Das Urteil in der Ausübung der Lehrkunst - Notizen aus der Perspektive der Kunstlehre - Ingenta Connect
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 553-566 © 2021 Hubert Sowa - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0052 Hubert Sowa Das Urteil in der Ausübung der Lehrkunst Notizen aus der Perspektive der Kunstlehre Dass die Didaktik – als „Lehrkunst“ ver- Doch wiederum: Was heißt das? Wel- standen – aus der Tradition der Künste ches Verständnis von Techne/Poiesis/ und nicht aus der der Wissenschaften im “Kunst“ soll hier zu Grunde gelegt wer- modernen Sinne entstammt, ist eine Tat- den? Es ist zunächst strikte darauf zu sache, die ich hier ohne große Diskussi- achten, das Verständnis der „Kunst“ von on voraussetze1, eine Tatsache allerdings, ihrem neuzeitlich etablierten ästhetischen die im Zeitalter des Hypes um (vorgeblich) Verständnis fernzuhalten, sie vielmehr in „evidenzbasierte“ Erziehungswissenschaft der ursprünglicheren Form zu begreifen, wie ein Fremdkörper wirken mag. nämlich als Techne – so wie das z.B. in Doch die Einsicht in die „kunsthafte“ der nicht-mehr ästhetischen Tradition von Verfassung des Lehrens ist nie wirklich Hegel, Schelling, Nietzsche, Heidegger zum Verschwinden gebracht worden. Re- und Gadamer getan wurde. Auch das ist gelmäßig wird sie in Erinnerung gebracht hier vorausgesetzt. Kommt man (1) von – von Pädagogen, die stark in der Lehr- diesem ursprünglichen Verständnis der praxis verwurzelt oder/und auch stark der „Kunst“ her, und hält auch (2) die irrtüm- hermeneutischen-historischen Reflexion lichen Assoziationen von Techne zum mo- verbunden sind.2 dernen Verständnis von „Technik“ fern4, Aber was heißt es genauer, das Ver- dann tun sich reiche Möglichkeiten auf, das ständnis von „Lehre“ konsequent aus der Verständnis von „Lehrkunst“ tiefgründig zu Idee von Kunst/Techne/Poiesis abzuleiten? durchdenken – zum Teil mit sehr radika- Es heißt allem zuvor, Pädagogik/Lehre/ len Folgen. Dann macht es auch wirklich Didaktik nicht der Sphäre der Theoria einen Unterschied, ob man das Lehren als bzw. der „Wissenschaft“ zuzuordnen, Kunst oder als Wissenschaft versteht. Der aber auch nicht der Praxis, die oft als weite Horizont eines tieferen Verständ- einzige Gegenmöglichkeit vermutet wird. nisses von „Lehrkunst“ kann im vorlie- Die Techne/Poiesis ist ein Drittes – ab- genden Zusammenhang nicht umfassend seits der oft beredeten Theorie-Praxis-Di- erörtert werden. Ich beschränke mich im chotomie, ein Drittes mit eigener Dignität Folgenden nur auf einige wenige Aspek- und eigener Gesetzlichkeit: Wohl eine te, die ich in einer Folge hermeneutischer Art von Handeln-Können (wie die Praxis), Schleifen entfalte. Ich möchte herausstel- aber doch spezieller und präziser: ein len, dass die Lehrkunst – wie die Künste Machen-Können.3 allgemein – prinzipiell und durchgehend 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 553 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
von Strukturen des Urteilens bestimmt diese Künste auch gelehrt werden müs- sind: Technisch-poietische Gestaltungs- sen. Damit beginnt die Geschichte der entscheidungen sind notwendigerwei- Kunstlehren eigentlich im Neolithikum, se disjunktiv: Ich mache etwas so und denn die dort auftretenden Kunstfertig- nicht anders. Künste sind a priori immer keiten der Stein-, Elfenbein- und Holzbe- urteilend. Daher ist das Urteil auch qua arbeitung, auch die Künste der Jagd, der "Beurteilung" in der Idee der Lehrkunst im- Nahrungsgewinnung und -zubereitung, pliziert. Auch das hört man vielleicht nicht der Landschaftskunde, des Feuerma- gerne in Zeiten, wo „individualisiertes“ und chens, des Heilens, der Geburtshilfe usw. „selbstorganisiertes“ Lernen für der päd- manifestieren sich schon in dieser Zeit so agogischen Weisheit letzten Schluss ge- komplex und auf so hohem Niveau, dass halten werden: Es hört sich „hart“ an. Das sie nur in Generationenfolgen ausgebildet soll und muss es auch. Nur dann macht es worden sein konnten8, mit Hilfe des vom einen Unterschied. Anthropologen Michael Tomasello so be- nannten „Wagenhebereffektes“9. Dieser beruht darauf, dass sich entwickelnde (a) Erste hermeneutische oder auch schon fertig entwickelte Kennt- Schleife: Künste und Lehren nisse und Leistungen im Rahmen einer Kultur durch ein System kultureller Wei- Mein Bezugsrahmen ist die Tradition der tergabe gesichert und vermehrt werden, Kunstlehre5. Faktisch gibt es eine solche so dass jede künftige Generation gleich- Tradition in Europa – beginnend mit den sam „auf den Schultern der Vorgänger griechischen Antike –, allerdings gibt es stehend“ weitermachen kann und nicht nicht eine monolithische Kunstlehre, son- mit dem Lernen immer wieder von den dern eine Fülle historischer Beispiele von ersten Anfängen her beginnen muss. verschiedenen Kunstlehren – sowohl auf Künste generieren sich in diesen Über- dem Gebiet der Praxis, also des Handelns nahmen. Auch die Diversität der Künste (z.B. Heilkunst, Navigationskunst, Rede- geht auf sich-differenzierende Traditionen kunst, Vermessungskunst usw.), wie auf von Übernahmen zurück, wobei die vielen dem der Poiesis, des Machens und Herstel- verschiedenen Künste sich evolutionär lens (z.B. Baukunst, Malerei, Töpferkunst auseinander entwickelt haben und durch usw.). Die Traditionen der verschiedenen vielerlei Verwandtschaftsbeziehungen un- Kunstlehren pflegen wir als beginnend in tereinander verbunden sind. Die Lehren all der griechischen Antike zu denken, wo vor- dieser verschiedenen Künste können sich nehmlich Aristoteles die Unterscheidungen nur sich aus den Künsten selbst generie- zwischen Poiesis und Praxis, Techne und ren: „Kunst“ und „Lehre“ sind in keiner Theoria usw. begrifflich ausgearbeitet hat. Hinsicht trennbar, sondern in einem rekur- Innerhalb seines philosophischen Lehrsys- siven Abhängigkeitsverhältnis aufeinander tems hat er mit der Poetik und der Rhetorik verwiesen. Die Frage, wer zuerst da ist, zwei solcher Kunstlehren (Technai) ausfor- die Lehre oder die Kunst, ist wie die Frage muliert, allerdings in unvollendeter Form6. nach der Henne und dem Ei. Doch das beruht schon auf einer langen Noch ein bemerkenswerter Sachver- Vorgeschichte – sowohl auf dem Gebiet halt ist in Erinnerung zu rufen: „Kunst“ und praktischer Ausübung als auch dem der „Lehre“ stimmen in der Eigenschaft ihrer Au- schriftlichen Fixierung.7 toreferenzialität überein. Das betrifft auch Es liegt auf der Hand, dass überall, den hier niedergeschriebenen und damit wo Künste/Technai ausgeübt werden, „vorgetragenen“ Text. Er verhandelt – vor 554 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
