Fall 3: UBS-Staatsvertrag - Lösungsskizze

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Fall 3: UBS-Staatsvertrag (Lösungsvorschlag)
Übungen im Öffentlichen Recht, Prof. Dr. Felix Uhlmann

Fall 3: UBS-Staatsvertrag – Lösungsskizze
UBS-Staatsvertrag

Abschluss

Der Abschluss eines Staatsvertrags ist in Art. 166 Abs. 2 und 184 Abs. 2 BV geregelt. Zu-
nächst wird der Inhalt des Vertrags unter der Leitung des Bundesrats verhandelt. Nach Ab-
schluss der Verhandlungen unterzeichnet der Bundesrat den Vertrag (Art. 184 Abs. 2 BV)
unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Bundesversammlung und der nachfolgenden
Ratifikation1. Nach der Unterzeichnung legt der Bundesrat den Vertrag der Bundesversamm-
lung zur Genehmigung vor (Art. 166 Abs. 2 und Art. 184 Abs. 2 Satz 2 BV, Art. 24 Abs. 2
und 3 ParlG)2. Am Inhalt des Vertrags selbst kann die Bundesversammlung nichts mehr än-
dern. Die Genehmigung durch die Bundesversammlung ist die Voraussetzung für die Ratifi-
kation des Vertrags. Die Ratifikation ist vom innerstaatlichen Akt der Genehmigung zu unter-
scheiden: Sie stellt einen völkerrechtlichen Akt dar, „durch den ein Staat in verbindlicher
Weise erklärt, durch einen Staatsvertrag gebunden zu sein“3.
Danach ist der Staatsvertrag, als Völkerrecht, gemäss Art. 5 Abs. 4 BV sowohl von Bund als
auch von den Kantonen zu beachten und gemäss Art. 190 BV für das Bundesgericht und die
rechtsanwendenden Behörden massgebend.
Die Schweizerische Eidgenossenschaft schloss mit den USA am 19. August 2009 einen
Staatsvertrag über ein Amtshilfegesuch des Internal Revenue Service der Vereinigten Staaten
von Amerika betreffend UBS AG ab. Das Abkommen trat mit der Unterzeichnung in Kraft
(Art. 8 UBS-Staatsvertrag) und wurde bereits vor der Genehmigung von der Bundesversamm-
lung am 17. Juni 2010 von den Behörden angewendet (Art. 9 UBS-Staatsvertrag).

Vorläufige Anwendung

Die vorläufige Anwendung eines Vertrags oder Vertragsteils ist in Art. 25 Abs. 1 der Wiener
Vertragskonvention (VRK) geregelt. Gem. Art. 25 Abs. 1 VRK darf ein Vertrag oder ein Teil
des Vertrags angewendet werden, wenn dies der Vertrag selbst vorsieht (vgl. i.c. Art. 8
Staatsvertrag). Die vorläufige Anwendbarkeit des Vertrags führt dazu, dass der Vertrag oder
einzelne Bestimmungen sofort Wirkungen entfalten können.
Dies ist zulässig, da der Bundesrat Staatsverträge unter den Voraussetzungen von Art. 7b Abs.
1 RVOG vorzeitig anwenden darf. Art. 7b Abs. 1 RVOG sieht vor, dass der Bundesrat die
vorläufige Anwendung beschliessen oder vereinbaren kann, wenn die Wahrung wichtiger
Interessen der Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten4. Art. 152 ParlG ver-
pflichtet den Bundesrat, die zuständigen Kommissionen zu konsultieren, bevor er einen inter-
nationalen Vertrag, für dessen Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, vorläufig
anwendet. Die Bundesverfassung selbst enthält keine ausdrückliche Regelung dieser vorläufi-
gen Anwendung völkerrechtlicher Verträge. Kumulativ müssen die zeitliche Dringlichkeit
sowie die gewichtige Interessenwahrung vorliegen5.
In casu sieht der Staatsvertrag selbst die vorläufige Anwendbarkeit vor. Fraglich ist aber, ob
die Voraussetzungen der zeitlichen Dringlichkeit und der gewichtigen Interessenwahrung
gegeben sind.

