser Beitrag versteht                          Auf der Basis des wissenschaftssozio-
Fachidentität als ein im Grunde minimal                    logischen Modells der disziplinären Insti-
konsensuelles Selbstbild einer Disziplin,                  tutionalisierung von Bühl (1974; in leich-
das ihren Zweck, Funktionsweise und                        ter Variation: Clark, 1974) beschreibt bspw.
Geltungsbereich festhält (Löblich, 2010).                  Jürgen Wilke (2010, 2014) die Entfaltung
Es dient als Orientierungsrahmen für ein-                  der deutschen Kommunikationswissen-
zelne FachvertreterInnen und deren For-                    schaft anhand von drei Phasen:
schungs- und Lehrtätigkeit (Peckhaus &
Thiel, 1999). Das Konzept der Fachidenti-                  1. Die Phase der Amateurwissenschaft
tät hat einerseits eine analytische Dimen-                    (Anfang 20. Jahrhundert) mit einem
sion (d. h.: Was sind / waren die Inhalte                     ersten Satz an kohärenten Wissens-
des Faches?), welche im Rahmen von em-                        zusammenhängen zum Erkenntnis-
pirischen Arbeiten zum Fachverständnis                        objekt Zeitung basierend auf Arbeiten
beschrieben wird. Andererseits wird Fachi-                    einzelner «einsamer Wissenschaftler»
dentität in aktuellen Beiträgen vor allem in                  (Gelehrter und Pressepraktiker, z. B.
ihrer normativen Dimension (was sollen                        Karl Bücher, Emil Dovifat, Karl Jäger
die Inhalte eines Faches sein?) diskutiert.                   usw.).
4                           Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

2. Die Phase der akademischen Wissen-             ihrerseits vier Phasen zur Geschichte der
   schaft (kurz nach Ende des 2. Weltkrie-        deutschen Zeitungswissenschaft:
   ges), die sich durch eine längerfristige
   Ressourcensicherung für Lehre, For­            1. Demnach markieren die der Zeitung
   schung und den wissenschaftlichen                 als Materialobjekt gewidmeten Publi-
   Nach­wuchs auszeichnet.                           kations- und Lehrleistungen um 1900
3. Die Phase der Big Science (ab den                 die erste Phase der Problemidentifizie-
   1970er-Jah­ren) als Folge der Ausdif­fe­          rung.
   renzierung zu einem Wissenschafts-             2. Darauf folgt mit dem zunehmenden
   teilsystem mit einer Vielzahl an                  Fokus auf die Vermittlungsfunktion
   For­­schungs­bereichen mit jeweils spe-           von Zeitung und Hörfunk in der Zwi-
   zifischen methodischen und theoreti-              schenkriegszeit die zweite Phase der
   schen Zugängen.                                   Prob­lemdefinition, in welcher die öf-
                                                     fentliche Kommunikation und ihre
Ulrich Saxers (2002, 2005, 2007) «histori-           sozi­alen Bedingungen als «exklusives
sche Wissenschaftssoziologie» zeichnet               Problem [d. h. Formalobjekt, d. Verf.]»
ebenfalls mit Blick v. a. auf die Schweiz            (S. 60) festgelegt wird.
anhand von drei Phasen die fachliche Ent-         3. Die ideologische und organisatorisch-­
wicklung nach:                                       pragmatische Überformung unter dem
                                                     NS-Regime und
1. Die vorinstitutionelle Zeitungswis-            4. die Entideologisierung und Problemre-
   senschaft beschäftigt sich aus geis-              konstruktion der Zeitungswissenschaft
   tes- und wirt­schaftswissenschaftlicher           der Nachkriegszeit veranschaulichen
   Perspek­tive vorwiegend mit Anliegen              Beispiele von retardierenden Prozes-
   der Presse.                                       sen der fachlichen Identitätskonstruk-
2. Die elementaren Fachstrukturen er-                tion.
   fahren in der zweiten Phase der Publi-
   zistikwissenschaft ab den 1970er Jahren        Obschon kein explizites Phasenmodell,
   einen inhaltlichen (Ausdifferenzierung         so lässt sich die von Maria Löblich (2010)
   eines Formalobjekts) und organisa-             dokumentierte empirisch-sozialwissen-
   torisch-institutionellen (Binnendiffe­         schaftliche Wende als solches lesen. Dem-
   renzierung von Forschungsgebieten              nach wurde in den 1960er Jahren ein
   und -instituten) Konsolidierungsschub
   bei gleichzeitiger Komplexitätsstei-           1. bis anhin dominierendes geisteswissen­
   gerung des sozial- und in geringerem              schaftliches Fachverständnis einer her-
   Masse kulturwissenschaftlich domi-                meneutisch und normativ arbeiten­den
   nierten Beobachtungsfeldes.                       Kommunikationswissenschaft durch
3. In der integralen Phase, in der sich die          ein
   deutschsprachige Kommunikations-               2. empirisch-sozialwissenschaftliches
   wissenschaft seit den 1990er-Jahren               Fach­­vers­tändnis mit einem Schwer-
   befindet und mit der Saxers Modell en-            punkt auf analytisch-quantitative Ver-
   det, ist das Fach transinstitutionell or-         fahren abgelöst.
   ganisiert, durch eine multidisziplinäre
   Logik geregelt und durch Forschung             Wie diese Beispiele (siehe Übersicht in
   zur (öffentlichen) Medienkommunika-            Ta­­  belle 1) deutlich machen, erlauben
   tion und -gesellschaft charakterisiert.        Pha­­­­sen­­modelle das Sichtbarmachen von
                                                  fach­­  lichen Entwicklungen. Ihnen fehlt
Stefanie Averbeck und Arnulf Kutsch (2002)        es jedoch meist an einer systematischen
kritisieren solche rein deskriptiven Pha-         Er­­­­fassung und Analyse der Gegenstände,
senmodelle als eine (implizit lineare) Er-        Theo­rien und Methoden des Fachs.
folgsgeschichte, die sich jeglicher norma-                Dies wird hingegen durch sozialwis-
tiver Diskussion entzieht. Sie präsentieren       senschaftlich-empirische Standortbestim-
                                                  mungen häufig mittels standardisierter
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                                                    5

Tabelle 1: Übersicht kommunikationswissenschaftlicher Phasenmodelle

Modell          1. Phase                    2. Phase                    3. Phase                     4. Phase
Wilke           Amateurwissenschaft         Akademische Wissenschaft    Big Science (ab 1970er)
                (ca. 1900–1945)             (1945–1970)
Saxer           Elementare ZW                Komplexe PW                Integrale KW (ab 1990er)
                (ca. 1900–1970)              (1970–1990)

Averbeck &      Problemidentifizierung      Problemdefinition           Ideologische Überformung     Problemrekonstruktion
Kutsch          (ca. 1900–1925)             (1925–1933)                 (1933–1945)                  (ab 1945)
Löblich         Orientierung an geisteswissenschaftlichem               Orientierung an empirisch-sozialwissenschaftlichem Fach-
                Fachverständnis (bis 1960er)                            verständnis (ab 1960er)
Anmerkung: ZW = Zeitungswissenschaft; PW = Publizistikwissenschaft; KW = Kommunikationswissenschaft. Jahreszahlen bezeichnen grobe
Zeiträume.

