Neu erschienen - Max-Planck-Gesellschaft

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                         Wütender Weckruf

Michael Schrödl, Unsere Natur stirbt, Warum jährlich bis zu 60 000 Tierarten verschwinden
und das verheerende Auswirkungen hat
221 Seiten, Verlag Komplett Media, München 2018, 18,00 Euro

Irgendwie ist es merkwürdig. Selbst in Ki-       Aber auch von allen anderen geschätzten       me der Weltbevölkerung oder die Tatsa-
nofilmen, die einen Weltuntergang ankün-         1,5 Millionen Tierarten werden bis 2050 je-   che, dass immer mehr Flächen mit Park-
digen, geht es zum Schluss doch meist gut        des Jahr ein bis zwei Prozent verloren ge-    plätzen und Neubauten versiegelt wer-
aus. Auf so ein Happy End würde Michael          hen. Viele davon werden zudem ausster-        den. Die größte Gefahr geht nach Michael
Schrödl eher nicht setzen. Er befürchtet         ben, ohne dass sie je entdeckt wurden.        Schrödls Ansicht von der industriellen
ein wirkliches Ende der Erde – wenn alles            Schrödl hat aber nicht nur Angst, dass    Landwirtschaft aus. Dazu kommt, dass je-
so weitergeht wie bisher. Der Forscher           ihm die Objekte seiner Arbeit ausgehen.       des Jahr bis zu zehn Millionen Hektar Tro-
malt das Szenario eines sechsten großen          Er warnt vor einer globalen biologischen      penwald als Lebensraum verloren gehen;
Artensterbens in der Erdgeschichte, wenn         Krise, einer „Biokalypse“, die das Ende der   sie werden zum Zweck der landwirtschaft-
die Tropenwälder brennen, die Korallenrif-       Zivilisation bedeuten kann und auch uns       lich Nutzung gerodet.
fe immer mehr ausbleichen und die Insek-         in Europa nicht verschonen wird. So macht          Am Ende seines Buchs stellt der Autor
ten nacheinander sterben. Und er hat             er klar, dass – anders als in Kinofilmen –    den Lesenden ein Worst-Case-Szenario
Angst, dass mit der schwindenden Vielfalt        eine Art, die einmal ausgestorben ist,        vor. In einer Art Countdown – beginnend
auch die Lebensgrundlage von uns Men-            nicht wieder zurückkommt. Mit gravieren-      mit dem Hitzesommer 2018 – führt er an
schen zerstört wird.                             den Folgen für die Natur. Einige Verluste     einzelnen Beispielen vor Augen, was bis
    Denn es sind nicht gerade wenige Ar-         kompensiert der Mensch schon jetzt mit        2050 alles passieren kann, wenn Klima-
ten, die gerade verschwinden, jedes Jahr         erfinderischen Lösungen. Beispielsweise       wandel, Artensterben und Versorgungs-
