Das "unfriedlichste" Land der Welt
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Afghanistan Das „unfriedlichste“ Land der Welt Andrew Quilty Ein Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan Eine Reportage über die Insgesamt bewegen sich Krieg und Gewalt In Dascht-e Bartschi im Südwesten Kabuls in Afghanistan auf unverändert hohem leben vor allem Angehörige der schiiti- forbestehenden Gewalt- Niveau. Das Sydneyer Institute for Econo- schen Minderheit der Hasara. Im August mics & Peace (IEP) ordnet Afghanistan in 2018 hatte ein Selbstmordattentäter im lagen und -opfer in den seinem im Juni 2020 erschienenen Global selben Stadtteil 48 Menschen in einer ähn- Peace Index 2020 (https://bit.ly/32lbfKm) lichen Einrichtung umgebracht. Mitte Mai afghanischen Provinzen im zweiten Jahr in Folge als weltweit „am töteten als Polizisten verkleidete Angrei- Maidan-Wardak, Kundus wenigsten friedliches Land“ ein, also noch fer dort in einem Mutter-und-Kind-Hos- schlechter als Syrien. Seit 2014 erhöh- pital Gebärende, Säuglinge und Kranken- und Nangrahar. Überset- ten sich sogar „Umfang und Intensität des hauspersonal. Für die Überfälle auf die Krieges“. Weltweit kommen in Afghanis- Bildungszentren übernahm der afghani- zung, Bearbeitung sowie tan die meisten Menschen in einem Krieg sche Ableger des Islamischen Staates (IS) um. Zudem habe es auch die drittgröß- die Verantwortung. Der Angriff auf das Zusammenfassung von ten ökonomischen Verluste in Folge des Krankenhaus war hingegen offenbar so Thomas Ruttig. Krieges erlitten, nämlich im Wert von 51 übel, dass keine Gruppe sich dazu beken- Prozent seines Bruttoinlandprodukts (BIP nen wollte. Aber auch dieser Anschlag 2019). Beziffert wird der Verlust mit 56,5 entsprach dem anti-schiitischen Vorge- Mrd US-Dollar. Mit 10,4 Prozent des BIP hensmuster des IS. lag Afghanistan dem IEP zufolge hinter Der Anschlag vom 24. Oktober würde Nordkorea, Libyen und Syrien weltweit darauf hindeuten, dass der IS nach hefti- an vierter Stelle. (…) gen Verlusten in seinen ostafghanischen Hochburgen Ende 2019 und Anfang 2020 Wieder Terror in Kabul seine Fähigkeit zu blutigen Terroranschlä- gen in den Städten bewahrt hat (https:// Der erneute Selbstmordangriff auf ein bit.ly/3k6b380). (...) Bildungszentrum in Kabul am 24. Okto- ber 2020 hat ein weiteres Mal gezeigt, Während ein IS-Angriff eher eine Aus- dass der Krieg in Afghanistan trotz Frie- nahme darstellt (UNAMA stellte für das densgesprächen zwischen Regierung und erste Halbjahr 2020 einen Rückgang der Taleban in Katars Hauptstadt Doha nicht vom IS verursachten zivilen Opfer um abflaut. Nach letzten vorliegenden Berich- ein Drittel fest, https://bit.ly/2IhQHvB), ten wurden 31 Menschen getötet und 73 haben die Taleban seit dem Doha-Abkom- verletzt, als ein Mann in einer Gasse am men (https://bit.ly/2I8Cssx) landesweit Zentrum Kausar-e Danesch („Wissens- den militärischen Druck auf die Regierung quelle“) im Westkabuler Stadtteil Dascht-e hochgehalten (…). Bartschi seinen Sprengstoffgürtel zündete. Hingegen fuhren die Taleban eine ganze Der Attentäter traf vor allem Studierende Reihe kleinteiligerer Operationen hoch. auf dem Weg zum Zentrum, die sich in Landesweit eroberten und zerstören sie dem Zentrum auf ihre Uni-Prüfungen vor- systematisch Kontrollpunkte der Polizei bereiten. Nach afghanischen Medienbe- und regierungsfreundlicher Milizen sowie richten hatte er den Eingang des Zent- Armeebasen und übernehmen die Kon- rums nicht gefunden. Im Inneren der Ein- trolle über Verbindungsstraßen dazwi- richtung sollen sich zum Zeitpunkt der schen. Dabei setzen sie regelmäßig von Explosion bis zu 1.000 Menschen befun- den Regierungstruppen erbeutete Fahr- den haben. zeuge ein, die sie in rollende Bomben ver- 20 · 12/2020 * Der Schlepper Nr. 99 * www.frsh.de