In­haltsanalysen von Fachzeitschriften                             haltsanalysen von Fachzeitschriften oder
(Bro­sius & Haas, 2009, 2015; Donsbach,                            Abschlussarbeiten das Ziel, Einblicke in
Laub, Haas, & Brosius, 2005) und Ab-                               die Inhalte der publizierten Forschung ei-
schlussarbeiten sowie Befragungen von                              nes Faches zu geben (u. a. Brosius & Haas,
Fach­gesellschaftsmitgliedern       geleistet                      2009, 2015; Donsbach et al., 2005; Gün-
(Alt­meppen, Weigel, & Gebhard, 2011; Pei-                         ther & Domahidi, 2017; Hagen, Koch, &
ser, Hastall, & Donsbach, 2003).                                   Frey, 2015). Studien konnten zeigen, dass
     Die teilweise bereits einige Jahre alten                      Print und Fernsehen aufgrund des rasant
Befragungen von Mitgliedern der Deut-                              wachsenden Interesses an Onlinemedien
schen Gesellschaft für Publizistik- und                            zwischen 2003 und 2014 an Bedeutung
Kommunikationswissenschaft (DGPuK)                                 einbüssen, allerdings nach wie vor zen-
zeigen, dass Themen wie die Erforschung                            trale Materialobjekte bleiben. Mit Radio
von Massenmedien, Mediensystemen und                               und Film beschäftigt sich die gegenwärti-
-strukturen, politische Kommunikation,                             ge Forschung hingegen nur noch marginal
Kommunikationspolitik und Medienöko-                               (Donsbach et al., 2005, S. 56; Günther &
nomie zwar als besonders relevant emp-                             Domahidi, 2017, S. 3063). Inhaltsanaly-
funden werden (Peiser et al., 2003), aber                          sen von Fachzeitschriften als «Barometer
die eigene Forschungsaktivität v. a. in Be-                        für den Fokus einer Disziplin» (Brosius &
reichen wie Journalismus- und Medien-                              Haas, 2009, S. 3) bieten allerdings aufgrund
inhaltsforschung, Mediennutzung und                                der Selektionsprozesse und umstrittenen
-wirkung, Unternehmens- und Organisa-                              (Peer-)Reviewverfahren (Thurner & Ha-
tionskommunikation sowie Medienwir-                                nel, 2011; für eine Diskussion siehe Koch &
kungsforschung verortet wird (Altmeppen                            Geiß, 2019) kein repräsentatives Bild von
et al., 2011). Die als relevant eingestuften                       der Gesamtheit der Fachaktivitäten. Dies
gesellschaftlichen Makrothemen rücken in                           trifft v. a. auf Inhaltsanalysen mit einem Fo-
den Forschungsprojekten der Fachvertre­                            kus auf besonders renommierte Fachzeit-
terInnen also in den Hintergrund (Alt-                             schriften (z. B. Brosius & Haas, 2009, 2015;
meppen et al., 2011). Die letzte Mitglie-                          Donsbach et al., 2005) oder jenen mit ho-
derbefragung der DGPuK aus dem Jahr                                hem Impact Factor (Günther & Domahidi,
2017 fokussiert die Theoriearbeit von DG-                          2017) zu. So zeigt beispielsweise die bisher
PuK-Mitgliedern und zeigt, dass diese 16 %                         einzige Inhaltsanalyse von Abschlussar-
ihrer verwendeten Ansätze keinem von                               beiten aus der TRANSFER-Datenbank1
32 vorgegebenen Theoriefeldern zuordnen
können bzw. wollen (Altmeppen, Franzet-                            1 Die TRANSFER-Datenbank ist ein Projekt
                                                                     der DGPuK und enthält Abstracts sehr guter
ti, & Evers, 2017).
                                                                     und guter Magister-, Diplom-, Master- und
     Anders als Befragungen zur Fachiden-                            Lizenziatsarbeiten und Dissertationen sowie
tität, die nur Erkenntnisse über die Selbst-                         sehr guter Bachelorarbeiten aus einer Reihe
wahrnehmung und -einschätzung von                                    kooperierender Institute (http://transfer.dg-
FachvertreterInnen bieten, verfolgen In-                             puk.de/).
6                            Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

der DGPuK (Schweiger, Rademacher, &                nen. Zudem bilden sie in erster Linie eine
Grabmüller, 2009), dass sich bei den the-          Momentaufnahme des Fachs ab und kön-
matischen Interessen von Studierenden,             nen daher fachhistorische Entwicklungsli-
anders als in veröffentlichten Fachzeit-           nien nur bedingt erfassen.
schriftenbeiträgen, eine gewisse Resistenz
gegenüber fachlicher Forschungstrends
feststellen lässt. Befragungen oder Inhalts-       3     Methode und Vorgehen
analysen zur Fachidentität in der Schweiz
liegen aktuell keine vor.                          Um den diskutierten grundsätzlichen
     Hingegen gibt es zur Schweizer Hoch-          Fragen nach Zweck und Inhalt der zu-
schullandschaft für Kommunikationswis-             künftigen Kommunikationswissenschaft
senschaft      sozialwissenschaftlich-empi-        angemessenen empirischen Tiefgang und
rische Standortbestimmungen in Form                historischen Kontext zu verleihen, bedarf
von umfassenden «Kartografien» (Buh-               es einer möglichst umfassenden Konzepti-
mann, Ingenhoff, & Lepori, 2015; Lepori,           on von Fachidentität: Die gleichzeitige Be-
Probst, & Ingenhoff, 2012; Probst, Buh-            rücksichtigung historischer und sozialwis-
mann, Ingenhoff, & Lepori, 2019; Probst &          senschaftlich-empirischer Perspektiven,
Lepori, 2007). Diese Arbeiten erstellen an-        so das Kernargument und auch gewählte
hand von verschiedenen materiellen (z. B.          empirische Vorgehen des vorliegenden
finanzielle Mittel, institutionelle Kennzah-       Beitrages, kann daher für die Analyse und
len) und themenbezogenen Indikatoren               Diskussion der Fachentwicklung beson-
(z. B. Schwerpunkte von Studiengängen              ders ertragreich sein (Rohrbach, Oeh-
sowie Inhalte, Ort und Umfang der Publi-           mer, & Schönhagen, 2017).
kationsoutputs einzelner Institute) Profile             Zur Beantwortung der forschungs-
von einzelnen Instituten, welche danach            leitenden Fragestellung nach Fachgegen­
untereinander verglichen werden. Obwohl            ständen, Theorien und Methoden der
die daraus resultierenden Cluster von In-          Kommunikationswissenschaft wurde da­­
stituten mit jeweils ähnlichen Profilen je         her eine quantitative Inhaltsanalyse stu­
nach Vorgehen verschieden ausfallen, las-          dentischer Abschlussarbeiten verschie-
sen sich dennoch gewisse Ähnlichkeiten             dener Qualifikationsniveaus (Lizen­     ziat,
bzw. Trennlinien erkennen. Gemeinsam               Diplom, Master, Doktorat) an Schweizer
ist den Kartografien, dass sie die Schwei-         Hochschulen in diachroner und synchro-
zer Kommunikations- und Medienwissen-              ner Perspektive durchgeführt. Abschluss-
schaftslandschaft als ein Ensemble von             arbeiten waren bisher kaum Gegenstand
grösstenteils eigenständigen, geografisch          kommunikationswissenschaftlicher For-
und inhaltlich dispersen (Teil-)Commu-             schung (Ausnahme: Schweiger et al.,
nities beschreiben, deren organisatori­            2009), obwohl Untersuchungen aus Nach-
sch­er    Zusammenhalt         hauptsächlich       bardisziplinen gezeigt haben, dass sie
durch die Schweizerische Gesellschaft für          in besonderem Masse die Forschungs-
Kommunikations- und Medienwissen­                  schwerpunkte der Dozierenden und In-
schaft (SGKM) gewährleistet wird. Die              stitute widerspiegeln und damit die ge-
the­menspezifischen Clustergrenzen ver-            lebte Forschungs- und Lehrpraxis einer
laufen dabei teilweise parallel zu sprachre-       Disziplin und erlernten Wissenskanon
gionalen Unterschieden und einer trans-            von Absolvierenden abbilden (siehe z.
nationalen Orientierung an der Forschung           B. Truong & Dietrich, 2018; Zong et al.,
der jeweiligen Next Door Giants (siehe z. B.,      2013). Anders als Publikationen in Fach-
Averbeck, 2008a, 2008b). Ein Nachteil die-         zeitschriften und Sammelbänden unter-
ser kartografischen Ansätze ist allerdings,        liegen sie keiner inhaltlichen Selektion
dass sie aufgrund ihrer Makroperspektive           durch GutachterInnen und sind als erste
nur am Rande zwischen feingranularen               wissenschaftliche Arbeiten «Grundstock
Unterschieden in Fachinhalten, um die              für die Publikationstätigkeit des wissen-
es in Debatten um das Fachverständnis              schaftlichen Nachwuchses» (Schweiger
schlussendlich geht, differenzieren kön-           et al. 2009, S. 535). Fachzeitschriften und
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                                                         7