gehen weltweit zwischen 20 000 und               sollen fliegende Roboterdrohnen fehlen-       krise zusammenwirken.
60 000 unter. Schrödl macht das nicht nur        de Honigbienen ersetzen. In China wer-             Das Arten- und Insektensterben ist
traurig, sondern so wütend, dass er ein          den mittlerweile Blüten per Hand be-          derzeit ein Thema vieler aktueller Bücher.
Buch darüber geschrieben hat. Von Berufs         stäubt oder in den USA mobile Bienen-         Aber keines ist so emotional geschrieben.
wegen ist der Artenforscher der Zoologi-         trucks zu den Feldern gefahren.               Der Artenforscher macht deutlich: Wenn
schen Staatssammlung München so etwas                Aber diese Hilfsmittel versagen auf       es einen glücklichen Ausgang für die Zivi-
wie ein Standesbeamter für Tierarten.            Dauer. So sind etwa Wildbienen, von de-       lisation geben soll, müssen sofort wirk-
Denn in seinem Job als Taxonom ordnet er         nen es in Deutschland mehr als 500 Arten      same Maßnahmen starten. Einige davon
neu entdeckte Arten in ein natürliches           gibt, wichtige Spezialisten. Sie haben ei-    stellt er vor, etwa den Schutz naturnaher
Register ein. In diesem Stammbaum des            gene Vorlieben für bestimmte Blüten. Ei-      Lebensräume wie Moore, Auen, Wälder,
Lebens steht, wer mit wem verwandt ist           nige von ihnen sind vorzugsweise zu Zei-      Mangroven oder Korallenriffe, Umstellung
und wer nicht. Oder wer die Vorfahren            ten aktiv, die andere wiederum zu kalt        auf biologische Landwirtschaft und weg
sind oder die Nachfahren.                        oder zu feucht finden. Noch funktioniert      von den fossilen Energieträgern. Das Werk
    Michael Schrödl liebt seine Arbeit, aber     ein Sicherheitsnetz der Natur: Wenn ein-      ist trotz Faktenfülle kein nüchternes Sach-
am liebsten entdeckt und ordnet er Schne-        zelne Arten aussterben, erledigen andere      buch. Es ist eher ein wütender Weckruf,
cken. Wenn Gartenbesitzer über die schlei-       deren Aufgaben mit. Nimmt die Vielfalt        mit dem der Autor auch mit drastischen
migen Plagegeister schimpfen, sieht er hier      hingegen ab, funktioniert dieser Prozess      Worten aufrütteln und zu Taten anspor-
Tiere, die den Angriffen der Menschen            nicht mehr – bis schließlich ganze Ökosys-    nen will.                       Katja Engel
schlau trotzen. In Deutschland – so rechnet      teme zusammenbrechen.
er – werden von den etwa 330 Weichtier-              Ursachen sind nach Meinung des Au-
arten weniger als 40 Prozent überleben.          tors nicht nur der Klimawandel, die Zunah-

