"Geografe, nüme schlafe!": Radikale Geographie in Zürich (1980-1990) - GH

Die Seite wird erstellt Angelika Neubert
 
WEITER LESEN
supported by
Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
© Author(s) 2021. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

             „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in
                           Zürich (1980–1990)
       Benedikt Korf, Maxie Bernhard, Tim Fässler, Meret Oehen, Nicola Siegrist, Livia Zeller, and Gary Seitz
                Geographisches Institut, Universität Zürich, Winterthurerstrasse 190, 8057 Zürich, Switzerland
                                 Correspondence: Benedikt Korf (benedikt.korf@geo.uzh.ch)

               Received: 30 October 2020 – Revised: 1 March 2021 – Accepted: 10 March 2021 – Published: 4 May 2021

       Kurzfassung. In early summer 1980, radical geography students rallied around the slogan „Geografe nüme
       schlafe!“ („Geographers, stop sleeping!“) to take part in the radical youth movement that shook the city of Zurich
       at that time. In turn, these activist students brought these struggles back into the university and the geography
       department, where they confronted the professorate with their demands for a new curriculum. This paper argues
       that the antagonistic Stimmung, in which these struggles took place, produced a radical „thought style“ that
       flourished in a specific constellation of „thought events“: a prominent theory seminar in 1980, the AK WissKri,
       a network of radical geography students, the „Geoscope“ journal and, finally, a number of diploma theses on
       feminist, urban and historical geography. In these thought events, a radical geography materialized outside and
       beyond the mainstream of German language geography. Building on archival material and narrative interviews,
       this paper documents these student initiatives for a radical geography, and illustrates the precarious conditions
       of possibility of radical geography, in Zurich, and beyond.

     Da war eine Demo geplant in der Stadt, und es hat                  viele Verletzte, und auch viele Verhaftete, am
     diese Glocke gehabt im Treppenhaus [im Instituts-                  Schluss waren es mehrere Tausend Strafverfahren.
     gebäude an der Blümlisalpstrasse] . . . und dann hat               . . . Das war eine sehr turbulente Zeit. (C. Schmid,
     jemand diese Glocke geläutet und gerufen: ,Geo-                    6. Mai 2019)
     grafe, nüme schlafe, Geografe ad Demo‘ . . . Da
                                                                     Viele Geographiestudierende nahmen an den Protesten teil
     war rasch ein ziemlicher Aufruhr . . . Das war für
                                                                   und beteiligten sich an Aktivitäten der autonomen Jugend-
     die Professoren (. . . ) eine massive Provokation. Sie
                                                                   szene.
     konnten nichts damit anfangen.
     (Christian Schmid, 6. Mai 2019)                                    Wir beschränkten uns nicht auf die theoretische
                                                                        Arbeit, sondern beteiligten uns ausserhalb der Uni-
                                                                        versität überall dort, wo in dieser Stadt während
1   Eine vergessene Revolte?
                                                                        der achtziger Jahre etwas lief,
Im Mai 1980 kam es in Zürich zu den sogenannten „Opern-               erinnert sich Richard Wolff, damals Geographiestudent,
hauskrawallen“. Junge Aktivistinnen und Aktivisten protes-         heute Stadtrat der Alternativen Liste (AL) in Zürich.1
tierten dagegen, dass der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Fran-         Theorie und politische Praxis gehörten für diese revol-
ken für die Renovation des Opernhauses bewilligte, ein neu-        tierenden Studierenden zusammen. Deshalb riefen sie ihren
es Autonomes Jugendzentrum (AJZ) jedoch ablehnte. Es sei           Mitstudierenden zu: „Geografe, nüme schlafe! Geografe ad
„eine bleierne Zeit“ gewesen und zugleich unheimlich aufre-        Demo“. Zugleich trugen sie die Revolte zurück ans Geogra-
gend, erzählt Christian Schmid (5. März 2020), damals Stu-         phische Institut an der Universität Zürich und wendeten sich
dent am Geographischen Institut der Universität Zürich:
                                                                      1 https://www.woz.ch/wir-wollen-alles-und-zwar-subito-teil-xii/
     Diese Stadt war zwei Jahre im Ausnahmezustand,                zuerich-wurde-teil-vom-rest-der-welt       (letzter     Zugriff:
     es gab zeitweise Demos jede Woche . . . es gab                9. April 2021).

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
178                                      B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

gegen den etablierten Lehrplan. Die Studierenden verstan-              beschränkt (vgl. Best, 2009; Minca, 2003). Während Harvey
den sich als Avantgarde kritischer und radikaler Geographie.           die anglophone Geographie seit den 1970er Jahren stark
Sie forderten einen Raum für Gesellschaftskritik und Theorie           beeinflusst hat, sind radikale und kritisch-marxistische
in der Geographie. Von ihren Lehrenden am Institut konnten             Strömungen in der deutschsprachigen Geographie weitge-
sie dazu wenig erwarten: Statt länderkundlichen Vorlesun-              hend marginalisiert geblieben (Belina et al., 2009; Belina,
gen zu folgen, eigneten sie sich im Eigenstudium die theore-           2014). Erst die Internationalisierung und Neoliberalisie-
tischen Grundlagen radikaler und kritischer Geographie an.             rung der deutschen Hochschullandschaft seit den späten
Sie organisierten Theorieseminare, vernetzten sich mit deut-           1990er Jahren habe radical geography auch im deutsch-
schen Studierenden und schrieben radikale Texte in der Fach-           sprachigen Raum satisfaktionsfähig gemacht – als Import
schaftszeitschrift. So schufen sie in Zürich einen intellektu-         „internationaler Geographie“ (Best, 2009, 2016).
ellen Raum für eine radikale Geographie.                                  Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich die studenti-
   Die Geschichte der radikalen Geographie in Zürich muss-             schen Initiativen für eine radikale Geographie genau zu die-
te, wie im gesamten deutschsprachigen Raum, als studen-                sem Zeitpunkt und an diesem Ort ausbilden konnten, und
tisches Projekt (vgl. Best, 2009:351ff., 2016) gegen eine              das ausgerechnet in einem eher konservativen Institutsmi-
skeptische Professorenschaft2 erkämpft werden. So gilt der             lieu. Diese spezifische Konstellation, so werden wir aufzei-
1969 in Kiel abgehaltene Deutsche Geographentag („Kiel                 gen, lässt sich als eine bestimmte „Stimmungslage“ beschrei-
1969“) in vielen Lehrbüchern als paradigmatisches Ereig-               ben: Die sich radikalisierenden Studierenden agierten in ei-
nis, in dem erstmals kritische Studierende gegen das Esta-             ner antagonistischen gesellschaftlichen Stimmung und tru-
blishment im Fach öffentlich revoltierten (Werlen, 2000:208;           gen diese „Stimmungslage“ an das Geographische Institut
Weichhart, 2008:68); doch blieben von den studentischen In-            der Universität Zürich. Dies erklärt die Intensität der Aus-
itiativen für eine politisch und theoretisch radikale Geogra-          einandersetzung, aber auch des Engagement der Studieren-
phie nur wenig Spuren in der deutschsprachigen Geographie              den, die ihre Freiräume im Studienplan ausgiebig zur Theo-
übrig (vgl. Best, 2009:351; Belina, 2014). Eine dieser Spu-            rielektüre nutzten. Theorie wurde aber immer im Blick auf
ren führte nach Zürich: „Eine der nachhaltigen Folgelinien             mögliche politische Aktion gelesen – und sie wurde kollek-
[von ,Kiel 1969‘] führt zunächst in die Schweiz“, hält Ben-            tiv gelesen. „Theorie“ zeigt sich so, folgt man Ludwik Fleck,
no Werlen (2014:297) dazu fest und zählt u. a. wichtige In-            als ein materialisiertes „Denkereignis“ (Fleck, 1983).
itiativen zur kritischen Fachgeschichte, zur kritischen Stadt-            Methodisch greifen wir auf eine Kombination von Archiv-
forschung und zur Genderforschung auf, an denen Christian              materialien und oral history (Interviews mit Zeitzeug*innen)
Schmid und Richard Wolf beteiligt gewesen waren. Auch ha-              zurück. Institutsjahresberichte, die Ausgaben der Zeitschrift
be die Zeitschrift „Geoscope“ des Zürcher Fachvereins „zu              des Fachvereins Geographie („Geoscope“) und Sitzungspro-
dieser Zeit für die deutschsprachige Geographie eine ähn-              tokolle des Fachvereins gaben erste Einsichten in die da-
liche Stellung [eingenommen] wie die Zeitschrift ,Geogra-              malige Stimmung unter den Studierenden und am Institut,
fiker‘ der Fachschaft der FU Berlin rund um ,Kiel 1969‘“               über die Forderungen der Studierenden, die Artikulation ih-
(Werlen, 2014:298).3                                                   rer radikalen Positionen und die Themen, die ihnen am Her-
   In disziplingeschichtlichen Arbeiten zur kritisch-                  zen lagen. Narrative Interviews mit Studierenden der da-
marxistischen oder radikalen Geographie steht meist die                maligen Zeit (Julia Concepcíon-Sanz, Anne-Françoise Gil-
marxistische Geographie im anglophonen Raum im Vor-                    bert, Hansruedi Hitz, Philipp Klaus, Christian Schmid, Ga-
dergrund – mit David Harvey als zentralem Akteur, dessen               ry Seitz, Dominik Siegrist, Robert Weibel), zweitens mit Do-
Schriften die anglophone Geographie über Jahrzehnte                    zierenden der damaligen Zeit (Harald Haefner, Klaus Itten,
geprägt haben. Diese Geschichte kann man in all ihren                  Herbert Wanner, Benno Werlen) und anderen Personen, die
Facetten in den von Trevor Barnes und Eric Sheppard                    mit den kritischen Studierenden im Austausch standen (Ul-
herausgegebenen Spatial Histories of Radical Geography                 rich Eisel, Huib Ernste, Wolf-Dietrich (Woody) Sahr), er-
(2019) nachlesen. Aber die Geschichte radikaler Geographie             möglichen eine Rekonstruktion der damaligen Stimmung –
ist vielschichtig und nicht auf den anglophonen Raum                   am Institut und unter den Studierenden.4
    2 Da zur damaligen Zeit am Geographischen Institut an der Uni-        4 Wichtige Vorarbeiten, insbesondere in der Archivrecherche,
versität Zürich nur männliche Professoren arbeiteten (die erste Pro-   wurden von Phulba Doma Lama in ihrer unveröffentlichten Mas-
fessorin am Institut wurde erst 1996 berufen), wird hier an der        terarbeit „Studentische Kritische Geographie an der Universität
männlichen Form festgehalten.                                          Zürich der 1970er und 1980er Jahre“ (2019) vorgenommen. Sie
    3 Die Zeitschrift „Geografiker“ wurde vom Berliner Geogra-         beteiligte sich auch an verschiedenen Interviews. Ebenso betei-
phenkreis, einer Vereinigung kritischer Studierender, herausgege-      ligten sich folgende Studierende an Interviews und ihrer Aus-
ben und erreichte im Nachgang zu „Kiel 1969“ einige Bekannt-           wertung, die hier verwendet werden: Daria Alessi, Yasmine Ba-
heit als zentrales Organ kritischer Geogaphie. Diese Hefte, eben-      stug, Vladimir Kojovic, Livia Murdzinski und Sanne Schnyder.
so wie einige Ausgaben von „Geoscope“, sind hier archiviert: http:     Der ausführliche Abschlussbericht mit Details zur Methodik, zu
//kritische-geographie.de/textarchiv-kritische-geographie/ (letzter    den Interviews und zum Archivmaterial kann auf der Websei-
Zugriff: 9. April 2021).                                               te https://www.geo.uzh.ch/de/department/geografe-nueme-schlafe.

Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021                                                            https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)                                                179

  Die Interviews wurden alle aufgenommen, transkribiert               sie be-stimmt das Blickfeld. Diese Stimmung ist ein „Drittes“
und thematisch kodiert. Eine mögliche Anonymisierung der              ausserhalb des Subjektes. Stimmungen drücken damit eine
Zitate erschien dem Forschungsteam als wenig zielführend:             geteilte atmosphärische Konstellation, eine Art geschichts-
Die meisten Beteiligten, sowohl auf Ebene der Studieren-              philosophische Vergegenwärtigung einer „Epoche“ oder ge-
den und der Dozierenden, können aus öffentlich zugängli-              schichtlichen Situation, aber eben auch ganz lokale Konfi-
chen Dokumenten (z.B. Diplomarbeiten, Institutsberichten,             gurationen persönlichen Erlebens im Kollektiv aus. Flecks
„Geoscope“-Artikeln) leicht identifiziert werden. Deshalb             „Denkstimmung“ zeigt sich so zugleich geschichtsphiloso-
haben wir sowohl von einer systematischen Anonymisierung              phisch als Stimmung einer bestimmten Zeit als auch ei-
der Interviewten als auch von der Anonymisierung von ge-              nes ganz bestimmten Kollektivs von Wissenschaftler*innen.
nannten Personen in den Interviews in den meisten Fällen              Stimmungen können dabei etwas Ansteckendes haben – sie
Abstand genommen. Lediglich in einigen wenigen Fällen                 erzeugen „Schwingungen“ unter Gleichgesinnten, können
wurde die Nennung der Namen beteiligter Personen vermie-              aber auch Dissonanzen auslösen (Wellbery, 2003:705f.). Die
den, insbesondere, wenn diese nicht für eine Stellungnahme            Unmittelbarkeit solcher Stimmungen wird oft nostalgisch in
verfügbar waren. Alle Interviewaussagen wurden von den                Erinnerung gerufen (von denen, die „dabei waren“). Gerade
betroffenen Personen freigegeben.                                     deshalb warnt Hans Ulrich Gumbrecht:
                                                                           Zur Empathie der Stimmungsvergegenwärtigung
2   Stimmungen lesen                                                       sollte immer auch eine Dosis von Nüchternheit
                                                                           und verbaler Selbstbeschränkung gehören. (Gum-
In disziplingeschichtlichen Arbeiten zur Geographie besteht                brecht, 2011:28)
Einigkeit, dass „Theorie“ nicht einfach als abstrakte, Raum              Bisherige disziplingeschichtliche Studien und anekdoti-
und Zeit transzendierende Erkenntnistheorie zu verstehen              sche Kommentare zeigen lokale Konstellationen auf, ohne
ist, sondern immer an konkrete Orte gebunden ist, an de-              notwendigerweise auf den Begriff der Stimmung analytisch
nen sie entwickelt wurde (Livingston, 2003:3; Barnes, 2004;           zurückzugreifen. Dies trifft z.B. für den Kieler Geographen-
Barnes und Sheppard, 2019:5; Schlottmann und Wintzer,                 tag von 1969 („Kiel 1969“) und dessen Nachwirken in der
2019:9). Ananya Roy spricht von einem territory of thought            deutschsprachigen Geographie zu (vgl. Korf, 2014). So be-
(Roy, 2015:16), das von einer „Denkstimmung“ geprägt                  schreibt Peter Weichhart (2016:7) die „Stimmung“ am In-
wird. Mit „Denkstimmung“ bezeichnet Ludwik Fleck (1980                stitut für Geographie in Salzburg unmittelbar nach dem Er-
[1935]) eine „besondere Stimmung“, in der ein „Denkkol-               eignis und berichtet davon, wie einer seiner damaligen Do-
lektiv“ einen gemeinsamen „Denkstil“ ausbrütet (vgl. da-              zenten vor dem Untergang des Faches warnte. Ulrich Eisel
zu Hasse, 2016:82; Korf und Verne, 2016:366; Schlottmann              spricht vom „Lebensgefühl“ der damaligen linken Geogra-
und Hannah, 2016). Damit bringt Fleck zum Ausdruck, dass              phiestudierenden, das einem „Rausch“ geglichen habe:
Erkennen „ein tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein
                                                                           Es gab eine Einheit von Leben . . . , politischer
Umformen und Umgeformtwerden“ (Fleck, 1983:48) ist,
                                                                           Agitation, Theoriearbeit, Teach-ins, Freundschaft,
das von sozialen Stimmungen geprägt wird. Theorie lässt
                                                                           Diskussion, die atemlos machte. (Eisel, 2014:316)
sich mit Fleck als materialisiertes „Denkereignis“ verstehen
(vgl. Schlünder, 2005:60), das sich in ortsgebundenen Mi-               Doch sprang dieser „Rausch“ nicht auf die etablierte
lieus ereignet: Dies zeigen einige der in Barnes und Shepp-           Hochschulgeographie über:
ard (2019) aufgeführten Studien für die nordamerikanische                  So befreiend Kiel 1969 war, so unfrei war das Fach
radikale Geographie, so die Bedeutung von Baltimore für das                . . . noch bis in die 1990er Jahre hinein. (Helbrecht,
Denken David Harveys (Sheppard und Barnes, 2019) oder                      2014:320)
des spezifischen Milieus in Berkeley, an dem sich die econo-
                                                                         – unfrei in Bezug auf eine wissenschaftstheoretische Kri-
mic geography radikalisiert habe (Peck und Barnes, 2019).
                                                                      tik ihrer eigenen Grundlagen ebenso wie in Bezug auf eine
   Wie aber können solcherart „Stimmungen“ für die dis-
                                                                      kritische Gesellschaftstheorie. Im Rückblick auf sein Studi-
ziplingeschichtliche Analyse vergegenwärtigt werden? Für
                                                                      um an der TU München mehr als zehn Jahre nach Kiel erin-
Martin Heidegger ist „Stimmung“ mit der existentiellen Be-
                                                                      nert sich Ulf Strohmayer jedoch, dass ganz bestimmte Perso-
dingung der „Geworfenheit“ verbunden (Sein und Zeit, 1927)
                                                                      nalkonstellationen das „Infragestellen analytischer Grenzen“
und als solche von präreflexivem Charakter, d. h. nicht be-
                                                                      zumindest punktuell ermöglichten (Strohmayer, 2020:217).
wusst wählbar. Zentral ist dabei der Begriff der „Befind-
                                                                         Anekdotische Erzählungen als Teil einer oral history des
lichkeit“ (Heidegger, 1927:136). Byung-Chul Han fasst Hei-
                                                                      Faches laufen jedoch Gefahr, dass sie „auf die gängige Mo-
deggers Gedankengang so zusammen: „Die Stimmung be-
                                                                      de zurechtgetrimmt und dann als Kampfmittel im Zuge der
stimmt das Sehen der Möglichkeiten“ (Han, 1999:19), d. h.,
                                                                      Durchsetzung neuer Ideen instrumentalisiert werden“ (War-
html (letzter Zugriff: 9. April 2021) eingesehen werden. Das Inter-   denga, 1996:14). So wird für die Beschreibung des Durch-
view mit Huib Ernste wurde von Benedikt Korf am 5. Februar 2021,      bruchs der „Neuen Kulturgeographie“ nach der Jahrtausend-
nach Abschluss des Projektes durchgeführt.                            wende oft auf Stimmungsmomente Bezug genommen, die

