Das Urteil in der Ausübung der Lehrkunst - Notizen aus der Perspektive der Kunstlehre - Ingenta Connect

Die Seite wird erstellt Norbert Geisler
 
WEITER LESEN
PR 2021, 75. Jahrgang, S. 553-566
                        © 2021 Hubert Sowa - DOI https://doi.org/10.3726/PR052021.0052

                                               Hubert Sowa

     Das Urteil in der Ausübung der Lehrkunst
               Notizen aus der Perspektive der Kunstlehre

Dass die Didaktik – als „Lehrkunst“ ver-                        Doch wiederum: Was heißt das? Wel-
standen – aus der Tradition der Künste                      ches Verständnis von Techne/Poiesis/
und nicht aus der der Wissenschaften im                     “Kunst“ soll hier zu Grunde gelegt wer-
modernen Sinne entstammt, ist eine Tat-                     den? Es ist zunächst strikte darauf zu
sache, die ich hier ohne große Diskussi-                    achten, das Verständnis der „Kunst“ von
on voraussetze1, eine Tatsache allerdings,                  ihrem neuzeitlich etablierten ästhetischen
die im Zeitalter des Hypes um (vorgeblich)                  Verständnis fernzuhalten, sie vielmehr in
„evidenzbasierte“ Erziehungswissenschaft                    der ursprünglicheren Form zu begreifen,
wie ein Fremdkörper wirken mag.                             nämlich als Techne – so wie das z.B. in
    Doch die Einsicht in die „kunsthafte“                   der nicht-mehr ästhetischen Tradition von
Verfassung des Lehrens ist nie wirklich                     Hegel, Schelling, Nietzsche, Heidegger
zum Verschwinden gebracht worden. Re-                       und Gadamer getan wurde. Auch das ist
gelmäßig wird sie in Erinnerung gebracht                    hier vorausgesetzt. Kommt man (1) von
– von Pädagogen, die stark in der Lehr-                     diesem ursprünglichen Verständnis der
praxis verwurzelt oder/und auch stark der                   „Kunst“ her, und hält auch (2) die irrtüm-
hermeneutischen-historischen Reflexion                      lichen Assoziationen von Techne zum mo-
verbunden sind.2                                            dernen Verständnis von „Technik“ fern4,
    Aber was heißt es genauer, das Ver-                     dann tun sich reiche Möglichkeiten auf, das
ständnis von „Lehre“ konsequent aus der                     Verständnis von „Lehrkunst“ tiefgründig zu
Idee von Kunst/Techne/Poiesis abzuleiten?                   durchdenken – zum Teil mit sehr radika-
Es heißt allem zuvor, Pädagogik/Lehre/                      len Folgen. Dann macht es auch wirklich
Didaktik nicht der Sphäre der Theoria                       einen Unterschied, ob man das Lehren als
bzw. der „Wissenschaft“ zuzuordnen,                         Kunst oder als Wissenschaft versteht. Der
aber auch nicht der Praxis, die oft als                     weite Horizont eines tieferen Verständ-
einzige Gegenmöglichkeit vermutet wird.                     nisses von „Lehrkunst“ kann im vorlie-
Die Techne/Poiesis ist ein Drittes – ab-                    genden Zusammenhang nicht umfassend
seits der oft beredeten Theorie-Praxis-Di-                  erörtert werden. Ich beschränke mich im
chotomie, ein Drittes mit eigener Dignität                  Folgenden nur auf einige wenige Aspek-
und eigener Gesetzlichkeit: Wohl eine                       te, die ich in einer Folge hermeneutischer
Art von Handeln-Können (wie die Praxis),                    Schleifen entfalte. Ich möchte herausstel-
aber doch spezieller und präziser: ein                      len, dass die Lehrkunst – wie die Künste
Machen-Können.3                                             allgemein – prinzipiell und durchgehend

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 553

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
von Strukturen des Urteilens bestimmt                       diese Künste auch gelehrt werden müs-
sind: Technisch-poietische Gestaltungs-                     sen. Damit beginnt die Geschichte der
entscheidungen sind notwendigerwei-                         Kunstlehren eigentlich im Neolithikum,
se disjunktiv: Ich mache etwas so und                       denn die dort auftretenden Kunstfertig-
nicht anders. Künste sind a priori immer                    keiten der Stein-, Elfenbein- und Holzbe-
urteilend. Daher ist das Urteil auch qua                    arbeitung, auch die Künste der Jagd, der
"Beurteilung" in der Idee der Lehrkunst im-                 Nahrungsgewinnung und -zubereitung,
pliziert. Auch das hört man vielleicht nicht                der Landschaftskunde, des Feuerma-
gerne in Zeiten, wo „individualisiertes“ und                chens, des Heilens, der Geburtshilfe usw.
„selbstorganisiertes“ Lernen für der päd-                   manifestieren sich schon in dieser Zeit so
agogischen Weisheit letzten Schluss ge-                     komplex und auf so hohem Niveau, dass
halten werden: Es hört sich „hart“ an. Das                  sie nur in Generationenfolgen ausgebildet
soll und muss es auch. Nur dann macht es                    worden sein konnten8, mit Hilfe des vom
einen Unterschied.                                          Anthropologen Michael Tomasello so be-
                                                            nannten „Wagenhebereffektes“9. Dieser
                                                            beruht darauf, dass sich entwickelnde
(a) Erste hermeneutische                                   oder auch schon fertig entwickelte Kennt-
     Schleife: Künste und Lehren                            nisse und Leistungen im Rahmen einer
                                                            Kultur durch ein System kultureller Wei-
Mein Bezugsrahmen ist die Tradition der                     tergabe gesichert und vermehrt werden,
Kunstlehre5. Faktisch gibt es eine solche                   so dass jede künftige Generation gleich-
Tradition in Europa – beginnend mit den                     sam „auf den Schultern der Vorgänger
griechischen Antike –, allerdings gibt es                   stehend“ weitermachen kann und nicht
nicht eine monolithische Kunstlehre, son-                   mit dem Lernen immer wieder von den
dern eine Fülle historischer Beispiele von                  ersten Anfängen her beginnen muss.
verschiedenen Kunstlehren – sowohl auf                      Künste generieren sich in diesen Über-
dem Gebiet der Praxis, also des Handelns                    nahmen. Auch die Diversität der Künste
(z.B. Heilkunst, Navigationskunst, Rede-                    geht auf sich-differenzierende Traditionen
kunst, Vermessungskunst usw.), wie auf                      von Übernahmen zurück, wobei die vielen
dem der Poiesis, des Machens und Herstel-                   verschiedenen Künste sich evolutionär
lens (z.B. Baukunst, Malerei, Töpferkunst                   auseinander entwickelt haben und durch
usw.). Die Traditionen der verschiedenen                    vielerlei Verwandtschaftsbeziehungen un-
Kunstlehren pflegen wir als beginnend in                    tereinander verbunden sind. Die Lehren all
der griechischen Antike zu denken, wo vor-                  dieser verschiedenen Künste können sich
nehmlich Aristoteles die Unterscheidungen                   nur sich aus den Künsten selbst generie-
zwischen Poiesis und Praxis, Techne und                     ren: „Kunst“ und „Lehre“ sind in keiner
Theoria usw. begrifflich ausgearbeitet hat.                 Hinsicht trennbar, sondern in einem rekur-
Innerhalb seines philosophischen Lehrsys-                   siven Abhängigkeitsverhältnis aufeinander
tems hat er mit der Poetik und der Rhetorik                 verwiesen. Die Frage, wer zuerst da ist,
zwei solcher Kunstlehren (Technai) ausfor-                  die Lehre oder die Kunst, ist wie die Frage
muliert, allerdings in unvollendeter Form6.                 nach der Henne und dem Ei.
Doch das beruht schon auf einer langen                          Noch ein bemerkenswerter Sachver-
Vorgeschichte – sowohl auf dem Gebiet                       halt ist in Erinnerung zu rufen: „Kunst“ und
praktischer Ausübung als auch dem der                       „Lehre“ stimmen in der Eigenschaft ihrer Au-
schriftlichen Fixierung.7                                   toreferenzialität überein. Das betrifft auch
    Es liegt auf der Hand, dass überall,                    den hier niedergeschriebenen und damit
wo Künste/Technai ausgeübt werden,                          „vorgetragenen“ Text. Er verhandelt – vor

