DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE UND DIE RECHTE VON LGBTIQ*-MENSCHEN - Schweizerisches Kompetenzzentrum ...
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DER EUROPÄISCHE GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE UND DIE RECHTE VON LGBTIQ*-MENSCHEN
Der EGMR hat gestützt auf die EMRK einen zwar nicht lückenlosen, aber thematisch relativ b reiten menschenrechtlichen Schutz für L GBTIQ*-Menschen etabliert, auf den diese sich berufen können. –2–
trans Menschen gegenüber Behörden berufen, DIE EMRK SCHÜTZT wenn es um die amtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität geht, wenn die Rechte LGBTIQ*-MENSCHEN gleichgeschlechtlicher Paare als Eltern oder der Versicherungsschutz betroffen sind oder wenn das Schutzalter bei sexuellen Handlungen je nach Der Europäische Gerichtshof für sexueller Orientierung unterschiedlich ausfällt. Menschenrechte (EGMR) hat in zahl reichen Urteilen festgehalten, dass die Der EGMR hat in mehreren Urteilen festgehalten, Europäische Menschenrechtskonvention dass sich LGBTIQ*-Menschen auf das Recht auf ein (EMRK) die Rechte von lesbischen, faires Verfahren stützen können. Sie müssen zudem schwulen, bisexuellen, trans, inter und gegen Behördenentscheide, die sie betreffen, eine queeren Menschen schützt. wirksame Beschwerdemöglichkeit haben. Die Mitgliedstaaten des Europarats müssen die in LGBTIQ*-Menschen im Asylverfahren können sich der EMRK garantierten Menschenrechte gegen- auf das Recht auf Schutz vor Folter und unmensch- über LGBTIQ*-Menschen respektieren, schützen licher, grausamer oder erniedrigender Behandlung und verwirklichen. berufen. Besonders bedeutend ist das Recht auf Schutz Die bisherige Rechtsprechung des EGMR befasst vor Diskriminierung zusammen mit dem Recht sich vor allem mit Beschwerden von LGBTQ- auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Personen. Zum Schutz von inter Menschen gibt es Auf diese Rechte können sich beispielsweise bis heute keine Rechtsprechung. –3–
RECHTSGRUNDLAGEN zwar nicht ausdrücklich. Der EGMR und das DISKRIMINIERUNGSVERBOT Bundesgericht entschieden jedoch, dass das Verbot auch untersagt, Menschen zu diskriminieren, weil Die Europäische Menschenrechtskonvention sie nicht heterosexuell oder cisgender sind. (EMRK) und die Bundesverfassung (BV) verbieten es, Menschen aufgrund eines bestimmten Betroffene können eine Verletzung des Merkmals oder bestimmter Zuschreibungen wie Diskriminierungsverbotes in der EMRK jedoch nur des Geschlechts, der Hautfarbe, der Sprache, der dann vorbringen, wenn gleichzeitig ein anderes Ethnie oder der Religion zu diskriminieren (Art.14 Recht der EMRK betroffen ist. Demgegenüber ist EMRK, Art. 8 BV). Diese Artikel erwähnen die das Diskriminierungsverbot in der BV selbständig sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität anrufbar. –4–
Das Diskriminierungsverbot der EMRK gilt somit in Verbindung mit allen in der EMRK garantierten Rechten. Dabei sind verschiedene Artikel der EMRK für LGBTIQ*-Menschen besonders relevant: • Recht auf Respektierung des Privat- und Familienlebens (Art. 8) • Recht auf Ehe (Art. 12) • Recht auf ein faires Verfahren (Art. 5 und 6) • Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13) –5–