https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021                                                           Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
180                                   B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

sich am Gründungsmythos „Kiel 1969“ abarbeiten. So be-            ein politisches Statement eingesetzt zu haben, und untersagte
richtet Woody Sahr vom „total überfüllten Hörsaal mit 68er-       ihm die weitere Lehrtätigkeit an der Universität und die Ver-
Stimmung“ einer Fachsitzung auf dem Geographentag in              öffentlichung seines Videos. Dagegen wehrten sich die Stu-
Leipzig 2001, wo man sich wie bei einer „Freitagsdemo“ ge-        dierenden und forderten Gilgens Absetzung: „Wir verkauften
fühlt habe (Sahr, 2012:442). Für Steinbrink und Aufenven-         tausende von Protestbuttons ,Gilgen, hau ab!““ (R. Wolff im
ne (2016:85) kommt in solchen Schilderungen eine spezifi-         Interview mit H. Nigg)5 .
sche Denkstimmung der Neuen Kulturgeographie zum Aus-                Für viele Geographiestudierende war dies ein zentraler
druck: „Man begriff sich als rebellisch und als intellektuelle    Auslöser, sich zusammenzutun und den Protest auch ins In-
Vorhut des geographischen Wissensfortschritts“. Darin spie-       stitut zu tragen:
gele sich eine rhetorische Wiederholung des „Gründungsmy-
thos“: Leipzig werde zum neuen Kiel ausgerufen.                        . . . auf einmal stellten wir fest, als wir uns auf der
   In Ergänzung zu oral histories rekonstruiert disziplinhisto-        Strasse oder an Veranstaltungen wiedererkannten.
rische Archivarbeit die institutionellen Bedingungsmöglich-            ,Hey, der ist im gleichen Semester, der ist im glei-
keiten bestimmter Ereignisse und Stimmungslagen. So zeigt              chen Kurs wie ich‘. (C. Schmid, 6. Mai 2019)
z.B. Ute Wardenga auf, wie dem Ereignis „Kiel 1969“ – der
berühmten Fachsitzung, auf der eine Gruppe kritischer Stu-             Dann ist es eben auch am Geographischen Institut
dierender ihre Fundamentalkritik an der „klassischen“ Geo-             losgegangen. [. . . ] Das war für uns der Anfang des
graphie vortrug (Meckelein und Borchert 1970:191ff.) – in-             Protests gegen diese alte etablierte Geographie, die
tensive Vorabsprachen zwischen den Studierenden und den                damals noch herrschte. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)
Verbänden der Geographie vorausgingen, u. a. in einer Vor-
bereitungssitzung in Köln (Wardenga, 2020:17ff.). Für die            Der Protest am Institut richtete sich sowohl gegen veralte-
quantitativ-theoretische Wende spüren Boris Michel und Ka-        te Strukturen als auch gegen eine unkritische und theoretisch
tharina Paulus nach, wie deren Erfolg „von persönlichen           wenig fundierte Lehre. In diesen Auseinandersetzungen spie-
Netzwerken“ und ganz spezifischen Personalkonstellationen         gelte sich die gesellschaftliche Polarisierung: Die Studieren-
im Institutsgefüge abhing – im von Paulus untersuchten Fall       den fanden wenig Anklang mit ihren politischen Forderun-
in Erlangen (Michel und Paulus, 2018; Paulus, 2017). Die-         gen, denn die Dozierenden verorteten sich politisch klar im
se Archivrekonstruktionen werden durch ergänzende Analy-          bürgerlichen Lager, das die Proteste strikt ablehnte. Benno
sen, z.B. von Eisel (2017), Scheuplein (2017) und Warden-         Werlen, der 1984 ans Institut kam, erinnert sich an diese an-
ga et al. (2011), bereichert, die aufzeigen, wie diese lokalen    gespannte Stimmung:
Konstellationen auch der gesellschaftlichen „Stimmung“ ih-
                                                                       Die gesamte Situation am Institut war wirklich
rer Zeit verhaftet sind.
                                                                       vom Kalten Krieg geprägt. (B. Werlen, 10. Ju-
   In unserer Studie werden Archivarbeit und oral histo-
                                                                       li 2020)
ry komplementär herangezogen, um die Stimmungslage am
Geographischen Institut an der Universität Zürich in den frü-       Ganz ähnlich hatte es schon 1979 der damalige Privatdo-
hen 1980er Jahren zu rekonstruieren. So lässt sich aufzei-        zent Kurt Graf ausgedrückt:
gen, wie sich bestimmte Stimmungslagen so verdichten, dass
sie sich als „Denkereignisse“ (Fleck) einer radikalen Geogra-          Das Geographische Institut der Uni Zürich steht
phie materialisieren. Dadurch soll die Bedeutung bestimmter            extrem rechts, man darf also keine linken Diplom-
Milieus, Denkkollektive und ihrer Denkstimmungen für die               arbeiten schreiben, kein Professor würde seinen
Ausbildung bestimmter fachlicher und theoretischer Neue-               Namen dazu hergeben [. . . ]. (PD Dr. Graf, zitiert
rungen in der Geographie veranschaulicht werden.                       in: Geoscope, 25:196 )