Tabelle 2: Übersicht der analysierten Abschlussarbeiten pro Hochschule

Institution (Beginn Erhebungszeitraum)                                                       Anzahl Arbeiten je Studiengänge
                                                                                               BA                    MA/PhD
HWZ Hochschule für Wirtschaft Zürich (2008*)                                                   442                      115
Universität Bern (1992*)                                                                       334**
Universität St. Gallen (1999*)                                                                 138                      318
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW (2005)                                   158                      72
Universität Freiburg / Université de Fribourg (1966*)                                          ***                      1412****
Université de Neuchâtel (2010 *)                                                                                        113
Università della Svizzera italiana Lugano (2000)                                               ***                      224
Gesamt                                                                                         1072                     2254
Anmerkungen: * Zugleich Gründungsjahr. **Davon 260 sog. Facharbeiten vor 2010 (entsprechen Bachelorarbeiten). ***Abschlussarbeiten
werden nicht ar­chiviert und sind daher nicht verfügbar. ****Davon 435 Diplom- bzw. Lizenziatsarbeiten vor 2002 (entsprechen ungefähr
Masterarbeiten).

Abschlussarbeiten ermöglichen damit                                  werden, die entweder in den Bibliotheks-
als Analysegegenstände komplementäre                                 katalogen und Datenbanken der Hoch-
Perspektiven auf Fachidentität: Während                              schulen erfasst wurden und im Sommer
Fachzeitschriften primär die jeweils ak-                             2016 zugänglich waren oder für die auf
tuellen Trends und den «State of the art»                            Anfrage ein Zugang über die Archive der
im Output der etablierten Forschungsge-                              jeweiligen Institute ermöglicht werden
meinschaft abbilden, spiegeln Abschluss-                             konnte. Institute, die keine dieser Voraus-
arbeiten, die von den jeweiligen Instituten                          setzungen erfüllen konnten oder wollten,
und Dozierenden häufig im Rahmen eines                               wurden demzufolge nicht in der Analyse
längeren Prozesses ausgehandelten und                                berücksichtigt. Das Institut für Publizis-
in Reglementen und Curricula festgesetz-                             tikwissenschaft und Medienforschung
ten Schwerpunkte in der Lehre. Ferner                                (IPMZ, jetzt: IKMZ) der Universität Zürich
müssen unter Berücksichtigung der aus                                und das Institut für Marketing und Kom-
Studierendenperspektive zum Teil häufig                              munikation der Hochschule Luzern haben
nur als Mittel zum Zweck des Studien-                                zum Zeitpunkt der Datenerhebung die
abschlusses verstandenen Arbeiten und                                Teilnahme an der Analyse abgelehnt. Das
damit häufig die nicht auf wissenschaftli-                           Departement für Künste, Medien, Philo-
chen Fortschritt gerichtete Motivation ein-                          sophie der Universität Basel verfügt über
schränkend berücksichtigt werden. Aber                               kein Archiv der Abschlussarbeiten. Der
auch im Fall, dass Abschlussarbeiten der                             Datensatz ist dadurch insgesamt weniger
einzige wissenschaftliche Output der Ab-                             repräsentativ. Mit 3326 analysierten Ar-
solvierenden bleiben, prägen sie dennoch                             beiten verfasst an Universitäten und Fach-
«das Bild, das spätere Medien- und Kom-                              hochschulen aus allen drei Landesteilen
munikationspraktiker von unserem Fach                                reflektiert er jedoch die Heterogenität der
haben» (Schweiger et al., 2009, S. 535).                             gelebten Lehr- und Forschungspraxis in
                                                                     der Schweiz. Tabelle 2 gibt einen Über-
3.1 Stichprobe                                                       blick über die miteinbezogenen Institute
Die vorliegende Untersuchung zielt erst­                             und die Anzahl der jeweils vorhandenen
mals auf eine Vollerhebung aller an                                  und codierten Abschlussarbeiten.
Schweizer kommunikationswissenschaft-
lichen Studiengängen (die auf der Websei-                            3.2 Operationalisierung
te der SGKM gelistet sind),2 verfassten Ab-                          Im Fokus der Inhaltsanalyse stehen vor al-
schlussarbeiten ab. Es konnten jedoch nur                            lem die in Abschlussarbeiten verwendeten
solche Abschlussarbeiten berücksich­    tigt                         Fachgegenstände, Methoden sowie Theo-
                                                                     rien. Die Ausprägungen der Variablen wur-
2 Abgerufen unter https://sgkm.ch/de/uber-                           den zum einen induktiv an Teilen des Ana-
  uns/kmw-atlas.
8                            Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

