DER JÜNGSTEN "PALÄSTINA"-ENTSCHEIDUNG DES ISTGHS
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Policy Briefing Rechtliche und politische Handlungsmöglichkeiten nach der jüngsten „Palästina“-Entscheidung des IStGHs - Prof. Dr. Wolfgang Bock Wenige Entscheidungen des Internationalen Straf- angeklagt werden. Die umfassend begründete ab- gerichtshofs (IStGH) in Den Haag haben so viel Kri- weichende Meinung des Präsidenten der Vorver- tik erfahren wie der Beschluss der aus drei Richtern fahrenskammer Péter Kovács sieht darin allerdings bestehenden Vorverfahrenskammer vom 5. Februar einen Zirkustrick mit den Normen des Rom-Statuts: 2021. Er erklärt die Anklagebehörde des IStGH für Geltendes Völkerrecht dürfe nicht außer Acht gelas- zuständig, israelische und palästinensische Verant- sen werden.2 Neben zahlreichen Völkerrechtsexper- wortliche wegen möglicher Verbrechen auf dem ten haben sich sieben Mitgliedsstaaten des IStGH Gebiet Palästinas anzuklagen.1 Um dieses Ziel zu er- gegen die Entscheidung ausgesprochen: Austra- reichen, musste die 2:1-Mehrheit der Kammer Paläs- lien, Brasilien, Deutschland, Österreich, Tschechien, tina Staatsqualität im Sinne des Rom-Statuts (Grund- Uganda und Ungarn.3 Mitte April folgte Großbritan- und Verfahrensordnung des IStGH) zusprechen. Ob nien (Anm. d. Red.).. Palästina ein Staat im Sinne des allgemeinen Völker- rechts ist, spiele dagegen keine Rolle. Das Staats- Bis heute sind 123 Vertragsstaaten dem IStGH bei- gebiet Palästinas umfasst nach Auffassung der zwei getreten, nicht dagegen Russland, China und der maßgeblichen Richter die Westbank, Ostjerusalem Iran einerseits sowie Indien, die USA, Israel und fast und den Gazastreifen. Dort begangene Verbrechen alle arabischen Staaten andererseits. Sein Statut be- dürften und müssten seitens der Strafverfolgungs- gründet eine Zuständigkeit für die Verfolgung der behörde des IStGH untersucht und gegebenenfalls Tatbestände des Völkermords, des schweren Kriegs- HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN • Es droht eine Unterminierung des IStGH als unabhängiger Grundpfeiler einer multilateralen Weltord- nung. Die Vertragsstaaten des IStGH sollten daher öffentlich Kritik äußern und Hinweise auf die Konse- quenzen geben, die sich durch die vermeintliche Zuständigkeitserklärung für die „Palästinensischen Ge- biete“ ergeben (z.B. die die Politisierung des IStGH und die weitere Verfestigung von Doppelstandards gegenüber Israel in internationalen Institutionen, die Erschwerung von Friedensgesprächen durch eine Präjudizierung von Ergebnissen seitens des IStGHs). • Deutschland sollte gegenüber dem neuen Chefankläger inhaltlich begründet anregen, die rechtlichen Grundlagen einer Zuständigkeit des IStGH für die Anklage israelischer und palästinensischer Verant- wortlicher wegen möglicher Verbrechen in den C-Gebieten zu überprüfen. • Die Vertragsstaaten sollten prüfen, inwiefern die vorliegende Entscheidung auch im Rahmen von Art. 19 des Rom-Statuts kritisch erörtert werden kann. • Deutschland sollte zu diesen Punkten auch im Rahmen der jährlichen Versammlung der Vertragsstaa- ten des IStGH klar Stellung beziehen. www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 1
verbrechens, des Verbrechens gegen die Mensch- ren Mitgliedsstaaten der UN. Jedoch erkennen PLO lichkeit und (seit 2018) des Angriffskriegs. Diese Zu- wie Hamas Israel nicht als rechtlich legitimen Staat ständigkeit besteht nur unter drei Bedingungen, die an und fördern im Kampf gegen den jüdischen Staat alle zugleich erfüllt sein müssen: Erstens muss ein Terror.4 Nach Ablehnung zahlreicher Versuche Isra- Staat, sofern er ein solches Verbrechen nicht selbst els, zu einer friedlichen Lösung zu gelangen, verfolgt verfolgt, die Strafverfolgung beim Gericht beantra- der Vorsitzende der PLO und Präsident der Palästi- gen und auf diese Weise seine eigene Rechtspre- nensische Verwaltung (Palestinian Authority [PA]) chungshoheit auf den IStGH übertragen. Zweitens Mahmud Abbas seit 2011 die offiziell erklärte Strate- muss entweder das Verbrechen auf dem Hoheits- gie, mittels Einschaltung internationaler Organisatio- gebiet dieses Staates stattgefunden haben oder es nen und radikalem Druck, aber ohne Verhandlungen muss zumindest ein Täter ein Angehöriger dieses mit Israel, einen Staat auf dem durch die