den Ohren und Augen von Lesern – das sie habe den doppelten Zweck des movere Verhältnis von „Kunst“ und „Lehre“. Der (also des Bewegens) und des docere (des Text besteht aus geordneten Buchsta- Belehrens) und darüber hinaus auch noch ben, Wörtern, Sätzen und Kapiteln. Die den des delectare (des Erfreuens) – denn Ordnung all dieser Teile ist sinnhaft ge- ein irgendwie „erfreulicher“ Text ist besser gliedert. Er erfüllt die Definition eines geeignet, die Überzeugungen Anderer in „Kunstproduktes“. Die Künste des Fügens Bewegung zu setzen und zu verändern von sinnhaft geordneten Sätzen und Ar- als ein ganz und gar sachlich-neutraler gumenten heißen seit der griechischen Text, wie etwa das Skript eines Compu- Antike Grammatik, Logik, Dialektik, Poetik terprogrammes. Das „Hervorrufen“ von und Rhetorik und wurden systematisch Überzeugungen von Seiten eines Spre- gelehrt, schon früh sogar im System der chers/Autors und das Sich-Einstellen von allgemeinen Bildung10. Im Verfertigen die- übereinstimmenden Empfindungen und ses Textes, in seiner „elocutio“, also Aus- Überzeugungen von Seiten eines Hörers/ formulierung, die zugleich – obwohl nur Lesers, das Entstehen von „Einstimmig- schriftlich niedergelegt – doch zugleich ein keit“ in welcher Art auch immer, das ist „Hinstellen“ und „Vortragen“ ist, ist dieser das Geschäft der Lehre. Es ist auch das Text in seiner Wirkung auf die Lesenden/ Geschäft der Künste, besonders wenn Hörenden eine „actio“ und „performatio“, wir an die „schönen“ Künste denken. Es die in der modernen Sprachtheorie unter ist aber insbesondere das Geschäft einer dem Begriff der „pragmatischen Dimen- Kunst, in der sich eine Kunstlehre seit der sion“ zusammengefasst wird. Indem der Antike in vollständiger Systematik heraus- Text die Überzeugungen der Leser/Hörer gebildet und tradiert hat: der Rhetorik. belehrend in Bewegung bringt, „stellt er Die Felder der Ausübung dieser Kunst etwas her“ bzw. „bringt etwas hervor“, sind und waren das Forum des Gerichts, nämlich das, was in der antiken Redetra- das Forum der Politik und das Forum der dition als „Peitho“, als das Einnehmende, Schule. Aus der allgemeinen Rhetorik Überzeugende gefasst wurde.11 Im besten wurden die entscheidenden Muster der Falle ist dann „Lehren“ ein „Vollbringen“.12 Konstruktion der Rede übertragen in die Das Sprechen über die Künste kann Lehrformen, die sich später unter dem sich selbst nur „technisch“ – als Kunst Titel der „Didaktik“ zu einer eigenen Wis- – generieren. Es ist ein Verfertigen von senschaft ausbildeten – ein Traditionszu- Behauptungen, deren Zweck die Wir- sammenhang, der in Comenius´ „Großer kung/Peitho ist. Dadurch ist das Sprechen Didaktik“ klar ablesbar ist14, vorneweg über Künste gleichursprünglich ein Leh- auch schon im Titel. Comenius´ Didaktik ren, denn mit jedem Satz, jedem Argument bezeugt ihre Herkunft aus Handwerk und wird der Leser/Hörer über eine Sache in Künsten alleine schon in ihren immer wie- Kenntnis gesetzt, wird „belehrt“13. Mehr der aufgerufenen Beispielen, die aus den noch: Er wird mit technischen/künstleri- Feldern der Handwerkskünste und Bilden- schen Mitteln belehrt. Diese Mittel werden den Künste entnommen sind. eingesetzt, um beim Hörer/Leser Überzeu- Wer etwas über „Kunst“ erörtert, wer gungen hervorzurufen. Das Herstellen von über sie etwas lehren will, muss dazu die Überzeugungen bei anderen Menschen, Techne/Kunst des Verfertigens der Rede das Erzeugen von Bewegung in den Köp- beherrschen und anwenden können. Er fen und Herzen anderer Menschen ist ins- muss also notwendigerweise immer schon besondere die Aufgabe der rhetorischen in dieser Kunst erfahren und bewandert Kunst, von der in der Antike gesagt wurde, sein. So kann man den überraschenden 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 555 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Schluss ziehen: Reden und Texte über werden kann und muss und in der letzt- Kunst sind immer und notwendigerweise lich auch Zustimmung hergestellt werden autoreferenziell. Ein schwindelerregen- kann und muss. Diese „Lehren“ der pla- der Gedanke, der in seiner schwindeler- tonischen Philosophie gaben in der Folge regendsten Form in der philosophischen nicht nur der Wissenschaft und der Päd- „Logik“ G.W.F. Hegels zugleich durch- agogik eine Form, sondern letztlich auch wie vorgeführt wird. dem Recht und der Politik – denn dort Mit der „Lehre“ steht es genauso: zeigt sich die Notwendigkeit am deutlichs- Auch Texte über Lehre sind immer und ten, dass Überzeugungen sowohl Richtig- notwendigerweise autoreferenziell. Denn keit als auch Zustimmung erlangen sollen die Lehre ist per definitionem ein Verfer- und so letztlich das Gemeinwesen „bilden“ tigen von sprachlichen Gebilden, die den müssen. Es ist der platonischen Philoso- Zweck des Bewegens von fremden Über- phie nicht äußerlich, dass sie sich in der zeugungen haben15. Die Rede/der Text ist Form des Lehrgesprächs äußert: Gerade zwar nur ein mögliches Mittel der Lehre. darin wird deutlich, dass die Philosophie Es gibt z.B. auch die Demonstration, also sich als Lehrkunst definiert. das Zeigen (Vormachen) und möglicher- Der Philosoph Michael Hampe hat weise noch weitere Formen (wie das Füh- den Zusammenhang von Philosophie und ren einer fremden Hand usw.). Doch auch Lehre ausführlich thematisiert17. Er zeigt diese anderen Formen der Lehre stehen auch sehr überzeugend den direkten Zu- unter dem Vorzeichen der Techne/Kunst, sammenhang zwischen „behauptendem“ weil auch sie eingesetzt werden, um Reden, Argumentieren, Überzeugen, Dicht fremde Überzeugungen in Bewegung zu kunst und Erziehung auf, allerdings vor- setzen. Selbstverständlich ist etwa das dringlich, um auf philosophischem Feld Zeigen/DEIXIS/demonstratio eine Kunst, eine Alternative dazu herauszuarbeiten, die man mehr oder weniger versiert be- nämlich die Möglichkeiten eines nichtbe- herrschen muss.16 hauptenden, nichtdoktrinären Redens, Wer textlich oder sonstwie Probleme eines eher „narrativen“ und „überzeu- des Lehrens behandelt, bewegt sich also gungslosen“ Sprechens. Mich beschäf- notwendigerweise in einem autoreferen- tigt aber ein damit verwandtes und doch ziellen System, denn während er darüber zugleich in die Gegenrichtung deutendes verhandelt, belehrt er tatsächlich oder Problem: der Zusammenhang von Produk- potenziell einen imaginären oder tatsäch- tion und Lehre in den