554                                      Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
den Ohren und Augen von Lesern – das                        sie habe den doppelten Zweck des movere
Verhältnis von „Kunst“ und „Lehre“. Der                     (also des Bewegens) und des docere (des
Text besteht aus geordneten Buchsta-                        Belehrens) und darüber hinaus auch noch
ben, Wörtern, Sätzen und Kapiteln. Die                      den des delectare (des Erfreuens) – denn
Ordnung all dieser Teile ist sinnhaft ge-                   ein irgendwie „erfreulicher“ Text ist besser
gliedert. Er erfüllt die Definition eines                   geeignet, die Überzeugungen Anderer in
„Kunstproduktes“. Die Künste des Fügens                     Bewegung zu setzen und zu verändern
von sinnhaft geordneten Sätzen und Ar-                      als ein ganz und gar sachlich-neutraler
gumenten heißen seit der griechischen                       Text, wie etwa das Skript eines Compu-
Antike Grammatik, Logik, Dialektik, Poetik                  terprogrammes. Das „Hervorrufen“ von
und Rhetorik und wurden systematisch                        Überzeugungen von Seiten eines Spre-
gelehrt, schon früh sogar im System der                     chers/Autors und das Sich-Einstellen von
allgemeinen Bildung10. Im Verfertigen die-                  übereinstimmenden Empfindungen und
ses Textes, in seiner „elocutio“, also Aus-                 Überzeugungen von Seiten eines Hörers/
formulierung, die zugleich – obwohl nur                     Lesers, das Entstehen von „Einstimmig-
schriftlich niedergelegt – doch zugleich ein                keit“ in welcher Art auch immer, das ist
„Hinstellen“ und „Vortragen“ ist, ist dieser                das Geschäft der Lehre. Es ist auch das
Text in seiner Wirkung auf die Lesenden/                    Geschäft der Künste, besonders wenn
Hörenden eine „actio“ und „performatio“,                    wir an die „schönen“ Künste denken. Es
die in der modernen Sprachtheorie unter                     ist aber insbesondere das Geschäft einer
dem Begriff der „pragmatischen Dimen-                       Kunst, in der sich eine Kunstlehre seit der
sion“ zusammengefasst wird. Indem der                       Antike in vollständiger Systematik heraus-
Text die Überzeugungen der Leser/Hörer                      gebildet und tradiert hat: der Rhetorik.
belehrend in Bewegung bringt, „stellt er                    Die Felder der Ausübung dieser Kunst
etwas her“ bzw. „bringt etwas hervor“,                      sind und waren das Forum des Gerichts,
nämlich das, was in der antiken Redetra-                    das Forum der Politik und das Forum der
dition als „Peitho“, als das Einnehmende,                   Schule. Aus der allgemeinen Rhetorik
Überzeugende gefasst wurde.11 Im besten                     wurden die entscheidenden Muster der
Falle ist dann „Lehren“ ein „Vollbringen“.12                Konstruktion der Rede übertragen in die
     Das Sprechen über die Künste kann                      Lehrformen, die sich später unter dem
sich selbst nur „technisch“ – als Kunst                     Titel der „Didaktik“ zu einer eigenen Wis-
– generieren. Es ist ein Verfertigen von                    senschaft ausbildeten – ein Traditionszu-
Behauptungen, deren Zweck die Wir-                          sammenhang, der in Comenius´ „Großer
kung/Peitho ist. Dadurch ist das Sprechen                   Didaktik“ klar ablesbar ist14, vorneweg
über Künste gleichursprünglich ein Leh-                     auch schon im Titel. Comenius´ Didaktik
ren, denn mit jedem Satz, jedem Argument                    bezeugt ihre Herkunft aus Handwerk und
wird der Leser/Hörer über eine Sache in                     Künsten alleine schon in ihren immer wie-
Kenntnis gesetzt, wird „belehrt“13. Mehr                    der aufgerufenen Beispielen, die aus den
noch: Er wird mit technischen/künstleri-                    Feldern der Handwerkskünste und Bilden-
schen Mitteln belehrt. Diese Mittel werden                  den Künste entnommen sind.
eingesetzt, um beim Hörer/Leser Überzeu-                        Wer etwas über „Kunst“ erörtert, wer
gungen hervorzurufen. Das Herstellen von                    über sie etwas lehren will, muss dazu die
Überzeugungen bei anderen Menschen,                         Techne/Kunst des Verfertigens der Rede
das Erzeugen von Bewegung in den Köp-                       beherrschen und anwenden können. Er
fen und Herzen anderer Menschen ist ins-                    muss also notwendigerweise immer schon
besondere die Aufgabe der rhetorischen                      in dieser Kunst erfahren und bewandert
Kunst, von der in der Antike gesagt wurde,                  sein. So kann man den überraschenden

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 555

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Schluss ziehen: Reden und Texte über                        werden kann und muss und in der letzt-
Kunst sind immer und notwendigerweise                       lich auch Zustimmung hergestellt werden
autoreferenziell. Ein schwindelerregen-                     kann und muss. Diese „Lehren“ der pla-
der Gedanke, der in seiner schwindeler-                     tonischen Philosophie gaben in der Folge
regendsten Form in der philosophischen                      nicht nur der Wissenschaft und der Päd-
„Logik“ G.W.F. Hegels zugleich durch-                       agogik eine Form, sondern letztlich auch
wie vorgeführt wird.                                        dem Recht und der Politik – denn dort
     Mit der „Lehre“ steht es genauso:                      zeigt sich die Notwendigkeit am deutlichs-
Auch Texte über Lehre sind immer und                        ten, dass Überzeugungen sowohl Richtig-
notwendigerweise autoreferenziell. Denn                     keit als auch Zustimmung erlangen sollen
die Lehre ist per definitionem ein Verfer-                  und so letztlich das Gemeinwesen „bilden“
tigen von sprachlichen Gebilden, die den                    müssen. Es ist der platonischen Philoso-
Zweck des Bewegens von fremden Über-                        phie nicht äußerlich, dass sie sich in der
zeugungen haben15. Die Rede/der Text ist                    Form des Lehrgesprächs äußert: Gerade
zwar nur ein mögliches Mittel der Lehre.                    darin wird deutlich, dass die Philosophie
Es gibt z.B. auch die Demonstration, also                   sich als Lehrkunst definiert.
das Zeigen (Vormachen) und möglicher-                            Der Philosoph Michael Hampe hat
weise noch weitere Formen (wie das Füh-                     den Zusammenhang von Philosophie und
ren einer fremden Hand usw.). Doch auch                     Lehre ausführlich thematisiert17. Er zeigt
diese anderen Formen der Lehre stehen                       auch sehr überzeugend den direkten Zu-
unter dem Vorzeichen der Techne/Kunst,                      sammenhang zwischen „behauptendem“
weil auch sie eingesetzt werden, um                         Reden, Argumentieren, Überzeugen, Dicht­
fremde Überzeugungen in Bewegung zu                         kunst und Erziehung auf, allerdings vor-
setzen. Selbstverständlich ist etwa das                     dringlich, um auf philosophischem Feld
Zeigen/DEIXIS/demonstratio eine Kunst,                      eine Alternative dazu herauszuarbeiten,
die man mehr oder weniger versiert be-                      nämlich die Möglichkeiten eines nichtbe-
herrschen muss.16                                           hauptenden, nichtdoktrinären Redens,
     Wer textlich oder sonstwie Probleme                    eines eher „narrativen“ und „überzeu-
des Lehrens behandelt, bewegt sich also                     gungslosen“ Sprechens. Mich beschäf-
notwendigerweise in einem autoreferen-                      tigt aber ein damit verwandtes und doch
ziellen System, denn während er darüber                     zugleich in die Gegenrichtung deutendes
verhandelt, belehrt er tatsächlich oder                     Problem: der Zusammenhang von Produk-
potenziell einen imaginären oder tatsäch-                   tion und Lehre in den Künsten als ein apri-
lichen Adressaten. Besonders deutlich                       orischer Zusammenhang.
wird dies bei Platons Lehrdialogen, in
denen die Denkfigur der europäischen
„Paideia“/Bildung grundgelegt wird. Hier                    (b) Zweite hermeneutische
bekommt nicht nur die Philosophie eine                           Schleife: urteilen, herstellen,
Stimme, sondern auch ihre Adressaten.                            behaupten, normativ setzen
Bewegt und gebildet werden in diesen
Lehrdialogen nicht nur Überzeugungen,                       Ich resümiere: Jedes Sprechen/Schreiben
sondern auch unbezweifelbare Einsichten                     über Künste ist eine Kunst und eine Lehre.
(etwa in Form logischer Sätze). Gebildet                    Genauso: Jedes Sprechen/Schreiben
wird darüber hinaus aber überhaupt auch                     über Lehre ist eine Lehre und eine Kunst.
die Form, in der Überzeugungen geäußert                     Dieser merkwürdige Umstand ist in der
werden können oder sollen, in der auch                      Geschichte der Künste durchaus bemerkt
über ihre Wahrheitsansprüche verhandelt                     und gewusst worden. Ich möchte dafür ein