Afghanistan wandeln. Damit bauen sie Druck und der Musiker. Der örtliche Gouverneur es eine Rivalität mit dem örtlichen (tad- Angriffspositionen für den Fall eines Schei- behauptete hinterher kontrafaktisch, in schikischen) Dschamiat-Kommandaten terns der Doha-Gespräche auf. (…) seinem Distrikt hätten die Aufständischen Amanullag Gusar. Seit 2018/19 soll Dan- „keine aktive Präsenz“. gars Bruder Gul Dschan aus seinem Exil Die Taleban haben zunehmend auch die in Pakistan wieder in Schakardara aufge- Hauptstadt Kabul sowie die zur gleichna- In diesen Gebieten bilden alte tadschi- taucht sein. In den vergangenen Mona- migen Provinz gehörenden 14 ländlichen kisch-paschtunische Feindschaften (also ten gab es in Schakardara mehrere klei- Distrikte in deren Umfeld im Blick. In den zwischen Anhängern der ehemaligen nere bewaffnete Zwischenfälle, aber es südöstlichen Distrikten Chak-e Dsch- Nordallianz und der Taleban) sowie die ist nicht klar, ob der Dangar-Bruder darin abbar, Musahi und vor allem Sarobi – an Durchdringung durch mafiöse Banden, verwickelt ist oder Taleban aus Paghman der Straße Kabul-Daschlalabad – sowie die mit örtlichen Nordallianz-Politikern oder Wardak infiltriert sind. Mitte Okto- in Paghman im Westen sind sie bereits verbunden sind und alte Rechnungen ber tauchten dort in Moscheen Flugblät- seit längerem präsent. Im Juli berichteten offen haben, das Substrat für Konflikte ter der „Taleban-Sicherheitskommission afghanische Journalisten von „wochenlan- und das Wiedereindringen der Taleban. für Kohdaman“ auf, dass Angehörige der gen Kämpfen“ in Sarobi und Chak-e Dsch- Auch scheint es, dass einige dieser krimi- Regierungstruppen entweder ihre Jobs abbar. In Sarobi feuern Taleban immer nellen Netzwerke trotz ihrer politischen oder ihre Dörfer verlassen sollten, sonst wieder auf Konvois auf dieser Straße; der letzte Fall wurde am 26. Okto- ber gemeldet. Diese Dist- rikte werden v.a. von Paschtunen bewohnt. Doch auch im gemisch- ten oder sogar tad- schikisch-dominier- ten Norden, in der Schimali-Ebene und in Kohdaman (den Distrikten an der Ostabdachung des Paghman-Gebirges) haben seit der zwei- ten Hälfte vorigen Jahres Nadelstich- Operationen sicht- bar zugenommen. Vor allem aus dem Distrikt Qara- bagh im Kohda- man wurden klei- nere Angriffe und sogar vorüberge- hende Taleban-Kont- Eine Schule in Afghanistan. rollposten gemeldet. Vergangenheit als harte Taleban-Geg- würden sie getötet. Das gleiche gelte für Im August scheiterte dort ein Attentat ner inzwischen zeitweiliger Kooperation Richter und Staatsanwälte. Den Ältesten auf den Distriktgouverneur. Im Juli wurde nicht abgeneigt sind. (Es gibt dort z. B. sei es nicht mehr erlaubt, ohne Taleban- dort bei einem Überfall auf seinen Konvoi das sogenannte „nördliche Entführernetz- Zustimmung in andere Distrikte zu reisen. der Vizepolizeichef der Nachbarpro- werk“, das Entführte auch schon an die Der Bevölkerung wurde es untersagt, sich vinz Kapisa getötet. Ähnlich ging es Ende Taleban verkauft hat.) in Begleitung von Regierungsangestell- Juni dem Polizeichef von Nuristan bei der ten zu zeigen oder gemeinsam mit ihnen Durchfahrt durch Sarobi. Auch aus Guld- Ein neuer Schwerpunkt hat sich im pasch- zu reisen. Zudem dürften die