1
  HÄFELIN/HALLER/KELLER, N. 1899.
2
  Vgl. MÜLLER, § 70, in: Verfassungsrecht der Schweiz, N. 43.
3
  HÄFELIN/HALLER/KELLER, N. 1912.
4
  Vgl. auch BIAGGINI, BV-Komm., Art. 166, N. 12.
5
  Vgl. SÄGESSER, RVOG-Komm, Art. 7b, N. 1 ff.

                                                      1                                Judith Kaspar
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Art. 8 EMRK (evtl. 6 und 7 EMRK)

In der Lehre wird die Meinung vertreten, dass die EMRK einen „europäischen ordre public“,
einen europäischen Mindeststandard darstellt. Die in der EMRK garantierten Grundrechte
sind vom Staat zu gewährleisten. Vorliegend sind insb. Art 8 EMRK (Achtung des Privat-
und Familienlebens), sowie möglicherweise die Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und
Art. 7 (nulla poena sine lege) tangiert6.
Gemäss Art. 8 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Familien- und Privatle-
bens. Zum Recht auf Privatleben gehört der Anspruch auf eine persönliche Geheimsphäre und
Schutz persönlicher Daten. Art. 8 Abs. 1 EMRK wird demgemäss auch durch die Beschaf-
fung, Aufbewahrung, Verwendung und Bekanntgabe persönlicher Daten berührt7. Das Bank-
kundengeheimnis (Privat- und Geschäftsgeheimnis) ist durch Art. 8 EMRK von diesem
Schutz eingeschlossen8. „Die grund- und menschenrechtlichen Voraussetzungen für eine Ein-
schränkung sind, dass diese in bestimmbarer und voraussehbarer Weise gesetzlich vorgesehen
ist und dass die Gründe für die Einschränkung relevant, ausreichend und zum verfolgten Ziel
verhältnismässig sein muss“9. Mit Art. 47 BankG besteht aber eine Pflicht, solche Daten nicht
weiterzugeben, „was der Voraussehbarkeit eines solchen auf zehn Jahre zurückreichenden
Eingriffs komplett entgegensteht“10.
Zumindest zur Diskussion steht eine mögliche Berührtheit von Art. 6 EMRK, welcher jeder
Person das Recht verschafft, bei Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und
Verpflichtungen sowie strafrechtliche Anklagen von einem unabhängigen und unparteiischen
Gericht beurteilt zu werden11. Auch Art. 7 EMRK, welcher zu den notstandfesten Grund-
rechtsgarantien gehört, ist laut SCHWEIZER zumindest tangiert12.

In Bezug auf Art. 8 EMRK stellt sich die Frage, ob der Eingriff in das Recht auf Achtung des
Privat- und Familienlebens gerechtfertigt werden kann. Gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK darf in
dieses Recht nur eingegriffen werden, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist13. Damit
sieht die EMRK eine eigene Schrankenvoraussetzung vor; diese entspricht jedoch weitestge-
hend dem Art. 36 Abs. 1 BV. In casu ist insbesondere diese gesetzliche Grundlage näher zu
untersuchen:

6
  Vgl. BVGer A-4013/2010, Urteil vom 15. Juli 2010, E. 5.4.1.
7
  Vgl. GRABENWARTER, § 22, N. 10.
8
  EGMR, Niemitz gegen Deutschland, 13710/88 vom 16. Dezember 1992, Z. 29.
9
  SCHWEIZER, AJP 2011, 1007 ff., 1011.
10
   SCHWEIZER, AJP 2011, 1007 ff., 1012.
11
   Laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wird bei Rechtshilfegesuchen weder über die strafrechtliche An-
klage selbst noch über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entschieden. SCHWEIZER, AJP 2011, 1007
ff., 1009, ist der Meinung, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Strafverfolgung in Steuersachen handele,
weshalb grundsätzlich von der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auszugehen sei. Dagegen kann eingewandt
werden, dass die Betroffenen das Recht auf richterliche Überprüfung wahrnehmen konnten, indem sie sich gegen
die Herausgabe der Daten wehren konnten.
12
   Art. 7 EMRK statuiert den Grundsatz „nulla poena sine lege“ – „Keine Strafe ohne Gesetz“. Das Bundesver-
waltungsgericht hat argumentiert, dass es sich beim Amtshilfeverfahren lediglich um Verfahrensrecht handle, für
welches Art. 7 EMRK keine Geltung beanspruche (E. 5.4.3): Allein der Wortlaut von Art. 7 EMRK sieht noch
keine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf materielles Recht vor (Vgl. UHLMANN/TRÜMPLER, welche
feststellen, dass der Grundsatz der lex mitior auch im Verfahrensrecht zum Tragen kommen müsse). Gem.
Schweizer sind aber „auch fiskalische, repressive Sanktionen [wie die Herausgabe dieser Daten] unstreitig Stra-
fen i.S. von Art. 6 EMRK. So gab es bis anhin keine Strafbarkeit für fortgesetzte und schwere Steuerdelikte
(SCHWEIZER, AJP 2011, 1007 ff., 1010 f.).
13
   Vgl. hierzu FROWEIN, Vorbemerkung zu Art. 8 – 11 EMRK, in: Frowein / Peukert (Hrsg.) Europäische Men-
schenrechtskonvention, 3. Aufl., Kehl am Rhein 2009.

                                                       2                                              Judith Kaspar
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Gesetzliche Grundlage (Art. 8 Abs. 2 EMRK; Art. 36 Abs. 1 BV)

Die gesetzliche Grundlage für die Herausgabe der Daten ist laut Sachverhalt der Staatsver-
trag. Da dieser diejenigen Personen betrifft, die in der Zeit zwischen dem 1. Januar 2001 und
dem 31. Dezember 2008 ein Bankkonto bei der UBS AG hatten, stellt sich die Frage, ob der
Staatsvertrag (abgeschlossen am 19. August 2009) nicht rückwirkend Wirkungen entfaltet.
M.a.W. stellt sich die Frage, ob nicht die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) auf einen
abgeschlossenen Sachverhalt neues Recht angewendet und damit das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot verletzt hat. Eine (echte) Rückwirkung liegt vor, „wenn neues Recht auf
einen Sachverhalt angewendet wird, der sich abschliessend vor Inkrafttreten dieses Rechts
verwirklicht hat“14. Davon zu unterscheiden ist die unechte Rückwirkung, bei der es um die
Anwendung von neuem Recht auf Dauersachverhalte geht.

Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst der massgebliche Sachverhalt festgestellt
werden: Wenn der massgebliche Sachverhalt bereits abgeschlossen ist, liegt eine echte Rück-
wirkung vor.

Massgeblicher Sachverhalt

Die IRS ersucht um Herausgabe von Informationen über amerikanische Steuerpflichtige. Frau
X ist eine dieser Personen, die in oben erwähntem Zeitraum über ein Konto bei der UBS ver-
fügen. Die Rechtsfolge [Datenherausgabe] knüpft also an das Innehaben von Konten im ge-
nannten Zeitraum an. Der Sachverhalt hat sich also im Zeitraum zwischen 2001 und 2008
„verwirklicht“: Ausdrücklich gilt dies auch für solche Konten, die zum Zeitpunkt des Urteils
bereits nicht mehr existieren. Von einer unechten Rückwirkung ist dagegen dort auszugehen,
wo das neue Recht auf nach wie vor bestehende Konten angewendet wird.

Eine echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig, weil sich Betroffene „vergeblich nach
der seinerzeit massgeblichen Rechtslage gerichtet haben“15: Eine (echte) Rückwirkung stellt
damit die Rechtsicherheit, die Rechtsgleichheit und den Vertrauensschutz in Frage. Aus-
nahmsweise ist sie zulässig, wenn kumulativ fünf Voraussetzungen vorliegen:
Die Rückwirkung muss ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Erlasses klar ge-
wollt sein (1). Die Rückwirkung muss zeitlich mässig (2) und durch triftige Gründe gerecht-
fertigt sein (3). Sie darf ausserdem keine stossenden Rechtsungleichheiten bewirken (4) und
nicht in wohlerworbene Rechte eingreifen (5)16.
Hieraus ergibt sich, dass der Charakter der Rechtsfolge des massgeblichen Sachverhalts beur-
teilt werden muss.

