DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE UND DIE RECHTE VON LGBTIQ*-MENSCHEN - Schweizerisches Kompetenzzentrum ...

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DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF FÜR
MENSCHENRECHTE UND DIE RECHTE
VON LGBTIQ*-MENSCHEN
Der EGMR hat gestützt auf die EMRK ­einen zwar
  nicht ­lückenlosen, aber ­thematisch ­relativ b­ reiten
­menschenrechtlichen Schutz für L­ GBTIQ*-Menschen
        etabliert, auf den diese sich berufen können.

                                     –2–
trans Menschen gegenüber Behörden berufen,

DIE EMRK SCHÜTZT                                   wenn es um die amtliche Anerkennung ihrer
                                                   Geschlechtsidentität geht, wenn die Rechte

LGBTIQ*-MENSCHEN                                   gleichgeschlechtlicher Paare als Eltern oder der
                                                   Versicherungsschutz betroffen sind oder wenn
                                                   das Schutzalter bei sexuellen Handlungen je nach
Der   Europäische     Gerichtshof    für
                                                   sexueller Orientierung unterschiedlich ausfällt.
Men­schen­rechte (EGMR) hat in zahl­
reichen Urteilen festgehalten, dass die            Der EGMR hat in mehreren Urteilen festgehalten,
Europäische ­Menschenrechtskonvention              dass sich LGBTIQ*-Menschen auf das Recht auf ein
(EMRK) die Rechte von lesbischen,                  faires Verfahren stützen können. Sie müssen ­zudem
schwulen, bisexuellen, trans, inter und            gegen Behördenentscheide, die sie betreffen, eine
queeren Menschen schützt.                          wirksame Beschwerdemöglichkeit haben.

Die Mitgliedstaaten des Europarats müssen die in   LGBTIQ*-Menschen im Asylverfahren können sich
der EMRK garantierten Menschenrechte gegen-        auf das Recht auf Schutz vor Folter und unmensch-
über LGBTIQ*-Menschen respektieren, schützen       licher, grausamer oder erniedrigender Behandlung
und verwirklichen.                                 berufen.

Besonders bedeutend ist das Recht auf Schutz       Die bisherige Rechtsprechung des EGMR befasst
vor Diskriminierung zusammen mit dem Recht         sich vor allem mit Beschwerden von LGBTQ-
auf Achtung des Privat- und Familienlebens.        Personen. Zum Schutz von inter Menschen gibt es
Auf diese Rechte können sich beispielsweise        bis heute keine Rechtsprechung.

                                              –3–
RECHTSGRUNDLAGEN

                                                      zwar nicht ausdrücklich. Der EGMR und das
DISKRIMINIERUNGSVERBOT                                Bundesgericht entschieden jedoch, dass das Verbot
                                                      auch untersagt, Menschen zu diskriminieren, weil
Die Europäische Menschenrechtskonvention
                                                      sie nicht heterosexuell oder cisgender sind.
(EMRK) und die Bundesverfassung (BV) ­verbieten
es, Menschen aufgrund eines bestimmten                Betroffene können eine Verletzung des
Merkmals oder bestimmter Zuschreibungen wie           Diskriminierungsverbotes in der EMRK jedoch nur
des Geschlechts, der Hautfarbe, der Sprache, der      dann vorbringen, wenn gleichzeitig ein anderes
Ethnie oder der Religion zu diskriminieren ­(Art.14   Recht der EMRK betroffen ist. Demgegenüber ist
EMRK, Art. 8 BV). Diese Artikel erwähnen die          das Diskriminierungsverbot in der BV selbständig
sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität    anrufbar.

                                                 –4–
Das Diskriminierungsverbot der EMRK gilt somit
in Verbindung mit allen in der EMRK garantierten
Rechten. Dabei sind verschiedene Artikel der
EMRK für LGBTIQ*-Menschen besonders relevant:

• Recht auf Respektierung des Privat- und
  Familienlebens (Art. 8)
• Recht auf Ehe (Art. 12)
• Recht auf ein faires Verfahren (Art. 5 und 6)
• Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13)

                                                  –5–
LAUSANNE ODER STRASSBURG?