Einwohner ara – ebenfalls im Kohdaman – wurden tunisch-tadschikisch gemischten Distrikt ihre Häuser nach zehn Uhr nachts nicht kleinere Gefechte gemeldet. Schakardara im Kohdaman herausgebil- mehr verlassen. Die Bewohner nehmen det. Dort ist die Familie des 2004 in Paki- Anfang Oktober überfielen im Nach- diese Drohungen ernst. stan ermordeten Taleban-Kommandan- bardistrikt Kalakan vier Bewaffnete eine ten Anwar Dangar aktiv, eines Naser- Die Taleban stoßen auch zunehmend in Hochzeitsfeier, zwangen die Feiernden Paschtunen. Er gehörte ursprünglich zur die Stadt Kabul selbst vor und intensi- nach „Taleban-Tradition“, die Musik ein- Dschamiat-e Islami, schloss sich nach vierten wie in anderen Großstädten ihre zustellen und zerbrachen die Instrumente 1996 aber den Taleban an. Seither gibt gezielten Mordanschläge auf Regierungs- www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 99 * 12/2020 · 21
Afghanistan beamte, Soldaten und Polizisten. In Kabul der Provinzhauptstadt. Im September nierten Distrikten Dschalres (Maidan- verwenden sie dabei vor allem Haft- wurde dort sowie im ehemaligen Bun- Wardak; https://bit.ly/32qkJEf) und Ked- minen, die an Privat- oder Dienstfahr- deswehrstandort Kundus in den Vor- schran (Daikundi: https://bit.ly/2UjFYDr) zeuge geklebt werden und oft auch Mit- orten gekämpft. In beiden Fällen konn- hoch; töteten jeweils über ein Dutzend fahrer oder Passanten treffen. Fast täg- ten die Taleban nur durch US-Luftschläge Menschen. Etwas geringer war die Opfer- lich werden solche Vorfälle bekannt. Die gestoppt werden, was darauf hindeu- zahl einer Autobombe im Distrikt Ghani- letzten derartigen Fälle ereigneten sich im tet, dass die Lage kritisch war. In der Pro- chel (Provinz Nangrahar) am 5. Oktober Oktober und November im Südwesten vinz Kundus hatten die Taleban schon (https://bit.ly/3leLiUf). In Dschalres hatten bzw. im Norden der Stadt. Drei Zivilisten im August im Distrikt Imam Saheb eine die Taleban Ende August mehrere Polizei- in einem Fahrzeug des Handelsministeri- Armeebasis zerstört; Mitte Oktober ging posten nahe dem Distriktzentrum einge- ums wurden dabei verletzt. Auch Pisto- im Geheimdienst-Hauptquartier in der nommen und dieses damit eingekesselt. len mit Schalldämpfern kommen zum Ein- Provinzhauptstadt eine Bombe hoch. In Spiegelung ihrer Kabuler Terror-Kam- satz. Am 23. August zählte die New York Mitte September kamen im Distrikt Cha- pagne erschießen die Taleban in der süd- Times landesweit 17 solcher Vorfälle in nabad bei Luftschlägen der Regierung lichen Metropole Kandahar mit Vorliebe einer Woche. Die afghanische Unabhän- über zehn Zivilisten ums Leben. Polizisten und Militärs von vorbeifahren- gige Menschenrechtskommission regist- Ein solcher Vorfall wiederholte sich am den Motorrädern aus. Auch solche Vor- rierte für das erste Halbjahr 2020 landes- 22. Oktober im Distrikt Baharak in der fälle ereignen sich beinahe täglich. In den weit 533 zivile Tote und 422 Verletzte von Nordostprovinz Tachar. Die Regierung Straßen der dritten Großstadt Herat Mordanschlägen. (…) sprach von einem Schlag gegen angrei- nimmt die Zahl improvisierter Spreng- Gleichzeitig eskalierte seit September in fende Taleban, getroffen wurde aber sätze zu. In Herat sprengten sie im Okto- mehreren Provinzen die Lage. Am 18. eine Koranschule, ein Dutzend Kinder ber einen Strommast und legten die Elek- Oktober zündeten die Taleban eine Auto- wurden getötet, ähnlich wie bereits 2018 trizitätsversorgung für die halbe Stadt bombe nahe dem Polizeihauptquartier