LAUSANNE ODER STRASSBURG? Bevor der EGMR in Strassburg angerufen werden kann, sind die nationalen Instan Urteile des EGMR wirken oft über zen zu durchlaufen. den Einzelfall hinaus und bewir Betroffene, die Menschenrechtsverletzungen ken Änderungen in den übrigen geltend machen, müssen alle zuständigen Instanzen des betroffenen Mitgliedstaates erfolg- Mitgliedstaaten. Behörden passen los angerufen haben, bevor sie beim EGMR ihre Praxis an und nationale eine Beschwerde einreichen können. In der Beschwerdeschrift muss genügend detailliert be- Gerichte berufen sich auf die gründet werden, warum die EMRK verletzt wurde. Urteile aus Strassburg. –6–
Jahr Fall Urteil des EGMR Seite 2020 B. und C. gegen Schweiz Gutheissung der Beschwerde: Bei Rückführungen aus der Schweiz ist den besonderen Risiken 9 homophober Verfolgung und Gewalt in den Herkunftsländern Rechnung zu tragen. 2020 Beizaras und Levickas Gutheissung der Beschwerde: Die innerstaatlichen Behörden hätten wegen Hasskommentaren und gegen Litauen Drohungen gegen ein homosexuelles Paar auf Facebook eine Untersuchung einleiten müssen. (vgl. Erläuterungen zu diesem Fall in der SKMR-Broschüre zur Meinungsäusserungsfreiheit) 2017 A. P., Garçon und Nicot Gutheissung der Beschwerde: Die Anpassung des Geschlechts- und Namenseintrags muss ohne 10 gegen Frankreich geschlechtsangleichende Operation oder Hormonbehandlung möglich sein. 2012 Gas und Dubois gegen Abweisung der Beschwerde: Verheiratete und unverheiratete Paare dürfen bei der Adoption von 15 Frankreich Kindern unterschiedlich behandelt werden. Dabei anerkennt der EGMR bisher kein Recht auf Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. 2010 P. B. und J. S. gegen Gutheissung der Beschwerde: Sieht das Gesetz vor, dass Lebenspartner*innen über die Ver- 13 Österreich sicherung der arbeitstätigen Partner*innen versichert sind, so schützt die EMRK diesen Anspruch auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren. 2010 Alekseyev gegen Russland Gutheissung der Beschwerde: Das Verbot von Pride-Märschen wegen möglichen negativen oder gar 17 gewalttätigen Reaktionen ist unverhältnismässig und verletzt die Versammlungsfreiheit. 2009 Schlumpf gegen Schweiz Gutheissung der Beschwerde: Es besteht ein Anspruch auf Prüfung der individuellen Umstände 18 bei Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Operationen. Eine schematische Beurteilung verletzt das Recht auf Privatleben. 2003 L. und V. gegen Österreich Gutheissung der Beschwerde: Unterschiedliche Schutzalter je nach sexueller Orientierung sind 21 unzulässig. (vgl. auch S. L. gegen Österreich)
Bei der Prüfung von Asylanträgen und Wegweisungen aus der Schweiz ist den b esonderen Risiken aufgrund homophober Verfolgung und Gewalt in den Herkunftsländern Rechnung zu tragen. –8–
FALLBEISPIEL BESONDERE Das Bundesverwaltungsgericht war nicht über- zeugt, dass die gambischen Behörden Kenntnis RISIK EN BEI von B.s Homosexualität hatten, weil er angegeben hatte, nicht mit seinen Verwandten darüber ge- RÜCKFÜHRUNG sprochen zu haben und keinen Kontakt zu queeren Organisationen in Gambia hatte. Es sah daher keinen Hinderungsgrund für eine Rückführung. Die Schweiz hat das Risiko von Misshandlungen eines schwulen Mannes Der EGMR stellte hingegen fest, dass sexuelle durch nichtstaatliche Akteur*innen und Handlungen zwischen gleichgeschlechtlichen den Schutz vor solchen Taten in Gambia Menschen in Gambia kriminalisiert werden und unzureichend abgeklärt und bewertet. schwere Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Er Sie hat damit das Verbot von Folter in teilte auch die Einschätzung nicht, die gambischen Artikel 3 EMRK verletzt. Behörden hätten keine