556                                      Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Beispiel von höchstem Rang aus dem Feld                     hat eine plastische Figur geformt, an der
der bildenden Künste benennen:                              er eine sehr differenzierte Messtechnik
    Der griechische Bildhauer Polyklet, der                 durchführte und zugleich entwickelte, näm-
prominenteste Vertreter der strengen Klas-                  lich ein Messverfahren, das vom kleinsten
sik in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhun-                   unterscheidbaren Detail (z.B. Fingerna-
derts v. Chr., schrieb ein legendäres und                   gel, Fingerglied, Augapfel, Haarsträhne
wirkmächtiges Lehrwerk über die Bildhau-                    usw.) bis in die Gesamtgröße hinein alle
erkunst, genannt Kanon. Als Demonstrati-                    Größenverhältnisse modular festlegt und
on dazu schuf er eine Bronzeplastik (der                    aufeinander bezieht. In jedem einzelnen
„Doryphoros“/Speerträger), die ebenfalls                    Moment des Werdeganges des Werkes
Kanon hieß18. Die Demonstration des plas-                   werden Formentscheidungen getroffen,
tischen Kunstwerks und die Doktrin des                      genau gemessene und die Teile trennen-
geschriebenen Textes gehörten in diesem                     den Grenzziehungen gesetzt (Dihairesis,
„Lehrwerk“ zusammen – eines ohne das                        Analysis). Doch zugleich werden diese
andere ist nicht denkbar. Beide zusammen                    Grenzziehungen – und das ist der alles
„machten Schule“ in der gesamten Kunst-                     überstrahlende Gedanke des klassischen
kultur der Antike und wirkten weiter in die                 griechischen Kunstverständnisses – als
Geschichte hinein bis in Renaissance, Ba-                   Zusammenhang und Fügung zur Einheit
rock und Klassizismus. Sie wurden zu dem                    gesehen (Systasis, Synthesis).21 Aus-
maßgeblichen Maßstab der europäischen                       drücklich wird in jedem Einzelmoment der
plastischen Kunst überhaupt.19 Über die-                    Zusammenhang mit dem Ganzen bedacht.
ses Lehrwerk des Polyklet schrieb Plinius                   Aus diesem analytisch-synthetischen „Zu-
im ersten nachchristlichen Jahrhundert:                     sammenmessen“ der gesamten Figur, der
Polyklet sei der bedeutendste Künstler,                     Symmetria, entsteht eine „Stimmigkeit“, die
weil er als einziger Mensch mit seinem                      im griechischen Verständnis Harmonia und
Kunstlehrwerk „die Kunst selbst erschaf-                    Eurhythmia hieß. Die Wirkung dieses inne-
fen habe“ – solusque hominum artem                          ren Zusammenklanges der Figur auf den
ipsam fecisse artis opere iudicatur 20.                     Betrachter ist etwas Positives, ein Gutes
    Es lohnt sich, über diesen merkwürdig                   (to Eu), also ein Wohlbefinden, das den
paradox wirkenden Satz sowohl für die bil-                  Menschen zu sich selbst bringt und sei-
denden wie auch für alle anderen Künste                     nen inneren und äußeren Zustand bessert,
nachzudenken, für deren Ausbildung die                      wenn er sich mimetisch auf das Vorbild
bildenden Künste paradigmatisch waren                       einlässt.22
und weiter sein können. Für die Pädago-                         Die direkte Wirkkraft/Peitho der Ka-
gik gilt er zweifellos. Aber würde man etwa                 non-Figur ist das eine. Der niederge-
auch von der Mathematik sagen, dass sie                     schriebene Zahlenkanon, von dem wir bis
sich in ihrer Lehre eigentlich selbst erst                  auf zwei unsichere Fragmentsätze nichts
erschüfe? Würde man von der Sprache                         mehr besitzen, das andere.23 Polyklet hat
sagen, dass sie sich in der Sprachlehre                     also ein verschollenes „theoretisches“,
selbst erst erschüfe? In gewissem Sinn                      szientifisch formuliertes Lehrwerk ge-
ist es tatsächlich so – und auch zugleich                   schrieben und zugleich das in diesem
nicht. Dies kann hier aber nicht erörtert                   Werk Behauptete – seinerseits aber aus-
werden. Vielmehr soll im Blick auf Poly-                    schließlich aus der Praxis Gewonnene –
klet noch einmal genauer unterschieden                      anschaulich als (ebenfalls verschollenes)
werden, was dieser Maßstäbe setzende                        Lehrbeispiel/Paradeigma       konkretisiert.
Künstler des 5. Jahrhunderts v. Chr. ei-                    Die belehrende Schrift und das gleicher-
gentlich ganz konkret vollbracht hat: Er                    maßen belehrende Werkbeispiel gehören

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 557

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und wirken zusammen – von der strengen                      des Lehrenden über sich selbst, also eine
Wirkung des Textes auf den Leser ange-                      Selbstbeurteilung, zugleich auch ein Urteil
fangen und bis hinein in die lebendige Wir-                 über eine Sache, ihre Stellung und ihren
kung der Kanonplastik auf den Betrachter.                   Sinn in der Welt. Dieses Urteil wird an die
Zusammengenommen zeigt das Lehrwerk                         Lernenden erteilt, wird vor sie hingestellt
die Doppelfunktion des docere wie des                       wie ein Werk. Die Lernenden müssen ihm
delectare – das ist die in der europäi-                     zu entsprechen versuchen, indem sie allem
schen Kunsttradition tatsächlich „kanoni-                   zuvor lernen, sich auf die vor sie hingestell-
sche“ Definition der Kunst. Noch Albrecht                   te Lehre zu beziehen. Wenn Kant in seiner
Dürer definierte das Wesen seiner Kunst                     „Kritik der Urteilskraft“ (§ 40) darauf hin-
so: Wer etwas über diese Kunst wissen                       weist, dass sich die künstlerische Poiesis
will, der „hör und sech, was ich mach“.24                   erst im Urteil des Zuschauers/Betrachters
Selbst in dieser unauffällig scheinenden                    vollendet25, so kann analog vom Akt der
Bemerkung ist der wirklich fundamentale                     Lehrkunst gesagt werden: Auch er vollen-
Doppelcharakter der Kunstlehre benannt,                     det sich erst im Urteil der Lernenden. Dazu
der zugleich die zentrale Bestimmung der                    wäre noch viel zu sagen.
Lehrkunst ist.
     Wissen und Können führen sich werk-
haft aus. Aus einer langen abwägenden
und schrittweise durchgeführten Erarbei-
                                                            (c) Dritte hermeneutische
tung und Reflexion hervorgehend „behaup-                         Schleife: abwägen, entschei­
ten“ sie sich final, setzen sich als Werk,                       den, einen Unterschied
setzen das Werk vor andere hin, „stellen                         machen, gebieten
es her“, „bringen es hervor“ (in Martin Hei-
deggers Sinn verstanden) oder gar: voll-                    Mit dem Begriff des Urteils im Lehrakt
bringen es (im Sinne der Perfektion). Das                   greife ich also auf Immanuel Kants „Kritik
derart geäußerte Wissen ist zugleich ein                    der Urteilskraft“ zurück, die ja von ihrer
Können, und dieses Wissen/Können ist                        ursprünglichen Fragestellung her eine Kri-
performativ und autoreferenziell: Im Ma-                    tik der „a priori urteilenden Vernunft“ sein
chen des anschaulichen Beispiels stellt                     wollte.26 Dass die menschliche Vernunft
das Wissen sich selbst her, überprüft sich                  „a priori urteilend“ ist, das heißt, dass der
zugleich selbst und bildet sich weiter. Zu-                 Mensch immer zur Entscheidung genötigt
gleich stellt es eine Beziehung her – so-                   ist, dass er gar nicht umhin kann, als zu
wohl eine Selbstbeziehung des Künstlers                     entscheiden – und damit ein Urteil zu set-
durch sein Werk hindurch wie eine Be-                       zen, eine Unterscheidung und damit den
ziehung zu anderen Betrachtern – durch                      Unterschied selbst zu machen. Die „Kritik
Werk und Schrift hindurch.                                  der Urteilskraft“ weist das so verstandene
     Das also heißt es: durch ein Werk                      Urteilen als eine apriorische (also notwen-
die Kunst selbst zu erschaffen. Man kann                    digerweise immer stattfindende) Form aus,
auch sagen: durch ein Kunstwerk eine                        als die eigentliche Mitte des menschlichen
Lehre zu erteilen. Oder aber: eine Norm                     Denkens und zugleich als Grundlegung für
setzen. Oder aber: ein Kunst-Urteil fällen.                 die anderen Vernunftformen, nämlich das
Oder aber – „einen Unterschied machen“.                     theoretische Erkennen (reine Vernunft) und
Ich möchte hier für die Behauptung eintre-                  das moralische, politische und geschichtli-
ten, dass damit zugleich das Wesen des                      che Handeln (praktische Vernunft).27 Kants
Lehrens im Allgemeinen beschrieben ist.                     Theorie des Urteilens ist daher notwendi-
Jedes Lehren ist ein Urteilen – ein Urteil                  gerweise zugleich eine Kunsttheorie, die