in Kundus. Die Regierung bestritt das, lahm. Auch nahe dieser Stadt nehmen in der westafghanischen Provinz Ghor. obwohl selbst afghanische Medien Bilder in mehreren Distrikten wie Paschtun Dabei wurden 16 Menschen getötet und gesendet hatten, die diese Tatsache beleg- Sarghun, Obeh, Kohsan, Gusara und 150 verletzt, die meisten Zivilist*innen. ten, und auch die afghanische unabhängige Koschk-e Kohna Taleban-Angriffe zu. Darunter waren 18 von 22 einer Klasse Menschenrechtskommission dies bestä- Mitte Oktober nahmen die Taleban kurz- behinderter Kinder, die in einem nahe- tigte (https://bit.ly/357mpEr). Vizeprä- zeitig das Distriktzentrum von Karoch ein, gelegenen Gebäude saßen. Dem waren sident Saleh sprach trotzdem von „fake Heimat des deutsch-afghanischen Politi- Angriffe in den Distrikten Schahrak news“ und ordnete die Verhaftung der- kers und früheren Außenminister Rangin und Daulatjar und ein zurückgeschlage- jenigen an, die über die zivilen Opfer Dadfar Spanta. Bei Kämpfen im Distrikt ner Angriff auf das Distriktzentrum von berichtet hatten (https://bit.ly/3pbzeWn). Tschahar Bolak, gleich hinter der Stadt- Saghar. Mitte August nahmen die Taleban grenze von Masar-e Scharif, wurden Mitte Am 19. Oktober rückten die Taleban den im Oktober 2019 neu geschaffenen Oktober Wohnhäuser und die Ernte nach heftigen Kämpfen in einen Vorort Distrikt Murghab ein. vieler Familien zerstört. ToloNews berich- von Faisabad ein, der Hauptstadt der tete auch von „präzedenzloser Gewalt Bereits im August waren die Taleban in Nordostprovinz Badachschan (https://bit. [Kämpfe] in den Distrikten Balch, Daula- der Provinzhauptstadt Farah nach glei- ly/3p6Ku6d). Die Stadt war bis 2012 ein tabad, Scholgara, Tscharkent und Zari, alle chem Muster vorgegangen und hatten Bundeswehr-Standort. in der Provinz Balch.“ vier Menschen getötet. Auch dort unter- Weitere Autobomben gingen vor den nahmen sie Vorstöße in die Vorstädte Aus Ghasni, südlich von Kabul, reiste im Polizeihauptquartieren der Hasara-domi- Oktober die letzte Gruppe der dortigen Sikhs, einer jahrhundertelang dort ansäs- sigen religiösen Minderheit, nach Indien aus. Ihr Sprecher Dilip Singh begründete Vielen Dank! das mit der „zunehmenden Unsicherheit“. Im April 2020 hatte der IS die Verantwor- Wir bedanken uns herzlich bei allen Autor*innen, Fotograf*innen und allen tung für einen Anschlag auf einen Sikh- anderen, deren Engagement dazu beiträgt, dass dieses Magazin regelmäßig eine Tempel in Kabul übernommen (https://bit. breite Palette von Themen der Migration und Flüchtlingssolidarität im nördlichs- ly/3laYGJ5). Dabei wurden fast 30 Men- ten Bundesland und weit darüber hinaus behandeln kann. schen umgebracht. Aber auch Ghasni Als kleiner Verein sind wir auf die Mitarbeit der zahlreichen Ehren- und Haupt- selbst ist dauerhaft umkämpft. amtlichen angewiesen, die ihre Zeit für das Magazin Der Schlepper verwen- Am 11. Oktober sorgten die Taleban fast den. Daher möchten wir an dieser Stelle ausdrücklich dafür werben, sich an für einen Abbruch der Doha-Gespräche. der Gestaltung von Der Schlepper zu beteiligen. Vorstellungen von besonderen Sie rückten in der Südprovinz Helmand Initiativen, Berichte über aktuelle Entwicklungen und Essays über spannende massiv auf die Provinzhauptstadt Lasch- (Flucht-)Geschichten sind uns stets willkommen. kargah vor und hatten schon die Vororte Die Redaktion von Der Schlepper erreicht, bevor sie auch dort durch mas- schlepper@frsh.de sive Luftschläge gestoppt wurden. (…) Durch die Kämpfe in Helmand wurden nach UN-Angaben 5.000 Familien (etwa 22 · 12/2020 * Der Schlepper Nr. 99 * www.frsh.de