Künsten als ein apri- lichen Adressaten. Besonders deutlich orischer Zusammenhang. wird dies bei Platons Lehrdialogen, in denen die Denkfigur der europäischen „Paideia“/Bildung grundgelegt wird. Hier (b) Zweite hermeneutische bekommt nicht nur die Philosophie eine Schleife: urteilen, herstellen, Stimme, sondern auch ihre Adressaten. behaupten, normativ setzen Bewegt und gebildet werden in diesen Lehrdialogen nicht nur Überzeugungen, Ich resümiere: Jedes Sprechen/Schreiben sondern auch unbezweifelbare Einsichten über Künste ist eine Kunst und eine Lehre. (etwa in Form logischer Sätze). Gebildet Genauso: Jedes Sprechen/Schreiben wird darüber hinaus aber überhaupt auch über Lehre ist eine Lehre und eine Kunst. die Form, in der Überzeugungen geäußert Dieser merkwürdige Umstand ist in der werden können oder sollen, in der auch Geschichte der Künste durchaus bemerkt über ihre Wahrheitsansprüche verhandelt und gewusst worden. Ich möchte dafür ein 556 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Beispiel von höchstem Rang aus dem Feld hat eine plastische Figur geformt, an der der bildenden Künste benennen: er eine sehr differenzierte Messtechnik Der griechische Bildhauer Polyklet, der durchführte und zugleich entwickelte, näm- prominenteste Vertreter der strengen Klas- lich ein Messverfahren, das vom kleinsten sik in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhun- unterscheidbaren Detail (z.B. Fingerna- derts v. Chr., schrieb ein legendäres und gel, Fingerglied, Augapfel, Haarsträhne wirkmächtiges Lehrwerk über die Bildhau- usw.) bis in die Gesamtgröße hinein alle erkunst, genannt Kanon. Als Demonstrati- Größenverhältnisse modular festlegt und on dazu schuf er eine Bronzeplastik (der aufeinander bezieht. In jedem einzelnen „Doryphoros“/Speerträger), die ebenfalls Moment des Werdeganges des Werkes Kanon hieß18. Die Demonstration des plas- werden Formentscheidungen getroffen, tischen Kunstwerks und die Doktrin des genau gemessene und die Teile trennen- geschriebenen Textes gehörten in diesem den Grenzziehungen gesetzt (Dihairesis, „Lehrwerk“ zusammen – eines ohne das Analysis). Doch zugleich werden diese andere ist nicht denkbar. Beide zusammen Grenzziehungen – und das ist der alles „machten Schule“ in der gesamten Kunst- überstrahlende Gedanke des klassischen kultur der Antike und wirkten weiter in die griechischen Kunstverständnisses – als Geschichte hinein bis in Renaissance, Ba- Zusammenhang und Fügung zur Einheit rock und Klassizismus. Sie wurden zu dem gesehen (Systasis, Synthesis).21 Aus- maßgeblichen Maßstab der europäischen drücklich wird in jedem Einzelmoment der plastischen Kunst überhaupt.19 Über die- Zusammenhang mit dem Ganzen bedacht. ses Lehrwerk des Polyklet schrieb Plinius Aus diesem analytisch-synthetischen „Zu- im ersten nachchristlichen Jahrhundert: sammenmessen“ der gesamten Figur, der Polyklet sei der bedeutendste Künstler, Symmetria, entsteht eine „Stimmigkeit“, die weil er als einziger Mensch mit seinem im griechischen Verständnis Harmonia und Kunstlehrwerk „die Kunst selbst erschaf- Eurhythmia hieß. Die Wirkung dieses inne- fen habe“ – solusque hominum artem ren Zusammenklanges der Figur auf den ipsam fecisse artis opere iudicatur 20. Betrachter ist etwas Positives, ein Gutes Es lohnt sich, über diesen merkwürdig (to Eu), also ein Wohlbefinden, das den paradox wirkenden Satz sowohl für die bil- Menschen zu sich selbst bringt und sei- denden wie auch für alle anderen Künste nen inneren und äußeren Zustand bessert, nachzudenken, für deren Ausbildung die wenn er sich mimetisch auf das Vorbild bildenden Künste paradigmatisch waren einlässt.22 und weiter sein können. Für die Pädago- Die direkte Wirkkraft/Peitho der Ka- gik gilt er zweifellos. Aber würde man etwa non-Figur ist das eine. Der niederge- auch von der Mathematik sagen, dass sie schriebene Zahlenkanon, von dem wir bis sich in ihrer Lehre eigentlich selbst erst auf zwei unsichere Fragmentsätze nichts erschüfe? Würde man von der Sprache mehr besitzen, das andere.23 Polyklet hat sagen, dass sie sich in der Sprachlehre also ein verschollenes „theoretisches“, selbst erst erschüfe? In gewissem Sinn szientifisch formuliertes Lehrwerk ge- ist es tatsächlich so – und auch zugleich schrieben und zugleich das in diesem nicht. Dies kann hier aber nicht erörtert Werk Behauptete – seinerseits aber aus- werden. Vielmehr soll im Blick auf Poly- schließlich aus der Praxis Gewonnene – klet noch einmal genauer unterschieden anschaulich als (ebenfalls verschollenes) werden, was dieser Maßstäbe setzende Lehrbeispiel/Paradeigma konkretisiert. Künstler des 5. Jahrhunderts v. Chr. ei- Die belehrende Schrift und das gleicher- gentlich ganz konkret vollbracht hat: Er maßen belehrende Werkbeispiel gehören 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 557 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und wirken zusammen – von der strengen des Lehrenden über sich selbst, also eine Wirkung des Textes auf den Leser ange- Selbstbeurteilung, zugleich auch ein Urteil fangen und bis hinein in die lebendige Wir- über eine Sache, ihre Stellung und ihren kung der Kanonplastik auf den Betrachter. Sinn in der Welt. Dieses Urteil wird an die Zusammengenommen zeigt das Lehrwerk Lernenden erteilt, wird vor sie hingestellt die Doppelfunktion des docere wie des wie ein Werk. Die Lernenden müssen ihm delectare – das ist die in der europäi- zu entsprechen versuchen, indem sie allem schen Kunsttradition tatsächlich „kanoni- zuvor lernen, sich auf die vor sie hingestell- sche“ Definition der Kunst. Noch Albrecht te Lehre zu beziehen. Wenn Kant in seiner Dürer definierte das Wesen seiner Kunst „Kritik der Urteilskraft“ (§ 40) darauf hin- so: Wer etwas über diese Kunst wissen weist, dass sich die künstlerische Poiesis will, der „hör und sech, was ich mach“.24 erst im Urteil des Zuschauers/Betrachters Selbst in dieser unauffällig scheinenden vollendet25, so kann analog vom Akt der Bemerkung ist der wirklich fundamentale Lehrkunst gesagt werden: Auch er vollen- Doppelcharakter der Kunstlehre benannt, det sich erst im Urteil der Lernenden. Dazu der zugleich die zentrale Bestimmung der wäre noch viel zu sagen. Lehrkunst ist. Wissen und Können führen sich werk- haft aus. Aus einer langen abwägenden und schrittweise durchgeführten Erarbei- (c) Dritte hermeneutische tung und Reflexion hervorgehend „behaup- Schleife: abwägen, entschei ten“ sie sich final, setzen sich als Werk, den, einen Unterschied setzen das Werk vor andere