558                                      Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
aufzeigt, dass die Kunst immer ein Ent-                     Unterschied gemacht, das Urteil wird fak-
scheiden, ein Unterschiede-setzen ist.                      tisch gesetzt. Das Recht wird gültig, es
     Aber wie hängen Urteilen und künst-                    wird „gebieterisch“. Ähnlich ist es im Be-
lerisches Machen (Poiesis) genau zusam-                     reich des politischen Urteils.30
men? Nicht nur diese Frage steht hier zur                       Wenn wir all dies mithören, gerät
Beurteilung (!), sondern auch die, in wel-                  unser Verständnis vom künstlerischen
cher Beziehung das Lehren zum Urteilen                      Akt als einem Urteilen in die angemesse-
und damit in einem zur Kunst steht.                         ne Dimension, zugleich damit aber auch
     Der Dichter und Kunstphilosoph Paul                    das Verständnis vom Akt des Lehrens.
Valery hat einmal das tiefe Wort ausge-                     In dieses angemessene Verständnis des
sprochen, dass die Kunst in ihrem Wesen                     Urteils muss ausdrücklich immer das vor-
„gebieterisch“ sei.28 Das soeben disku-                     bereitende (und auch das nachfolgende)
tierte Polykletsche Lehrwerk mit seinem                     Beurteilen einbezogen werden. Versteht
normativen Anspruch zeigt das. Es bildet                    man das Urteil nach dem Paradigma des
eine jahrtausendlange kunstgeschichtliche                   künstlerischen Urteilens in der sich-aus-
Achse, um die sich die Kunst noch bis weit                  führenden Werkherstellung, so ist immer
über den modernen Klassizismus gedreht                      das Spiel des Abwägens inbegriffen – ein
hat – wenn auch in unendlichen Affirmati-                   „Spiel“, das auch Immanuel Kant in seiner
onen, Variationen, Negationen und Revolu-                   „Kritik der Urteilskraft“ stark betont. Damit
tionen. Der „Kanon“ des Polyklet war und                    geht einher das vergleichende Überlegen
ist auf dieselbe spezifische Weise „gebie-                  im Als-Ob-Modus – ein Überlegen und
terisch“, wie die Kunst insgesamt „gebie-                   Erwägen, das nicht nur der Werksetzung
terisch“ ist: Indem er die Unterschiede                     vorausgeht, sondern ihr auch unbeachtet
als differente Harmonie setzt, übt er eine                  der Endgültigkeit der Setzung immer noch
Kraft aus, die nicht nur den Betrachter in                  anhaftet. In gewissem Sinn ist daher die
Bann zieht, sondern auch zahllose weitere                   perfektionierende künstlerische Werk-
Werke „inspiriert“ hat.29                                   setzung immer auch nur „vorläufig“ – sie
     Im juridischen Zusammenhang ist das                    eröffnet immer wieder Möglichkeitsräume
Urteil die Rechtsprechung. Der juridische                   der Verbesserung.31 Im Hinblick auf die
Sprechakt, der Rechtsspruch, das „iudi-                     Möglichkeiten der Verbesserung und Op-
cium“ setzt durch das Wort (dicere) das                     timierung ist die Kunst immer unterwegs.
Recht (ius) in Kraft und Gültigkeit. Das                    Sie muss die Möglichkeiten der Verbes-
Urteil macht einen Unterschied, indem                       serung immer ermitteln durch Vergleich,
es eine Festsetzung trifft, eine Grenze                     Ausprobieren, Überprüfen. Im Hinblick
(in dem oben erörterten Sinn) zieht. Das                    auf dieses relationale Geschehen der
Urteil wird durch die Richtenden „erteilt“,                 Gestaltung hat Jochen Krautz (2017) ge-
die Grenze gezogen, nachdem eine Phase                      zeigt, dass die intersubjektiv verbindliche
der „Beurteilung“ voranging. In der Phase                   „Geltung“ künstlerischer Werke sich nicht
des Überlegens vor dem Urteilen werden                      nur auf den gemeinsam anerkannten Inhalt
die Argumente der Ankläger und der Be-                      bezieht, sondern auch schon die Form der
klagten gehört, in ihrer Überzeugungskraft                  Gestaltung betrifft32: In Form und Inhalt
gegeneinander abgewogen, in ihrer Wahr-                     erheben Kunstwerke – und analog auch
scheinlichkeit geprüft. Geprüft wird auch,                  Lehrwerke – den Anspruch auf intersub-
ob der vorliegende Einzelfall unter die                     jektive Geltung und Anerkennung und
gesetzlichen Beschreibungen und damit                       schlagen dadurch eine Brücke zwischen
ins „Gebiet“ (ditio) der generellen Regeln                  Menschen, auch wenn diese Geltung/
fällt. Doch im Urteilsspruch wird dann der                  Gültigkeit eben immer, und das ist Kants