Afghanistan 35.000 Menschen) vertrieben. Landesweit bekannt werden oder nicht hinreichend deutlich niedrige Opferzahlen verbreite- betrug die Zahl der durch den Krieg neu untersucht werden können. ten. Vertriebenen bis Ende August nach UN- Nasim, der aus Sajedabad stammt, aber in Angaben 158.000 (https://bit.ly/2GF8qfA). Maidan-Wardak Kabul lebt, sagte AAN, dass Fahrer eines Ein von einem afghanischen Journalis- ANSF-Konvois kürzlich bei einem Besuch ten eingerichteter Monitoring-Dienst ver- Die Provinz Maidan-Wardak (oft kurz nur in Scheichabad ihre Fahrzeuge im zivi- zeichnete für den 26.Oktober 106 Mel- „Wardak“) – gleich südlich der Hauptstadt len Verkehr verteilt hätten, damit sie nicht dungen über Kriegstote (12 Zivilisten, 8 Kabul – hat die größte Veränderung der von den Taleban angegriffen würden. „Die ANSF-Angehörige, 86 Taleban) sowie 51 Schlachtfelddynamik der drei von AAN Taleban schießen nicht auf sie „, sagte Verletzte (8 Zivilisten, 6 ANSF-Angehö- besuchten Provinzen erlebt. (…) er, „denn wenn dabei Zivilisten getötet rige, 37 Taleban) in 19 Vorfällen in elf Pro- Abgesehen von einem Anstieg der werden, hilft das der Regierungspropa- vinzen. Angriffe auf ANSF-Posten während des ganda.“ Ende September zitierte der Vorsitzende Fastenmonats Ramadan im April und Mai, Die größere Bewegungsfreiheit der Tale- des Verteidigungsausschusses im afgha- als einige Polizei-Kontrollpunkte über- ban hat auch zu einem deutlichen Anstieg nischen Unterhaus, Arif Rahmani, eine rannt wurden, blieb die Gewalt gering. des Einsatzes von improvisierten Spreng- afghanische Sicherheitsquelle, dass die Ende Juni nahmen die Taleban-Angriffe sätzen, sogenannten IEDs, gegen ANSF- Armee täglich „neun bis 13“ Luftangriffe dann erheblich zu. Die seitdem weiter Konvois auf der Ringstraße zwischen fliege. Im am 26.10.2020 veröffentlich- eskalierende Gewalt hat die örtlichen Kabul und Kandahar geführt. Zwischen ten neuen UN-Zivilopferbericht zu Afgha- Regierungstruppen in Furcht versetzt. dem südlichen Stadtrand Maidanschahrs nistan (https://bit.ly/3pbBQDF) wird dar- (…) und Dascht-e Top, 30 Kilometer entfernt, über Sorge zum Ausdruck gebracht, dass Humajun, ein Polizist unter Lal zählte AAN Anfang September 19 IED- die zivilen Opfer solche Luftangriffe in den Muhammad, zeigte auf eine Kurve in der Krater auf der Autobahn, die frisch auf- ersten neun Monaten 2020 (im Vergleich Straße südlich seiner Position. „In den gefüllt worden waren. Dazu kamen meh- zum selben Zeitraum 2019) fast um 70 letzten 15 Tagen konnte sich niemand rere älter aussehende Krater. (…) Prozent gestiegen sind. nach Einbruch der Dunkelheit dort vorbei Zwischen den Besuchen von AAN im Juni Hingegen wird in den schon zuvor bewegen.“ Am 20. Juli hatte ein großer und Juli eroberten die Taleban südlich von umkämpften Gebieten weiter und augen- Armee-Konvoi beim Distriktzentrum Maidanschahr mehrere Kontrollpunkte. scheinlich intensiver gekämpft. (…) Das Risiko für Zivilisten, ins Kreuzfeuer zu geraten, hat dort zugenommen. In den formal von der Regierung beherrsch- ten Gebieten (…) hat sich die Frequenz gezielten Operationen der Taleban auf militärische und Regierungsziele erhöht, und die Gefahr sogenannter „kollateraler“ Zivilopfer bleibt hoch. (…) Der neue UN-Zivilopferbericht verzeich- nete zwar insgesamt einen Rückgang der Zahl der zivilen Opfer in den ersten neun Monaten 2020 (im Vergleich zum selben Zeitraum 