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Im Sinkflug

Peter Berthold, Konrad Wothe, Unsere einzigartige Vogelwelt, Die Vielfalt der Arten
und warum sie in Gefahr ist
224 Seiten, Frederking & Thaler Verlag, München 2019, 29,99 Euro

Die Letzten ihrer Art lautete der Titel eines      werdenden Vögeln präsentieren Berthold          rapp, Steinsperling und Schlangenadler. In
Buchs aus dem Jahr 1992. Der Science-Fic-          und Wothe die ganze Pracht unserer heimi-       einer von Intensivlandwirtschaft und fort-
tion-Autor Douglas Adams – berühmt durch           schen Vogelwelt. Kurze Begleittexte infor-      schreitender Bebauung dominierten Um-
sein Werk Per Anhalter durch die Galaxis –         mieren über den aktuellen Bestand und die       welt sind inzwischen sogar die früher un-
unternimmt darin eine Weltreise zu vom             Bedrohung der einzelnen Arten. Nicht zu-        verwüstlichen Spatzen gefährdet.
Aussterben bedrohten Tierarten. Eine da-           letzt das Kapitel über die vom Aussterben           So ist der Band eine Hommage an die
von sind die Kakapos auf Neuseeland. Von           bedrohten Vögel macht den Ernst der Lage        Formen-, Farben- und Verhaltensvielfalt
dem „größten, fettesten und flugunfähigs-          deutlich: Wer in Deutschland noch Sumpf-        der Vögel und eine Mahnung zugleich. Viel
ten Papageien der Welt“ (Adams) lebten bei         ohreulen (50 Brutpaare), Alpenstrandläufer      Zeit bleibt nicht mehr, den katastrophalen
Erscheinen des Buchs nur noch weniger als          (10) oder Rotkopfwürger (3) kennenlernen        Trend der vergangenen Jahrzehnte umzu-
50 Exemplare.                                      will, muss sich beeilen – es sind bereits die   kehren. Ein massives Umsteuern ist nötig,
    Spätestens 30 Jahre später ist das             Letzten ihrer Art.                              damit Bertholds Buch nicht zum Abgesang
Artensterben unter den Vögeln auch in                  Manche Vögel hingegen, und das mag          auf die heimische Vogelwelt wird. Die
Deutschland angekommen. Waren es im                man kaum glauben, sind „im Aufwind“.            wachsenden Bestände von Wanderfalke,
vergangenen Jahrhundert noch einige we-            Dazu gehören beispielsweise Seeadler, Uhu       Storch oder auch Seeadler in Deutschland
nige, besonders auffällige Arten wie Wan-          und Wanderfalke, die dank strenger Arten-       zeigen, dass Schutzmaßnahmen erfolg-
derfalken oder Weißstorch, deren Rück-             schutzmaßnahmen vor dem Aussterben be-          reich sein können.
gang besonders ins Auge fiel, sind heute           wahrt werden konnten. Der Bienenfresser             Die eingangs erwähnten neuseeländi-
längst Allerweltsarten wie Star, Lerche            wiederum profitiert von den steigenden          schen Kakapos machen da Mut: Nach dem
und Rebhuhn betroffen. Sogar um die Am-            Temperaturen in Deutschland. Und andere         Tiefstand hat sich ihre Zahl auf inzwischen
sel muss man sich inzwischen sorgen.               verdanken ihr Vorkommen komplett dem            – immer noch höchst bedrohte – 150 Tiere
    Der Ornithologe und ehemalige Direk-           Menschen, wie etwa der Halsbandsittich.         verdreifacht. Dazu waren allerdings jahre-
tor am Max-Planck-Institut für Ornitholo-          In den 1960er-Jahren entkamen einige Vö-        lange künstliche Fütterung, Kükenauf-
gie in Radolfzell, Peter Berthold, beklagt         gel der Gefangenschaft und bauten in Köln       zucht per Hand sowie mehrere Umsied-
den teils dramatischen Rückgang an Vö-             eine kleine Kolonie auf. Heute leben mehre-     lungsaktionen notwendig. Bleibt zu hof-
geln in seinen Veröffentlichungen schon            re Zehntausend Exemplare dieser ursprüng-       fen, dass es in Deutschland so weit nicht
seit Jahren. Nun legt er gemeinsam mit             lich aus Afrika und Asien stammenden Pa-        kommen muss.                   Harald Rösch
dem Naturfotografen Konrad Wothe ein               pageien in Deutschland.
Buch vor, das den Verlust nicht in Zahlen,             Diese Ausreißer können jedoch nicht
sondern in Bildern fasst. Zierliche Gold-          darüber hinwegtäuschen, wie schlecht es
hähnchen, schillernde Blauracken, leuch­           den allermeisten Vögeln in Deutschland
tende Pirole, majestätische Greifvögel –           geht. Von 300 Millionen Exemplaren im
der Band zeugt von der Vielfalt und Schön-         Jahr 1800 sind Peter Berthold zufolge noch
heit unserer heimischen Vögel und gibt             rund 60 Millionen übrig. Es gibt also heute
eine Ahnung davon, welch ein Verlust das           mehr Menschen als Vögel im Land. Vielen
Verschwinden dieser Tiere wäre.                    Arten könnte schon in 10 oder 20 Jahren ein
    Beginnend mit in Deutschland bereits           ähnliches Schicksal blühen wie den hierzu-
ausgestorbenen Arten bis hin zu häufiger           lande bereits ausgestorbenen Arten Wald-