Rechtsfolgen

Es stellt sich die Frage, wie die Rechtsfolge für den Betroffenen ausgestaltet ist. Wirkt sie
belastend, begünstigend oder nur prozessual?

Ausnahmen

14
   HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, N. 329.
15
   TSCHANNEN/ZIMMERLI/MÜLLER, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, N. 25.
16
   HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, N. 331.

                                                  3                                   Judith Kaspar
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Grundsätzlich gilt, dass die Rückwirkung sich nicht belastend auf die Rechtsstellung des Be-
troffenen auswirken darf. Vom Verbot der Rückwirkung sind Verfahrensvorschriften im
Normalfall ausgeschlossen: In der Lehre und Praxis wird zuweilen davon ausgegangen, dass
rückwirkendes Verfahrensrecht zulässig sein soll. Als Begründung dafür wird angeführt, dass
Prozessrecht sich nicht wie das materielle Recht auf die Situation der Verfahrensbeteiligten
auswirke und wertneutral sei17.
In seinem Urteil vom 15. Juli 2010 bezüglich den UBS-Staatsvertrag hat das Bundesverwal-
tungsgericht prägnant formuliert, dass „das Rückwirkungsverbot […] im Bereich der Amtshil-
fe nicht von Bedeutung [sei]“ (vgl. BVGer, Urteil vom 15. Juli 2010, A-4013/2010, E. 6.5.3).
Obwohl sich einige seiner Ausführungen dabei auf das Rückwirkungsverbot der Wiener Ver-
tragskonvention bezogen, machte es klar, dass es die Geltung des verfassungsrechtlichen
Rückwirkungsverbot in Bezug auf Verfahrensrecht pauschal ablehnt (vgl. BVGer, a.a.o.,
E. 6.5.1 ff.). Mit der Problematik des vorliegenden Falls hat sich das Bundesverwaltungsge-
richt aber nicht einlässlich beschäftigt. Die Argumente, welche für eine Nichtanwendung des
Rückwirkungsverbots auf Verfahrensrecht sprechen, können im vorliegenden Fall nicht ein-
fach übernommen werden. Für Frau X. ist das neue Amtshilferecht sicherlich nicht wertneut-
ral; es wirkt sich vielmehr auf ihre Situation als Verfahrensbeteiligte erheblich aus.
Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Staatsvertrag rückwirkend in die Rechtsstellung
von Frau X eingreift. Die Rückwirkung des (neuen) Verfahrensrechts ist hier wohl unzulässig,
weil sie sich belastend für Frau X auswirkt. Das Bundesverwaltungsgericht ging allerdings
davon aus, dass der Grundsatz des Rückwirkungsverbots für Verfahrensrecht nicht gilt.

Aus oben dargelegten Gründen reicht der UBS-Staatsvertrag als gesetzliche Grundlage wohl
nicht aus, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8
EMRK) zu rechtfertigen. Eine Verletzung von Art. 8 EMRK könnte jedoch als irrelevant an-
gesehen werden, wenn man dem UBS-Staatsvertrag Vorrang vor der EMRK einräumen wür-
de. Diese Überlegung rechtfertigt Ausführungen über das Verhältnis des UBS-Staatsvertrags
zur EMRK.

Verhältnis Staatsvertrag – EMRK/Bundesverfassung

Geltung

Das Verhältnis von Völker- und Landesrecht wird zunächst von der Frage der Geltung des
Völkerrechts bestimmt: „Erlangt es innerstaatlich unmittelbare Rechtskraft, oder muss es vom
betreffenden Staat zuvor mit einem landesrechtlichen Erlass übernommen werden?“18 Die
Schweiz folgt in gefestigter Verfassungspraxis dem Grundsatz des Vorrangs des Völkerrechts
und der monistischen Tradition, wonach völkerrechtliche Verträge ohne Transformation zu
Landesrecht werden.