                                                                    Zu dieser antagonistischen Stimmungslage trug auch bei,
3   „Kalter Krieg“: Eine antagonistisch aufgeladene               dass einige Dozierende hohe Positionen als Reserveoffiziere
    Stimmungslage                                                 im Milizsystem des Schweizer Militärs innehatten. Für viele
                                                                  radikal gesinnte Studierende war dies schwer zu akzeptieren:
Als auslösendes Ereignis für die „Revolte“ unter den Geo-            5 https://www.woz.ch/wir-wollen-alles-und-zwar-subito-teil-xii/
graphiestudierenden in Zürich gilt die Demonstration gegen
                                                                  zuerich-wurde-teil-vom-rest-der-welt        (letzter       Zugriff:
den damaligen Erziehungsdirektor Alfred Gilgen vom 9. Ju-
                                                                  9. April 2021).
ni 1980. Damals protestierten mehr als 2000 Studierende an            6 „Geoscope“ ist die Zeitschrift der Fachschaft Geographie
der Universität Zürich gegen die Entlassung von Heinz Nigg,       an der Universität Zürich. Die Ausgaben wurden durchnume-
der am Ethnologischen Seminar lehrte und ein studentisches        riert: Geoscope 25 bezieht sich z.B. auf die 25. Ausgabe,
Lehrprojekt angeleitet hatte, in dem Studierende die Jugend-      die 1979 erschienen ist. Ausgaben können auf der Projektweb-
unruhen und auch die „Opernhauskrawalle“ filmten. Gilgen          seite eingesehen werden: https://www.geo.uzh.ch/de/department/
warf Nigg vor, Kameras und Material der Universität für           geografe-nueme-schlafe.html (letzter Zugriff: 14. April 2021).

Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021                                                        https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)                                               181

     An der Exkursion ist der [Institutsdirektor] in der                Die meisten gingen halt doch einfach studieren . . .
     Militäruniform gekommen, da er gerade irgendwo                     und es waren meiner Meinung nach relativ weni-
     Dienst hatte. Er war Oberst, das fanden wir unmög-                 ge, die da aktiv mitgemacht haben. . . . Da gab’s
     lich. Wir waren damals natürlich alle Armeegeg-                    auch die Studierenden, die eher [einen] militäri-
     ner. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)                                   schen Hintergrund hatten . . . die aus der rechten
                                                                        Ecke. (R. Weibel, 23. Oktober 2019)
     [Der damalige Institutsdirektor] hat das wirklich
                                                                    Insgesamt führte die Konstellation aufgrund der Aktionen
     auch so militärisch durchgezogen. . . . Auf Exkur-
                                                                 einer Gruppe radikaler Studierender jedoch zu einer antago-
     sionen halt . . . so ein bisschen feldherrenmässig.
                                                                 nistischen Stimmungslage:
     (R. Weibel, 23. Oktober 2019)
                                                                        Die Institutsleitung, wertkonservativ und hierar-
  Ein ehemaliger Dozent bestätigt diese Auseinanderset-                 chisch ausgerichtet, [sah] sich konfrontiert mit ei-
zung, die es zwischen Studierenden und Professoren auf-                 ner sich mehr und mehr radikalisierenden Studen-
grund der Haltung gegenüber dem Staat und dem Militär gab.              tenschaft. (H. Wanner, 7. Juli 2020)
                                                                   Für die Dozierenden war es keine einfache Zeit. Der da-
     Ich glaube, keiner von ihnen hat Militär gemacht.
                                                                 malige Dozent Klaus Itten erinnert sich:
     Ich verurteile das nicht, aber es waren einfach Un-
     terschiede da. (K. Itten, 7. Juni 2019)                            Für die etablierten Professoren ist es ein bisschen
                                                                        heiss gewesen. Weil da wirklich Unruhe gewesen
  In dieser männerbündlerischen Konstellation hatten es die             ist . . . für ihn [einen älteren Kollegen] ist das . . .
wenigen Frauen unter den Studierenden nicht einfach. Eine               ein Gräuel gewesen. (K. Itten, 7. Juni 2019)
ehemalige Studentin schildert es so:
                                                                    Auch im Rückblick findet Itten kritische Worte zur dama-
     Wenn eine Frage gestellt wurde [von einer Frau]             ligen Situation:
     hat der Professor vorne gesagt: ,Ah, Mädchen, ei-                  Provokation und Revolte gegen das ,akademi-
     ne kluge Frage, wo hast du die Matur gemacht?‘                     sche Establishment‘ war wichtiger als sachliche
     [oder] ,Aus welchem Dorf kommst du?‘ Es war . . .                  Auseinandersetzung. (K. Itten, E-Mail, 10. Au-
     wenig professionell von der Haltung her. (J. Sanz,                 gust 2020)
     7. August 2019)
                                                                    Itten bringt damit die Verständigungsschwierigkeiten zwi-
   Neben diesen atmosphärischen Spannungen waren viele           schen Dozierenden und Studierenden zum Ausdruck, die am
Studierende auch vom Curriculum massiv enttäuscht: Dies          Institut herrschten, und die die angespannte gesellschaftliche
zeigt eine Umfrage unter Studierenden, die 1979 im Geosco-       Stimmungslage widerspiegelten.
pe besprochen wurde (Geoscope 25:18ff.). Anstatt einer län-
derkundlichen, beschreibenden Geographie wünschten sie           4     Materialisierte „Denkereignisse“
sich theoretische Auseinandersetzungen mit dem Fach.
                                                                 Die Proteste blieben aber nicht auf Störaktionen beschränkt.
     das Höchste der Gefühle bezüglich Theorie
                                                                 Vielmehr entstand aus einer Gruppe radikaler Studierender
     oder Modelle war das Geosphärenmodell . . .
                                                                 ein „Denkkollektiv“, das Theorie und radikale Kritik in kon-
     und das war einfach zu wenig. (A.-F. Gilbert,
                                                                 kreten „Denkereignissen“ (Fleck) materialisierte: ein Theo-
     18. Mai 2019)
                                                                 rieseminar, ein translokales studentisches Netzwerk und eine
   Eine Gruppe von radikalen Studierenden fing an, aus Pro-      Sonderausgabe der Fachschaftszeitschrift „Geoscope“. Alle
test den Unterricht zu stören und die Dozierenden zu provo-      drei Denkereignisse bildeten Knotenpunkte einer radikalen
zieren:                                                          Geographie, die in Zürich ihren Ausgangspunkt nahm, aber
                                                                 darüber hinauswirkte.
     Es sind da Studierende gesessen, die gestrickt ha-
     ben während des Unterrichts, einfach zum Provo-             4.1    Das Theorieseminar 1980/81
     zieren. (K. Itten, Dozent, 7. Juni 2019)
                                                                 Theorie wurde zum zentralen „kollektiven Denkereignis“, in
     Die Vorlesungen kamen teilweise überhaupt nicht             dem sich die Studierenden gegenüber ihren Dozierenden pro-
     mehr vom Fleck [. . . ]. Immer hat wieder jemand            filierten:
     anders eine kritische Frage gestellt. (C. Schmid,
     6. Mai 2019)                                                       Viele Studierende waren über den Stand der Theo-
                                                                        riediskussion des Faches deutlich besser infor-
   Nicht alle Studierenden teilten jedoch die radikale Haltung          miert als die meisten Festangestellten. (B. Werlen,
dieser Gruppe:                                                          10. Juli 2020)

https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021                                                         Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
182                                     B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

      Theorie wurde ein Instrument in der Auseinander-
      setzung. Hier kannten wir uns aus! Die Profs hatten
      keine Ahnung. (C. Schmid, 5. März 2020)

   Legendär wurde eine Vorlesungsreihe mit begleitendem
Theorieseminar, die im HS 1980/81 stattfand. Die Veranstal-
tung ging auf vielfach wiederholte Forderungen des studen-
tischen Fachvereins zurück.7 Da im Geoscope immer wieder
die Lehre kritisiert worden war (z.B. Geoscope 25:18), bot
die Institutsleitung schliesslich den Studierenden an, bei der
Gestaltung eines Theorieseminars mitzuwirken (H. Wanner,
7. Juli 2020).
   Mitbestimmung war dabei ein zentrales Anliegen der
Studierenden. Sie wollten sich nicht mehr Inhalte diktie-
ren lassen, sondern am Entstehungsprozess einer Veranstal-
tung beteiligt werden. Sie wollten das Seminar nutzen, um
„nicht etablierte[n] Nachwuchskräfte[n]“ eine Gelegenheit
zu bieten, um „inhaltliche Alternativen zum Bisherigen zur
Sprache [zu bringen]“ (P. Bünzli, 1981, Geoscope 32:16).
Schliesslich wurden auf studentischen Wunsch hin Gün-
ther Beck, Ulrich Eisel und Brigitte Wormbs eingeladen.
Schmid erinnert sich, wie die Studierenden ihre Ideen ein-
zubringen verstanden:

      Wir konnten sie [die Dozierenden] in theoretische
      Diskussionen verwickeln und sie wussten oft über-
      haupt nicht, über was wir sprechen. . . . Und dann
      hatten wir natürlich ziemlich rasch eine Liste zu-
      sammengestellt von wichtigen Leuten in der deut-
      schen Geographie. . . . Ja was wollt ihr denn? . . .
      Wir wollen Uli Eisel, . . . Günther Beck, . . . wir            Abb. 1. Terminplan zum Theorieseminar (Geoscope 29 (1980):19).
      wollen sie alle. (C. Schmid, 6. Mai 2019)

  Klaus Itten, der die Lehrveranstaltung als Dozent betreute,          Vor allem gegenüber Eisel hegte die Institutsleitung eini-
wollte hingegen im Seminar die Grenzen des Faches abste-             ges Misstrauen: Ausschnitte aus einem Sitzungsprotokoll des
cken:                                                                Instituts im August 1980, die im Geoscope 32 (1981) abge-
                                                                     druckt wurden, verdeutlichen dies. Dort erklärte Hoyningen-
      Die theoretische Geographie war damals am zer-                 Huene:
      fleddern. Es geisterten Theoreme herum, Geogra-
      phie ist das, was man macht, und das ging dann                      Eisel ist ein gutes Beispiel eines Rattenfängers, der
      nicht. Man musste schon definieren, welche Teile                    die Leute hinters Licht führen will. . . . Beim Re-
      von den Geographen sinnvollerweise abzudecken                       ferat von Eisel werde ich kommen und versuchen
      sind. (K. Itten, 15. August 2019)                                   ihm an die Knie zu gehen. (Hoyningen-Huene,
                                                                          Sitzungsprotokoll vom 26. August 1980 am Geo-
   Als Grundlektüre für das Seminar wurde ein Text von                    graphischen Institut, auszugsweise abgedruckt in:
Hans Carol „Zur Diskussion um Landschaft und Geogra-                      Geoscope 32:23)
phie“ (Carol, 1956) ausgewählt, in dem Carol eine Syste-
matisierung des Landschaftskonzeptes entwickelt hatte. Aus-            Eisel erinnert sich an diese Situation: Nach seinem Vortrag
serdem nominierte die Institutsleitung ebenfalls einige Vor-         am 21. Januar 1981, in dem er die klassische Landschafts-
tragende, u. a. Ernst A. Brugger, Hans R. Brunner sowie              geographie kritisiert und für einen Paradigmenwechsel in der
Paul Hoyningen-Huene, damals Dozierender am Philosophi-              Geographie plädiert hatte, habe Hoyningen-Huene die Dis-
schen Seminar der UZH (Wanner und Itten, 1981).                      kussion nach seinem Vortrag vereinnahmt (dokumentiert in:
                                                                     Eisel et al., 1981):
   7 Dabei konnten sie an frühere Initiativen von Studierenden am
Institut anknüpfen. So organisierten z.B. schon 1974 Zürcher Stu-         Er hat dann auf einer abstrakten Ebene das in Fra-
dierende das Seminar „Zur Theorie in der Geographie“, zu dem u. a.        ge gestellt, was ich gesagt habe; er hat gleich wis-
Dietrich Bartels eingeladen worden war.                                   senschaftstheoretisch losgeschlagen. [. . . ] Das hat-

Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021                                                          https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)                                          183

     te mit Geographie intern überhaupt nichts mehr zu
     tun. (U. Eisel, 24. Januar 2020)
  Aus Eisels Sicht verhinderte die Intervention von
Hoyningen-Huene eine weitere Diskussion mit dem Publi-
kum.
     [B]estimmt wurde [die Diskussion] leider durch
     Paul Hoyningen-Huene, das spricht nicht gegen
     sein Engagement, aber die anderen haben sich da
     gar nicht mehr einzumischen getraut. (U. Eisel,
     24. Januar 2020)
  Auch Klaus Itten war nicht zufrieden, aber aus anderen
Gründen:
     Er war ziemlich schlecht, der Vortrag, aber er [Ul-
     rich Eisel] war eben ein Exponent der radikalen,
     kritischen Geographie. (K. Itten, 15. August 2019)
   Itten gab damit zu verstehen, Eisel sei nur deshalb einge-
laden worden, weil die Studierenden dies gewünscht hatten.
   Die Studierenden feierten das Theorieseminar jedoch als
Erfolg, wie im Geoscope nachzulesen ist. Dort wurde es pro-
minent besprochen:
     Das dabei befolgte Konzept scheint sich sehr zu
     bewähren: Studenten und Dozenten erarbeiten de-
     mokratisch einen Vorschlag, der vom Institut dann
     organisiert wird. Damit ist stets [sic!] ein volles
     Haus und eine offene Diskussion garantiert, bei
     der alle ihre Inhalte einbringen können. (Geosco-
     pe 22:18)                                                  Abb. 2. Reaktion auf das Theorieseminar im Geoscope (Geoscope
                                                                32 (1981):1).
   Auch Ittens damaliger Assistent, Herbert Wanner, zieht ei-
ne positive Bilanz. Bei der Kontroverse zwischen Eisel und
Hoyningen-Huene sei der Vortragssaal „zum Bersten voll“               Auch Prof. Dr. Gerhard Hard [ein prominenter kri-
gewesen (H. Wanner, 7. Juli 2020). Hoyningen-Huene selbst             tischer Geist in der deutschen Geographie] melde-
sei „diese Kontroverse noch lange [nachgegangen]“ und auch            te sich in der GH 1982, N. 3 mit einer Replik zum
Eisel habe sie nicht vergessen:                                       Aufsatz von Hoyningen-Huene zu Wort. (H. Wan-
                                                                      ner, 7. Juli 2020)8
     Eisel [hat] die Kontroverse mit Paul Hoyningen-
     Huene 2009 in seinem Spätwerk ,Landschaft und                 Die Debatte im Nachgang zum Theorieseminar zeigt, dass
     Gesellschaft – Räumliches Denken im Visier‘                es sich nicht um ein einmaliges Ereignis gehandelt hatte, an
     (Eisel, 2009) noch einmal wiedergegeben. Of-               dem kritische Studierende einen Einblick in die Theoriedis-
     fenbar hatte die wissenschaftliche Debatte mit             kussion im Nachgang zu „Kiel 1969“ erhielten. Vielmehr
     Hoyningen-Huene auch bei Eisel tiefschürfen-               materialisierte sich hier ein „Denkereignis“ zu einem Bau-
     de Eindrücke hinterlassen und lange nachgehallt.           stein der Theoriediskussion in der deutschsprachigen Geo-
     (H. Wanner, 7. Juli 2020)                                  graphie, der über die damalige Konstellation hinausgeht.

   Die meisten Beiträge des Theorieseminars sind in der Zeit-
                                                                4.2   Der AK WissKri
schrift Geographica Helvetica dokumentiert (Eisel, 1981;
Hoyningen-Huene, 1982), ebenso die transkribierten Diskus-      Theorie war für die radikalen Studierenden ein kollekti-
sionen im Nachgang zu den Vorträgen (Eisel et al., 1981;        ves Ereignis. Im Arbeitskreis Wissenschaftstheorie und Wis-
Hoyningen et al., 1982). Die Debatte löste über Zürich hin-     senschaftskritik (AK WissKri) tauschten sie sich intellek-
aus Resonanz aus: Nicht nur
                                                                    8 Nachzulesen in: Hard 1982. Auch Eisel schrieb eine Replik auf
     Eisel sah sich im Nachgang zum Seminar zu ei-              Hoyningen-Huene (Eisel, 1982). Beide blieben jedoch unbeantwor-
     ner Replik auf Hoyningens Referat veranlasst . . .         tet, denn Hoyningen-Huene äusserte sich darauf nicht mehr.