Bevor der EGMR in Strassburg angerufen
werden kann, sind die nationalen Instan­
                                                    Urteile des EGMR wirken oft über
zen zu durchlaufen.                                 den Einzelfall hinaus und bewir­
Betroffene, die Menschenrechtsverletzungen          ken Änderungen in den übrigen
geltend machen, müssen alle zuständigen
Instanzen des betroffenen Mitgliedstaates erfolg-
                                                     Mitgliedstaaten. Behörden ­passen
los angerufen haben, bevor sie beim EGMR            ihre Praxis an und nationale
eine Beschwerde einreichen können. In der
Beschwerdeschrift muss genügend detailliert be-
                                                    ­Gerichte berufen sich auf die
gründet werden, warum die EMRK verletzt wurde.      Urteile aus Strassburg.

                                               –6–
Jahr   Fall                         Urteil des EGMR                                                                                    Seite

2020   B. und C. gegen Schweiz      Gutheissung der Beschwerde: Bei Rückführungen aus der Schweiz ist den besonderen Risiken             9
                                    homophober Verfolgung und Gewalt in den Herkunftsländern Rechnung zu tragen.
2020   Beizaras und Levickas        Gutheissung der Beschwerde: Die innerstaatlichen Behörden hätten wegen Hasskommentaren und
       gegen Litauen                Drohungen gegen ein homosexuelles Paar auf Facebook eine Untersuchung einleiten müssen.
                                    (vgl. Erläuterungen zu diesem Fall in der SKMR-Broschüre zur Meinungsäusserungsfreiheit)
2017   A. P., Garçon und Nicot      Gutheissung der Beschwerde: Die Anpassung des Geschlechts- und Namenseintrags muss ohne            10
       gegen Frankreich             geschlechtsangleichende Operation oder Hormonbehandlung möglich sein.
2012   Gas und Dubois gegen         Abweisung der Beschwerde: Verheiratete und unverheiratete Paare dürfen bei der Adoption von        15
       Frankreich                   Kindern unterschiedlich behandelt werden. Dabei anerkennt der EGMR bisher kein Recht auf Ehe für
                                    gleichgeschlechtliche Paare.
2010   P. B. und J. S. gegen        Gutheissung der Beschwerde: Sieht das Gesetz vor, dass Lebenspartner*innen über die Ver-           13
       Österreich                   sicherung der arbeitstätigen Partner*innen versichert sind, so schützt die EMRK diesen Anspruch
                                    auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren.
2010   Alekseyev gegen Russland     Gutheissung der Beschwerde: Das Verbot von Pride-Märschen wegen möglichen negativen oder gar       17
                                    gewalttätigen Reaktionen ist unverhältnismässig und verletzt die Versammlungsfreiheit.
2009   Schlumpf gegen Schweiz       Gutheissung der Beschwerde: Es besteht ein Anspruch auf Prüfung der individuellen Umstände         18
                                    bei Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Operationen. Eine schematische Beurteilung
                                    verletzt das Recht auf Privatleben.
2003   L. und V. gegen Österreich   Gutheissung der Beschwerde: Unterschiedliche Schutzalter je nach sexueller Orientierung sind       21
                                    unzulässig. (vgl. auch S. L. gegen Österreich)
Bei der Prüfung von Asylanträgen
       und ­Wegweisungen aus der Schweiz
      ist den b­ esonderen Risiken aufgrund
­homophober ­Verfolgung und Gewalt in den
    ­Herkunftsländern Rechnung zu tragen.

    –8–
FALLBEISPIEL

BESONDERE                                             Das Bundesverwaltungsgericht war nicht über-
                                                      zeugt, dass die gambischen Behörden Kenntnis

RISI­K EN BEI                                         von B.s Homosexualität hatten, weil er angegeben
                                                      hatte, nicht mit seinen Verwandten darüber ge-

RÜCKFÜHRUNG                                           sprochen zu haben und keinen Kontakt zu queeren
                                                      Organisationen in Gambia hatte. Es sah daher
                                                      keinen Hinderungsgrund für eine Rückführung.
Die Schweiz hat das Risiko von
Misshandlungen eines schwulen Mannes                  Der EGMR stellte hingegen fest, dass sexuelle
durch nichtstaatliche Akteur*innen und                Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen
den Schutz vor solchen Taten in Gambia                Men­schen in Gambia kriminalisiert werden und
­unzureichend abgeklärt und bewertet.                 schwere Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Er
 Sie hat damit das Verbot von Folter in               teilte auch die Einschätzung nicht, die gambischen
 Artikel 3 EMRK verletzt.                             Behörden hätten keine Kenntnis über B.s sexuelle
                                                      Orientierung.
B. reichte von 2008 bis 2015 mehrere Asyl­anträge
in der Schweiz ein, die er mit der Situation von      Der EGMR kam zum Schluss, dass die Schweiz
homosexuellen Menschen in Gambia ­begründete.         die Risiken einer Misshandlung für einen homo-
Er wurde gemäss eigenen Angaben 2008 bei einer        sexuellen Menschen und die Verfügbarkeit des
sexuellen Handlung von der Polizei verhaftet. Aus     staatlichen Schutzes in Gambia nicht ausreichend
Angst vor einer langjährigen Haftstrafe floh er aus   abgeklärt hatte und stellte eine Verletzung von
der Untersuchungshaft und dann in die Schweiz.        Artikel 3 EMRK, dem Verbot von Folter, fest.