lysematerials entwickelt. Zum anderen              tische Theorien), Theorien mittlerer Reich-
wurden die Kategorien deduktiv aus vor-            weite (Nachrichtenwerttheorie, PR-Theo-
liegenden Systematisierungsvorschlägen             rien, diverse Rezeptions-, Nutzungs-, und
des Faches herausgearbeitet (u. a. Altmep-         Wirkungstheorien) und Praktikertheorien
pen, Franzetti, & Kössler, 2013). Das detail-      bzw. -modelle (d. h. Konzepte und Mo-
lierte Codebuch kann online eingesehen             delle, die auf einen konkreten Prozess,
werden (Rohrbach & Oehmer, 2021). Die              Sachverhalt oder Gegenstand angewen-
Codierung erfolgte durch vier geschulte            det werden und eher als Anleitung als zur
CodiererInnen.                                     Erklärung dienen). Zwar entspricht der
      Fachgegenstände, unterteilt in For-          tiefe Reliabilitätskoeffizient der im Fach
malobjekt (Erkenntnisinteresse und Kom-            bekannten Schwierigkeit zur trennschar-
munikationssphäre) und Materialobjekt              fen Systematisierung der «poly­     morphen
(Wagner & Starkulla, 1997, S. 72–77), wur-         theoretischen Verästelungen» (Altmeppen
den anhand von drei Variablen codiert.             et al., 2017, S. 175). Aufgrund der besonde-
Ausprägungen für das 1) Erkenntnis­                ren Relevanz dieser Kategorie für die Aus-
interesse (Reliabilitätswert nach Krippen-         wertung wurden jedoch alle Codierungen
dorff’s Alpha α = .86) wurden entlang der          zur Qualitätssicherung zusätzlich manuell
Forschungsbereiche der Lasswell-Formel             durch die AutorInnen der Studie überprüft
systematisiert und auf Ebene der Teilbe-           und gegebenenfalls angepasst.
reiche codiert. Zur Kommunikatorfor-                    Zur Analyse des methodischen Vorge-
schung zählten bspw. Erkenntnisinteres­            hens der Abschlussarbeiten wurde zunächst
sen im Bereich von Journalismus, PR /              die Methode der Datenerhebung (= .75) er-
Organisationskommunikation, politischer            fasst, wobei zwischen Inhaltsanalyse (inkl.
Kommunikation (Fokus auf Akteure) und              Film-, Bild- und Dokumentenanalyse), Be-
Individualkommunikation. Erfasst wur-              fragung, (standardisiert schriftlich/telefo-
de 2) die Kommunikationssphäre (α = .91)           nisch/elektronisch), qualitativem Interview
analog zu den drei Öffentlichkeitsebenen           (ExpertInneninterviews, Gruppendiskussi-
von Gerhards und Neidhardt (1990) ent-             onen, narrative Interviews), experimentel-
weder als nicht-öffentlich, teilöffentlich         len Untersuchungsdesigns, Beobachtung,
oder gesamtöffentlich. Beim 3) Material­           hermeneutisch-phänomenologischen bzw.
objekt (α = .82) wurde zwischen Fernse-            historisch-interpretativen Ansätzen und
hen, Print, Radio, (Kino-)filmen, Bildern /        Methodenkombination differenziert wur-
Comics, online – institutionalisiert (Quelle       de. Zusätzlich wurde codiert, welche Art
des Online-Angebotes ist eine Instituti-           von Daten (quantitative, qualitative, eine
on / Organisation, die professionell Inhal-        Kombination; α = .90) erhoben wurde.
te produziert, z. B. Angebote von Nach-
richtenportalen, Twitter-Accounts von
Nach­richtenmedien), und online – nicht            4     Resultate und Diskussion
ins­titutionalisiert (Quelle des Online-An-
gebotes ist keine Institution   Organisation,      Insgesamt wurden 3326 Arbeiten analy-
sondern meist ein Individuum, das eigen-           siert. Die Anzahl der Abschlussarbeiten
ständig Inhalte produziert, z. B. individu-        zeigt sich dabei aufgrund der unterschied-
elle Blogs, Accounts auf Facebook, Twitter,        lichen Gründungszeiträume und Insti-
YouTube, usw.) unterschieden.                      tutionalisierungsschübe der Schweizer
      Als verwendete theoretische Perspek­         Institute im Zeitverlauf als nicht kons-
tive (α = .67) wurden u. a. folgende               tant. Anhand des Kurvenverlaufs (siehe
Konzep­te und Ansätze erhoben: Meta- /             Abb. S1 im Online Supplement) und un-
Universaltheorien (z. B. Systemtheorie,            ter Berücksichtigung der in der fachhis-
Symbolischer Interaktionismus, Theorie             torischen Literatur identifizierten Phasen
des rationalen Handelns, Öffentlichkeits-          (siehe Kap. 2, v. a. die Phasen Saxers) des
theorien, Cultural Studies, Feldtheorie der        Forschungstands zur Schweizer Kommu-
Massenkommunikation,           Ökonomische         nikationswissenschaft sowie relevanter
Theo­rien, Neoinstitutionalismus, Feminis­         Ereignisse, lässt sich induktiv und deduk-
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                      9