                                                                                                                  1 | 19 MaxPlanckForschung   79
Neu erschienen

                           Programmierte Intelligenz

Lukas Brand, Künstliche Tugend, Roboter als moralische Akteure
152 Seiten, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2018, 16,95 Euro

Der Titel Künstliche Tugend ist provokant.          Autor meint, er könne utilitaristische und       und gerade auch auf die jüngste philoso-
Denn das Buch von Lukas Brand handelt               regelbasierte Begründungen für eine mo-          phische Diskussion um moralische Ma-
im Kern davon, die aristotelische Tugend­           ralische KI, die er als unzulänglich einstuft,   schinen eingeht. Das macht in den sechs
ethik auf Roboter zu übertragen. Der Au-            mit einer 2400 Jahre alten Psychologie           Kapiteln einen guten Teil des Werks aus
tor will damit einen Beitrag für eine zu-           überwinden.                                      und ist erhellend. Brand führt die gegen-
künftige Maschinenethik leisten, denn er                Brand räumt zwar ein, dass die Ver-          wärtigen Schwierigkeiten der KI fast durch-
geht davon aus, dass in absehbarer Zeit in-         nunft des Menschen nach Aristoteles mit          weg auf die Problemstellungen des „Imita-
telligente Roboter im Umgang mit Men-               dem Körper unvermischt sei, dennoch              tion Game“ von Alan Turing zurück. In der
schen dazu befähigt werden müssen, mo-              meint er: „Diese Verbindung von mentalen         aristotelischen Seelenlehre aber eine Lö-
ralisch zu urteilen und zu handeln – oder,          Prozessen mit dem physischen Körper des          sung für die fundamental unbeantwortba-
in Brands Worten, „auch in moralischen              Menschen lässt sich auf die Verbindung           re Frage gefunden zu haben, ob Maschi-
Dilemmasituationen auf autonome Weise               von Software und Hardware eines Robo-            nen moralische Akteure sein könnten und
ethisch verantwortbare Entscheidungen“              ters übertragen“ – eine entsprechende Ma-        damit das Kriterium für eine „künstliche
zu treffen.                                         schine könne die „Seelenfähigkeit“ des           Tugend“ erfüllen, kann nicht überzeugen.
     Das ist eine steile These. Sie wird je-        Denkens besitzen, die für den Menschen               Leider muss noch angemerkt werden,
doch kaum in Europa und Deutschland ver-            wesentlich sei. Am Ende bleibt aber die          dass das Buch von Lukas Brand von
treten. So schrieb jüngst Bundestagspräsi-          Vereinigung von KI und Roboterkörper ein         Rechtschreibfehlern strotzt. Wenn heute
dent a.D. Norbert Lammert in der Frank-             Dualismus und die Intelligenz, vom Men-          eine Veröffentlichung nicht mehr von
furter Allgmeinen Zeitung über die                  schen in den künstlichen Körper einge-           Lektoren begleitet ist, so hätte der Autor
künstliche und die menschliche Intelligenz:         setzt, programmiert.                             selbst – wenn nicht mit KI, so doch mit
„KI trifft keine Entscheidungen, sie setzt sie          Der Autor muss einräumen, dass es bis        dem einfachen Korrekturprogramm einer
um.“ Ähnlich, aber philosophisch tief be-           jetzt noch keine „vollkommen autonomen,          üblichen Textsoftware – die meisten Feh-
gründet, äußert sich Julian Nida-Rümelin            universalen, künstlich intelligenten, ge-        ler korrigieren können. Oder sollte es
im gemeinsamen Buch mit Nathalie Wei-               schweige denn künstlich moralischen Ak-          etwa so sein, dass eine KI das Buch Künst-
denfeld unter dem Titel Digitaler Humanis-          teure“ gibt. Er meint aber, in den heute         liche Tugend verfasst hat? Und, um die Le-
mus. Demnach bleiben Moral und Tugend               schon vorhandenen Beispielen von KI sei          ser in Sicherheit zu wiegen, den Text ab-
eine zutiefst menschliche Angelegenheit.            sein Ansatz potenziell enthalten und künf-       sichtlich mit etlichen Fehlern gespickt
     Anders Lukas Brand: Vererbung, Sozia­          tig durchaus im Bereich des Möglichen. Ei-       hat, um ein allzu menschliches Machwerk
lisation, Gewöhnung und eigene Mühe                 nig sind sich viele Experten darin, dass         zu suggerieren?            Peter M. Steiner
würden im Ergebnis die „Seele“ eines Men-           künstliche Intelligenz in schmalen Kompe-
schen ausmachen, die autonomes Han-                 tenzbereichen erfolgreich sein wird und
deln und entsprechende Verantwortung                dann auch besser als ein Mensch. Doch im
begründen. Auf Roboter – die verkörperte            aristotelischen Sinne ist das Ganze mehr
KI – übertragen, soll die Kombination aus           als die Summe seiner Teile: Wer nur eine
Hard- und Software menschliche Leistun-             Tugend hat, hat keine; wer aber eine wirk-
gen dann reproduzieren können, wenn der             lich hat, besitzt die ganze Tugend.
Roboter ein „künstliches neuronales Netz-               Am stärksten ist das Buch dort, wo der
werk“ mit „Deep Learning“ verbinde. Der             Autor über die Geschichte der KI referiert

80   MaxPlanckForschung 1 | 19
Evolution in Echtzeit

Jonathan B. Losos, Glücksfall Mensch, Ist Evolution vorhersagbar?
384 Seiten, Carl Hanser Verlag, München 2018, 26,00 Euro

Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die           ten Experten, die Evolution verlaufe viel zu   zieht er los, um Echsen zu fangen und zu
ersten ausgestopften Schnabeltiere nach           langsam, als dass man sie in Echtzeit beob-    vermessen. Es gelingt ihm, schnelle, adap-
England kamen, suchten Forscher stun-             achten könne.                                  tive Evolution in freier Wildbahn nachzu-
denlang nach versteckten Nähten, um den               Heute gibt es etliche Arbeiten, die das    weisen – damals eine Sensation, mit der er
Betrug aufzudecken. Ein Eier legendes Säu-        Gegenteil zeigen, darunter die legendäre       im Fachblatt Nature landet.
getier mit Entenschnabel und Schwimm-             Langzeitstudie des Amerikaners Richard             Was den Reiz des Buchs ausmacht, ist
flossen? Das konnten nur chinesische              Lenski. Seit drei Jahrzehnten untersucht er    vor allem der lockere und witzige Plauder-
Händler gewesen sein, die diese Kreatur           Escherichia-coli-Bakterien im Labor. Dazu      ton, zusammen mit den vielen Erlebnisbe-
zusammengeflickt hatten! Das Schnabel-            lassen er und seine Mitarbeiter zwölf Po-      richten und Anekdoten. Der Autor schafft
tier ist tatsächlich einzigartig. Evolutionä-     pulationen, die alle von einer einzigen        es damit, dass seine Begeisterung gleich zu
re Unikate aber gibt es öfter – Elefanten         Mutterzelle abstammen, unter denselben         Anfang auf den Leser überspringt. Wissen-
etwa, Giraffen oder Chamäleons. Anderer-          Bedingungen getrennt voneinander wach-         schaftliche Zusammenhänge präsentiert er
seits existieren Arten, die sich in bestimm-      sen. So können die Forscher das Band der       klar und verständlich, sodass auch Laien
ten Merkmalen verblüffend ähneln, ob-             Evolution quasi zwölfmal abspielen.            den Text mit Gewinn lesen. Ein weiterer
wohl sie nicht miteinander verwandt sind:             Mehrere Zehntausend Bakteriengene-         Pluspunkt sind die schönen Illustrationen.
Wissenschaftler sprechen von Konvergenz.          rationen hat das Team schon verfolgt, und          Ein wenig irreführend ist der deutsche
    Wirbeltiere und Tintenfische etwa ent-        viele Populationen entwickeln sich tat-        Titel Glücksfall Mensch, da es nur am Ran-
wickeln sich seit vielen Hundert Millionen        sächlich ganz ähnlich. Manchmal aber ent-      de um Menschen geht. Kein Wunder, denn
Jahren getrennt, haben aber Augen, die            steht etwas radikal Neues – etwa ein noch      um Evolution in Echtzeit zu beobachten,
nach demselben Prinzip funktionieren.             nie da gewesener Stoffwechselweg, den          studieren Forscher gern schnelllebige Or-
Kaffee-, Tee- und Kakaopflanzen gehören           erst das Zusammentreffen mehrerer zufäl-       ganismen, um darüber nicht alt und grau
zu unterschiedlichen Familien, produzie-          liger Mutationen hervorbrachte.                zu werden.
ren jedoch allesamt Koffein zur Insekten-             Eine klare Vorhersage ist also nicht           Trotzdem streift Jonathan B. Losos auch
abwehr. Die Evolution kommt offenbar              möglich, und so bleibt Jonathan B. Losos       die großen Fragen zu unserer eigenen Exis-
immer wieder auf dieselben Lösungen.              seinen Lesern eine endgültige Antwort          tenz: Was wäre etwa passiert, wenn der As-
Sind manche Entwicklungen also doch               schuldig. Dafür diskutiert er die Kontrover-   teroid zum Ende der Kreidezeit die Dinosau-
vorhersagbar?                                     se „Zufall versus Determinismus“ eingängig     rier nicht ausgelöscht hätte? Gäbe es uns
    Eine viel diskutierte Frage, der Jonathan     und mit viel Sachkenntnis. Streckenweise       Menschen dann überhaupt? Laut dem ka-
B. Losos in seinem Buch nachgeht. Losos           hat das Buch seine Längen, vor allem die       nadischen Paläontologen Dale Russell wo-
ist seit seiner Jugend ein Reptilien-Nerd         Passagen über die Laborexperimente. Umso       möglich als grüne, geschuppte „Dinosauri-
und hat es mit seiner Leidenschaft für die        kurzweiliger sind dafür die Geschichten        den“, die uns verblüffend gleichen. Und viel-
Schuppentiere bis zur Harvard-Professur           über Losos’ eigene Forschung.                  leicht hätte ja einer von ihnen ein ähnlich
gebracht. Seit mehreren Jahrzehnten er-               Man hat das Gefühl, mit dabei zu sein,     lesenswertes Buch geschrieben. Elke Maier
forscht er Eidechsen der Gattung Anolis.          wenn er als junger Wissenschaftler auf die
Der Wissenschaftler gilt als Vorreiter der        Bahamas reist und anstatt Strand, Cocktail
experimentellen Evolutionsforschung – ei-         und Hängematte eine Absteige mit riesi-
ner Fachrichtung, die lange nicht ernst ge-       gen Flugschaben vorfindet. Seinem Enthu-
nommen wurde: Seit Charles Darwin glaub-          siasmus tut das keinen Abbruch, und so