hin, „stellen machen, gebieten es her“, „bringen es hervor“ (in Martin Hei- deggers Sinn verstanden) oder gar: voll- Mit dem Begriff des Urteils im Lehrakt bringen es (im Sinne der Perfektion). Das greife ich also auf Immanuel Kants „Kritik derart geäußerte Wissen ist zugleich ein der Urteilskraft“ zurück, die ja von ihrer Können, und dieses Wissen/Können ist ursprünglichen Fragestellung her eine Kri- performativ und autoreferenziell: Im Ma- tik der „a priori urteilenden Vernunft“ sein chen des anschaulichen Beispiels stellt wollte.26 Dass die menschliche Vernunft das Wissen sich selbst her, überprüft sich „a priori urteilend“ ist, das heißt, dass der zugleich selbst und bildet sich weiter. Zu- Mensch immer zur Entscheidung genötigt gleich stellt es eine Beziehung her – so- ist, dass er gar nicht umhin kann, als zu wohl eine Selbstbeziehung des Künstlers entscheiden – und damit ein Urteil zu set- durch sein Werk hindurch wie eine Be- zen, eine Unterscheidung und damit den ziehung zu anderen Betrachtern – durch Unterschied selbst zu machen. Die „Kritik Werk und Schrift hindurch. der Urteilskraft“ weist das so verstandene Das also heißt es: durch ein Werk Urteilen als eine apriorische (also notwen- die Kunst selbst zu erschaffen. Man kann digerweise immer stattfindende) Form aus, auch sagen: durch ein Kunstwerk eine als die eigentliche Mitte des menschlichen Lehre zu erteilen. Oder aber: eine Norm Denkens und zugleich als Grundlegung für setzen. Oder aber: ein Kunst-Urteil fällen. die anderen Vernunftformen, nämlich das Oder aber – „einen Unterschied machen“. theoretische Erkennen (reine Vernunft) und Ich möchte hier für die Behauptung eintre- das moralische, politische und geschichtli- ten, dass damit zugleich das Wesen des che Handeln (praktische Vernunft).27 Kants Lehrens im Allgemeinen beschrieben ist. Theorie des Urteilens ist daher notwendi- Jedes Lehren ist ein Urteilen – ein Urteil gerweise zugleich eine Kunsttheorie, die 558 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
aufzeigt, dass die Kunst immer ein Ent- Unterschied gemacht, das Urteil wird fak- scheiden, ein Unterschiede-setzen ist. tisch gesetzt. Das Recht wird gültig, es Aber wie hängen Urteilen und künst- wird „gebieterisch“. Ähnlich ist es im Be- lerisches Machen (Poiesis) genau zusam- reich des politischen Urteils.30 men? Nicht nur diese Frage steht hier zur Wenn wir all dies mithören, gerät Beurteilung (!), sondern auch die, in wel- unser Verständnis vom künstlerischen cher Beziehung das Lehren zum Urteilen Akt als einem Urteilen in die angemesse- und damit in einem zur Kunst steht. ne Dimension, zugleich damit aber auch Der Dichter und Kunstphilosoph Paul das Verständnis vom Akt des Lehrens. Valery hat einmal das tiefe Wort ausge- In dieses angemessene Verständnis des sprochen, dass die Kunst in ihrem Wesen Urteils muss ausdrücklich immer das vor- „gebieterisch“ sei.28 Das soeben disku- bereitende (und auch das nachfolgende) tierte Polykletsche Lehrwerk mit seinem Beurteilen einbezogen werden. Versteht normativen Anspruch zeigt das. Es bildet man das Urteil nach dem Paradigma des eine jahrtausendlange kunstgeschichtliche künstlerischen Urteilens in der sich-aus- Achse, um die sich die Kunst noch bis weit führenden Werkherstellung, so ist immer über den modernen Klassizismus gedreht das Spiel des Abwägens inbegriffen – ein hat – wenn auch in unendlichen Affirmati- „Spiel“, das auch Immanuel Kant in seiner onen, Variationen, Negationen und Revolu- „Kritik der Urteilskraft“ stark betont. Damit tionen. Der „Kanon“ des Polyklet war und geht einher das vergleichende Überlegen ist auf dieselbe spezifische Weise „gebie- im Als-Ob-Modus – ein Überlegen und terisch“, wie die Kunst insgesamt „gebie- Erwägen, das nicht nur der Werksetzung terisch“ ist: Indem er die Unterschiede vorausgeht, sondern ihr auch unbeachtet als differente Harmonie setzt, übt er eine der Endgültigkeit der Setzung immer noch Kraft aus, die nicht nur den Betrachter in anhaftet. In gewissem Sinn ist daher die Bann zieht, sondern auch zahllose weitere perfektionierende künstlerische Werk- Werke „inspiriert“ hat.29 setzung immer auch nur „vorläufig“ – sie Im juridischen Zusammenhang ist das eröffnet immer wieder Möglichkeitsräume Urteil die Rechtsprechung. Der juridische der Verbesserung.31 Im Hinblick auf die Sprechakt, der Rechtsspruch, das „iudi- Möglichkeiten der Verbesserung und Op- cium“ setzt durch das Wort (dicere) das timierung ist die Kunst immer unterwegs. Recht (ius) in Kraft und Gültigkeit. Das Sie muss die Möglichkeiten der Verbes- Urteil macht einen Unterschied, indem serung immer ermitteln durch Vergleich, es eine Festsetzung trifft, eine Grenze Ausprobieren, Überprüfen. Im Hinblick (in dem oben erörterten Sinn) zieht. Das auf dieses relationale Geschehen der Urteil wird durch die Richtenden „erteilt“, Gestaltung hat Jochen Krautz (2017) ge- die Grenze gezogen, nachdem eine Phase zeigt, dass die intersubjektiv verbindliche der „Beurteilung“ voranging. In der Phase „Geltung“ künstlerischer Werke sich nicht des Überlegens vor dem Urteilen werden nur auf den gemeinsam anerkannten Inhalt die Argumente der Ankläger und der Be- bezieht, sondern auch schon die Form der klagten gehört, in ihrer Überzeugungskraft Gestaltung betrifft32: In Form und Inhalt gegeneinander abgewogen, in ihrer Wahr- erheben Kunstwerke – und analog auch scheinlichkeit geprüft. Geprüft wird auch, Lehrwerke – den Anspruch auf intersub- ob der vorliegende Einzelfall unter die jektive Geltung und Anerkennung und gesetzlichen Beschreibungen und damit schlagen dadurch eine Brücke zwischen ins „Gebiet“ (ditio) der generellen Regeln Menschen, auch wenn diese Geltung/ fällt. Doch im Urteilsspruch wird dann der Gültigkeit eben immer, und das ist Kants 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 559 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Argument, exemplarisch und in gewissem einer Synthese zugeführt. Von Platon, Aris- Sinn problematisch ist. Künstler und Leh- toteles über Vitruv und Dürer, schließlich rende müssen das aushalten, ebenso wie bis hin zu Comenius wird der epistemi- Betrachtende und Lernende. sche Charakter des „Könnens“ mit einer Und noch etwas ist mit dieser Paral- begrifflichen Polarität beschrieben, die lelisierung des künstlerisch-poietischen jeweils verschieden ausformuliert wurde: Urteils und des lehrenden Urteils oder der Unterscheidet Platon den Könnens- und urteilenden Lehre mitzudenken: Im an- den Wissensaspekt noch mit den