2019) um etwa 30 Prozent (2.117 Tote und 3.822 Verletzte), stellte aber fest, dies sei kein Effekt der Frie- densgespräche in Doha. Hingegen gibt es offenbar präzedenz- lose Verluste bei den Regierungstrup- pen, deren Moral sinkt. (…) Am 22. Juni etwa tweetete der damalige Sprecher des afghanischen Nationalen Sicherheits- rates, Jawed Faisal, dass die vorangegan- gene Woche „tödlichste der vergange- nen 19 Jahre“ gewesen sei, mit 422 Tale- Sajedabad angehalten, als ein mit Spreng- Am 3. Oktober wurde das gepanzerte ban-Attacken in 32 Provinzen, wobei 291 stoff beladenes Fahrzeug neben ihm und Fahrzeug von Maidanschahrs Bürgermeis- ANSF-Mitglieder getötet und 550 wei- anderen Fahrzeugen anhielt und deto- terin Sarifa Ghafari – der einzigen Frau in tere verwundet worden seien.” (…) Dazu nierte. Einer Sicherheitsquelle zufolge einem solchen Amt im ganzen Land – von kommt, dass aufgrund der seit Jahren seien dabei 39 Soldaten getötet und bis Bewaffneten angegriffen, sie blieb aber stetig verschlechterten Sicherheitslage zu 25 Fahrzeuge zerstört worden, wäh- unversehrt. (…) sowie der ausgedünnten internationa- rend Medienberichte unter Berufung auf Das Leben ist für diejenigen, die in der len Präsenz anzunehmen ist, dass viele Beamte des Verteidigungsministeriums Nähe der Front leben, noch schwieriger Fälle von zivilen Opfern entweder nicht www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 99 * 12/2020 · 23
Afghanistan geworden. Das betrifft insbesondere die- dem Doha-Abkommen habe die Polizei Entspannung durch das Doha-Abkommen jenigen, die in der Nähe von Hauptstra- ihr Verhalten geändert: „Weil sie in ihren konzentriert haben. ßen oder in den Regierungsenklaven, ein- Basen festsitzen, schießen sie viel von Ein hochrangiger Taleban-Militärkom- schließlich der Provinzhauptstadt Maidan- dort.“ mandeur (der nicht namentlich genannt schahr, leben. Sie können sich trotz des Ehsanullah, 32, ebenfalls aus Tschak, war werden wollte) stimmte dem zu, sagte Doha-Abkommens nicht um ihre Felder an diesem Tag ebenfalls im Krankenhaus. jedoch, dass die Rekrutierungsbemühun- kümmern. Er beschwerte sich über den nächtlichen gen mehr darauf abzielten, Mitglieder der Adam Khan lebt in Lalakhel am südlichen Artilleriebeschuss der Armee. „Wenn es ANSF zu gewinnen als bisherige Nicht- Stadtrand von Maidanschahr. Er sagte, dunkel ist, haben sie Angst und schießen kombattanten. Vor Angriffen sende die dass die Polizei regelmäßig auf die unsicht- ziellos mit Mörsern und Artillerie.“ Es sind Taleban-Rekrutierungskommission Bot- bare Taleban-Kontrolllinie in der Nähe Erfahrungen wie diese, die die Bevölke- schaften an die gegnerischen Soldaten seines Hauses schieße, um sie in Schach rung von Wardak weiter von der Regie- oder Polizisten und fordere sie auf, sich zu halten. Wenn die Polizei auf der Straße rung entfernen. „Wir haben kein Problem zu ergeben, anstatt Widerstand zu leis- patrouilliere, sagte er, „schießen sie die mit den Taleban“, sagte Ehsanullah. „Alle ten: „Wir versuchen, sie davon zu über- ganze Zeit. Wenn die Taleban nur eine unsere Probleme kommen von der Regie- zeugen, dass sie korrupte Menschen ver- Kugel abfeuern, feuert die Polizei 500 ab.“ rung.“ teidigen.