                                                 –9–
FALLBEISPIEL

GESCHLECHTS-                                       einer psychologischen Diagnose zudem daran,
                                                   dass sie trans ist. Bei A. P. verlangte das Gericht,

UND NAMENS­                                        dass die im Ausland durchgeführte geschlechts-
                                                   angleichende Operation durch eine medizinische

EINTRAG                                            Genitaluntersuchung in Frankreich bestätigt
                                                   werden müsse.

                                                   Die Antragsstellenden gelangten vor den EGMR
Das Erfordernis einer geschlechtsan­
                                        und machten geltend, die Voraussetzungen, die
gleichenden Operation für die Anpassung
                                        sich aus dem nationalen Recht ergäben, verletzten
des Geschlechtseintrags und des Namens
                                        die Privatsphäre.
verletzt die EMRK.
                                                   Der EGMR kam 2017 in seinem Urteil
Die französischen Behörden und Gerichte ver-
                                                   zum Schluss, dass die Voraussetzung einer
weigerten A. P., Garçon und Nicot die Anpassung
                                                   geschlechtsangleichenden Operation oder einer
des Geschlechtseintrags und des Namens in der
                                                   Hormonbehandlung, die zur Sterilität führt,
Geburtsurkunde.
                                                   gegen Artikel 8 EMRK verstösst. Es bestehe
Der Kassationshof verlangte von Garçon und Nicot   ein Dilemma zwischen einer ungewünschten
die vorgängige Durchführung einer geschlechts-     Operation und/oder Hormonbehandlung und
angleichenden Operation, um eine Anpassung         der daraus resultierenden Sterilität einerseits, und
der Geburtsurkunde vornehmen zu können. Im         dem Recht auf die volle Auslebung der eigenen
Falle von Garçon zweifelte das Gericht mangels     Geschlechtsidentität andererseits. Hingegen sieht

                                             – 10 –
der EGMR keine Verletzung in der Voraussetzung
einer psychologischen Diagnose und der
Erhebung eines medizinischen Berichts durch
das Gericht – dieses Urteil bezog sich allerdings
noch auf die nun seit 2021 nicht mehr gültige
WHO-Klassifikation von Transgeschlechtlichkeit
als «psychische Störung».

Eine Änderung des Geschlechts­
eintrages und des Namens
muss auch ohne geschlechts­
angleichende ­Operation oder
Hormonbehandlung möglich sein.

                                              – 11 –
Das Recht auf Familie und das
­Diskriminierungsverbot der EMRK ­verbieten,
     dass beim landesrechtlich garantierten
  Versicherungsschutz ­gleichgeschlechtliche
        Paare schlechter gestellt werden als
          ­verschiedengeschlechtliche Paare.