Begrif- gemessenen Verständnis des Lehraktes fen Techne und Episteme, so unterscheidet qua Lehrkunst ist immer das Beurteilen/ z.B. Vitruv fabrica (handwerkliche Ge- Abwägen inbegriffen. Das (Selbst-)Beur- schicklichkeit) und ratiocinatio (planvolle teilen sowohl des Lehrhandelns wie sei- Berechnung)35, Albrecht Dürer „Kunst“ ner Auswirkungen auf das Lernhandeln von „Gebrauch“. Immer deuten diese Be- ist notwendigerweise ein Konstituens von griffspaare auf dasselbe: Das fluide Kön- Lehren (und Lernen). nen, wie es der Techne/ars/Kunst eigen ist, ist nur unzulänglich in Form von lehr- barer Theorie zu fassen: Niemals kann die (d) Vierte hermeneutisches theoretische Explikation den praktisch- Schleife: ars et usus impliziten Kern des Könnens vollständig widerspiegeln oder gar ersetzen. Das Denkt man die Lehrkunst von der Kunst- Gebrauchswissen ist im Können verbor- lehre und das Lehrurteil vom Kunsturteil gen, und zwar wesenhaft verborgen.36 her, so ist klar: Wer lehrt, der/die macht So schreibt Albrecht Dürer am Beginn für Andere hörbar und sichtbar, was er/sie seines Lehrbuches über die Malkunst: weiß und kann. Er/sie erzeugt Wirkung, „…so ist die Kunst verborgen ohn´ den und zwar erfreuliche und belehrende Gebrauch“.37 Der Dürerforscher Erwin Wirkung. Das Können, das dieses Wir- Panofsky, der die theoretischen Schriften ken ermöglicht, wird einerseits von einem Dürers sehr tiefsinnig durchdacht und in- Wissen ermöglicht, das in der Philoso- terpretiert hat, hat darauf hingewiesen, phie „implizites“, „nicht-propositionales“, dass Dürer hier unter „Kunst“ das episte- „personales“, „praktisches“ oder „still- misch verfasste, theoretisch explizierte und schweigendes“ Wissen oder auch einfach „propositional“ lehrbare Wissen versteht: „Gebrauchswissen“ oder „Erfahrungs- „ars“ in der Form des Wissens. Unter dem wissen“ genannt wird.33 In den Bereichen „Gebrauch“ ist die flüssige „Ausübung“, von Pädagogik und Didaktik, namentlich der Fluss des Könnens zu verstehen.38 in der hermeneutischen Tradition, wird Wie Panofsky überzeugend zeigt, ge- zu Recht diese Dimension des dem Kön- hören in Dürers Kunstlehre „Kunst“ und nen „impliziten“ Wissens diskutiert.34 Es „Gebrauch“, ars et usus, zusammen wie ist eine Wissensdimension, die sich dem Mann und Frau. Nur zusammen sind sie theoretischen Zugriff von Lehrsätzen und vollständig und schöpferisch. In seinem Beschreibungen, eben dem der kogniti- unfassbar tiefsinnigen „Melancholia“-Kup- ven und sprachlichen Explikation entzieht. ferstich (1515) hat Dürer – so Panofsky Im Phänomen dieses Sich-der-sprach- – in den Figuren des fleißig zeichnenden lichen-Vermittlung-Entziehens lauert die Kindes und der schwer nachdenkenden Gefahr dichotomischer Polarisierung. Genius-Frau die Pole von ars (Wissen) Die ältere Kunstlehre hat diese Polari- und usus (Ausübung) dargestellt39 und sierung allerdings vermieden, sie vielmehr zugleich gezeigt, was geschieht, wenn sie 560 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
auseinandertreten: Das Wissen der Kunst Entscheidung: Auch hier geht es um De- gerät in Stillstand, die Ausübung sinkt auf tailentscheidungen (Mikrodidaktik) wie um den Stand des unbewussten Treibens Entscheidungen über das Ganze (Gesamt- eines Kindes herab. Dürer selbst aber er- curriculum, Bildung als Lebensaufgabe), arbeitete sich auf dem Weg zur Meister- es geht um einen sinnvollen Gesamtzu- schaft die herausragende Fähigkeit nicht sammenhang (Gemeinwesen) – auch im nur zur Ausübung der Kunst, sondern auch Rückblick in die Geschichte und Vorblick zur Formulierung der Kunst als Lehre. in die Zukunft. Mithin – so lässt sich folgern – lässt Wiewohl jedes Urteil sich immer aufs sich auch die Kunst nur in der Doppelfi- Einzelne und Besondere bezieht, erfor- gur von flüssig-gekonnter Ausübung und dert es doch immer gleichermaßen den begrifflicher Durchdringung lehren. Reißt Ausblick auf das Ganze und auf den Sinn man die Pole auseinander, wird die Kunst des Ganzen, was durch die Begriffe Ge- unlehrbar. Leicht lässt sich – neben Vi- meinsinn (der zunächst ja nichts anderes truvs Unterscheidung zwischen fabrica meint als die Fügung der Einzelreize der und ratiocinatio – auch Polyklets doppelter einzelnen Sinne zu einem Wahrnehmungs- Lehrgestus des Kanons erkennen. Wel- ganzen, später aber im erweiterten Sinn che Sprengkraft dieses Verständnis von als sensus communis im neuzeitlichen Lehrkunst für das heute dominierende Sinne verstanden wird), Gemeinwesen, „epistemische“ Verständnis empirischer Zukunft und letztlich das für alle Gute/to Bildungswissenschaft hat, die sich in der Eu angezeigt ist. Dennoch kann das Ur- Lehrerbildung an die Stelle von Allgemei- teil nicht das Allgemeine selbst zum Ge- ner Pädagogik, Allgemeiner Didaktik und genstand haben. Daher ist es auch nicht Erziehungswissenschaft insgesamt ge- lehrbar, nicht im Sinn einer Methodenlehre setzt hat, das erspare ich mir an dieser oder scientia fassbar, sondern immer nur Stelle auszuführen.40 von exemplarischer Gültigkeit.41 Es gehört zur seit Jahrtausenden ge- wachsenen Weisheit der europäischen (e) Fünfte hermeneutische Kunstlehren (und in den chinesischen Schleife: Polaritäten Kunstlehren ist es übrigens genauso42), und Balancen dass das Können der Kunst nicht aus striktester Regeldurchführung hervorgeht, Der Urteilsakt hat in der Kunstlehre wie in sondern aus der freien Anwendung im der Lehrkunst dieselbe Bedeutung: Er ist Einzelfall. Dazu gehört die umsichtige Er- der Dreh- und Angelpunkt, in dem Können kenntnis des jeweils Besonderen. Insofern und Wissen in einer konkreten Situation haben auch alle „Lehren“ der Kunst und zusammenkommen. Der Urteilsakt äußert auch der als Lehrkunst verstandenen Päd- sich in jeder künstlerischen Entscheidung, agogik immer nur exemplarische Gültigkeit. die von der Detailentscheidung bis ins Wenn Kant im einzigartig scharfsinnigen § große Ganze immer den Gesamtzusam- 60 seiner „Kritik der Urteilskraft“ schreibt, menhang im Auge hat – auch im Rückblick es gebe keine wirkliche „Methodenlehre“ in die Tradition und im Vorblick auf die zu- der Urteilskraft43, sondern immer nur eine künftige In-Gebrauch-Nahme des Werkes Übung des Urteilsvermögens an Beispie- durch andere Menschen. len, spricht er den entscheidenden Punkt In all diesen Hinsichten und in gleicher an, der die Bestimmung der Lehrkunst (im Weise äußert sich auch die Urteilsfähigkeit Unterschied zu einer „Erziehungswissen- in der pädagogischen und didaktischen schaft“) betrifft. 