https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021                                                       Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
184                                   B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

tuell aus – auch über Zürich hinaus – und lernten Theori-           Für Bernd Belina sind dies wichtige Räume positiver Af-
en kennen, die ihre spätere Arbeit beeinflussen sollten. Be-     fekte, in denen sich radikale Geographie formierte. Als Bei-
gonnen hatte alles auf der deutschen Bundesfachschaftsta-        spiel zitiert Belina (2020:26) dazu den Bericht über ein Tref-
gung für Geographie in Münster vom 18. bis 21. Juni 1981,        fen des AK WissKri „im tiefen Schwarzwald“, in dem nach
zu der vier Studierende aus Zürich reisten: Peter Bünzli,        „Vier-Tage-Dauerdiskussion“ plötzlich alle zu tanzen anfin-
Anne-Françoise Gilbert, Christian Schmid und Dominik Sie-        gen. Es sind Schwingungen, die eine Stimmung erzeugen,
grist. Wegen der Jugendunruhen wurden die „Züricher“ mit         in der sich Theorie als kollektives „Denkereignis“ materia-
grossem Interesse aufgenommen: „Wir haben ein ziemli-            lisiert. Denn trotz allem Spass an der Sache arbeitete man
ches Aufsehen erregt, auch weil wir gleich mit einer Vierer-     theoretisch auf hohem Niveau, wie Eisel betont:
Delegation ankamen“, so Schmid (C. Schmid, 6. Mai 2019).
   In Münster entstand der AK WissKri als multi-lokales                Die waren einfach gut. Und zwar jeder Einzelne
Netzwerk, an dem sich auch Michael Fahlbusch aus Münster,              von denen, und wie die das als Gruppe durchgezo-
Karl Heinz Deventer aus Hamburg und Mechtild Rössler aus               gen haben als selbstorganisierter Lehrgang, das hat
Freiburg im Breisgau beteiligten. Deventer z.B. hatte seine            mir gefallen. Mit denen zu diskutieren, lohnte sich.
Magisterarbeit zu David Harvey geschrieben, der führende               . . . das war theoretisch wie auch menschlich die
Kopf der radical geography im anglophonen Raum. Von die-               intellektuell reizvollste Gruppe für mich, um über
sem Wissen profitierten die anderen Studierenden:                      Geographie zu reden. (U. Eisel, 24. Januar 2020)

      Wir hatten plötzlich Zugang zum gesamten kri-                Woody Sahr, damals Geographiestudierender in Tübingen,
      tischen Wissen, das damals verfügbar war in                bestätigt diesen Eindruck, den „die Züricher“ auf ihn wäh-
      Deutschland oder in der deutschen Geographie.              rend einer Fachschaftstagung in Tübingen machten:
      (C. Schmid, 6. Mai 2019)
                                                                       Sie waren viel artikulationsfähiger als wir, denn in
  Um Theorie kollektiv zu lesen und zu erarbeiten, führte              den Diskussionen verfielen sie untereinander ins
der AK WissKri eine Reihe von selbstorganisierten Semina-              Schwyzerdütsch, so dass wir anderen alle zu ,aus-
ren an der Universität als auch in Berghäusern in den Alpen            ländischen‘, aber staunenden Zuhörern/schauern
und im Jura durch, zu denen Ulrich Eisel und andere kritische          wurden. . . . uns beeindruckte der Züricher Akti-
Geographinnen und Geographen eingeladen wurden:                        vismus . . . [sie waren] ein leuchtendes Vorbild: So
                                                                       wären wir gerne gewesen. (W. Sahr, 1. Juli 2020)
      Mit einigen haben wir über Jahre Seminare ge-
      macht . . . Wir waren ihre Diskussionspartner. . . .          So gilt die Mitarbeit im AK WissKri für fast alle Beteilig-
      Die haben dicke Bücher geschrieben . . . Wir ha-           ten als Meilenstein:
      ben das aufgesogen. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)
                                                                       Da wurde diese ganze kritische Bewegung aufge-
   Ein solches „dickes Buch“ war zum Beispiel Eisels „Die              nommen, eben über Zürich hinaus. (A.-F. Gilbert,
Entwicklung der Anthropogeographie von einer ,Raum-                    18. Mai 2019)
wissenschaft‘ zur Gesellschaftswissenschaft“ (Eisel, 1980).
„Das gelbe Monster nannten wir das dazumal“, so Anne-              Hier war ein Denkkollektiv radikaler Geographie entstan-
Françoise Gilbert. Und Dominik Siegrist und Hansruedi Hitz       den, vornehmlich als studentisches Projekt und ausserhalb
erinnern sich an das sogenannte „Eisel-Spiel“ (H. Hitz,          des Lehrplans der Universitäten.
13. Mai 2019): Beim Lernen in Kleingruppen habe man zur
Entspannung eine Zahl zwischen 1 und 670 aufgesagt (die
                                                                 4.3   Geoscope Extern
Seitenzahlen von Eisels Buch) und „dann haben wir einfach
so lange vorgelesen bis der andere angefangen hat zu lachen.     Zum zentralen inhaltlichen Manifest der Gruppe wird
Und dann haben wir weitergelernt“ (H. Hitz, 13. Mai 2019).       schliesslich das „Geoscope Extern“ (Geoscope 37), das zu
   Solche Anekdoten zeigen auf, wie gerade die freund-           Weihnachten 1982 erscheint. Die Texte in diesem Heft zei-
schaftliche Stimmung zwischen ihnen eine wichtige Rolle          gen den „Denkstil“, den die Mitglieder des AK WissKri
spielte – und der Spass an der Sache, aber auch am Feiern:       teilten: Erstens ist die eigene Betroffenheit ein wichtiger
                                                                 Topos: „Nur Betroffenheit stimuliert zu Auseinandersetzun-
      Neben dieser ganzen Auseinandersetzung mit den             gen“ (S. 78). Diese Betroffenheit verlange, zweitens, ei-
      Texten und den inhaltlichen Diskussionen [gab es]          ne politische Positionierung, auch in der Wissenschaft und
      auch einen sehr freundschaftlichen Zusammenhalt            in der Geographie: „Neutralität ist nur unter Selbstaufga-
      . . . (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)                        be möglich“ (S. 59). Damit verbunden solle sich, drittens,
      Einstiegsvorlesungen, Lagerfeuer, Ausflüge mit             die Geographie auf die eigene Stadt und deren Strukturen
      Studenten. Das war auch noch lässig, wir waren             konzentrieren, um die Vernetzungen des globalen Kapitalis-
      eine gute Gruppe. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)              mus aufzudecken: „Der Geograph hat es nicht mehr nötig,

Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021                                                      https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)                                                  185

                                                                       schen quantitativer Geographie à la Dietrich Bartels und Län-
                                                                       derkunde und marginalisiert zugleich die gesellschaftskriti-
                                                                       schen Impulse von „Kiel 1969“ (vgl. Belina et al., 2009:50f.;
                                                                       Paulus, 2017). Aber auch die kritische Geographie wird nicht
                                                                       verschont, wenn vom „Hard’schen Zitierkartell“ (S. 59) die
                                                                       Rede ist, oder wenn gefordert wird, die Sprache müsse „ver-
                                                                       ständlicher und offener werden als die abgesicherten Satz-
                                                                       bauten der 68-er (Leng, Beck, Eisel, . . . ), die zu wenig basis-
                                                                       demokratische Konzessionen machen“ (S. 78).
                                                                          Das „Geoscope Extern“ blieb in seiner Wirkung nicht auf
                                                                       Zürich beschränkt. Wir erinnern noch einmal an Werlens
                                                                       Einschätzung, dass das „Geoscope“ in dieser Zeit für die
                                                                       deutschsprachige Geographie „eine ähnliche Stellung [ein-
                                                                       nahm] wie die Zeitschrift ,Geografiker‘ der Fachschaft der
                                                                       FU Berlin rund um ,Kiel 1969‘“ (Werlen, 2014:298). Dies
                                                                       bestätigt auch Woody Sahr:

                                                                             Legendär war für alle Fachschaftler in Deutsch-
                                                                             land die Nummer 37 von Geoscope. Das Heft . . .
                                                                             schliesst in gewisser Weise die erste Phase des lin-
                                                                             ken Bewusstseins in der deutschsprachigen Geo-
                                                                             graphie ab, die noch studentisch dominiert war
                                                                             (trotz einiger Altmeister im Umfeld). (W. Sahr,
                                                                             1. Juli 2020)