     – 12 –
FALLBEISPIEL

VERSICHERUNG                                         ­ ie Regelung mehrmals an. Unter der Version
                                                     d
                                                     von 2006 galt der erweiterte Versicherungs­
                                                     schutz für verheiratete Paare ohne weitere
Sind die Lebenspartner*innen bei Krank­
                                                     Voraussetzungen (bis Ende 2018 konnten in
heit oder Unfall über die arbeitstätigen
                                                     Österreich    nur      ­verschiedengeschlechtliche
Partner*innen mitversichert, schützt die
                                                     Paare heiraten). Bei ­unverheirateten Paaren war
EMRK diesen Anspruch auch für gleich­
                                                     der Versicherungsschutz für nicht arbeitstätige
geschlechtliche Paare.
                                                     Partner*innen an zusätzliche Voraussetzungen
Herr J. S. und Herr P. B. lebten als Paar in Wien. geknüpft. Eine nichtverwandte Person im
Als sie 1997 geltend machten, dass der den gleichen Haushalt egal welchen Geschlechts, die
Haushalt besorgende P. B. über die Kranken- und unentgeltlich Hausarbeiten besorgte und sich
Unfallversicherung des als Beamten tätigen J. S. seit mindestens vier Jahren um die Erziehung
mitversichert sei, lehnten die Behörden dies von Kindern kümmerte, war mitversichert. 2007
ab. 1997 sah das Gesetz in Österreich vor, dass wurde die Regelung erneut geändert: bei ver-
Lebenspartner*innen «des anderen Geschlechts» im heirateten wie auch bei unverheirateten Paaren
gleichen Haushalt, die nicht arbeitstätig waren und waren die Partner*innen nicht mehr mitversichert.
unentgeltliche Hausarbeiten ausführten, über die
                                                     In seinem 2010 ergangenen Urteil ­bewertete
arbeitstätigen Partner*innen mitversichert waren.
                                                     der EGMR alle drei Regelungen. Die
Das Parlament passte nach einem Urteil des 1997 gültige Bestimmung schloss gleich­
­öster­reichischen Verfassungs­gerichtshofs von 2005 geschlechtliche Partner*innen vom erweiterten

                                                – 13 –
Ver­­sicherungsschutz aus. Die Anpassung von
2006 enthielt keinen grundsätzlichen Ausschluss
mehr, stellte aber gleichgeschlechtliche Paare
schlechter (sie konnten nicht heiraten und von             Les mesures de surveillance
den vereinfachten Voraussetzungen profitieren).
Die Regelung von 2007 hingegen behandelte alle
                                                       doivent être prévisibles, et donc
Paare gleich.                                         explicitement mentionnées dans
Das Gericht in Strassburg befand, dass die            la loi. Les personnes concernées
Regelungen von 1997 und 2006 das Diskrimi­
nierungs­­verbot in Verbindung mit dem Recht auf
                                                     doivent avoir la possibilité de sou-
Familie verletzt hatten. Der österreichische Staat   mettre un rapport de surveillance
musste dem Paar Schadenersatz zahlen, da diese
über mehrere Jahre Prämien für eine zusätzliche
                                                               à une autorité judiciaire.
Kranken- und Unfallversicherung für P. B. hatten
bezahlen müssen.

                                               – 14 –
FALLBEISPIEL

KEINE ADOPTION
                                                      Bei einer Adoption der Tochter durch Frau Gas als
Die EMRK garantiert bei gleichgeschlecht­
                                          Einzelperson hätte Frau Dubois wiederum ihre
lichen Paaren kein Recht auf Adoption für
                                          Rechte als Mutter verloren.
den nichtleiblichen Elternteil.
                                                       Das Paar gelangte an den EGMR. Dieser verwies
Frau Gas und Frau Dubois lebten ab 1989 als Paar
                                                       in seinem Urteil von 2012 auf seine bisherige
in Frankreich. Im September 2000 brachte Frau
                                                       Rechtsprechung: Die EMRK verpflichte die
Dubois eine Tochter zur Welt. Sie hatte sich in
                                                       Mitgliedstaaten nicht dazu, gleichgeschlechtlichen
Belgien mittels anonymer Samenspende künstlich
                                                       Paaren den Zugang zur Ehe zu ermöglichen. Die
befruchten lassen. Die französischen Behörden
                                                       Ehe sei mit einem besonderen Status verbunden.
registrierten Frau Dubois als einzigen Elternteil.
                                                       Die Situation von Frau Dubois und Frau Gas sei
Die beiden Frauen gingen 2002 eine registrierte
                                                       deshalb nicht mit der Situation eines verheirateten,
Partnerschaft ein.
                                                       sondern nur mit der eines unverheirateten ver-
2006 reichte Frau Gas ein Adoptionsgesuch ein. schiedengeschlechtlichen Paares vergleichbar.
Die Behörden lehnten dieses ab. Das Gesetz sehe Bei der Adoption behandle das Gesetz jedoch
die Adoption nur durch Einzelpersonen oder alle unverheirateten Paare gleich. Deshalb habe
­verheiratete Paare vor. Heiraten konnten bis 2012 Frankreich das Diskriminierungsverbot der EMRK
 aber nur verschiedengeschlechtlichen Paare (die in Verbindung mit dem Recht auf Familie nicht
 registrierte Partnerschaft stand allen Paaren offen). verletzt.

                                                 – 15 –
Die EMRK schützt Demonstrationen für die Rechte
von LGBTIQ*-Menschen, auch wenn negative oder
    gar gewalttätige Reaktionen zu erwarten sind.