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 559

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Argument, exemplarisch und in gewissem                      einer Synthese zugeführt. Von Platon, Aris-
Sinn problematisch ist. Künstler und Leh-                   toteles über Vitruv und Dürer, schließlich
rende müssen das aushalten, ebenso wie                      bis hin zu Comenius wird der epistemi-
Betrachtende und Lernende.                                  sche Charakter des „Könnens“ mit einer
     Und noch etwas ist mit dieser Paral-                   begrifflichen Polarität beschrieben, die
lelisierung des künstlerisch-poietischen                    jeweils verschieden ausformuliert wurde:
Urteils und des lehrenden Urteils oder der                  Unterscheidet Platon den Könnens- und
urteilenden Lehre mitzudenken: Im an-                       den Wissensaspekt noch mit den Begrif-
gemessenen Verständnis des Lehraktes                        fen Techne und Episteme, so unterscheidet
qua Lehrkunst ist immer das Beurteilen/                     z.B. Vitruv fabrica (handwerkliche Ge-
Abwägen inbegriffen. Das (Selbst-)Beur-                     schicklichkeit) und ratiocinatio (planvolle
teilen sowohl des Lehrhandelns wie sei-                     Berechnung)35, Albrecht Dürer „Kunst“
ner Auswirkungen auf das Lernhandeln                        von „Gebrauch“. Immer deuten diese Be-
ist notwendigerweise ein Konstituens von                    griffspaare auf dasselbe: Das fluide Kön-
Lehren (und Lernen).                                        nen, wie es der Techne/ars/Kunst eigen
                                                            ist, ist nur unzulänglich in Form von lehr-
                                                            barer Theorie zu fassen: Niemals kann die
(d) Vierte hermeneutisches                                 theoretische Explikation den praktisch-
     Schleife: ars et usus                                  impliziten Kern des Könnens vollständig
                                                            widerspiegeln oder gar ersetzen. Das
Denkt man die Lehrkunst von der Kunst-                      Gebrauchswissen ist im Können verbor-
lehre und das Lehrurteil vom Kunsturteil                    gen, und zwar wesenhaft verborgen.36
her, so ist klar: Wer lehrt, der/die macht                  So schreibt Albrecht Dürer am Beginn
für Andere hörbar und sichtbar, was er/sie                  seines Lehrbuches über die Malkunst:
weiß und kann. Er/sie erzeugt Wirkung,                      „…so ist die Kunst verborgen ohn´ den
und zwar erfreuliche und belehrende                         Gebrauch“.37 Der Dürerforscher Erwin
Wirkung. Das Können, das dieses Wir-                        Panofsky, der die theoretischen Schriften
ken ermöglicht, wird einerseits von einem                   Dürers sehr tiefsinnig durchdacht und in-
Wissen ermöglicht, das in der Philoso-                      terpretiert hat, hat darauf hingewiesen,
phie „implizites“, „nicht-propositionales“,                 dass Dürer hier unter „Kunst“ das episte-
„personales“, „praktisches“ oder „still-                    misch verfasste, theoretisch explizierte und
schweigendes“ Wissen oder auch einfach                      „propositional“ lehrbare Wissen versteht:
„Gebrauchswissen“ oder „Erfahrungs-                         „ars“ in der Form des Wissens. Unter dem
wissen“ genannt wird.33 In den Bereichen                    „Gebrauch“ ist die flüssige „Ausübung“,
von Pädagogik und Didaktik, namentlich                      der Fluss des Könnens zu verstehen.38
in der hermeneutischen Tradition, wird                      Wie Panofsky überzeugend zeigt, ge-
zu Recht diese Dimension des dem Kön-                       hören in Dürers Kunstlehre „Kunst“ und
nen „impliziten“ Wissens diskutiert.34 Es                   „Gebrauch“, ars et usus, zusammen wie
ist eine Wissensdimension, die sich dem                     Mann und Frau. Nur zusammen sind sie
theoretischen Zugriff von Lehrsätzen und                    vollständig und schöpferisch. In seinem
Beschreibungen, eben dem der kogniti-                       unfassbar tiefsinnigen „Melancholia“-Kup-
ven und sprachlichen Explikation entzieht.                  ferstich (1515) hat Dürer – so Panofsky
Im Phänomen dieses Sich-der-sprach-                         – in den Figuren des fleißig zeichnenden
lichen-Vermittlung-Entziehens lauert die                    Kindes und der schwer nachdenkenden
Gefahr dichotomischer Polarisierung.                        Genius-Frau die Pole von ars (Wissen)
    Die ältere Kunstlehre hat diese Polari-                 und usus (Ausübung) dargestellt39 und
sierung allerdings vermieden, sie vielmehr                  zugleich gezeigt, was geschieht, wenn sie

560                                      Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
auseinandertreten: Das Wissen der Kunst                     Entscheidung: Auch hier geht es um De-
gerät in Stillstand, die Ausübung sinkt auf                 tailentscheidungen (Mikrodidaktik) wie um
den Stand des unbewussten Treibens                          Entscheidungen über das Ganze (Gesamt-
eines Kindes herab. Dürer selbst aber er-                   curriculum, Bildung als Lebensaufgabe),
arbeitete sich auf dem Weg zur Meister-                     es geht um einen sinnvollen Gesamtzu-
schaft die herausragende Fähigkeit nicht                    sammenhang (Gemeinwesen) – auch im
nur zur Ausübung der Kunst, sondern auch                    Rückblick in die Geschichte und Vorblick
zur Formulierung der Kunst als Lehre.                       in die Zukunft.
    Mithin – so lässt sich folgern – lässt                       Wiewohl jedes Urteil sich immer aufs
sich auch die Kunst nur in der Doppelfi-                    Einzelne und Besondere bezieht, erfor-
gur von flüssig-gekonnter Ausübung und                      dert es doch immer gleichermaßen den
begrifflicher Durchdringung lehren. Reißt                   Ausblick auf das Ganze und auf den Sinn
man die Pole auseinander, wird die Kunst                    des Ganzen, was durch die Begriffe Ge-
unlehrbar. Leicht lässt sich – neben Vi-                    meinsinn (der zunächst ja nichts anderes
truvs Unterscheidung zwischen fabrica                       meint als die Fügung der Einzelreize der
und ratiocinatio – auch Polyklets doppelter                 einzelnen Sinne zu einem Wahrnehmungs-
Lehrgestus des Kanons erkennen. Wel-                        ganzen, später aber im erweiterten Sinn
che Sprengkraft dieses Verständnis von                      als sensus communis im neuzeitlichen
Lehrkunst für das heute dominierende                        Sinne verstanden wird), Gemeinwesen,
„epistemische“ Verständnis empirischer                      Zukunft und letztlich das für alle Gute/to
Bildungswissenschaft hat, die sich in der                   Eu angezeigt ist. Dennoch kann das Ur-
Lehrerbildung an die Stelle von Allgemei-                   teil nicht das Allgemeine selbst zum Ge-
ner Pädagogik, Allgemeiner Didaktik und                     genstand haben. Daher ist es auch nicht
Erziehungswissenschaft insgesamt ge-                        lehrbar, nicht im Sinn einer Methodenlehre
setzt hat, das erspare ich mir an dieser                    oder scientia fassbar, sondern immer nur
Stelle auszuführen.40                                       von exemplarischer Gültigkeit.41
                                                                 Es gehört zur seit Jahrtausenden ge-
                                                            wachsenen Weisheit der europäischen
(e) Fünfte hermeneutische                                  Kunstlehren (und in den chinesischen
     Schleife: Polaritäten                                  Kunstlehren ist es übrigens genauso42),
     und Balancen                                           dass das Können der Kunst nicht aus
                                                            striktester Regeldurchführung hervorgeht,
Der Urteilsakt hat in der Kunstlehre wie in                 sondern aus der freien Anwendung im
der Lehrkunst dieselbe Bedeutung: Er ist                    Einzelfall. Dazu gehört die umsichtige Er-
der Dreh- und Angelpunkt, in dem Können                     kenntnis des jeweils Besonderen. Insofern
und Wissen in einer konkreten Situation                     haben auch alle „Lehren“ der Kunst und
zusammenkommen. Der Urteilsakt äußert                       auch der als Lehrkunst verstandenen Päd-
sich in jeder künstlerischen Entscheidung,                  agogik immer nur exemplarische Gültigkeit.
die von der Detailentscheidung bis ins                      Wenn Kant im einzigartig scharfsinnigen §
große Ganze immer den Gesamtzusam-                          60 seiner „Kritik der Urteilskraft“ schreibt,
menhang im Auge hat – auch im Rückblick                     es gebe keine wirkliche „Methodenlehre“
in die Tradition und im Vorblick auf die zu-                der Urteilskraft43, sondern immer nur eine
künftige In-Gebrauch-Nahme des Werkes                       Übung des Urteilsvermögens an Beispie-
durch andere Menschen.                                      len, spricht er den entscheidenden Punkt
    In all diesen Hinsichten und in gleicher                an, der die Bestimmung der Lehrkunst (im
Weise äußert sich auch die Urteilsfähigkeit                 Unterschied zu einer „Erziehungswissen-
in der pädagogischen und didaktischen                       schaft“) betrifft.