Waffenstill- Staates sein. Drittens darf der IStGH einen Fall dann standslinien von 1967 umschlossenen Gebiet zu er- nicht an sich ziehen, wenn ein Staat diesen selbst richten.5 Dass die palästinensische Führung den Weg untersucht und Strafverfolgung betreibt (Prinzip der zu möglicher Staatlichkeit nicht auf dem in den Oslo- Komplementarität). Eine weitere Möglichkeit der Verträgen festgehaltenen völkerrechtlichen Weg von Zuständigkeitsbegründung wäre eine (hier nicht ge- Verhandlungen und friedlicher Anerkennung Israels gebene) Überweisung einer „Situation“ durch den sucht, sondern glaubt, durch internationalen politi- UN-Sicherheitsrat an den IStGH. Das Statut wägt schen Druck die Staatsqualität erzwingen zu können, insofern die Souveränität der Einzelstaaten und die zeigt deutlich das Ziel dieser Strategie: Die Errich- ausnahmsweise Begründung der Zuständigkeit eines tung eines möglichst ausgedehnten Staates unter internationalen Gerichts sehr präzise gegeneinander fortgesetzter Bedrohung der Existenz Israels. ab. Keine dieser drei Bedingungen scheint nach vor- liegendem Fall erfüllt zu sein. 2. Die palästinensischen Gebiete sind bislang kein Staat: Das Gericht will mit der Qualifizierung von Blendet man die Hauptfrage, ob in diesem Fall über- Palästina als Staat im Sinne des Rom-Statuts die aus haupt von schwerwiegenden Verbrechen gegen die den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln notwen- Menschlichkeit ausgegangen werden darf, aus, so dig folgende Verneinung der Qualität als Staat umge- stellen sich vor diesem Hintergrund zwei wesentli- hen. Es sieht seine Jurisdiktionshoheit ausreichend che Fragen: dadurch begründet, dass die UN-Generalversamm- (I) Welche wesentlichen Punkte der Entscheidung lung mit dem Beschluss 67/19 (2012) Palästina als ziehen Kritik auf sich und ist diese Kritik berechtigt? staatlichen Teilnehmer (State Party) am Rom-Statut (II) Welche praktischen politischen Konsequenzen zugelassen habe.6 Das Territorium dieses Staates, so sind möglich und sinnvoll? die Mehrheit der Richter, ergebe sich daraus, dass mit diesem Beschluss die Gebiete Gaza, Westbank und Ostjerusalem in Bezug genommen worden sei- I. Kritik an der Entscheidung en. Die den IStGH tragenden Staaten hätten zudem nichts gegen die 2015 erfolgte Aufnahme Palästinas 1. Die Entscheidung des IStGH, für die Anklage is- in ihren Kreis unternommen.7 raelischer und palästinensischer Verantwortlicher wegen möglicher Verbrechen auf dem Gebiet Pa- Die zentrale rechtliche Kritik an diesem Vorgehen lästinas zuständig zu sein, belohnt das politische geht von zwei Punkten aus. Erstens können nach Kalkül der Palästinenserführung: Das Mandat des einer unbestrittenen Grundregel des Völkerrechts Völkerbundes für Palästina anerkannte ein Recht des Beschlüsse der UN-Generalversammlung zwar zu jüdischen Volkes auf Begründung einer politischen politischen Folgen führen, nicht aber Völkerrecht, Heimstatt unter Wahrung der zivilen und religiösen insbesondere die anerkannten Regeln über die Ent- Rechte der übrigen Einwohner. In seiner staatlichen stehung von Staatlichkeit, neu schaffen oder abän- Legitimität unterscheidet sich Israel nicht von ande- dern. Zweitens ist in der Kammerentscheidung ein www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 2
Verstoß gegen die völkerrechtlich verbindlichen Ver- solutsetzung dieses Ziels zu einer Relativierung der träge von Oslo (1993/95) zu sehen: Der Beschluss dem Gericht gesetzten rechtlichen und politischen missachtet deren rechtliche Folgen.8 Grenzen, zur Missachtung anerkannter Regeln des Völkerrechts und zu einer Fehlinterpretation des Diese rechtlichen Aspekte sind für die politische Rom-Statuts selbst. Dass die Zulassung einer Orga- Wirklichkeit des Nahen Ostens von kaum zu über- nisation zu den Trägern des IStGH diese selbst zu schätzender Bedeutung. Denn sie ermöglichen die einem Staat macht, gibt dem rechtlichen Begriff des Wahrung des Friedens. Angesichts dessen, dass PLO Staates in Art. 12 des Rom-Statuts eine Bedeutung, und Hamas den Staat Israel nicht anerkennen und ihn die von den Staaten, die das Rom-Statut entspre- mit Gewalt sowie unter Einsatz terroristischer Mittel chend den allgemeinen Grundsätzen und Regeln des zerstören wollen, wäre ein dauerhafter Frieden nur Völkerrechts schufen, nie in Betracht gezogen