tiv der Analysezeitraum in folgende drei                   dieser drei Phasen. Damit wurde in dieser
Abschnitte strukturieren:                                  Studie einer theorie- und empiriegeleite-
                                                           ten Phaseneinteilung vor einer vergleichs-
1. 1966–1995 (vgl. Saxers 2. Phase der                     weise eher willkürlichen Zeitraumsetzung
   «kom­­plexen Publizistikwissenschaft»):                 von beispielsweise fünf- oder zehn Jah-
   Ne­ben der Institutsgründung in Frei-                   resintervallen der Vorzug gegeben. Zudem
   burg (1966) und einer massiven Um-                      wird in synchroner Perspektive ein Ver-
   strukturierung in Bern (1992), erfährt                  gleich zwischen den Sprachregionen und
   das Fach in dieser Phase durch die                      den Hochschultypen – Universität und
   Gründung der SGKM im Jahr 1974 ei-                      Fach­hochschule – angestrebt.
   nen Konsolidierungsschub (Probst &
   Lepori, 2007; Saxer, 2007).                             4.1 Konturierung der kommunikations­
2. 1996–2008 (vgl. Saxers 3. Phase der                         wissenschaftlichen Fachidentität:
   «inte­gralen Kommunikationswissen-                          Fachgegenstände
   schaft», vgl. auch Wilkes Phase der
   «Big Science»): Das Fach wächst in                      Erste kommunikationswissenschaftliche
   dieser Phase durch die Neugründung                      Forschung in institutionellem Rahmen ist
   universi­tärer Institute mit jeweils so-                in der Schweiz – ähnlich wie in Deutsch-
   zial-, kultur- oder wirtschaftswissen-                  land – anfänglich durch Überlegungen zur
   schaftlicher Aus­ richtung sowie wei-                   Funktionsweise und Struktur der Presse
   terer Standorte mit starken Bezügen                     durch einzelne VertreterInnen der jour-
   zur Journalismus- bzw. Kommunika-                       nalistischen Praxis an den Universitäten
   tionspraxis an (Fach-)Hochschulen                       Zürich (die hier aufgrund des fehlen-
   (Probst & Lepori, 2007).                                den Zugangs nicht mit analysiert werden
3. 2009–2016: Um aktuelle Entwicklun-                      konnte), Freiburg und Bern geprägt. Die
   gen im Fach und damit auch Daten                        damals gängige Bezeichnung des Fachs
   zur in der Einleitung skizzierten Fach-                 als Journalistik spiegelt die zentrale Stel-
   debatte abbilden zu können, wird eine                   lung der Presse als Material- und Formal­
   weitere Phase ergänzt. Der Beginn die-                  objekt dieser ersten Phase wider (Saxer,
   ser dritten analysierten Phase wird auf                 2005, S. 80). Entsprechend dominieren in
   das Jahr 2009 datiert und nimmt damit                   den Abschlussarbeiten zwischen 1966–
   Bezug auf im Fach breit diskutierte Ak-                 1995 Erkenntnisinteressen mit starkem
   tivitäten der Fachgesellschaften und                    Presse­bezug, namentlich die Medienin-
   ihrer zentralen Akteure zur Positio-                    haltsforschung (23 %) und die Journalis-
   nierung der Disziplin (bspw. die Rede                   musforschung (16 %) (siehe Abb. 1). Über
   von Sonia Livingstone, der damaligen                    alle analysierten Phasen hinweg dominie-
   ICA-Präsidentin, anlässlich der Jahres-                 ren öffentliche Phänomene und Prozesse
   tagung 2008 zur «mediation of every­                    als Analysegegenstand mit einem Anteil
   thing» oder auch das 2008 verabschie-                   von je über 75 % (siehe Abb. S2 im Online
   dete DGPuK-Selbstverständnispapier;                     Supple­ment).
   DGPuK, 2008). Abgesehen von der                              Eine starke Gesellschaftsorientierung
   Gründung eines Masterstudiengangs                       in dieser Phase zeigt sich beispielswei-
   in Journalismus an der Université de                    se in der erstaunlichen Anzahl von Ab-
   Neuchâtel im Jahr 2010 bleibt die ins-                  schlussarbeiten zur Beschaffenheit von
   titutionelle Situation des Fachs in der                 Me­ diensystemen des globalen Südens
   dritten Phase bei steigenden Studie-                    (13 %) – dies vor dem Hintergrund der in-
   rendenzahlen stabil.                                    ternationalen Diskussionen rund um die
                                                           New World Information Order (NWIO) der
Um Muster und Unterschiede in der Ver-                     1970er und 1980er Jahre (z. B. Masmou­di,
wendung der Fachgegenstände, Theorien                      1979). Ähnlich interessieren sich immer-
und Methoden identifizieren und sinnvoll                   hin 6 % der Abschlussarbeiten für medi-
interpretieren zu können, erfolgt nachfol-                 enpolitische und -rechtliche Fragestel-
gend die Auswertung der Daten anhand                       lungen, was zeitlich mit der kontrovers
10                                          Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

Abbildung 1: Erkenntnisinteresse nach Phasen in Prozent (N = 3021)
             Medieninhaltsforschung
     PR/Organisationskommunikation
              Journalismusforschung
           Mediennutzungsforschung
           Medienwirkungsforschung
                     Mediensysteme
      Medienökonomie/-management
           Sonstiges Umwelt/Kontext
           Politische Kommunikation                                               Phase
Medien-/Kommunikationsgeschichte                                                     1966–1995
                Medienpolitik/-recht                                                 1996–2008
                                                                                     2009–2017
                             Gender
             Medientechnik/-ästhetik
                    Sonstige Kanäle
                  Medien und Kirche
           Öffentlichkeit/Demokratie
                   Medienpädagogik
     Sonstige Kommunikatorforschung
            Individualkommunikation

                                       0%                   10                  20                  30

diskutierten Neuordnung des Rundfunk-                             munikation (16 %) rückt ins Zentrum der
bereichs zusammenfällt (Künzler, 2009).                           Abschlussarbeiten, während die früheren
     In der zweiten Phase (1996–2008)                             Forschungsschwerpunkte der Meso- und
zeich­net sich trotz der institutionellen                         Makroebene zu Mediensystemen und Me­
Expansion der Kommunikationswissen-                               dienpolitik und -recht fast gänzlich ver-
schaft zu einer «Familie mit vielen Na-                           schwinden (siehe Abb. 1). Veränderungen
men und Gesichtern» (Süss, 2000, S. 19)                           zeigen sich auch bei den untersuchten
eine sozialwissenschaftliche Konturie-                            Materialobjekten: Kino(-filme), Radio und
rung ab: Die breit diskutierte empirisch-                         Printmedien erhalten deutlich weniger
sozial­wissenschaftliche Wende (Löblich,                          Beachtung, obwohl letztere weiterhin in
2010) – oder «Versozialwissenschaftli-                            rund einem Drittel der studentischen Un-
chung» (Wagner, 1993) – der deutschen                             tersuchungen herangezogen werden. Das
Kommunikationswissenschaft lässt sich                             Internet kommt als neues Materialobjekt
zeitlich verschoben auch in den Schwei-                           von vorerst marginalem Stellenwert hin-
zer Abschlussarbeiten zusammengefasst                             zu – 5 % der Abschlussarbeiten untersu-
als eine Abwendung von Makrophänome-                              chen Onlineinhalte professioneller und
nen und einer Hinwendung zu Mikro- und                            6 % solche nicht-professioneller Herkunft
Mesophänomenen beschreiben. Mehr                                  (siehe Abb. S3 im Online Supplement).
Ab­schlussarbeiten untersuchen zwischen                           Die dritte Phase (2009–2017) lässt drei
1996–2008 Phänomene der eher indivi-                              pa­ rallele Entwicklungen im Gegen­
duumszentrierten und vergleichsweise                              stands­  bereich erkennen. Erstens zeigt
einfacher operationalisierbaren (Jarren,                          sich in Abschlussarbeiten eine Akzen­tu­
Künzler, & Puppis, 2019) Wirkungs- und                            ie­rung der sozialwissenschaftlichen Kon­
Nutzungsforschung (6 % und 7 %). Auch                             turenbil­dung durch eine Erweiterung der
Forschung zu PR und Organisationskom-                             sozialwissenschaftlich-empirisch ausge­
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                                           11