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 561

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Kants Argumentation nimmt hier eine                    in der Musik das legendäre „Dur“ und
im Umfeld des angeblich so szientifisch                     „Moll“), Ordnung und Unordnung, Har-
orientierten Zeitalters der Aufklärung                      monie und Disharmonie, Regelmäßigkeit
überraschende Wendung: Wir haben                            und Unregelmäßigkeit, Sorgfalt und Los-
den gekonnten und geregelten Umgang                         lassen, Grenzöffnung und Grenzziehung,
mit unserem Urteilsvermögen einzuüben,                      Konformismus und Nonkonformismus, Dif-
und zwar dadurch, dass wir uns mit den                      ferenz und Identität, Vereinzelung und Ge-
Urteilen anderer Menschen auseinander-                      meinsamkeit, Virtuosität und Brutalismus,
setzen. In der Kunst sind das vornehmlich                   Akademismus und Anti-Akademismus,
die Werke der Tradition. In der Pädagogik                   Klassizismus und Primitivismus, Realismus
sind es vornehmlich die Lehrpraktiken er-                   und Idealismus, Impressionismus und Ex-
fahrener Könner. Die Grundlagen eines                       pressionismus, Fug und Unfug, Sagbares
disziplinierten Urteilens aber sind für Kant                und Unsagbares, Lehrbares und Unlehr-
das „allgemeine Teilnehmungsgefühl“ (wir                    bares, Ernst und Humor, actio und passio,
würden heute sagen: die Empathiefähig-                      Ethos und Pathos usw., und – natürlich
keit) und die „innigste und allgemeinste                    – allem zuvor und alles übergreifend und
Mitteilungsfähigkeit“ (wir würden heute                     einbegreifend: Einheit und Vielfalt. Man
sagen: das kommunikative Verhalten). Wir                    könnte auch sagen: Jedes Kunsturteil ist
müssen also die Urteilskraft an Beispielen,                 das Austragen einer gespannten Harmo-
Vorbildern und im Austausch mit Andern ein­-                nie zwischen den genannten (und vielen
üben und disziplinieren. Nur im gemeinsa-                   weiteren) Polaritäten, oder auch: die ge-
men Aushandeln und Einüben können wir                       konnte und angemessene situative Balan-
eine vernünftige Urteilskultur entwickeln,                  ce zwischen diesen Polaritäten.
die einerseits das nötige „Spiel“ hat, ande-
rerseits aber doch auch klar geregelt ist.44
     Die europäischen Kunstlehren (und in                   (f) Fazit
vergleichbarer Weise auch die chinesi-
schen) beruhen im Wesentlichen darauf,                      Die Begrifflichkeiten der Kunstlehren der
dass sie das offene und zugleich geregelte                  verschiedenen Zeiten und Kulturen sind
Spiel des Urteilens an „dialektischen“ Pola-                reich und vielfältig. Das künstlerische
ritäten ausrichtet. Das künstlerische (Be-)                 Können und Wissen um die Balancen im
Urteilen und Entscheiden orientiert und                     Umgang mit Polaritäten und arbiträren
positioniert sich – das zeigt sich in allen                 Wertschätzungen sind tief und die Erfah-
Kunstlehren – auf dem Weg zum Werk in                       rungen mit komplexen Entscheidungen
polaren Entscheidungsspielräumen – stets                    sind von langer Hand gewachsen. Die Leh-
geleitet von den Zielen der vorläufigen                     ren der Künste in allen Zeiten und Kulturen
Perfektion und exemplarischen Gültigkeit.                   spiegeln die Nöte und Freuden eines sich
Das klingt vielleicht nach einer nebelhaften                in Beweglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten
„ästhetischen“ Offenheit. Aber Offenheit                    und Abschätzbarkeiten (er)findenden frei-
ist nur die eine Seite des künstlerischen                   en Entscheidens. Diese Lehren haben es
Denkens: Offenheit und Klarheit, Offen-                     mit dem Einüben und Ausprobieren von
heit und Entschiedenheit, Offenheit und                     richtigen Balancen, richtigen Abwägun-
Festigkeit, Offenheit und Geschlossenheit                   gen zu tun – oft im Als-Ob-Modus, oft aber
gehören stets eng zusammen. Die Liste                       auch in Wirklichkeit. Künstler sind also in
der Nennungen ließe sich weiter ausspan-                    gewisser Weise Spezialisten für die Abwä-
nen: Flüchtigkeit und Klarheit, Lässigkeit                  gung zwischen Vielfalt und Einheit, Offen-
und Disziplin, Härte und Weichheit (z.B.                    heit und Geschlossenheit, Fraglosigkeit

562                                      Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und Reflexion – immer und und immer wie-                          Blankenheim/Ulrich Heinen (Hrsg.): Kunst-
der – und es kommt auf die Gekonntheit                            lehre/Lehrkunst. Kunstlehre als Paradigma
                                                                  von Bildung, Erziehung und Vermittlung.
der Balance an. Ihr Wissen und Können
                                                                  IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik. Bd. 10.
ist daher eindeutig ein anderes als das von                       München 2021 (im Erscheinen). In knapper
Wissenschaftlern, Politikern, Philosophen                         Zusammenfassung: Björn Blankenheim: Von
oder Priestern – dessen müssen sie sich                           der Kunst, Unterricht zu planen. In: IMAGO.
immer bewusst sein, sonst geht es schief.                         Zeitschrift für Kunstpädagogik, Heft 8/2019:
     Und die Lehrenden? Im vorliegen-                             Unterricht planen. München, S. 16-25; Jo-
den Text werden sie programmatisch in                             chen Krautz: Kunstlehre als Entwurfsmo-
                                                                  dell für Kunstunterricht oder: Kunstdidaktik
die Nachbarschaft der Künstler gerückt.
                                                                  ad fontes! In: BDK-Mitteilungen 3/2021, S.
Damit bewegt sich der hier vorgetragene                           20-25. Siehe auch schon früher Ulrich Hei-
Gedanke in weiter Distanz zur technolo-                           nen: Historische Kunstlehre als Grundlage
gisch-wissenschaftlichen Verengung und                            von künstlerischer/gestalterischer Arbeit,
Entstellung der Pädagogik. Stattdessen                            Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und
entsteht das Bild einer Abwägungs- und                            Pädagogik (abstract), Wuppertal 2014
Urteilskunst, die im Grunde allen Men-                            [https://www.kolbi.uni-wuppertal.de/de/
                                                                  erste-foerderphase/a1-curriculare-weiter-
schen (seit den Anfängen der Menschheit)
                                                                  entwicklung-mit-projektbasiertem-studieren/
bekannt ist, die sich mit der Erziehung und                       historische-kunstlehre-als-grundlage-von-ku-
Belehrung von Kindern und Jugendlichen                            enstlerischergestalterischer-arbeit-kunstwis-
beschäftigt haben. Wenn es also aus die-                          senschaften-kunstpaedagogik-und-paedago-
ser Sicht keine „Wissenschaft“ gibt, die                          gik.html].
die immer wieder nötigen Abwägungen                         2     Vgl. z.B.: Andreas von Prondczynsky:
                                                                  Pädagogik und Poiesis. Eine verdrängte
und Urteilsakte anleiten könnte, so gibt es
                                                                  Dimension des Theorie-Praxis-Verhältnisses.
doch Werte und Tugenden, die hier helfen                          Opladen 1993; vgl. auch die Marburger
können – z.B. die Tugend, die Albrecht                            Schule um Christoph Berg mit ihrem Leitbe-
Dürer in seinem Lehrwerk eigens als einen                         griff des „Lehr(kunst)stücks“.
tragenden Grund der Kunst nennt: Behut-                     3     Vgl. zu diesen Unterscheidungen ausführlich:
samkeit.45 Ein Begriff, mit dem auch Leh-                         Die Kunst und ihre Lehre. Fachsystematik –
rende etwas anfangen können – und der                             Bildungssinn – Didaktik. Teil I: Musen und
                                                                  Techne. IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik.
auch mit Kants Grundvoraussetzungen
                                                                  Bd. 8/1. München.
des Urteilsvermögens, der Mitteilungsfä-                    4     Wenn im Folgenden das Wort „Technik“
higkeit und der Teilnahmefähigkeit in Zu-                         fällt, ist es vornehmlich im ursprünglichen
sammenhang steht.                                                 Sinne von techne zu verstehen, nicht im Sinn
                                                                  von „Technologie“. Martin Heideggers sehr
                                                                  prinzipielle Technikkritik ist also immer mit-
                                                                  zuhören. Das sich in weiten Feldern der Er-
Anmerkungen                                                       ziehungswissenschaften immer wieder breit
                                                                  machende technologische Verständnis von
1    Dankend möchte ich drei für mich wirklich                    Lehre (Kybernetik, Classroom-Management,
     wegweisende Forschungstagungen zum                           Evaluation, Digitalisierung usw.) wird hier da-
     Thema „Kunstlehre – Lehrkunst“ (Winter                       gegen abgelehnt.
     2017, Frühjahr 2018 und Spätsommer 2018)               5     Vgl. hierzu ausführlich die Begründung und
     erwähnen, die von den Wuppertaler Kolle-                     Herleitung des Begriffs der „Kunst“/Techne
     gen organisiert wurden (Björn Blankenheim/                   in meiner Abhandlung „Die Kunst und ihre
     Ulrich Heinen) und denen ich sehr wertvolle                  Lehre“, München 2019.
     Gespräche mit vielen KollegInnen und frucht-           6     Vgl. hierzu näher Wolfgang Wieland: Aris-
     bare Anregungen verdanke.                                    toteles und die Idee der poietischen Wis-
     Zur ausführlichen Diskussion vgl. den im Er-                 senschaft. Eine vergessene philosophische
     scheinen begriffenen Tagungsband: Björn                      Disziplin? In: Thomas Grethlein/Heinrich