Kenntnis über B.s sexuelle Orientierung. B. reichte von 2008 bis 2015 mehrere Asylanträge in der Schweiz ein, die er mit der Situation von Der EGMR kam zum Schluss, dass die Schweiz homosexuellen Menschen in Gambia begründete. die Risiken einer Misshandlung für einen homo- Er wurde gemäss eigenen Angaben 2008 bei einer sexuellen Menschen und die Verfügbarkeit des sexuellen Handlung von der Polizei verhaftet. Aus staatlichen Schutzes in Gambia nicht ausreichend Angst vor einer langjährigen Haftstrafe floh er aus abgeklärt hatte und stellte eine Verletzung von der Untersuchungshaft und dann in die Schweiz. Artikel 3 EMRK, dem Verbot von Folter, fest. –9–
FALLBEISPIEL GESCHLECHTS- einer psychologischen Diagnose zudem daran, dass sie trans ist. Bei A. P. verlangte das Gericht, UND NAMENS dass die im Ausland durchgeführte geschlechts- angleichende Operation durch eine medizinische EINTRAG Genitaluntersuchung in Frankreich bestätigt werden müsse. Die Antragsstellenden gelangten vor den EGMR Das Erfordernis einer geschlechtsan und machten geltend, die Voraussetzungen, die gleichenden Operation für die Anpassung sich aus dem nationalen Recht ergäben, verletzten des Geschlechtseintrags und des Namens die Privatsphäre. verletzt die EMRK. Der EGMR kam 2017 in seinem Urteil Die französischen Behörden und Gerichte ver- zum Schluss, dass die Voraussetzung einer weigerten A. P., Garçon und Nicot die Anpassung geschlechtsangleichenden Operation oder einer des Geschlechtseintrags und des Namens in der Hormonbehandlung, die zur Sterilität führt, Geburtsurkunde. gegen Artikel 8 EMRK verstösst. Es bestehe Der Kassationshof verlangte von Garçon und Nicot ein Dilemma zwischen einer ungewünschten die vorgängige Durchführung einer geschlechts- Operation und/oder Hormonbehandlung und angleichenden Operation, um eine Anpassung der daraus resultierenden Sterilität einerseits, und der Geburtsurkunde vornehmen zu können. Im dem Recht auf die volle Auslebung der eigenen Falle von Garçon zweifelte das Gericht mangels Geschlechtsidentität andererseits. Hingegen sieht – 10 –
der EGMR keine Verletzung in der Voraussetzung einer psychologischen Diagnose und der Erhebung eines medizinischen Berichts durch das Gericht – dieses Urteil bezog sich allerdings noch auf die nun seit 2021 nicht mehr gültige WHO-Klassifikation von Transgeschlechtlichkeit als «psychische Störung». Eine Änderung des Geschlechts eintrages und des Namens muss auch ohne geschlechts angleichende Operation oder Hormonbehandlung möglich sein. – 11 –
Das Recht auf Familie und das Diskriminierungsverbot der EMRK verbieten, dass beim landesrechtlich garantierten Versicherungsschutz gleichgeschlechtliche Paare schlechter gestellt werden als verschiedengeschlechtliche Paare. – 12 –
FALLBEISPIEL VERSICHERUNG ie Regelung mehrmals an. Unter der Version d von 2006 galt der erweiterte Versicherungs schutz für verheiratete Paare ohne weitere Sind die Lebenspartner*innen bei Krank Voraussetzungen (bis Ende 2018 konnten in heit oder Unfall über die arbeitstätigen Österreich nur verschiedengeschlechtliche Partner*innen mitversichert, schützt die Paare heiraten). Bei unverheirateten Paaren war EMRK diesen Anspruch auch für gleich der Versicherungsschutz für nicht arbeitstätige geschlechtliche Paare. Partner*innen an zusätzliche Voraussetzungen Herr J. S. und Herr P. B. lebten als Paar in Wien. geknüpft. Eine nichtverwandte Person im Als sie 1997 geltend machten, dass der den gleichen Haushalt egal welchen Geschlechts, die Haushalt besorgende P. B. über die Kranken- und unentgeltlich Hausarbeiten besorgte und sich Unfallversicherung des als Beamten tätigen J. S. seit mindestens vier Jahren um die Erziehung mitversichert sei, lehnten die Behörden dies von Kindern kümmerte, war mitversichert. 