           – 16 –
FALLBEISPIEL

PRIDE-MÄRSCHE
Das Menschenrecht auf Versammlungs­
freiheit schützt Kundgebungen für
                                                     daher negative Reaktionen und Proteste gegen
die Rechte von lesbischen, schwulen,
                                                     die Teilnehmenden hervorrufen, die in zivile
bisexuellen, trans, inter und queeren
                                                     Unruhen und Massenaufstände münden könnten.
Menschen. Dies gilt auch und gerade bei
                                                     Beschwerden gegen die Demonstrationsverbote
möglichen negativen oder gar gewalt­
                                                     waren erfolglos. Die trotzdem durchgeführten
tätigen Reaktionen anderer Teile der
                                                     Versammlungen löste die Polizei auf.
Bevölkerung.
                                                     Herr Alekseyev reichte drei Beschwerden beim
Herr Alekseyev organisierte mit weiteren Per­
                                                     EGMR ein. Der EGMR kam unter anderem zum
sonen 2006, 2007 und 2008 in der Innenstadt von
                                                     Schluss, dass nicht jede Wahrscheinlichkeit von
Moskau Pride-Märsche und Mahnwachen.
                                                     Spannungen und Angriffen auf Teilnehmende
Die Behörden erteilten für die Märsche keine         ein Kundgebungsverbot rechtfertigen könne.
Bewilligung. Sie begründeten ihre Entscheide unter   Sonst hätte die Gesellschaft keine Möglichkeit
anderem mit der Verhinderung von Unruhen, der        mehr, zu kontroversen Fragen unterschied-
Sicherheit der Demonstrierenden und den Rechten      liche Meinungen zu hören. Das Verbot habe die
von Dritten. Gegen die Märsche seien ­zahlreiche     Versammlungsfreiheit in Verbindung mit dem
Petitionen eingereicht worden. Der Anlass dürfte     Diskriminierungsverbot der EMRK verletzt.

                                               – 17 –
FALLBEISPIEL

GESCHLECHTS-                            Transidentität» übernommen. Eine solche könne

ANGLEICHENDE                            frühestens nach einer zweijährigen ärztlichen
                                        Begleitung festgestellt werden. Diese zweijährige

OPERATIONEN                             Beobachtungszeit wurde vom Eidgenössischen
                                        Versicherungsgericht 2005, mit Hinweis auf Urteile
                                        von 1988, bestätigt. Schliesslich sei die Operation
Es besteht ein Anspruch auf Prüfung der
                                        irreversibel, und es sei wichtig, «ungerechtfertigte»
individuellen Umstände bei Gesuchen um
                                        Operationen zu verhindern.
Übernahme von Operationskosten durch
Krankenkassen. Eine schematische Beur­ Der EGMR stellte in seinem Urteil 2009 einen
teilung verletzt das Recht auf Privatleben. Verstoss gegen das Recht auf Privatleben nach
                                                  Artikel 8 EMRK sowie eine Verletzung der
Die Beschwerdeführerin Nadine Schlumpf, damals
                                                  Verfahrensrechte in Artikel 6 EMRK fest. Darüber
67 Jahre alt, fragte 2004 bei ihrer Krankenkasse
                                                  hinaus hielt er fest, dass den Staaten nur ein sehr
an, ob diese die Kosten einer geschlechts-
                                                  beschränkter Ermessensspielraum für diesen be-
angleichenden Operation übernehmen könne.
                                                  sonders intimen Aspekt des Privatlebens zusteht.
Die Krankenkasse verweigerte die Kosten­ Die verlangte zweijährige Frist, ohne Prüfung der
übernahme mit Hinweis auf die Rechts­prech­ung spezifischen Umstände der Beschwerdeführerin,
des    Eidgenössischen     Versicherungsgerichts: sei ein unzulässiger Eingriff in die Freiheit zur
Die Kosten würden nur im Falle einer «echten selbstbestimmten Geschlechtsidentität.

                                               – 18 –
Den Staaten steht im Umgang mit dem besonders
intimen Bereich der Geschlechtsidentität nur wenig
Ermessensspielraum zu. Das Recht auf ­Privatleben
verlangt, dass die individuellen Umstände für
geschlechtsangleichende Operationen geprüft
werden müssen.

                                – 19 –
Unterschiedliche Schutzalter für sexuelle
   Handlungen zwischen Menschen gleichen
Geschlechts und Menschen unterschiedlicher
Geschlechter stellen eine Diskriminierung dar.