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 563

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Leitner (Hrsg.): Inmitten der Zeit. Beiträge zur           akroamatische Dimension der Hermeneutik.
      europäischen Gegenwartsphilosophie. Fest-                  Frankfurt am Main 1990.
      schrift für Manfred Riedel. Würzburg 1996,                 Niemeyer kennzeichnet die „akroamatische
      S. 479–505.                                                Lehrart“ als Form der Lehrkunst, die über den
7     Vgl. z.B. Rudolf Löbl: TEXNH – Techne. Un-                 zusammenhängenden mündlichen Vortrag
      tersuchungen zur Bedeutung dieses Wortes                   des Lehrenden wirkt und der „dialogischen
      in der Zeit von Homer bis Aristoteles. Band 1:             (oder sokratischen) Lehrart“ entgegenge-
      Von Homer bis zu den Sophisten. Würzburg                   setzt ist. Der für uns heute ungewöhnliche
      1997; Nadja J. Koch: Techne und Erfindung                  Ausdruck hat tiefe Wurzeln in der Kunstleh-
      in der klassischen Malerei. München 2000.                  re. Der mündliche Vortrag ist gebunden an
8     Vgl. anhand archäologischer Beispiele: Mi-                 die Autorschaft des Lehrers, an sein Ethos
      riam Noël Haidle/Duilio Garofoli/Sebastian                 (Haltung, Charakter) und Pathos (Leiden-
      Scheiffele/Regine Elisabeth Stolarczyk: Die                schaft, Empfindsamkeit, affektive Beweg-
      Entstehung einer Figurine? Material, En-                   lichkeit). Nicht Anschauung und Evidenz
      gagement und verkörperte Kognition als Aus-                sind seine Wirkkräfte, sondern die die Hörer
      gangspunkt einer Entwicklungsgeschichte                    ergreifende Darstellung aus dem Mund der
      symbolischen Verhaltens. In: Etzelmüller, Gre-             Autorität. Es nimmt angesichts der positivis-
      gor/Fuchs, Thomas/Tewes, Christian (Hrsg.):                tischen „Evidenzorientierung“ in den Erzie-
      Verkörperung – eine neue interdisziplinäre                 hungswissenschaften nicht Wunder, dass
      Anthropologie. Berlin/Boston 2017, S. 251-                 die akroamatische Lehrform heute nicht mehr
      280; Marlize Lombard/Miriam Noël Haidle:                   geschätzt wird. Im Gegenzug sollte überlegt
      Thinking a Bow-and-arrow Set: Cognitive Im-                werden, ob nicht dieses Kunstmittel gerade
      plications of Middle Stone Age Bow and Sto-                die entscheidende Methode der Lehre ist.
      ne-tipped Arrow Technology. In: Cambridge                  Kant z.B. jedenfalls hat sich in bestimmten
      Archaeological Journal 22:2, 2012 S. 237–                  Zusammenhängen, z. B. der ethischen Be-
      64; vgl. auch Horst Bredekamp: Der Faust-                  lehrung, ausdrücklich auf die Tradition der
      keil und die ikonische Differenz. Für Gottfried            akroamatischen Darstellung bezogen. Darauf
      und Margret Boehm. In: Franz Engel/ Sabine                 nimmt Manfred Riedels hermeneutische Re-
      Marienberg (Hrsg.): Das entgegenkommen-                    flexion der „Akroamatik“ Bezug.
      de Denken. Verstehen zwischen Form und               12    Zur Bedeutung des Begriffs des „Vollbrin-
      Empfindung. Berlin 2016, S. 105-118.                       gens“ in der Kunstlehre vgl. Sowa 2019 (vgl.
9     Vgl. hierzu allgemein Michael Tomasello: Die               Anm. 3), S. 55 ff. und 75 ff.
      kulturelle Entwicklung des menschlichen              13    Vgl. hierzu Michael Hampe: Die Lehren der
      Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frank-               Philosophie. Eine Kritik. Erweiterte Ausgabe.
      furt am Main 2006.                                         Berlin 2016.
10    Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hrsg. von Franz G.       14    Vgl. Johann Amos Comenius: Große Didak-
      Sieweke. München 1980; Aristoteles: Poe-                   tik. Die vollständige Kunst, allen Menschen
      tik. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart                 alles zu lehren. (1657). 2. Aufl. Stuttgart
      1982; Marcus Tullius Cicero: De oratore –                  1960; ausführlich werden diese Zusammen-
      Über den Redner. Übers. und hrsg. von Ha-                  hänge verhandelt in Blankenheim/Heinen
      rald Merklin. Stuttgart 1976; Marcus Fabius                2021 (vgl. Anm. 1).
      Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf          15    Es gibt allerdings auch „absolute“ Textformen
      Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn.                  – etwa in der konkreten Poesie –, die nicht
      2 Bände. Darmstadt 1972; Heinrich Laus-                    darauf angelegt sind, fremde Überzeugun-
      berg: Handbuch der literarischen Rhetorik.                 gen zu bewegen, sondern rein in sich stehen
      München 1960; Ernst Robert Curtius: Euro-                  wollen – ohne Adressaten. Ob dies logisch
      päische Literatur und Lateinisches Mittelalter.            überhaupt möglich ist oder eine contradictio
      11. Aufl. Tübingen/Basel 1993.                             in adiecto, kann hier nicht erörtert werden.
11    Vgl. hierzu August Hermann Niemeyer:                 16    Zum Zusammenhang von „Zeigen“ und Kunst
      Grundsätze der Erziehung und des Unter-                    vgl. Gottfried Boehm/ Sebastian Egenhofer/
      richts – für Eltern, Hauslehrer und Schulmän-              Christian Spies (Hrsg.): Zeigen. Die Rhe-
      ner. Halle 1802. Hierzu gibt es grundlegende               torik des Sichtbaren. München 2010; vgl.
      philosophischen Darstellungen bei Man-                     auch Sowa 2019 (vgl. Anm. 3); zum Zusam-
      fred Riedel: Hören auf die Sprache. Die                    menhang von „Zeigen“ und „Lehren“: Klaus