2007 ab. 1997 sah das Gesetz in Österreich vor, dass wurde die Regelung erneut geändert: bei ver- Lebenspartner*innen «des anderen Geschlechts» im heirateten wie auch bei unverheirateten Paaren gleichen Haushalt, die nicht arbeitstätig waren und waren die Partner*innen nicht mehr mitversichert. unentgeltliche Hausarbeiten ausführten, über die In seinem 2010 ergangenen Urteil bewertete arbeitstätigen Partner*innen mitversichert waren. der EGMR alle drei Regelungen. Die Das Parlament passte nach einem Urteil des 1997 gültige Bestimmung schloss gleich österreichischen Verfassungsgerichtshofs von 2005 geschlechtliche Partner*innen vom erweiterten – 13 –
Versicherungsschutz aus. Die Anpassung von 2006 enthielt keinen grundsätzlichen Ausschluss mehr, stellte aber gleichgeschlechtliche Paare schlechter (sie konnten nicht heiraten und von Les mesures de surveillance den vereinfachten Voraussetzungen profitieren). Die Regelung von 2007 hingegen behandelte alle doivent être prévisibles, et donc Paare gleich. explicitement mentionnées dans Das Gericht in Strassburg befand, dass die la loi. Les personnes concernées Regelungen von 1997 und 2006 das Diskrimi nierungsverbot in Verbindung mit dem Recht auf doivent avoir la possibilité de sou- Familie verletzt hatten. Der österreichische Staat mettre un rapport de surveillance musste dem Paar Schadenersatz zahlen, da diese über mehrere Jahre Prämien für eine zusätzliche à une autorité judiciaire. Kranken- und Unfallversicherung für P. B. hatten bezahlen müssen. – 14 –
FALLBEISPIEL KEINE ADOPTION Bei einer Adoption der Tochter durch Frau Gas als Die EMRK garantiert bei gleichgeschlecht Einzelperson hätte Frau Dubois wiederum ihre lichen Paaren kein Recht auf Adoption für Rechte als Mutter verloren. den nichtleiblichen Elternteil. Das Paar gelangte an den EGMR. Dieser verwies Frau Gas und Frau Dubois lebten ab 1989 als Paar in seinem Urteil von 2012 auf seine bisherige in Frankreich. Im September 2000 brachte Frau Rechtsprechung: Die EMRK verpflichte die Dubois eine Tochter zur Welt. Sie hatte sich in Mitgliedstaaten nicht dazu, gleichgeschlechtlichen Belgien mittels anonymer Samenspende künstlich Paaren den Zugang zur Ehe zu ermöglichen. Die befruchten lassen. Die französischen Behörden Ehe sei mit einem besonderen Status verbunden. registrierten Frau Dubois als einzigen Elternteil. Die Situation von Frau Dubois und Frau Gas sei Die beiden Frauen gingen 2002 eine registrierte deshalb nicht mit der Situation eines verheirateten, Partnerschaft ein. sondern nur mit der eines unverheirateten ver- 2006 reichte Frau Gas ein Adoptionsgesuch ein. schiedengeschlechtlichen Paares vergleichbar. Die Behörden lehnten dieses ab. Das Gesetz sehe Bei der Adoption behandle das Gesetz jedoch die Adoption nur durch Einzelpersonen oder alle unverheirateten Paare gleich. Deshalb habe verheiratete Paare vor. Heiraten konnten bis 2012 Frankreich das Diskriminierungsverbot der EMRK aber nur verschiedengeschlechtlichen Paare (die in Verbindung mit dem Recht auf Familie nicht registrierte Partnerschaft stand allen Paaren offen). verletzt. – 15 –