“ (…) Deshalb kann Adam Khan nur noch sehr Dr. Esmatullah Asim, der frühere Leiter früh am Morgen arbeiten. des Provinzkrankenhauses, jetzt Mitglied Kunduz Nurullah, ein 38-jähriger Bauer aus Kodai des gewählten Provinzrates, stimmt der im Taleban-beherrschten Bezirk Tschak, Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Außerhalb der Stadt Kunduz hatten die erzählt, wie er an einem Juli-Abend sein Regierung zu. Er verweist auf ein langjäh- Taleban seit mehreren Jahren zeitwei- Land bewässerte, etwa einen Kilome- riges Problem, das dazu beigetragen habe, lig die Kontrolle über die drei Distrikt- ter von einer Polizeibasis entfernt, und den Taleban-Aufstand ab 2006 anzuhei- zentren von Tschahardara, Dascht-e Art- seine beiden Söhne und ein Neffe in der zen. „Die Leute machen ihren Univer- schi und Qala-ye Sal. In jüngerer Zeit sind Nähe spielten. Zu diesem Zeitpunkt gab sitätsabschluss, aber es gibt keine Jobs. auch Chanabad im Osten, Aliabad im Süd- es keine Kämpfe in der Nähe, sagte er. Sie sind arbeitslos und suchen nach Men- westen und Imam Saheb im Norden unter Dann landete wie aus dem Nichts eine schen, die sich ihre Probleme anhören.“ anhaltenden Druck geraten. Drei neuen Granate in der Nähe und die drei Jungen Jetzt, ohne den militärischen Druck der Distrikte (Gor Tepe, Aqtash und Kulbad) wurden von Splittern getroffen. Im Pro- vergangenen Jahre, nutzten die Tale- stehen größtenteils unter Taleban-Einfluss. vinzkrankenhaus in Maidanschahr muss- ban die wachsende Distanz zwischen der Seit der Unterzeichnung des Abkommens von Doha hat ihr Druck noch zugenom- men. Reisende, die die Straßen nach Cha- nabad und Aliabad benutzen, begegnen regelmäßig Taleban-Kämpfern, die offen Waffen tragen und Autofahrer an Kont- rollpunkten anhalten. Dies ist besonders nachts der Fall. An der nördlichen Stadtgrenze von Kunduz kommt es fast täglich zu Kämp- fen. Faizullah, ein 45-jähriger Polizisten, sagt: „Seit Beginn des Friedensprozesses verteidigen wir uns nur noch. Die Taleban haben uns letzte Nacht hier angegriffen. Manchmal kommen sie von allen Seiten und umzingeln uns. Die Ausländer haben ein Friedensabkommen geschlossen, aber wir, wir sterben weiter.“ Dastagir, der einen Kontrollpunkt am ent- gegengesetzten Ende der Stadt befeh- ligt, an der Straße, die nach Süden nach Aliabad und darüber hinaus in die Pro- vinz Baghlan und nach Kabul führt, bestä- tigt: „Es ist jetzt schlimmer als es war. Die Taleban nutzen ihren Vorteil, weil wir nur noch verteidigen. Überall in Kunduz sind sie der Stadt nähergekommen.“ (…) ten ihnen die Splitter aus dem Magen Regierung und den Wardakis. „Sie sind operiert werden. „Es kam von der Poli- für junge Leute sehr zugänglich“, sagte er. Die Anwesenheit von Taleban-Kämpfern zeistation“, sagte Nurullah, „auch mein Dies führe auch zu Rekrutierungen, sagte und Kontrollpunkten auf den Hauptstra- Haus wurde von Mörsern der Regierungs- Asim, auf die sich die Taleban nach der ßen von Kunduz war wohl die größte Ver- truppen getroffen und beschädigt.“ Seit änderung für die Bewohner seit Doha. 24 · 12/2020 * Der Schlepper Nr. 99 * www.frsh.de
Afghanistan Laut Muhammad Yusef Ayubi, einem Mit- glied des Provinzrates, kontrollieren die Taleban die Autobahn Kabul-Baghlan-Kun- duz „und besteuern jedes Fahrzeug“. Alle, mit denen AAN in Kunduz sprach und die in den letzten Monaten nach Kabul oder zurückgereist waren, stimmten dem zu. Ein Buspassagier erzählte, Taleban-Kämp- fer hätten Fahrzeuge angehalten, Mobil- telefone an sich genommen, die kürzlich gewählten Nummern angerufen und ver- sucht herauszufinden, ob derjenige mit der Regierung arbeitet. Sie suchen auch nach Salaam-SIM-Karten von der regie- rungseigenen Telekom-Gesellschaft. „Wenn sie solch eine Karte finden, bestra- fen sie dich und schicken dich vielleicht ins Gefängnis“, berichtete Rashida, eine Frau aus Kundus. Sayed Malek, der einen kleinen Laden am äußersten westlichen Stadtrand von Kunduz betreibt, muss häufig seine Stromrechnung an die Taleban zahlen. damit seine Kinder nicht in Richtung Tale- anfangen mit den Bombardierungen und Sogar Polizisten an den Kontrollpunkten ban abdrifteten. Aber dann fand er sich Geheimdienst-Operationen.