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 561 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Kants Argumentation nimmt hier eine in der Musik das legendäre „Dur“ und im Umfeld des angeblich so szientifisch „Moll“), Ordnung und Unordnung, Har- orientierten Zeitalters der Aufklärung monie und Disharmonie, Regelmäßigkeit überraschende Wendung: Wir haben und Unregelmäßigkeit, Sorgfalt und Los- den gekonnten und geregelten Umgang lassen, Grenzöffnung und Grenzziehung, mit unserem Urteilsvermögen einzuüben, Konformismus und Nonkonformismus, Dif- und zwar dadurch, dass wir uns mit den ferenz und Identität, Vereinzelung und Ge- Urteilen anderer Menschen auseinander- meinsamkeit, Virtuosität und Brutalismus, setzen. In der Kunst sind das vornehmlich Akademismus und Anti-Akademismus, die Werke der Tradition. In der Pädagogik Klassizismus und Primitivismus, Realismus sind es vornehmlich die Lehrpraktiken er- und Idealismus, Impressionismus und Ex- fahrener Könner. Die Grundlagen eines pressionismus, Fug und Unfug, Sagbares disziplinierten Urteilens aber sind für Kant und Unsagbares, Lehrbares und Unlehr- das „allgemeine Teilnehmungsgefühl“ (wir bares, Ernst und Humor, actio und passio, würden heute sagen: die Empathiefähig- Ethos und Pathos usw., und – natürlich keit) und die „innigste und allgemeinste – allem zuvor und alles übergreifend und Mitteilungsfähigkeit“ (wir würden heute einbegreifend: Einheit und Vielfalt. Man sagen: das kommunikative Verhalten). Wir könnte auch sagen: Jedes Kunsturteil ist müssen also die Urteilskraft an Beispielen, das Austragen einer gespannten Harmo- Vorbildern und im Austausch mit Andern ein- nie zwischen den genannten (und vielen üben und disziplinieren. Nur im gemeinsa- weiteren) Polaritäten, oder auch: die ge- men Aushandeln und Einüben können wir konnte und angemessene situative Balan- eine vernünftige Urteilskultur entwickeln, ce zwischen diesen Polaritäten. die einerseits das nötige „Spiel“ hat, ande- rerseits aber doch auch klar geregelt ist.44 Die europäischen Kunstlehren (und in (f) Fazit vergleichbarer Weise auch die chinesi- schen) beruhen im Wesentlichen darauf, Die Begrifflichkeiten der Kunstlehren der dass sie das offene und zugleich geregelte verschiedenen Zeiten und Kulturen sind Spiel des Urteilens an „dialektischen“ Pola- reich und vielfältig. Das künstlerische ritäten ausrichtet. Das künstlerische (Be-) Können und Wissen um die Balancen im Urteilen und Entscheiden orientiert und Umgang mit Polaritäten und arbiträren positioniert sich – das zeigt sich in allen Wertschätzungen sind tief und die Erfah- Kunstlehren – auf dem Weg zum Werk in rungen mit komplexen Entscheidungen polaren Entscheidungsspielräumen – stets sind von langer Hand gewachsen. Die Leh- geleitet von den Zielen der vorläufigen ren der Künste in allen Zeiten und Kulturen Perfektion und exemplarischen Gültigkeit. spiegeln die Nöte und Freuden eines sich Das klingt vielleicht nach einer nebelhaften in Beweglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten „ästhetischen“ Offenheit. Aber Offenheit und Abschätzbarkeiten (er)findenden frei- ist nur die eine Seite des künstlerischen en Entscheidens. Diese Lehren haben es Denkens: Offenheit und Klarheit, Offen- mit dem Einüben und Ausprobieren von heit und Entschiedenheit, Offenheit und richtigen Balancen, richtigen Abwägun- Festigkeit, Offenheit und Geschlossenheit gen zu tun – oft im Als-Ob-Modus, oft aber gehören stets eng zusammen. Die Liste auch in Wirklichkeit. Künstler sind also in der Nennungen ließe sich weiter ausspan- gewisser Weise Spezialisten für die Abwä- nen: Flüchtigkeit und Klarheit, Lässigkeit gung zwischen Vielfalt und Einheit, Offen- und Disziplin, Härte und Weichheit (z.B. heit und Geschlossenheit, Fraglosigkeit 562 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und Reflexion – immer und und immer wie- Blankenheim/Ulrich Heinen (Hrsg.): Kunst- der – und es kommt auf die Gekonntheit lehre/Lehrkunst. Kunstlehre als Paradigma von Bildung, Erziehung und Vermittlung. der Balance an. Ihr Wissen und Können IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik. Bd. 10. ist daher eindeutig ein anderes als das von München 2021 (im Erscheinen). In knapper Wissenschaftlern, Politikern, Philosophen Zusammenfassung: Björn Blankenheim: Von oder Priestern – dessen müssen sie sich der Kunst, Unterricht zu planen. In: IMAGO. immer bewusst sein, sonst geht es schief. Zeitschrift für Kunstpädagogik, Heft 8/2019: Und die Lehrenden? Im vorliegen- Unterricht planen. München, S. 16-25; Jo- den Text werden sie programmatisch in chen Krautz: Kunstlehre als Entwurfsmo- dell für Kunstunterricht oder: Kunstdidaktik die Nachbarschaft der Künstler gerückt. ad fontes! In: BDK-Mitteilungen 3/2021, S. Damit bewegt sich der hier vorgetragene 20-25. Siehe auch schon früher Ulrich Hei- Gedanke in weiter Distanz zur technolo- nen: Historische Kunstlehre als Grundlage gisch-wissenschaftlichen Verengung und von künstlerischer/gestalterischer Arbeit, Entstellung der Pädagogik. Stattdessen Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und entsteht das Bild einer Abwägungs- und Pädagogik (abstract), Wuppertal 2014 Urteilskunst, die im Grunde allen Men- [https://www.kolbi.uni-wuppertal.de/de/ erste-foerderphase/a1-curriculare-weiter- schen (seit den Anfängen der Menschheit) entwicklung-mit-projektbasiertem-studieren/ bekannt ist, die sich mit der Erziehung und historische-kunstlehre-als-grundlage-von-ku- Belehrung von Kindern und Jugendlichen enstlerischergestalterischer-arbeit-kunstwis- beschäftigt haben. Wenn es also aus die- senschaften-kunstpaedagogik-und-paedago- ser Sicht keine „Wissenschaft“ gibt, die gik.html]. die immer wieder nötigen Abwägungen 2 Vgl. z.B.: Andreas von Prondczynsky: Pädagogik und Poiesis. Eine verdrängte und Urteilsakte anleiten könnte, so gibt es Dimension des Theorie-Praxis-Verhältnisses. doch Werte und Tugenden, die hier helfen Opladen 1993; vgl. auch die Marburger können – z.B. die Tugend, die Albrecht Schule um Christoph Berg mit ihrem Leitbe- Dürer in seinem Lehrwerk eigens als einen griff des „Lehr(kunst)stücks“. tragenden Grund der Kunst nennt: Behut- 3 Vgl. zu diesen Unterscheidungen ausführlich: samkeit.45 Ein Begriff, mit dem auch Leh- Die Kunst und ihre Lehre. Fachsystematik – rende etwas anfangen können – und der Bildungssinn – Didaktik. Teil I: Musen und Techne. IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik. auch mit Kants Grundvoraussetzungen Bd. 8/1. München. des Urteilsvermögens, der Mitteilungsfä- 4 Wenn im Folgenden das Wort „Technik“ higkeit und der Teilnahmefähigkeit in Zu- fällt, ist es vornehmlich im ursprünglichen sammenhang steht. Sinne von techne zu verstehen, nicht im Sinn von „Technologie“. Martin Heideggers sehr prinzipielle Technikkritik ist also immer mit- zuhören. Das sich in weiten Feldern der Er- Anmerkungen ziehungswissenschaften immer wieder breit machende technologische Verständnis von 1 Dankend möchte ich drei für mich wirklich Lehre (Kybernetik, Classroom-Management, wegweisende Forschungstagungen zum Evaluation, Digitalisierung usw.) wird hier da- Thema „Kunstlehre – Lehrkunst“ (Winter gegen abgelehnt. 