                                                                         So verdichtete das „Geoscope Extern“ einige der „Den-
                                                                       kereignisse“ radikaler Geographie erstmals in schriftlicher
                                                                       Form.
Abb. 3. Titelblatt des Geoscope Extern (Geoscope 37 (1982):1).
                                                                       4.4   Kritische Diplomarbeiten

                                                                       Mit AK WissKri, Lektüreseminaren und Geoscope hatte ra-
exotische Peripherien zu suchen: inmitten seiner konsumell-            dikale Geographie ausserhalb oder am Rande der Universi-
zerbombten Städte organisiert er plötzlich neue Expeditio-             tät ihren Ort gefunden. Irgendwann kam aber für die Stu-
nen“ (S. 65).9 Schliesslich wird, viertens, radikaler Ak-              dierenden die Frage nach der Abschlussarbeit auf. Bei der
tivismus eingefordert: Wissenschaft müsse „auf eine ge-                Themenwahl, der Suche nach Betreuungspersonen und der
sellschaftliche Veränderung hinzielen“ (S. 12). Es ist von             konkreten Ausgestaltung der Arbeiten trafen sie schnell auf
„Kampf“, „Subversion“ und „Eroberung“ die Rede: „Femi-                 grundlegende Vorbehalte aus der Professorenschaft, die die
nistischer Kampf geschieht überall, auf der Strasse, . . . , kon-      Bruchlinien zwischen Studierenden und Dozierenden noch-
kret für uns, an der Uni . . . “ (S. 12).                              mals offen zutage brachten, da die Studierenden nun ihre kri-
   Auch intellektuelle Angriffslust gehört zu diesem Denk-             tischen Impulse in institutionalisierter Form (der Abschluss-
stil. In verdichtetem Duktus greifen eine Reihe von Texten             arbeit) vorlegen mussten. Hier mussten sie sich in der antago-
die damaligen Stars der deutschen Geographie an:10 Theo-               nistischen Stimmungslage am Institut behaupten und Kom-
rie gebe es in dieser Geographie nicht, sondern „besten-               promisse eingehen.
falls einen attributiven Wirth’schen Selbstbehauptungspan-                Zuerst zeigte sich dies bei Peter Bünzli. Bünzli genoss
zer ,theoretische Geographie‘“ (S. 59). Damit wird auf ein             grosse Achtung unter den radikalen Studierenden:
1980 erschienenes Buch des einflussreichen Erlanger Geo-
graphen Eugen Wirth mit dem Titel „Theoretische Geogra-                      Peter hatte einfach ein unglaubliches Wissen, . . . er
phie“ verwiesen. Wirth unternimmt dort eine Synthese zwi-                    hat mir eigentlich die ganze Geschichte der Geo-
                                                                             graphie eröffnet. (C. Schmid, 6. Mai 2019)
   9 Dies kann als Seitenhieb auf einen Professor am Institut in Zü-
                                                                             Peter Bünzli war jener, der am meisten las, er
rich verstanden werden, der langjährige Feldforschungen in Bali              hatte alle diese Texte gelesen. (A.-F. Gilbert,
durchgeführt hatte, aber ohne kritische oder theoretische Reflexion.
   10 Diese Texte wurden unter dem Pseudonym „fantasma del lu-               18. Mai 2019)
vre“ verfasst. Hinter diesem Pseudonym versteckt sich vermutlich             In den Vorlesungen hat er . . . diese Dozenten aus-
Peter Bünzli, eine zentrale Figur der radikalen Studierenden.                einandergenommen. (J. Sanz, 7. August 2019)

https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021                                                             Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
186                                    B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)

   Kein Wunder, war Bünzli unter den Dozierenden umstrit-            Benno Werlen, der ihre Arbeit schliesslich betreute, fühlte
ten und gefürchtet:                                               sich von der Institutsleitung unter Druck und versuchte, die
                                                                  Skepsis der anderen Dozierenden gegenüber der Feministi-
      Für mich war Peter Bünzli eigentlich der stärkste           schen Geographie und Gilberts Themenwahl auszuräumen.
      Agitator, den ich so kennen gelernt habe. (H. Haef-         Die Umstrukturierung der Arbeit empfahl er, damit sie ihre
      ner, 4. Februar 2020)                                       Diplomarbeit erfolgreich abschliessen konnte:
  Zugleich aber gab es auch anerkennende Worte:                        Ich habe ihr ein strenges Arbeitsprogramm auf-
                                                                       erlegt, so dass sie auch unter diesen schwierigen
      Als er in die Schlussprüfungen kam . . . Der hat ei-             Rahmenbedingungen zeigen konnte, was ihr An-
      ne Prüfung hingelegt! 6! Punkt! (H. Haefner, 4. Fe-              satz leisten kann. (B. Werlen, 10. Juli 2020)
      bruar 2020)11
                                                                     Tatsächlich schloss Gilbert 1985 ihre Diplomarbeit
   Bei der Diplomarbeit gab es aber Spannungen: „Mit Bünz-        mit dem Titel „Frauenforschung am Beispiel der Time-
li ist es schwierig gewesen“, schildert es Klaus Itten (7. Ju-    Geography: Textanalysen und Kritik“ erfolgreich ab.
ni 2019), der dessen Diplomarbeit mitbetreute. Er habe offen         Nach Gilbert folgten mit Regula Bachmann und Julia Sanz
zur Revolte aufgerufen: „Es ging ziemlich heftig zu und her“,     weitere Studierende, die Diplomarbeiten zur Feministischen
so Itten (7. Juni 2019). Man habe seine Arbeit „zurechtstut-      Geographie schrieben. Anders als Gilbert stiessen sie aber
zen“ müssen, „denn da waren sehr üble Passagen drin. . . .        nicht mehr auf offene Ablehnung:
Man solle die Hirne der Akademiker an den Mauern schlei-               Leemann hat uns nicht Steine in den Weg gelegt.
fen . . . das ging nicht“ (K. Itten, 15. August 2019).                 . . . Geistige Nahrung haben wir aber nicht wirklich
   Als dann zwei Jahre später Anne-Françoise Gilbert ei-               dazubekommen. (J. Sanz, 7. August 2019)
ne Diplomarbeit zur Feministischen Geographie schreiben
wollte, hatte sie Schwierigkeiten, überhaupt eine Betreu-            Sie mussten sich ihre Betreuung aber ausserhalb des In-
ungsperson zu finden:                                             stitutes organisieren (in der Ethnologie). Bei der Vorstellung
                                                                  ihrer Diplomarbeiten trafen sie jedoch weiter auf Skepsis und
      Im Bereich der Anthropogeographie musste ich bei            Unverständnis:
      Herrn Leemann abschliessen, er war der einzige                   Da kommt der [damalige Dozent] und sagt: ,Jetzt
      Professor. Und er hatte natürlich gar nichts am Hut              muss ich doch fragen: Ist das noch Geographie?‘
      mit alle dem. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)                      (Ph. Klaus, 12. November 2019)
   Gilbert interessierte sich für feministische Ansätze der            [Ein damaliger Dozent] hat nur gesagt ,Ich kom-
Wissenschaftstheorie. Zusammen mit ihrer Freundin Mech-                me nicht draus‘. [Ein anderer Dozent] hat sich in
tild Rössler aus dem AK WissKri holte sie sich Impulse aus             Schweigen gehüllt. (J. Sanz, 7. August 2019)
der anglophonen Feministischen Geographie:                           Doch auch Bachmann und Sanz schlossen ihre Arbeiten
                                                                  erfolgreich ab.
      Alles, was wir auftreiben konnten, haben wir ko-
                                                                     Dominik Siegrist hatte sich ein politisch heikles Terrain
      piert. Wir haben auch mit einzelnen Frauen Kon-
                                                                  ausgesucht. In seiner Diplomarbeit zu „Faschismus und Geo-
      takt aufgenommen [. . . ]. Zum Beispiel [. . . ] mit
                                                                  graphie“ arbeitete er eng mit Michael Fahlbusch aus Müns-
      Bowlby oder auch Risa Palm . . . und die haben uns
                                                                  ter und Mechtild Rössler aus Freiburg im Breisgau zusam-
      zum Teil dann zurückgeschrieben und waren auch
                                                                  men, die alle über das Zusammenspiel von Geographie und
      interessiert. (A.-F. Gilbert, 18. Mai 2019)
                                                                  Faschismus während der 1930er und 1940er Jahre an ihren
   Gilbert wollte ursprünglich eine rein theoretische Arbeit      jeweiligen Instituten forschten. Für seine ideologiekritische
zur Feministischen Geographie schreiben, musste dann aber         Untersuchung analysierte Siegrist repräsentative Texte aus
ihre Arbeit umstrukturieren, damit sie ihre Diplomarbeit          der Schweizer Anthropogeographie von 1930–45, u. a. auch
überhaupt am Institut durchführen konnte.                         solche des ehemaligen Institutsleiters an der Universität Zü-
                                                                  rich, Hans Boesch. Dieser hatte 36 Jahre lang (1942–1978)
      In diesem Sinne war das nicht wirklich eine freie           das Geographische Institut geleitet und war 1978 (kurz vor
      Entscheidung, die Arbeit so auszurichten. Die Be-           Siegrists Studienbeginn) sehr unerwartet gestorben.
      dingung war, dass ich mit konkreten Ansätzen aus               In seiner Arbeit dokumentierte Siegrist Aussagen von
      der Geographie arbeite. Das war die Vorausset-              Boesch, die dessen positive Haltung gegenüber dem (deut-
      zung, dass ich an diesem Institut überhaupt ei-             schen) Nationalsozialismus erkennbar machten. Für den da-
      ne solche Arbeit schreiben konnte. (A.-F. Gilbert,          maligen Institutsdirektor, der viele Jahre unter Boesch gear-
      18. Mai 2019)                                               beitet hatte, war das nicht akzeptabel, denn Boesch, der erst
                                                                  vor Kurzem verstorben war, stand bei ihm in hohem Anse-
  11 „6“ ist im Schweizer Notensystem die Höchstnote.             hen. Der Vorwurf der Nestbeschmutzung stand im Raum:

Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021                                                      https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021
B. Korf et al.: „Geografe, nüme schlafe!“: Radikale Geographie in Zürich (1980–1990)                                          187

     Und dann kommt so ein kleiner Student, der in                     [Das] wurde uns im Nachgang noch als Nach-
     dem Sinne an dieser Biographie herumkitzelte.                     teil ausgelegt, es hiess dann, ah ja, [der theore-
     Das ging natürlich gar nicht . . . Hans Boesch durf-              tische Teil] ist ja schon publiziert . . . und darum
     te man nicht kritisch erwähnen. Das war der gros-                 wird er nicht mehr in die Beurteilung einbezogen.
     se Übervater der Zürcher Geographie. (D. Siegrist,                (C. Schmid, 6. Mai 2019)
     13. Mai 2019)
                                                                    Ausserdem habe ihr Betreuer auf der Einhaltung des ur-
  Siegrist wurde zum Institutsdirektor vorgeladen:               sprünglich vereinbarten Konzepts bestanden. Dieses hatte
                                                                 einen Theorieteil und vier historische Teile vorgesehen:
     Der sagte, ich müsse gewisse Sachen herausstrei-
     chen, meine Arbeit wurde richtiggehend zensu-                     Wir haben mit vollem Enthusiasmus gearbeitet und
     riert. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)                                dann sagte [unser Betreuer]: ,Das war euer Kon-
                                                                       zept, und das müsst ihr jetzt einlösen‘. (C. Schmid,
  Der Institutsdirektor konnte sich auf Nachfrage an eine
                                                                       6. Mai 2019)
derartige Besprechung nicht mehr erinnern, hält aber fest:
     . . . wenn es etwas Derartiges gab in seiner Arbeit           Der Betreuer, Klaus Itten, betonte hingegen, es sei vor al-
     und ich hab’ ihm das rausgestrichen, dann sag ich           lem ein formales Problem gewesen, und er habe Ärger in der
     nach wie vor: Dann ist das in Ordnung. (H. Haef-            Fakultät bekommen:
     ner, 4. Februar 2020)                                             Die Fakultät verlangte, dass vier Arbeiten abgege-
  Siegrist sah sich gezwungen, die entsprechenden Passagen             ben werden, . . . die auch beurteilt werden konnten
zu streichen:                                                          und für welche es Diplome geben konnte. (K. Itten,
                                                                       15. August 2019)
     Ich wollte doch meine Arbeit abgeben. Erstaunli-
     cherweise wurde die Arbeit dennoch mit ,sehr gut‘               Itten sieht es so:
     bewertet. (D. Siegrist, 13. Mai 2019)                             Es war eine etwas langwierige Geschichte. Ich hat-
  Auf Schwierigkeiten stiess auch eine Gruppe von vier Stu-            te mit den Vieren sehr viele Diskussionen geführt.
denten: Roger Hartmann, Hansruedi Hitz, Christian Schmid               . . . Ich habe ihnen nicht gross dazwischen gelangt,
und Richard Wolff. Diese wollten ihre Diplomarbeit zur                 habe einfach geschaut, dass sie die Normen nicht
Stadtgeschichte Zürichs als Gruppenarbeit schreiben. Das               sprengen. (K. Itten, 7. Juni 2019)
Thema hatten sie gewählt, um zu verstehen, wieso es zur ur-
                                                                    Hartmann, Hitz, Schmid und Wolff mussten die vier his-
banen Revolte gekommen war:
                                                                 torischen Teile als individuelle Arbeiten ausarbeiten, um ih-
     Wir wollten wissen, wieso eigentlich . . . sind             ren Abschluss zu erhalten. Richard Wolff schloss seine Ar-
     wir auf die Strasse gegangen? (C. Schmid,                   beit bereits anfangs 1985 ab, Hartmann, Hitz und Schmid
     6. Mai 2019)                                                jedoch erst 1989. Es sei eine schwierige Zeit gewesen: „Wir
                                                                 waren jetzt plötzlich in einer Falle“, so Schmid (C. Schmid,
   Zugleich wollten sie die Theorien anwenden, die sie im        6. Mai 2019). Hitz erinnert sich, dass sie unter der Situati-
AK WissKri diskutiert hatten: „Wir wollten die Entwicklung       on „gelitten“ hätten (H. Hitz, 13. Mai 2019). Bereits 1982
der Stadt Zürich aufgrund unserer Theorie . . . testen“, erin-   hatten die vier eine eigene Organisation, das „Senter for
nert sich Hansruedi Hitz (13. Mai 2019). Mit grossem Elan        Applied Urbanism“ (SAU) gegründet, Veranstaltungen orga-
erarbeiteten sie sich dazu gemeinsam die Theorie:                nisiert, Artikel publiziert, und ein Buch zu Zürich heraus-
     Dann haben wir einfach zu viert, im Enthusias-              gegeben. „Und dann immer noch dieses Diplom am Hals“
     mus . . . ein dreihundertseitiges Buch geschrieben.         (C. Schmid, 6. Mai 2019). Schlussendlich schlossen aber al-
     . . . es war eigentlich ein unmögliches Unterfangen,        le vier ihre Arbeit ab.
     und das Verrückte war, dass wir das auch noch ge-
     schafft haben. (C. Schmid, 6. Mai 2019)                     5    Spuren radikaler Geographie

   Das Buch wurde in einer angesehenen Buchreihe publi-          Fassen wir zusammen: Um 1980 entstand in Zürich eine spe-
ziert:                                                           zifische Konstellation, in der radikale Geographie sich als
     Das war unvorstellbar . . . du publizierst das als          „Denkereignis“ in studentischen Zirkeln materialisiert und
     Buch, also der Traum jedes Doktoranden oder je-             einen spezifischen Ort gefunden hat: Die sich radikalisie-
     der Doktorandin, die kriegt ihr Buch publiziert,            renden Studierenden trugen die antagonistische gesellschaft-
     wow! (C. Schmid, 6. Mai 2019)                               liche „Stimmungslage“, in die sie sich „geworfen“ sahen,
                                                                 an das Geographische Institut der Universität Zürich. Unter-
  Doch wurde ihnen dieser Erfolg später zum Stolperstein:        schiedliche Denkereignisse (Theorieseminar, AK WissKri,

https://doi.org/10.5194/gh-76-177-2021                                                      Geogr. Helv., 76, 177–191, 2021
Sie können auch lesen