                                                                                                                1 | 19 MaxPlanckForschung   81
Neu erschienen

                                       Briefe aus der Fremde

Stefan Frankenberger, ... Deine Lise, Die Physikerin Lise Meitner im Exil
Audiobuch mit Booklet (2 CDs), Spieldauer 1:37 h, Buchfunk Verlag, Leipzig 2018, 25,00 Euro

Lise Meitners 50. Todestag und ihr 140.            atomkerns führte. Hahn konnte die Zer-             Diese Texte sind heute eine unschätzbare
Geburtstag gaben im Jahr 2018 Anlass für           fallsprodukte in seinem Berliner Labor             Quelle für die historische Forschung, aus
verschiedene Veranstaltungen und Neu-              zwar chemisch sauber nachweisen, tat               der Stefan Frankenberger kenntnisreich
erscheinungen zu Leben und Werk der                sich aber schwer, eine physikalische Erklä-        schöpft. Unterlegt mit freien Jazzimprovi-
Spitzenphysikerin. Stefan Frankenberger            rung zu finden, und bat Meitner um Hilfe.          sationen und gelesen von erfahrenen
geht mit seinem Audiobuch neue Wege.               Der Briefwechsel dokumentiert diese Er-            Schauspielern – darunter Elisabeth Orth
Seine Hörcollage konzentriert sich auf             eignisse lückenlos und liefert dem Hör-            vom Wiener Burgtheater als Lise Meitner –,
Meitners eigene Wahrnehmung ihrer                  buch einen spannungsreichen Plot, dessen           entfalten sie auch emotionale Kraft und
schwedischen Exiljahre von 1938 bis 1945           Ende der Autor mit dem Abwurf der ersten           öffnen einen frischen Blick auf das Thema.
anhand von Briefen, die sie nach ihrer             Atombombe auf Hiroshima setzt.                     Professionell gelesen, werden auch die phy-
Flucht aus Deutschland mit Freunden und                Frankenbergers Textauswahl illustriert         sikalischen Fakten der Kernspaltung, die
Kollegen wechselte.                                aber auch Meitners entbehrungsreichen              der Briefwechsel enthält, für Laien nach-
    Briefe waren für Meitner in dieser Zeit        Alltag, ihre Niedergeschlagenheit und              vollziehbar. Einziges Manko ist das fehlen-
so etwas wie die Nabelschnur zu einer ver-         Selbstzweifel angesichts der Tatsache,             de Quellenverzeichnis in dem ansonsten in-
lorenen Alltagsnormalität, die bis dahin           ganz auf andere Menschen angewiesen                haltsreichen und schön bebilderten Book-
durch ihre Arbeit am Kaiser-Wilhelm-In­            und wissenschaftlich weit zurückgewor-             let, das auch eine umfassende Darstellung
stitut für Chemie in Berlin dominiert war.         fen zu sein. Ebenso vermitteln die ausge-          von Meitners Biografie enthält.
Brieflich hatte sie auch Anteil an Otto            wählten Texte ein Bild des Alltags im natio­            Interessante Denkanstöße zur Bedeu-
Hahns und Fritz Straßmanns Entdeckung              nalsozialistischen Deutschland während             tung der Quanten- und Atomphysik, an
der Kernspaltung im Dezember 1938. Die             des Kriegs, da Frankenberger auch Briefe           deren Entwicklung Lise Meitner Anteil
Physikerin war im Juli desselben Jahres            von für Meitner wichtigen Zeitgenossen             hatte, für das abendländische Denken lie-
überstürzt vor den antisemitischen Verfol-         wie Max Planck oder Max von Laue verar-            fert das Hintergrundgespräch zwischen
gungen aus Berlin geflohen.                        beitet hat. Spürbar ist zudem die wachsen-         dem Autor und dem Physiker und Wissen-
    Ihre Kollegen arbeiteten derweil wei-          de Spannung zwischen den Freunden, die             schaftsphilosophen Herbert Pietschmann.
ter am gemeinsam begonnenen Projekt                Meitners Frage nach der Mitschuld der in           Insgesamt eine gelungene Annäherung an
der Erzeugung von Transuranen, was im              Deutschland Gebliebenen am Nationalso-             die Wissenschaftsgeschichte. 
Dezember 1938 zur Spaltung des Uran­               zialismus aufgeworfen hatte.                                                      Susanne Kiewitz

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