“ an vorderster Frontlinie müssten das tun, und seine Großfamilie ab 2018 in einer sagt er, denn die Stromleitungen führen Art Niemandsland zwischen den US- und Der Australier Andrew Quilty lebt als freier Journa- durch das Gebiet der Taleban. Sonst Regierungstruppen auf der einen und den list und Fotograf in Afghanistan. Thomas Ruttig ist würde der Strom abgestellt. Taleban auf der anderen Seite. Granaten Mitbegründer und Ko-Direktor des unabhängigen Afghanistan Analysts Network (AAN) und arbeitet explodierten oft mehrmals pro Woche um seit 1980 zu Afghanistan. Die Reportagen erschienen Nangrahar ihr Haus im Dorf Ibrahimchel. Einschuss- zuerst bei AAN, hier: https://bit.ly/32pxi2q löcher zieren dessen Außenwände. Aber Seit 2015 sind die Bedingungen in Nang- es war ein nicht explodierter Sprengkör- Gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung von AAN. rahar in hohem Maße von der Präsenz der per, der Anfang 2018 seine Familie ver- islamistischen ISKP geprägt. Selbst nach- nichtete. Eines seiner kleinen Kinder hatte dem die Gruppe im November 2019 von es auf dem Weg zur Schule aufgehoben, Präsident Ghani in der Provinz für „ausge- und das Geschoss ging zuhause hoch. löscht“ erklärt worden war, hat ihre Stö- Hamesha Guls Schwester und drei Kinder rung der Schlachtfelddynamik in den fol- wurden getötet, sieben weitere verletzt. genden Jahren den Stand der Dinge seit Alle verloren Teile ihrer Beine. der Unterzeichnung des Doha-Abkom- mens weiter beeinflusst. Der 72-jährige Chairullah aus Chogjani sagt, dass seit Doha Bombenanschläge In Nangrahar habe die Regierung seit am Straßenrand und gezielte Morden an Doha weiterhin Operationen durchge- Regierungsbeamten und ANSF-Mitglie- führt, wie Gul Shirin, Kommandeur eines dern zugenommen hätten. Er kritisierte kleinen Postens der milizähnlichen Afghan auch das Verhalten der Aufständischen Local Police (ALP) an einer Straße im Dis- gegenüber der lokalen Bevölkerung. trikt Chogjani führt, und andere regie- „Wenn wir sie bitten, nicht in der Nähe rungsnahe Kämpfer in dem Gebiet berich- unserer Häuser zu kämpfen, weisen sie teten. Das ist eine Ausnahme und hat uns zurück. Sie nehmen uns unsere Autos damit zu tun, dass der Krieg in Nangra- ab und verlangen Steuern.“ (…) har drei miteinander verfeindete Akteure hat: die Regierungstruppen, die Taleban Die Sicherheit, die die Regierung bringt, und den örtlichen Ableger des Islamischen hält nie lange genug an, damit die Ein- Staates. In einigen Teilen der Provinz hält heimischen bereit wären, sich ihr anzu- die Taleban-Offensive gegen den IS weiter schließen. Sie wissen aus Erfahrung, dass an, den sie als ungebetene Konkurrenten die Regierung weder über die Kapazi- ansehen. (…) tät noch über die Ressourcen verfügt, um die Sicherheit über einen längeren Zeit- Hamesha Gul, Familienoberhaupt aus raum aufrechtzuerhalten. Chairullah, Chogyani, hatte die Gegend einige Jahre obwohl selbst Opfer einer US-Militärope- zuvor in Richtung Surchrod verlassen, ration der USA, sagt: „Sie sollten wieder www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 99 * 12/2020 · 25
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