Abbildung 2: Die fünf häufigsten Erkenntnisinteressen (N = 3021) und Materialobjekte (N = 2987)
              pro Sprachregion und Hochschultyp in Prozent
 Erkenntnisinteressen Deutsch              Französisch        Italienisch        Universität        Fachhochschule
      Inhaltsforschung
          Journalismus
  Medienpolitik/-recht
Medientechnik/-ästhetik
      Medienökonomie
    Nutzungsforschung
        PR-/Org.Komm.
    Wirkungsforschung
      Materialobjekte
             Fernsehen
              Kino/Film
     Online (nicht inst.)
          Online (inst.)
                   Print
                  Radio
      Sonstige Medien
                            0%   20   40   0%     20     40   0%      20    40   0%      20    40   0%     20        40

rich­teten Erkenntnisinteressen in Ab­                             sichtigten Bilder und Comics. Drittens ist
schluss­­­
         arbeiten um die politische Kom-                           ein starker Anstieg der Forschung zu PR
munikation (7 %). Laut Schulz (2018,                               und Organisationskommunikation zu ver-
S. 13) ist dieser Aufschwung nicht zuletzt                         zeichnen, für die sich 38 % aller Abschluss-
dem Aufkommen des Internets und des-                               arbeiten an erster Stelle interessieren –
sen «ganz offensichtlich[en] Folgen» für                           dies zulasten von Forschungsbereichen
die politische Kommunikationsforschung                             mit starkem Journalismusbezug (siehe
geschuldet. Tatsächlich werden in dieser                           Abb. 1). Dieser Boom lässt sich vor dem
letzten Phase in 46 % der Abschlussarbei-                          Hintergrund einer sich wandelnden Be-
ten zu politischer Kommunikation Online­                           rufspraxis erklären: War die journalistische
inhalte als Materialobjekt herbeigezogen,                          Praxis anfänglich die «indirekte Taktgebe-
wobei sich 42 % der Arbeiten keinem spe-                           rin» der Fachentwicklung (Wiedemann,
zifischen Medium widmen. Damit kann                                2019, S. 15), so sind es später Impulse aus
zweitens der im Fach breit diskutierte Ein-                        der Praxis der PR- / Unternehmens- und
zug von Onlinephänomenen auch empi-                                Organisationskommunikation, welche die
risch in studentischen Abschlussarbeiten                           studentischen Bedürfnisse und Lehrpläne
belegt werden. Professionell-journalis-                            mitdirigieren (Bigl, Schultze, & Heinisch,
tisch (18 %) oder nicht professionell auf-                         2017).
bereitete (11 %) Onlineinhalte bilden den                               Rückt man vor allem die synchrone
Kern der Untersuchung fast jeder dritten                           Analyse und damit den Vergleich zwischen
Abschlussarbeit, wodurch Printmedien                               den Sprachregionen und den Hochschul-
(22 %) erstmalig als beliebtestes Material-                        typen in den Vordergrund, so lassen sich
objekt abgelöst werden (siehe Abb. S3 im                           neben den Gemeinsamkeiten auch teil-
Online Supplement). Während Schwei-                                weise deutliche Unterschiede ausmachen:
ger et al. (2009, S. 543) bei TRANSFER-                            Das Erkenntnisinteresse in der franzö-
Abschluss­  arbeiten von einer «Konstanz                           sischsprachigen Kommunikations- und
der Medienauswahl» sprechen, handelt es                            Medienwissenschaft richtet sich im hohen
sich bei dieser Verschiebung der Material-                         Masse auf den Journalismus (siehe Abb. 2).
objekte nur bedingt um eine «Aktualitäts-                          Fragen zur Wirkung und Nutzung von Me-
dominanz» infolge synchronisierter Me-                             dien und Kommunikation werden hinge-
dienentwicklung und -forschung (Wilke,                             gen kaum adressiert. Die deutsch- und ita-
2019, S. 27). Denn auch in dieser letzten                          lienischsprachige Forschung widmet sich
Phase wird in Abschlussarbeiten das ge-                            hingegen und als Folge der Etablierung
samte Medienspektrum behandelt – mit                               von Professuren mit entsprechender De-
Ausnahme der seit jeher marginal berück-                           nomination deutlich stärker der PR- und
12                                                  Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

Abbildung 3:             Die fünf häufigsten Theorien pro Sprachregion und Hochschultyp in Prozent (N = 3014)

                                Deutsch                Französisch         Italienisch        Universität         Fachhochschule
          Handlungstheorien
        Journalismustheorien
             Medientheorien
                  PR-Theorien
          Politische Theorien
            Praktikertheorien
Rezeptions/-Nutzungstheorien
     Sprach-/Zeichentheorien
              Werbetheorien
            Wirkungstheorien
                                0%        25   50      0%      25    50   0%       25    50   0%      25    50    0%      25       50

Organisationskommunikation. Abschluss-                                    als in späteren Phasen stützen sich Ab-
arbeiten, die an Fachhochschulen verfasst                                 schlussarbeiten zwischen 1966 und 1995
worden sind, analysieren Medieninhal-                                     vor allem auf Makrotheorien, wie zum
te oder beleuchten die Arbeitsweise und                                   Beispiel auf fachferne politische (5 %) oder
Prozesse im Journalismus. Neben Online-,                                  Kulturtheorien (6 %), aber auch auf frühe
Print- und TV-Medien, wird hier auch das                                  facheigene Massenkommunikationsmo-
Radio beleuchtet. Die meist nur anhand                                    delle (4 %) oder umfassende Medientheo-
von aufwendigen Befragungen (im Expe-                                     rien (8 %). Hingegen wird nach 1995 in Ab-
rimentaldesign) bestimmbare Medien-                                       schlussarbeiten stärker auf Theorien der
nutzung und auch -wirkung ist nur selten                                  Nutzungs-, Wirkungs- und PR-Forschung
Gegenstand der studentischen Forschung                                    rekurriert. Darunter finden sich primär
an Fachhochschulen.                                                       Theorien mit geringerem Abstraktions-
                                                                          grad («mittlerer Reichweite»), die sich be-
4.2 Konturierung der kommunikations­                                      vorzugt mit kleinteiligeren, leichter ope-
     wissenschaftlichen Fachidentität:                                    rationalisierbaren Phänomenen befassen
     Theorien                                                             und daher charakteristische Kennzeichen
Im Fokus der frühen fachlichen Theorie-                                   einer sozialwissenschaftlich-empirischen
arbeit stehen erste systematische Ausein-                                 Forschungstradition sind (dazu kritisch
andersetzungen mit der Funktionsweise                                     Wagner, 1993). Darüber hinaus bestechen
des Pressesystems anhand von Beschrei-                                    gerade in der aufsteigenden PR-Forschung
bungen der journalistischen Berufspra-                                    Theorien mittlerer Reichweite auch auf-
xis, wobei allerdings nicht von einer ko-                                 grund ihrer praktischen Anwendbarkeit
ordinierten facheigenen Theoriebildung                                    (Szyszka, 2013). Noch eindeutiger wird der
ausgegangen werden kann (Saxer, 2007,                                     Trend zur Praxisnähe durch den markan-
S. 241). Der noch eher bescheidene Stel-                                  ten Anstieg an Praktikertheorien und -mo-
lenwert der theoretischen Auseinander-                                    dellen in der letzten Phase (23 %).
setzung ist in den Daten daran erkennbar,                                      Vergleicht man die theoretischen Pers-
dass 35 % der Abschlussarbeiten der ersten                                pektiven nach Sprachregion (siehe Abb. 3),
Phase ohne zentrale Theorie auskommen                                     so lassen sich neben dem gemeinsa­men
(siehe Abb. S4 im Online Supplement).                                     Fokus auf Praktikertheorien, auch Spezifi-
Der Anteil «theorieloser» Arbeiten sinkt in                               ka erkennen, die sich durch transnationa-
der zweiten Phase auf 22 % und auf 15 %                                   le Einflüsse der Fachtraditionen der Next
in der dritten Phase, was neben etwaigen                                  Door Giants (u. a. Frankreich, Deutsch-
Verschärfungen der wissenschaftlichen                                     land) plausibilisieren lassen (Averbeck,
Standards auch für einen wachsenden                                       2008a, 2008b; Probst & Lepori, 2007): So
Theoriefundus spricht.                                                    finden sich in französischsprachigen Ab-
     Weiter lässt sich die Verschiebung der                               schlussarbeiten bspw. Sprach- und Zei-
Forschungsschwerpunkte von Phänome-                                       chentheorien, die auch in Frankreich ei-
nen der Makroebene zu jenen der Mikro-                                    nen hohen Stellenwert besitzen (Averbeck,
und Mesoebene auch anhand der verwen-                                     2008b). Die generelle grosse Bedeutung der
deten Theorien nachzeichnen. Häufiger                                     politischen     Kommunikationsforschung
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                       13