Die EMRK schützt Demonstrationen für die Rechte von LGBTIQ*-Menschen, auch wenn negative oder gar gewalttätige Reaktionen zu erwarten sind. – 16 –
FALLBEISPIEL PRIDE-MÄRSCHE Das Menschenrecht auf Versammlungs freiheit schützt Kundgebungen für daher negative Reaktionen und Proteste gegen die Rechte von lesbischen, schwulen, die Teilnehmenden hervorrufen, die in zivile bisexuellen, trans, inter und queeren Unruhen und Massenaufstände münden könnten. Menschen. Dies gilt auch und gerade bei Beschwerden gegen die Demonstrationsverbote möglichen negativen oder gar gewalt waren erfolglos. Die trotzdem durchgeführten tätigen Reaktionen anderer Teile der Versammlungen löste die Polizei auf. Bevölkerung. Herr Alekseyev reichte drei Beschwerden beim Herr Alekseyev organisierte mit weiteren Per EGMR ein. Der EGMR kam unter anderem zum sonen 2006, 2007 und 2008 in der Innenstadt von Schluss, dass nicht jede Wahrscheinlichkeit von Moskau Pride-Märsche und Mahnwachen. Spannungen und Angriffen auf Teilnehmende Die Behörden erteilten für die Märsche keine ein Kundgebungsverbot rechtfertigen könne. Bewilligung. Sie begründeten ihre Entscheide unter Sonst hätte die Gesellschaft keine Möglichkeit anderem mit der Verhinderung von Unruhen, der mehr, zu kontroversen Fragen unterschied- Sicherheit der Demonstrierenden und den Rechten liche Meinungen zu hören. Das Verbot habe die von Dritten. Gegen die Märsche seien zahlreiche Versammlungsfreiheit in Verbindung mit dem Petitionen eingereicht worden. Der Anlass dürfte Diskriminierungsverbot der EMRK verletzt. – 17 –
FALLBEISPIEL GESCHLECHTS- Transidentität» übernommen. Eine solche könne ANGLEICHENDE frühestens nach einer zweijährigen ärztlichen Begleitung festgestellt werden. Diese zweijährige OPERATIONEN Beobachtungszeit wurde vom Eidgenössischen Versicherungsgericht 2005, mit Hinweis auf Urteile von 1988, bestätigt. Schliesslich sei die Operation Es besteht ein Anspruch auf Prüfung der irreversibel, und es sei wichtig, «ungerechtfertigte» individuellen Umstände bei Gesuchen um Operationen zu verhindern. Übernahme von Operationskosten durch Krankenkassen. Eine schematische Beur Der EGMR stellte in seinem Urteil 2009 einen teilung verletzt das Recht auf Privatleben. Verstoss gegen das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 EMRK sowie eine Verletzung der Die Beschwerdeführerin Nadine Schlumpf, damals Verfahrensrechte in Artikel 6 EMRK fest. Darüber 67 Jahre alt, fragte 2004 bei ihrer Krankenkasse hinaus hielt er fest, dass den Staaten nur ein sehr an, ob diese die Kosten einer geschlechts- beschränkter Ermessensspielraum für diesen be- angleichenden Operation übernehmen könne. sonders intimen Aspekt des Privatlebens zusteht. Die Krankenkasse verweigerte die Kosten Die verlangte zweijährige Frist, ohne Prüfung der übernahme mit Hinweis auf die Rechtsprechung spezifischen Umstände der Beschwerdeführerin, des Eidgenössischen Versicherungsgerichts: sei ein unzulässiger Eingriff in die Freiheit zur Die Kosten würden nur im Falle einer «echten selbstbestimmten Geschlechtsidentität. – 18 –
Den Staaten steht im Umgang mit dem besonders intimen Bereich der Geschlechtsidentität nur wenig Ermessensspielraum zu. Das Recht auf Privatleben verlangt, dass die individuellen Umstände für geschlechtsangleichende Operationen geprüft werden müssen. – 19 –
Unterschiedliche Schutzalter für sexuelle Handlungen zwischen Menschen gleichen Geschlechts und Menschen unterschiedlicher Geschlechter stellen eine Diskriminierung dar. – 20 –