       – 20 –
FALLBEISPIEL

UNTERSCHIEDLICHE
SCHUTZALTER                                          Die Europäische Kommission für Menschenrechte
                                                     hatte in einem früheren Entscheid den
Die Festlegung unterschiedlicher Schutz­             ­betreffenden Artikel im österreichischen Straf­
alter je nach sexueller Orientierung ist              gesetzbuch noch nicht beanstandet. 2003 stellte
diskriminierend und verstösst gegen die               der EGMR jedoch fest, dass Artikel 209 auf
EMRK.                                                 Vorurteilen gegenüber homosexuellen Menschen
                                                      beruht. Derartige Vorurteile stellen, ebenso wie
Herr L. und Herr V. wurden Ende der 1990er-Jahre
                                                      negative Einstellungen in Bezug auf Herkunft oder
in Österreich wegen sexueller Handlungen mit
                                                      Hautfarbe, keine ausreichenden Gründe für eine
männlichen Jugendlichen verurteilt. Das öster-
                                                      Ungleichbehandlung dar.
reichische Strafgesetzbuch sah in Artikel 209 für
Männer ab 19 Jahren ein Verbot einvernehmlicher      Der EGMR präzisiert damit, dass die Beibehaltung
sexueller Handlungen mit 14- bis 18-jährigen         von ungleichen Schutzaltern für sexuelle
männlichen Jugendlichen bzw. Männern vor.            Handlungen, je nach dem welches Geschlecht die
Einvernehmliche sexuelle Handlungen von              involvierten Menschen haben, eine Verletzung von
Männern ab 19 Jahren mit 14- bis 18-jährigen weib-   Artikel 14 (Recht auf Privatleben) in Verbindung
lichen Jugendlichen bzw. Frauen waren hingegen       mit Artikel 8 (Diskriminierungsverbot) darstellt.
nicht strafbar. Ebenso waren Frauen ab 19 Jahren     Für ungleiche Schutzalter gibt es keine objektive
von keinem entsprechenden Verbot betroffen.          und vernünftige Rechtfertigung.

                                               – 21 –
DER EGMR GIBT                                              Les États parties ne bénéficient
                                                          que d’une étroite marge d’appré-
MIR RECHT                                                ciation s’agissant de la question
– WAS NUN?                                              ­particulièrement intime de l’iden-
                                                          tité de genre. Le droit au respect
Die Urteile des EGMR müssen von den                      de la vie privée impose aux assu-
nationalen Behörden umgesetzt werden.
                                                             rances de tenir compte des cir-
Die Urteile des Strassburger Gerichtshofs sind
rechtlich verbindlich. Der EGMR kann eine
                                                           constances individuelles en cas
Verletzung der EMRK jedoch bloss feststellen und           de procédures de réassignation
den Beschwerdeführenden eine Entschädigung
zusprechen. Er kann aber zum Beispiel keine
                                                                                    sexuelle.
menschenrechtswidrigen nationalen Gesetze auf-
heben oder die Rückübertragung von Eigentum
anordnen. Für die Umsetzung der Urteile sind viel-
mehr die Behörden des betroffenen Vertragsstaates
verantwortlich.

                                               – 22 –
DOKUMENTATION
Diese Broschüre ist Teil unserer Reihe über die
Rechtsprechung des EGMR zu verschiedenen
Lebensbereichen.

Frühere Broschüren:
• Der Europäische Gerichtshof für Menschen­
  rechte und der Schutz der Privatsphäre (2021)
• Der Europäische Gerichtshof für Menschen­
  rechte und die Meinungsäusserungsfreiheit im
  Internet (2020)
• Der Europäische Gerichtshof für Menschen­
  rechte und das Recht auf ein faires Verfahren
  (2018)
• Der Europäische Gerichtshof für Menschen­
  rechte und der Schutz von Unternehmen (2017)
• Der Europäische Gerichtshof für Menschen­       Die Broschüren sind verfügbar unter
  rechte und die Medienfreiheit in der Schweiz
  (2016)                                          www.skmr.ch > Publikationen

                                             – 23 –
Grafik: do2 Dominik Hunziker
Titelfoto: © ECHR-CEDH Council of Europe
Foto Seite 12: The Gender Spectrum Collection
Fotos Seiten 8, 16, 19, 20: iStockphoto

                         Ganze Broschüre

                    Ausschnitte

Juni 2021
Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte
Schanzeneckstrasse 1, Postfach, 3001 Bern
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