2017, Frühjahr 2018 und Spätsommer 2018) 5 Vgl. hierzu ausführlich die Begründung und erwähnen, die von den Wuppertaler Kolle- Herleitung des Begriffs der „Kunst“/Techne gen organisiert wurden (Björn Blankenheim/ in meiner Abhandlung „Die Kunst und ihre Ulrich Heinen) und denen ich sehr wertvolle Lehre“, München 2019. Gespräche mit vielen KollegInnen und frucht- 6 Vgl. hierzu näher Wolfgang Wieland: Aris- bare Anregungen verdanke. toteles und die Idee der poietischen Wis- Zur ausführlichen Diskussion vgl. den im Er- senschaft. Eine vergessene philosophische scheinen begriffenen Tagungsband: Björn Disziplin? In: Thomas Grethlein/Heinrich 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 563 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Leitner (Hrsg.): Inmitten der Zeit. Beiträge zur akroamatische Dimension der Hermeneutik. europäischen Gegenwartsphilosophie. Fest- Frankfurt am Main 1990. schrift für Manfred Riedel. Würzburg 1996, Niemeyer kennzeichnet die „akroamatische S. 479–505. Lehrart“ als Form der Lehrkunst, die über den 7 Vgl. z.B. Rudolf Löbl: TEXNH – Techne. Un- zusammenhängenden mündlichen Vortrag tersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes des Lehrenden wirkt und der „dialogischen in der Zeit von Homer bis Aristoteles. Band 1: (oder sokratischen) Lehrart“ entgegenge- Von Homer bis zu den Sophisten. Würzburg setzt ist. Der für uns heute ungewöhnliche 1997; Nadja J. Koch: Techne und Erfindung Ausdruck hat tiefe Wurzeln in der Kunstleh- in der klassischen Malerei. München 2000. re. Der mündliche Vortrag ist gebunden an 8 Vgl. anhand archäologischer Beispiele: Mi- die Autorschaft des Lehrers, an sein Ethos riam Noël Haidle/Duilio Garofoli/Sebastian (Haltung, Charakter) und Pathos (Leiden- Scheiffele/Regine Elisabeth Stolarczyk: Die schaft, Empfindsamkeit, affektive Beweg- Entstehung einer Figurine? Material, En- lichkeit). Nicht Anschauung und Evidenz gagement und verkörperte Kognition als Aus- sind seine Wirkkräfte, sondern die die Hörer gangspunkt einer Entwicklungsgeschichte ergreifende Darstellung aus dem Mund der symbolischen Verhaltens. In: Etzelmüller, Gre- Autorität. Es nimmt angesichts der positivis- gor/Fuchs, Thomas/Tewes, Christian (Hrsg.): tischen „Evidenzorientierung“ in den Erzie- Verkörperung – eine neue interdisziplinäre hungswissenschaften nicht Wunder, dass Anthropologie. Berlin/Boston 2017, S. 251- die akroamatische Lehrform heute nicht mehr 280; Marlize Lombard/Miriam Noël Haidle: geschätzt wird. Im Gegenzug sollte überlegt Thinking a Bow-and-arrow Set: Cognitive Im- werden, ob nicht dieses Kunstmittel gerade plications of Middle Stone Age Bow and Sto- die entscheidende Methode der Lehre ist. ne-tipped Arrow Technology. In: Cambridge Kant z.B. jedenfalls hat sich in bestimmten Archaeological Journal 22:2, 2012 S. 237– Zusammenhängen, z. B. der ethischen Be- 64; vgl. auch Horst Bredekamp: Der Faust- lehrung, ausdrücklich auf die Tradition der keil und die ikonische Differenz. Für Gottfried akroamatischen Darstellung bezogen. Darauf und Margret Boehm. In: Franz Engel/ Sabine nimmt Manfred Riedels hermeneutische Re- Marienberg (Hrsg.): Das entgegenkommen- flexion der „Akroamatik“ Bezug. de Denken. Verstehen zwischen Form und 12 Zur Bedeutung des Begriffs des „Vollbrin- Empfindung. Berlin 2016, S. 105-118. gens“ in der Kunstlehre vgl. Sowa 2019 (vgl. 9 Vgl. hierzu allgemein Michael Tomasello: Die Anm. 3), S. 55 ff. und 75 ff. kulturelle Entwicklung des menschlichen 13 Vgl. hierzu Michael Hampe: Die Lehren der Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frank- Philosophie. Eine Kritik. Erweiterte Ausgabe. furt am Main 2006. Berlin 2016. 10 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hrsg. von Franz G. 14 Vgl. Johann Amos Comenius: Große Didak- Sieweke. München 1980; Aristoteles: Poe- tik. Die vollständige Kunst, allen Menschen tik. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart alles zu lehren. (1657). 2. Aufl. Stuttgart 1982; Marcus Tullius Cicero: De oratore – 1960; ausführlich werden diese Zusammen- Über den Redner. Übers. und hrsg. von Ha- hänge verhandelt in Blankenheim/Heinen rald Merklin. Stuttgart 1976; Marcus Fabius 2021 (vgl. Anm. 1). Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf 15 Es gibt allerdings auch „absolute“ Textformen Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. – etwa in der konkreten Poesie –, die nicht 2 Bände. Darmstadt 1972; Heinrich Laus- darauf angelegt sind, fremde Überzeugun- berg: Handbuch der literarischen Rhetorik. gen zu bewegen, sondern rein in sich stehen München 1960; Ernst Robert Curtius: Euro- wollen – ohne Adressaten. Ob dies logisch päische Literatur und Lateinisches Mittelalter. überhaupt möglich ist oder eine contradictio 11. Aufl. Tübingen/Basel 1993. in adiecto, kann hier nicht erörtert werden. 11 Vgl. hierzu August Hermann Niemeyer: 16 Zum Zusammenhang von „Zeigen“ und Kunst Grundsätze der Erziehung und des Unter- vgl. Gottfried Boehm/ Sebastian Egenhofer/ richts – für Eltern, Hauslehrer und Schulmän- Christian Spies (Hrsg.): Zeigen. Die Rhe- ner. Halle 1802. Hierzu gibt es grundlegende torik des Sichtbaren. München 2010; vgl. philosophischen Darstellungen bei Man- auch Sowa 2019 (vgl. Anm. 3); zum Zusam- fred Riedel: Hören auf die Sprache. Die menhang von „Zeigen“ und „Lehren“: Klaus 564 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung: Einbildungskraft und Vorhersehungsvermö- Grundriss der Operativen Pädagogik. Pader- gen im Urteil hervorhebt (vgl. S. 104 ff.), born (2011. sowie den Zusammenhang zwischen dem 17 Vgl. Hampe 2016 (Anm. 13), besonders einzelnen Urteilsakt und dem Gemeinsinn S. 15-32 und 343 ff. (vgl. S. 92 ff.). 