FALLBEISPIEL UNTERSCHIEDLICHE SCHUTZALTER Die Europäische Kommission für Menschenrechte hatte in einem früheren Entscheid den Die Festlegung unterschiedlicher Schutz betreffenden Artikel im österreichischen Straf alter je nach sexueller Orientierung ist gesetzbuch noch nicht beanstandet. 2003 stellte diskriminierend und verstösst gegen die der EGMR jedoch fest, dass Artikel 209 auf EMRK. Vorurteilen gegenüber homosexuellen Menschen beruht. Derartige Vorurteile stellen, ebenso wie Herr L. und Herr V. wurden Ende der 1990er-Jahre negative Einstellungen in Bezug auf Herkunft oder in Österreich wegen sexueller Handlungen mit Hautfarbe, keine ausreichenden Gründe für eine männlichen Jugendlichen verurteilt. Das öster- Ungleichbehandlung dar. reichische Strafgesetzbuch sah in Artikel 209 für Männer ab 19 Jahren ein Verbot einvernehmlicher Der EGMR präzisiert damit, dass die Beibehaltung sexueller Handlungen mit 14- bis 18-jährigen von ungleichen Schutzaltern für sexuelle männlichen Jugendlichen bzw. Männern vor. Handlungen, je nach dem welches Geschlecht die Einvernehmliche sexuelle Handlungen von involvierten Menschen haben, eine Verletzung von Männern ab 19 Jahren mit 14- bis 18-jährigen weib- Artikel 14 (Recht auf Privatleben) in Verbindung lichen Jugendlichen bzw. Frauen waren hingegen mit Artikel 8 (Diskriminierungsverbot) darstellt. nicht strafbar. Ebenso waren Frauen ab 19 Jahren Für ungleiche Schutzalter gibt es keine objektive von keinem entsprechenden Verbot betroffen. und vernünftige Rechtfertigung. – 21 –
DER EGMR GIBT Les États parties ne bénéficient que d’une étroite marge d’appré- MIR RECHT ciation s’agissant de la question – WAS NUN? particulièrement intime de l’iden- tité de genre. Le droit au respect Die Urteile des EGMR müssen von den de la vie privée impose aux assu- nationalen Behörden umgesetzt werden. rances de tenir compte des cir- Die Urteile des Strassburger Gerichtshofs sind rechtlich verbindlich. Der EGMR kann eine constances individuelles en cas Verletzung der EMRK jedoch bloss feststellen und de procédures de réassignation den Beschwerdeführenden eine Entschädigung zusprechen. Er kann aber zum Beispiel keine sexuelle. menschenrechtswidrigen nationalen Gesetze auf- heben oder die Rückübertragung von Eigentum anordnen. Für die Umsetzung der Urteile sind viel- mehr die Behörden des betroffenen Vertragsstaates verantwortlich. – 22 –
DOKUMENTATION Diese Broschüre ist Teil unserer Reihe über die Rechtsprechung des EGMR zu verschiedenen Lebensbereichen. Frühere Broschüren: • Der Europäische Gerichtshof für Menschen rechte und der Schutz der Privatsphäre (2021) • Der Europäische Gerichtshof für Menschen rechte und die Meinungsäusserungsfreiheit im Internet (2020) • Der Europäische Gerichtshof für Menschen rechte und das Recht auf ein faires Verfahren (2018) • Der Europäische Gerichtshof für Menschen rechte und der Schutz von Unternehmen (2017) • Der Europäische Gerichtshof für Menschen Die Broschüren sind verfügbar unter rechte und die Medienfreiheit in der Schweiz (2016) www.skmr.ch > Publikationen – 23 –
Grafik: do2 Dominik Hunziker Titelfoto: © ECHR-CEDH Council of Europe Foto Seite 12: The Gender Spectrum Collection Fotos Seiten 8, 16, 19, 20: iStockphoto Ganze Broschüre Ausschnitte Juni 2021 Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte Schanzeneckstrasse 1, Postfach, 3001 Bern
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