Abbildung 4: Verwendete Methoden der Datenerhebung in Abschlussarbeiten in Prozent (N = 3154)

              Inhaltsanalyse

   Standardisierte Befragung

       Qualitative Interviews

      Methodenkombination
                                                                     Phase

          Sonstige Methode                                              1966–1995
                                                                        1996–2008
                                                                        2009–2017
     Experimentelles Design

Hermeneutik/Phänomenologie

               Beobachtung

                                0%                  20                       40             60

im deutschsprachigen Raum (Altmeppen                       finden sich auch Methodenkombinatio-
et al., 2011) spiegelt sich u. a. auch in der              nen (6 %), qualitative Interviews (6 %) und
vergleichsweise häufigen Verwendung                        phänomenologische / hermeneutische
politischer Theorien in Deutschschwei-                     Ver­fahren (5 %) (siehe Abb. 4). Obwohl
zer Abschlussarbeiten wider. Mit Blick auf                 quantitative Verfahren der Datenerhe-
die Rolle des Hochschultyps stellt sich die                bung in diesem ersten Zeitraum mit 36 %
Frage nach theoretischen Besonderheiten                    (vs. 21 % qualitativ) leicht dominieren (sie-
universitärer Abschlussarbeiten gegen-                     he Abb. S5 im Online Supplement), kann
über «praktischen und potenziell theo-                     dennoch von einem frühen Pluralismus
rieschwachen Medienstudiengängen an                        methodischer Zugänge mit unterschied-
Fachhochschulen» (Schweiger et al., 2009,                  lichen disziplinären Wurzeln ausgegan-
S. 545). Anzeichen einer stärkeren Praxis-                 gen werden (Saxer, 2002). Dass allerdings
orientierung der Fachhochschulen zeigen                    über 40 % aller Abschlussarbeiten ohne
sich im häufigeren Einsatz von Praktiker-,                 Datenerhebung auskommen, ist Indiz für
PR-, sowie Werbetheorien. Augenfällig                      die insgesamt untergeordnete Stellung
wird dabei jedoch weniger ein Defizit in                   methodischer Auseinandersetzungen in
der Theoriearbeit von Fachhochschulen,                     der frühen Kommunikationswissenschaft
son­dern vielmehr eine gewisse Komple-                     (Meyen & Averbeck-Lietz, 2016, S. 2).
mentarität zwischen den Hochschultypen.                         Zwischen 1996 und 2008 wird die sozi-
                                                           alwissenschaftlich-empirische Umorien-
4.3 Konturierung der kommunikations­                       tierung neben dem Fachgegenstands- und
    wissenschaftlichen Fachidentität:                      Theoriebereich auch im Methodenreper-
    Methoden                                               toire erkennbar. Dies wird einerseits durch
Abschlussarbeiten des ersten Zeitraumes                    das Aufkommen der experimentellen
weisen ein breites Methodenspektrum auf:                   Forschung (4 %) als Ausdruck der Hin-
Neben Inhaltsanalysen (61 %) und stan-                     wendung zur Wirkungs- und Nutzungs-
dardisierten Befragungen (22 %), die von                   forschung sowie durch das Verschwinden
Anfang an den kommunikationswissen-                        phänomenologischer / hermeneutischer
schaftlichen Methodenkern ausmachen,                       Verfahren deutlich (siehe Abb. 4). Ande-
14                            Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22

rerseits geht der Anteil an Arbeiten ohne           kombinationen finden sich vor allem in
Datenerhebung stark zurück (ohne Abbil-             der deutsch- und italienischsprachigen
dung), was als Anzeichen für den «Sieges­           Schweiz. Dies kann als Indiz für eine star-
zug standardisierter Erhebungs- und da-             ke – auch personelle – Vernetzung der In-
tenanalytischer Auswertungsverfahren»               stitute in der Deutschschweiz sowie der
(Meyen & Averbeck-Lietz, 2016, S. 2) be-            Università della Svizzera italiana in Luga-
trachtet werden kann. Die zunehmende                no gewertet werden.
empirische Ausrichtung studentischer Ab-
schlussarbeiten ist dabei vermutlich weni-
ger eine direkte Folge des Methodenstreits          5     Fazit: Thesen zur Zu­kunft der
auf Fachebene, sondern vielmehr Ergeb-                    Schweizer Kommuni­kations­
nis der Verfügbarkeit der operationalisie-                wissenschaft
rungsfreundlicheren Theorien mittlerer
Reichweite bei gleichzeitiger Einführung            Im Fokus aktueller Debatten zum kom-
methodologischer Standards an Schweizer             munikationswissenschaftlichen Fachver­
Universitäten (Meier, 2005).                        ständnis stehen die Fragen nach dem Ge-
     Parallel zur deutlich «empirisch arbei-        genstand, den Theorien, den Methoden und
tenden Sozialwissenschaft», die Schweiger           damit auch nach der gesellschaftlichen
et al. (2009, S. 547) in Abschlussarbeiten          Rolle und Leistungsfähigkeit der Kommu-
aus der TRANSFER-Datenbank beobach-                 nikationswissenschaft. Für die Schweiz in-
ten, verfestigt sich die dominierende Stel-         teressiert darüber hinaus auch der Einfluss
lung sozialwissenschaftlicher Methoden              verschiedener Sprach- und Kulturräume
in studentischen Abschlussarbeiten in               sowie der bedeutsamen Fachhochschulen
der letzten Phase (2008–2017) weiter. Ne-           für die Fachidentität «helvetischer Ma-
ben dem weiteren Rückgang «datenloser»              nier» (Saxer, 2002). Auf der Basis einer kur-
Abschlussarbeiten auf nur 20 % bleiben              zen Zusammenfassung und Interpretation
Inhaltsanalysen (32 %), standardisierte             der empirischen, diachronen und syn-
Befragungen (20 %) und qualitative Inter-           chronen Daten zur fachgegenständlichen
views (27 %) weiterhin die meistverwen-             (Material­objekt, For­malobjekt: Erkenntni-
deten Zugänge (siehe Abb. S5 im Online              sinteresse, Kommu­nikationssphäre), theo-
Supplement). Trotz einer leichten Zunah-            retischen und methodischen Entwicklung
me bleiben Untersuchungen mit Experi-               der kommunikationswissenschaftlichen
mentaldesign (6 %) eher selten. Dass in             Abs­chlussarbeiten in der Schweiz sol-
immerhin 15 % aller Abschlussarbeiten               len nachfolgend jeweils Antworten in
mehrere Methoden der Datenerhebung                  Thesen­form auf die eingangs debattierten
kombiniert werden, spricht für einen                normativen Fragen zur Diskussion gestellt
stärkeren studentischen Fokus auf der               werd­en.
Methodenarbeit. So sind auch «digitale                   Dabei müssen jedoch zwei Einschrän-
Methoden», obwohl seit über einem Jahr-             kungen berücksichtigt werden: Erstens
zehnt fester Teil der kommunikationswis-            dient der Inhalt von Abschlussarbeiten
senschaftlichen Forschungspraxis (Nie-              nur als einer von mehreren Indikatoren
mann-Lenz et al., 2019), in studentischen           (wie bspw. Publikationen, Tagungsbeiträ-
Abschlussarbeiten kaum vertreten.                   ge und Lehr-Curricula) zur Messung der
     Die starke hermeneutisch-qualita-              Fachidentität. Er allein kann daher kei-
tiv geprägte französische Fachtradition             nesfalls Anspruch auf Repräsentativität
(Aver­­­beck, 2008b) zeigt sich auch verstärkt      erheben. Zweitens handelt es sich bei Ab-
im Einsatz qualitativer Interviews in Ab-           schlussarbeiten um träge Indikatoren für
schlussarbeiten der französisch­sprachigen          die Fachidentität, da Abschlussarbeiten
Schweiz (siehe Abb. S6 im Online Supple-            meist im Kontext von oder angeregt durch
ment). Auch an Fachhochschulen wird                 Lehrinhalte entstehen, die meist auf lang
dominierend auf diese Methode der Da-               konzipierten Curricula basieren. Innova-
tenerhebung zurückgegriffen. Standar­      di­      tive und aktuelle Entwicklungen spiegeln
sierte Befragungen und auch Methoden-
Oehmer-Pedrazzi & Rohrbach / Studies in Communication Sciences (2022), pp. 1–22                          15