564                                     Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                            wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung:                     Einbildungskraft und Vorhersehungsvermö-
     Grundriss der Operativen Pädagogik. Pader-                   gen im Urteil hervorhebt (vgl. S. 104 ff.),
     born (2011.                                                  sowie den Zusammenhang zwischen dem
17   Vgl. Hampe 2016 (Anm. 13), besonders                         einzelnen Urteilsakt und dem Gemeinsinn
     S. 15-32 und 343 ff.                                         (vgl. S. 92 ff.).
18   Vgl. dazu umfassend Herbert Beck/ Peter C.             28    Vgl. Paul Valery: Tanz, Zeichnung und Degas
     Bol/ Mareike Bückling (Hrsg.): Polyklet, der                 (1938). In: Paul Valery: Werke. Frankfurter
     Bildhauer der griechischen Klassik. Katalog                  Ausgabe in 7 Bänden. Band 6: Zur Ästhetik
     Liebieghaus Frankfurt am Main. Mainz 1990.                   und Philosophie der Künste. Hrsg. von Jür-
19   Das heißt nicht, dass sie von allen direkt                   gen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt am Main
     nachgeahmt wurde, sondern vielmehr, dass                     1995, S. 259-351, bes. S. 335.
     sich die folgenden Künstlertraditionen darauf          29    Zur Rede von der „Kraft“ und „Macht“ der
     bezogen – durchaus auch bin negativer Form.                  Kunst vgl. z.B. David Freedberg: The Power
     So generierte die „doktrinäre“ Kanonik des                   of Images. Studies in the History and The-
     Polyklet unmittelbar den viel weicheren und                  ory of Response. Chicago/London 1989;
     spielerischeren Stil von Phidias, Praxiteles,                Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin
     Lysipp usw. In ihrem Werk bildete sich die                   2013; Horst Bredekamp: Der Bildakt. Berlin
     Kunst fort, getrieben vom Anspruch auf eine                  2015.
     Verbesserung der Wirkung: Mehr Weichheit,              30    Vgl. umfassend Arendt 1982 (Anm. 25);
     mehr Beweglichkeit, mehr Natürlichkeit, mehr                 Roland Beiner: Hannah Arendt über das Ur-
     Heiterkeit…                                                  teilen. In: Arendt 1985, S. 115-220; Ernst
20   Plinius: C. Plini Secundi naturalis historiae                Vollrath: Die Rekonstruktion der politischen
     libri XXXVII. Edidit Carolus Mayhoff. Bd. 1-5.               Urteilskraft. Stuttgart 1977. Den Hinweis auf
     Leipzig 1892-1909, 34. 55-56. Ich verdan-                    die verdienstvolle philosophische Arbeit von
     ke diesen ungemein interessanten Hinweis                     Ernst Vollrath auf dem Gebiet der Urteilskraft
     Nadia J. Koch. Vgl. auch Nadia J. Koch: Pa-                  verdanke ich Ulrich Heinen, Wuppertal.
     radeigma. Die antike Kunstschriftstellerei als         31    Vgl. zum Begriff der „vorläufigen Perfektion“
     Grundlage der frühneuzeitlichen Kunsttheo-                   in der Kunsttheorie ausführlicher Sowa 2019
     rie. Wiesbaden 2013, S. 75-85.                               (Anm. 3), S. 176 ff.
21   Vgl. Thomas Schirren/ Nadia J. Koch: Fü-               32    Jochen Krautz: Gestalten als Geltungsprüfung.
     gung zur Einheit: Zu Polyklet Frg. B 1 D.-K.                 Zur konstitutiven Bedeutung von Relationalität
     In: Hermes, 127. Bd., H. 3 (3rd Qtr., 1999).                 für den Gegenstand der Kunstpädagogik. In:
     S. 263-273.                                                  Krautz, Jochen (Hrsg:) (2017): Beziehungs-
22   Vgl. hierzu Nadia J. Koch: Grenzerkundung                    weisen und Bezogenheiten. Relationalität
     als System. Virtuosität und Innovation im                    in Pädagogik, Kunst und Kunstpädagogik.
     Techne-Konzept. In: Björn Blankenheim/Ul-                    IMAGO.Kunst.Pädagogik.Didaktik. Schriften-
     rich Heinen (Hrsg.): Kunstlehre/Lehrkunst.                   reihe IMAGO – Forschungsverbund Kunstpä-
     Kunstlehre als Paradigma von Bildung, Er-                    dagogik. Bd. 4. München 2017, S. 529-558.
     ziehung und Vermittlung. München 2021 (im              33    Vgl. zur Diskussion dieser Wissensform:
     Erscheinen).                                                 Hans-Georg Gadamer: Praktisches Wis-
23   Vgl. hierzu Schirren/Koch 1999 (vgl. Anm 21).                sen (1930). In: Gesammelte Werke, Bd. 5:
24   Albrecht Dürer: Schriften und Briefe. Hrsg. von              Griechische Philosophie I. Tübingen 1985,
     Ernst Ullmann. 6. Aufl. Leipzig 1993, S. 117.                S. 230-238; Polanyi, Michael: Personal
25   Vgl. hierzu Hannah Arendt: Das Urteilen.                     Knowledge. Toward a post-critical Philosophy
     Texte zu Kants Politischer Philosophie. Mün-                 (1958). Chicago 1974; Wolfgang Wieland:
     chen/Zürich.Arendt 1982, S. 157 ff.                          Platon und die Formen des Wissens. Göttin-
26   Vgl. hierzu Manfred Riedel: Kritik der a priori              gen 1982.
     urteilenden Vernunft. Kants Überwindung des            34    Vgl. z.B. Jürgen Budde/ Maud Hietzge/ Anja
     Begründungsdenkens der neuzeitlichen Me-                     Kraus/ Christoph Wulf (Hrsg.): Handbuch
     taphysik. In: Manfred Riedel: Urteilskraft und               Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung,
     Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung.                 Sozialistion und Lernen. Weinheim/Basel
     Frankfurt am Main 1989, S. 11-43.                            2017.
27   Vgl. hierzu auch Arendt 1982 (Anm. 25),                35    Vitruv: Zehn Bücher über Architektur.
     die besonders auch den Anteil von                            Darmstadt 1964, S. 23.

5 / 2021                                 Pädagogische Rundschau                                                 565

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
36    Vgl. ausführlicher und in verschiedenen Pers-              Fachlichkeit von Bildung. Zur zentralen Stel-
      pektiven Hubert Sowa: Zeigen und Verbergen                 lung der Fachlichkeit in der Pädagogik aus-
      in der Techne. Kunstlehre und Lehrkunst. In:               führlich Sowa 2019 (Anm. 3), Sowa 2021
      Pompe, Anja (Hrsg.): Bild und Latenz. Impul-               a, b,c (Anm. 36).
      se für eine Didaktik der Bildlatenz. München         41    Vgl. Arendt 1982 (Anm. 25), S. 110 f. in
      2019, S. 107-122; ders.: Welche verborgene                 Bezug auf § 22 der „Kritik der Urteilskraft“.
      Kunst formuliert sich in der Kunstlehre? In:         42    Vgl. François Jullien: Das große Bild hat keine
      Blankenheim/Heinen 2021 (Anm. 1); ders.:                   Form oder Vom Nicht-Objekt durch Malerei.
      Selbstreflexion des Könnens durch Innewer-                 München 2005.
      den. Zu einer entscheidenden Voraussetzung           43    Wenn heute oft didaktische „Methoden“
      kunstdidaktischer Lehre. In: Tillmann F. Kreu-             wie wissenschaftlich gesicherte technisch-
      zer/Stine Albers (Hrsg): Selbstreflexion. Lud-             modulare Bausteine gehandelt werden, aus
      wigsburger Hochschulschriften TRANSFER,                    denen in Variationen beliebige Lehr-Lern-Set-
      Bd. 21. Baltmannsweiler 2021, S.175-187;                   tings gebaut werden können, so handelt es
      ders.: Das Werk in der Werkstatt und das                   sich hier um eine pädagogische Technologie,
      Werk in der Kunstwissenschaft. Zwei For-                   die sich an der organischen Natur und am
      men des Wissens vom Kunstwerk. In: Jo-                     Beziehungswesen von Lehre vergreift.
      hannes Kirschenmann/Frank Schulz (Hrsg.):            44    Vgl. hierzu auch meine umfassende Dar-
      Fokussierungen. Kunst- und Bildgeschichte                  stellung in: Gemeinsam vorstellen lernen.
      als kunstpädagogisches Bezugsfeld. Kunst.                  Theorie und Didaktik der kooperativen Vor-
      Geschichte. Unterricht. Band 1. München                    stellungsbildung. Kunst.Pädagogik.Didaktik.
      2021, S. 178-196.                                          Schriftenreihe IMAGO – Forschungsverbund
37    Dürer 1993 (Anm. 24), S. 202.                              Kunstpädagogik, Bd. 2. München 2015.
38    Vgl. Erwin Panofsky: Dürers Kunsttheorie –           45    Vgl. Dürer 1993 (Anm. 24), S. 107. Dürer
      vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunstthe-              nennt im Grunde an dieser Stelle zwei
      orie der Italiener. Berlin 1915, S. 166 ff.                Schlüsseltugenden: „Gottesforcht und Be-
39    Vgl. Erwin Panofsky: Das Leben und die                     hutsamkeit“. Auch dazu wäre noch viel zu
      Kunst Albrecht Dürers (1943). München                      sagen.
      1977, S. 219 ff.
40    Die empirisch verengten Bildungswissen-
      schaften negieren vor allem den Aspekt der

566                                     Pädagogische Rundschau                                           5 / 2021

Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                            wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Sie können auch lesen