Anwendbarkeit

Von der Geltung ist die Anwendbarkeit des Völkerrechts zu unterscheiden. Letztere be-
stimmt, ob das Völkerrecht von den rechtsanwendenden Behörden direkt angewendet werden
kann (und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen) oder ob der Gesetzgeber es zuerst kon-
kretisieren muss. M.a.W. „geht es darum, ob sich eine völkerrechtliche Norm nur an den Staat

17
     Ausführlich hierzu: UHLMANN/TRÜMPLER, 143 ff.
18
     BBl 2010 2263, 2284.

                                                     4                               Judith Kaspar
Fall 3: UBS-Staatsvertrag (Lösungsvorschlag)
Übungen im Öffentlichen Recht, Prof. Dr. Felix Uhlmann

richtet oder ob sie direkt für natürliche und juristische Personen Rechte und Pflichten begrün-
det“19.
Nach ständiger Praxis des BGer ist eine Bestimmung direkt anwendbar (self-executing, jus-
tiziabel), wenn sie inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, um im Einzelfall Grundlage
eines Entscheides zu bilden; die Norm muss mithin justiziabel sein, Rechte und Pflichten des
Einzelnen zum Inhalt haben und Adressaten der Norm müssen die rechtsanwendenden Behör-
den sein20.
Die Abkommensbestimmungen besitzen den Charakter einer „self-executing“ Norm und kön-
nen demnach nach Inkrafttreten des Abkommens unmittelbar angewendet werden.

Rang

Zuletzt bestimmt sich die Frage nach der Durchsetzbarkeit von völkerrechtlichen Normen
nach dem Rang, den ihnen das innerstaatliche Recht zuweist. Die Schweiz, die sich zu einem
gemässigten Monismus bekennt, geht grundsätzlich von einem Vorrang des Völkerrechts aus.
Nicht ausgeschlossen ist dabei, dass zwischen internationalem und nationalem Recht Wider-
sprüche entstehen können21.
Der UBS-Staatsvertrag statuiert eine Regel für den Fall einer Kollision einer Norm des Ab-
kommens vom 19. August 2009 mit einer Norm des bestehenden Doppelbesteuerungsab-
kommens der Schweiz mit den USA. Gemäss Art. 7a des Staatsvertrags kommt Normen des
UBS-Staatsvertrages grundsätzlich der Vorrang zu. Wie verhält es sich aber mit der Kollision
von Normen des Staatsvertrages mit Bestimmungen der EMRK oder der Bundesverfassung?
Ein Staat kann sich in aller Regel nicht auf innerstaatliches Recht berufen, um die Nichtan-
wendung eines Staatsvertrags zu rechtfertigen. Über den Rang völkerrechtlicher Regelungen
in der innerstaatlichen Normenhierarchie entscheidet demnach das innerstaatliche Recht22.
Gemäss Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die an-
deren rechtsanwendenden Behörden massgeblich. Davon sind nicht nur die vom Volk bzw.
von Volk und Ständen gutgeheissenen völkerrechtlichen Verträge erfasst, sondern auch das
gesetzte und nicht gesetzte Völkerrecht23. Es besteht in der Lehre und der Praxis keine Einig-
keit in der Frage, wie ein Widerspruch zwischen einem Staatsvertrag (wie hier vorliegend)
und der Verfassung bzw. einer anderen völkerrechtlichen Norm zu lösen ist24. Die Bundesver-
fassung enthält keine entsprechenden Normen. Aus Art. 190 folgt, dass „Bundesgesetze und
völkerrechtliche Normen stets anzuwenden [sind], dies selbst dann, wenn sie sich als verfas-
sungswidrig erweisen sollten“25.
TSCHANNEN will im Konfliktfall dem Völkerrecht gegenüber dem Landesrecht den Vorzug
geben26; RHINOW/SCHEFER sind der Auffassung, dass der Kerngehalt nationaler Grundrechts-
garantien entgegenstehenden völkerrechtlichen Bestimmungen vorgehe27. HÄFE-
LIN/HALLER/KELLER wollen eine „schematische Konfliktlösung“ vermeiden, da eine „grund-
legende Menschenrechtsgarantie in der BV einem technischen Abkommen auf internationaler