sich erst mit zeitlicher Verzögerung in der                      lysen, Erklärungen und Lösungsansätze ver-
Lehre wider.                                                     mittelt.

5.1 Fachgegenstände (Materialobjekt)
Wie die Daten zum Fachgegenstand der                       5.2 Fachgegenstände (Formalobjekt)
Kommunikationswissenschaft           deutlich              Konfliktreicher für die Bestimmung der
ma­chen, orientiert sich die Forschung am                  Fachidentität ist im Weiteren die Klärung
jeweilig aktuellen technologischen «state                  der Frage zur Kommunikationssphäre
of the art»: Analysiert wird, was sich für die             und damit zum Merkmal der Öffentlich-
vor allem öffentliche Kommunikation im                     keit als Bedingung bzw. Notwendigkeit
jeweiligen Zeitraum als besonders relevant                 für eine kommunikationswissenschaft-
erweist: Zunächst galt die wissenschaft-                   liche Auseinandersetzung. So plädiert
liche Aufmerksamkeit der Presse, die im                    bspw. Andreas Hepp (2016) dafür, jegli-
Rahmen von Studien zur Medieninhalts-                      che medienvermittelte Kommunikation
oder Journalismusforschung im Fokus                        als Forschungsgegenstand zu begreifen,
stand. Auch Filme waren Materialobjekt                     während Hans-Bernd Brosius (2016) kom-
erster studentischer Abschlussarbeiten.                    munikationswissenschaftliche Forschung
Im Verlauf der Zeit nahm das Interesse an                  als die Analyse öffentlicher Kommunikati-
diesen Analysegegenständen in gleichem                     on verstanden wissen will. Wie die Analyse
Masse ab, wie es für die sich neu etablie-                 der Abschlussarbeiten zeigt, war nicht-öf-
renden Online-Medien zunahm.                               fentliche Kommunikation in keiner Phase
     Zumindest ein Teil der Schweizer Kom­                 ein dominierender, jedoch auch immer
munikationswissenschaft zeichnet sich                      ein berücksichtigter Analysegegenstand.
mit Blick auf ihr Materialobjekt durch eine                Basierend auf diesen Daten scheint es da-
vergleichsweise Flexibilität aus (Theis-                   her plausibel anzunehmen, dass sich die
Bergl­mair, 2016, S. 385). Dies stützt auch                Kommunikationswissenschaft vor allem
die Beobachtung einer Schweizer (Teil)                     mit öffentlicher und damit auch beob-
Community (Buhmann et al., 2015), die                      achtbarer (Brosius, 2016) Kommunika-
sich dezidiert an den «emerging fields»                    tion auseinandersetzt. Mit Blick auf die
orientiert. Diese Offenheit ist jedoch auch                zunehmend synchrone Mediennutzung,
notwendig, wenn sie aktuelle technische                    das konvergente und über Algorithmen
und gesellschaftliche Veränderungen                        personalisierte Medienangebot und die
ana­lysieren, erklären und ggf. auch mit-                  zahlreichen Interaktionsprozesse und In-
gestalten will. Entscheidend ist dabei je-                 terdependenzen zwischen öffentlicher
doch, die Kommunikationswissenschaft                       und nicht-öffentlicher Kommunikation
nicht auf ihr präferiertes Materialobjekt                  ist eine dogmatische Trennung zwischen
zu reduzieren (Strippel et al., 2018a) und                 den Kommunikationssphären nicht im-
die Diskussion um das Materialobjekt als                   mer möglich oder gar sinnvoll. So liefern
Debatte um die gesamte Fachidentität                       bspw. Analysen über den Einsatz und den
deren Relevanz sowie theoretisches und                     Nutzen von geschlossenen Facebook-
methodisches Werkzeug zu missdeuten.                       oder WhatsApp-Gruppen während der
Zum Materialobjekt lassen sich folgende                    TV-Nutzung via Second Screen ebenso
Thesen formulieren:                                        relevante kommunikationswissenschaft-
                                                           liche Einsichten wie die frühen Studien
     Das Materialobjekt der Kommunikationswis-             zur Bedeutung der Meinungsführer bei
     senschaft spiegelt technische Entwicklungen           der Wirkung von Medieninhalten in der
     und gesellschaftliche Nutzungsmuster wider            Wahlkampfzeit (Lazarsfeld, Berelson, &
     und ist daher einem ständigen Wandel un-              Gaudet, 1944). Entscheidend ist hier aus
     terworfen. Die Kommunikationswissenschaft             Sicht der AutorInnen, dass die nicht-öf-
     wird damit ihrer Rolle als Sozial- und Gesell-        fentliche Kommunikation eine Rolle für
     schaftswissenschaft gerecht – vor allem wenn          gesellschaftliche Prozesse und / oder eine
     die Forschung gesamtgesellschaftliche Ana-            relevante Einflussgrösse für das Verständ-
                                                           nis und die Wirkung von öffentlicher Kom-
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