18 Vgl. dazu umfassend Herbert Beck/ Peter C. 28 Vgl. Paul Valery: Tanz, Zeichnung und Degas Bol/ Mareike Bückling (Hrsg.): Polyklet, der (1938). In: Paul Valery: Werke. Frankfurter Bildhauer der griechischen Klassik. Katalog Ausgabe in 7 Bänden. Band 6: Zur Ästhetik Liebieghaus Frankfurt am Main. Mainz 1990. und Philosophie der Künste. Hrsg. von Jür- 19 Das heißt nicht, dass sie von allen direkt gen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt am Main nachgeahmt wurde, sondern vielmehr, dass 1995, S. 259-351, bes. S. 335. sich die folgenden Künstlertraditionen darauf 29 Zur Rede von der „Kraft“ und „Macht“ der bezogen – durchaus auch bin negativer Form. Kunst vgl. z.B. David Freedberg: The Power So generierte die „doktrinäre“ Kanonik des of Images. Studies in the History and The- Polyklet unmittelbar den viel weicheren und ory of Response. Chicago/London 1989; spielerischeren Stil von Phidias, Praxiteles, Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin Lysipp usw. In ihrem Werk bildete sich die 2013; Horst Bredekamp: Der Bildakt. Berlin Kunst fort, getrieben vom Anspruch auf eine 2015. Verbesserung der Wirkung: Mehr Weichheit, 30 Vgl. umfassend Arendt 1982 (Anm. 25); mehr Beweglichkeit, mehr Natürlichkeit, mehr Roland Beiner: Hannah Arendt über das Ur- Heiterkeit… teilen. In: Arendt 1985, S. 115-220; Ernst 20 Plinius: C. Plini Secundi naturalis historiae Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen libri XXXVII. Edidit Carolus Mayhoff. Bd. 1-5. Urteilskraft. Stuttgart 1977. Den Hinweis auf Leipzig 1892-1909, 34. 55-56. Ich verdan- die verdienstvolle philosophische Arbeit von ke diesen ungemein interessanten Hinweis Ernst Vollrath auf dem Gebiet der Urteilskraft Nadia J. Koch. Vgl. auch Nadia J. Koch: Pa- verdanke ich Ulrich Heinen, Wuppertal. radeigma. Die antike Kunstschriftstellerei als 31 Vgl. zum Begriff der „vorläufigen Perfektion“ Grundlage der frühneuzeitlichen Kunsttheo- in der Kunsttheorie ausführlicher Sowa 2019 rie. Wiesbaden 2013, S. 75-85. (Anm. 3), S. 176 ff. 21 Vgl. Thomas Schirren/ Nadia J. Koch: Fü- 32 Jochen Krautz: Gestalten als Geltungsprüfung. gung zur Einheit: Zu Polyklet Frg. B 1 D.-K. Zur konstitutiven Bedeutung von Relationalität In: Hermes, 127. Bd., H. 3 (3rd Qtr., 1999). für den Gegenstand der Kunstpädagogik. In: S. 263-273. Krautz, Jochen (Hrsg:) (2017): Beziehungs- 22 Vgl. hierzu Nadia J. Koch: Grenzerkundung weisen und Bezogenheiten. Relationalität als System. Virtuosität und Innovation im in Pädagogik, Kunst und Kunstpädagogik. Techne-Konzept. In: Björn Blankenheim/Ul- IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik. Schriften- rich Heinen (Hrsg.): Kunstlehre/Lehrkunst. reihe IMAGO – Forschungsverbund Kunstpä- Kunstlehre als Paradigma von Bildung, Er- dagogik. Bd. 4. München 2017, S. 529-558. ziehung und Vermittlung. München 2021 (im 33 Vgl. zur Diskussion dieser Wissensform: Erscheinen). Hans-Georg Gadamer: Praktisches Wis- 23 Vgl. hierzu Schirren/Koch 1999 (vgl. Anm 21). sen (1930). In: Gesammelte Werke, Bd. 5: 24 Albrecht Dürer: Schriften und Briefe. Hrsg. von Griechische Philosophie I. Tübingen 1985, Ernst Ullmann. 6. Aufl. Leipzig 1993, S. 117. S. 230-238; Polanyi, Michael: Personal 25 Vgl. hierzu Hannah Arendt: Das Urteilen. Knowledge. Toward a post-critical Philosophy Texte zu Kants Politischer Philosophie. Mün- (1958). Chicago 1974; Wolfgang Wieland: chen/Zürich.Arendt 1982, S. 157 ff. Platon und die Formen des Wissens. Göttin- 26 Vgl. hierzu Manfred Riedel: Kritik der a priori gen 1982. urteilenden Vernunft. Kants Überwindung des 34 Vgl. z.B. Jürgen Budde/ Maud Hietzge/ Anja Begründungsdenkens der neuzeitlichen Me- Kraus/ Christoph Wulf (Hrsg.): Handbuch taphysik. In: Manfred Riedel: Urteilskraft und Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung. Sozialistion und Lernen. Weinheim/Basel Frankfurt am Main 1989, S. 11-43. 2017. 27 Vgl. hierzu auch Arendt 1982 (Anm. 25), 35 Vitruv: Zehn Bücher über Architektur. die besonders auch den Anteil von Darmstadt 1964, S. 23. 5 / 2021 Pädagogische Rundschau 565 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
36 Vgl. ausführlicher und in verschiedenen Pers- Fachlichkeit von Bildung. Zur zentralen Stel- pektiven Hubert Sowa: Zeigen und Verbergen lung der Fachlichkeit in der Pädagogik aus- in der Techne. Kunstlehre und Lehrkunst. In: führlich Sowa 2019 (Anm. 3), Sowa 2021 Pompe, Anja (Hrsg.): Bild und Latenz. Impul- a, b,c (Anm. 36). se für eine Didaktik der Bildlatenz. München 41 Vgl. Arendt 1982 (Anm. 25), S. 110 f. in 2019, S. 107-122; ders.: Welche verborgene Bezug auf § 22 der „Kritik der Urteilskraft“. Kunst formuliert sich in der Kunstlehre? In: 42 Vgl. François Jullien: Das große Bild hat keine Blankenheim/Heinen 2021 (Anm. 1); ders.: Form oder Vom Nicht-Objekt durch Malerei. Selbstreflexion des Könnens durch Innewer- München 2005. den. Zu einer entscheidenden Voraussetzung 43 Wenn heute oft didaktische „Methoden“ kunstdidaktischer Lehre. In: Tillmann F. Kreu- wie wissenschaftlich gesicherte technisch- zer/Stine Albers (Hrsg): Selbstreflexion. Lud- modulare Bausteine gehandelt werden, aus wigsburger Hochschulschriften TRANSFER, denen in Variationen beliebige Lehr-Lern-Set- Bd. 21. Baltmannsweiler 2021, S.175-187; tings gebaut werden können, so handelt es ders.: Das Werk in der Werkstatt und das sich hier um eine pädagogische Technologie, Werk in der Kunstwissenschaft. Zwei For- die sich an der organischen Natur und am men des Wissens vom Kunstwerk. In: Jo- Beziehungswesen von Lehre vergreift. hannes Kirschenmann/Frank Schulz (Hrsg.): 44 Vgl. hierzu auch meine umfassende Dar- Fokussierungen. Kunst- und Bildgeschichte stellung in: Gemeinsam vorstellen lernen. als kunstpädagogisches Bezugsfeld. Kunst. Theorie und Didaktik der kooperativen Vor- Geschichte. Unterricht. Band 1. München stellungsbildung. Kunst.Pädagogik.Didaktik. 2021, S. 178-196. Schriftenreihe IMAGO – Forschungsverbund 37 Dürer 1993 (Anm. 24), S. 202. Kunstpädagogik, Bd. 2. München 2015. 38 Vgl. Erwin Panofsky: Dürers Kunsttheorie – 45 Vgl. Dürer 1993 (Anm. 24), S. 107. Dürer vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunstthe- nennt im Grunde an dieser Stelle zwei orie der Italiener. Berlin 1915, S. 166 ff. Schlüsseltugenden: „Gottesforcht und Be- 39 Vgl. Erwin Panofsky: Das Leben und die hutsamkeit“. Auch dazu wäre noch viel zu Kunst Albrecht Dürers (1943). München sagen. 1977, S. 219 ff. 40 Die empirisch verengten Bildungswissen- schaften negieren vor allem den Aspekt der 566 Pädagogische Rundschau 5 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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