19
   BBl 2010 2263, 2286.
20
   BGE 126 I 240; vgl. auch RHINOW/SCHEFER, Schweizerisches Verfassungsrecht, N. 3615 ff.
21
   Widersprüche sind im „reinen“ Monismus ausgeschlossen, weil dieser von einer einzigen, widerspruchsfreien
Rechtsordnung ausgeht (BBl 2010 2263, 2285).
22
   THÜRER, zit. in: HÄFELIN/HALLER/KELLER, N. 1917.
23
   Vgl. BVGer A-4013/2010, Urteil vom 15. Juli 2010, E. 3.3.1.
24
   Vgl. UHLMANN/TRÜMPLER, „Das Rückwirkungsverbot ist im Bereich der Amtshilfe nicht von Bedeutung“,
ZSR 130 (2011), 139 ff.
25
   BIAGGINI, BV-Komm., Art. 190, N. 6.
26
   TSCHANNEN, Staatsrecht, § 9, N. 13 f.
27
   RHINOW/SCHEFER, N. 3622.

                                                      5                                              Judith Kaspar
Fall 3: UBS-Staatsvertrag (Lösungsvorschlag)
Übungen im Öffentlichen Recht, Prof. Dr. Felix Uhlmann

Eben vorgehen müsste, [dagegen] ein wichtiger völkerrechtlicher Vertrag, wie etwa die
WTO-Abkommen, einer Übergangsbestimmung der BV vorgeh[t]“28.
Das Bundesverwaltungsgericht hat als Kollisionsregel die Regel des „lex posterior“ ange-
wendet, d.h. gem. BVGer geht der Staatsvertrag als das „neuere“, letztere Recht vor29. Ledig-
lich das ius cogens, das zwingende Völkerrecht, gehe in jedem Falle vor und führe zur Nich-
tigkeit eines dem ius cogens widersprechenden Vertrags. Laut Botschaft gehören zum ius co-
gens nach schweizerischem Verständnis u.a. auch die notstandsfesten Garantien der EMRK30.

Keine rückwirkenden Doppelbesteuerungsabkommen (DBA)

Im Verlaufe der internationalen Finanzkrise musste die Schweiz Bankkundendaten an die
USA ausliefern und vielen Staaten in steuerlichen Angelegenheiten Zugeständnisse machen,
was schlussendlich zu einer neuerlichen Lockerung des Bankgeheimnisses führte. Dies wirkte
sich auf zahlreiche Doppelbesteuerungsabkommen aus. Viele bestehende DBA wurden ange-
passt und einige neu abgeschlossen. Keines dieser neuen oder neu ausgehandelten DBA sieht
eine Rückwirkung des Informationsaustausches vor.

Rechtsweg

Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts kann nicht an das Bundesgericht weitergezo-
gen werden (Art. 83 lit. h BGG).
Frau X. hat keine Möglichkeit, den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts innerstaatlich
weiterzuziehen.

Literatur

Beachten Sie insbesondere folgende Literatur zum Thema:

FELIX UHLMANN / RALPH TRÜMPLER, „Das Rückwirkungsverbot ist im Bereich der Amtshilfe
nicht von Bedeutung“ – Überlegungen zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.
Juli 2010 betreffend den UBS-Staatsvertrag, ZSR 130 (2011), 139 ff.

RAINER J. SCHWEIZER, Der Rechtsstaat und die EMRK im Fall der Kunden der UBS AG –
Eine Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, AJP 2011 1007 ff.

28
   HÄFELIN/HALLER/KELLER, N. 1922.
29
   BVGer A-4013/2010, Urteil vom 15. Juli 2010, E. 4.5, 6.1.2.
30
   BBl 2010 2263, 2314.

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