wor- auf der Grundlage möglich, dass die rechtmäßige den ist und von vielen Mitgliedsstaaten abgelehnt Existenz des jüdischen Staates Israel anerkannt wür- wird.10 Die Zulassung der PA hat – wie vielfach betont de. In den Oslo-Verträgen wurde eben diese Bedin- wurde – vielmehr rein verwaltungstechnischen Cha- gung – unter Zustimmung beider Parteien wie zahl- rakter und beinhaltet keine rechtlich substantielle reicher garantierender Staaten – vereinbart und so Aussage. Deutschland hat insbesondere 2016 in ei- zur Voraussetzung weiterer Schritte auf dem Weg ner Stellungnahme als Mitgliedsstaat des IStGH wie hin zu einer möglichen, wie auch immer gestalteten, auch schon in vorangegangen Jahren deutlich dar- palästinensischen Staatlichkeit gemacht.9 auf hingewiesen, dass sich aus der Zulassung der PA zur UN und zu anderen Organisationen keine Quali- Erst vor diesem Hintergrund treten die rechtlichen fizierung von Palästina als Staat ergebe. Dies gelte Versäumnisse der aktuellen Entscheidung klar her- auch für die Auslegung des Staatsbegriffs nach dem vor: Die Palästinenser haben kein absolutes Recht Rom-Statut. Im Gegensatz zur Rechtsauffassung der auf Staatlichkeit. Es ist möglich, dass sich eine ande- Kammermehrheit ist der Staatsbegriff des Rom-Sta- re Gestalt palästinensischer Selbstverwaltung her- tuts völkerrechtlich zu verstehen. Es gibt keine Re- ausbildet oder vereinbart wird. Israel besitzt zudem geln des Rom-Statuts, die eine andere Auffassung zumindest in den von den Oslo-Verträgen als C-Ge- stützen. Zudem unterstützen, wie der abweichende bieten bezeichneten Räumen vertraglich gesicherte Richter Kovács gezeigt hat, weder der Wortlaut noch rechtliche Ansprüche. Solange die Oslo-Verträge in die ständige Interpretation der einschlägigen UN- Kraft sind, führt rechtlich verpflichtend der Weg hin Dokumente die zielgerichtete Interpretation des Be- zu Staatlichkeit für die palästinensische Seite über griffs „Staat“, die von der Chefanklägerin und von der Verhandlungen mit Israel. Wenn die Vorverfahrens- Richtermehrheit neu aufgestellt worden ist. Auch kammer unter diesen Umständen zu der Aussage Staaten, die den palästinensischen Beitritt bejahen, kommt, Palästina sei als ein Staat hinsichtlich aller haben darauf hingewiesen, dass ein Staat Palästina umstrittenen Gebiete zu behandeln, so lässt sich nur nicht existiere (Belgien, Dänemark, Finnland, Frank- folgern, dass sie die Oslo-Verträge trotz ihrer recht- reich, Griechenland, Italien, Neuseeland, Schweiz) lich erheblichen Bedeutung als irrelevant bei Seite und dass die Zulassung des Beitritts nur eine poli- schieben will. Der dissentierende Richter hat das in tische Unterstützung auf dem möglichen Weg zu aller Deutlichkeit hervorgehoben. Staatlichkeit als Ergebnis von Verhandlungen mit Is- rael bedeute.11 Die Richtermehrheit der Kammer stützt ihre Quali- fizierung Palästinas als Staat auf ein zentrales Argu- Eine gerichtliche Zuständigkeit des IStGH ergibt sich ment: Die Aufgabe des Gerichts sei es, die Straflo- nach dem Rom-Statut grundsätzlich nur dadurch, sigkeit für die ihm aufgegebenen Straftatbestände dass ihm der beitretende Staat diese Kompetenz zu beenden. In diesem Licht seien die Normen des überträgt. Nur nach Beitritt eines Staates steht dem Rom-Statuts auszulegen. Im Ergebnis führt die Ab- IStGH Jurisdiktionskompetenz für den Fall zu, dass www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 3
ein Bürger dieses Staates das zu verfolgende Ver- Israel auf dieser nicht tragenden Grundlage wegen brechen begangen hat oder dass dieses Verbrechen der Siedlungen und wegen Bevölkerungstransfers auf dem Territorium des beigetretenen Staates be- beschuldigt werden, so kann dies dazu führen, dass gangen worden ist. Ist beides nicht gegeben, so steht eine friedliche Lösung der bestehenden Meinungs- dem IStGH auch keine Jurisdiktionshoheit zu. Die verschiedenheiten und Konflikte auf längere Dauer strenge Begrenzung der Kompetenz des IStGH soll erschwert und sogar verhindert wird. Die notwendi- sicherstellen, dass er sein Mandat nicht überschrei- ge gegenseitige Bereitschaft zu Kompromissen und tet und sich nicht in politische Fragen einmischt, die Entgegenkommen kann sehr stark geschwächt wer- ihm rechtlich nicht zugänglich sind. den. 3. Die PA hat keine Jurisdiktion über die C-Gebiete, Nur am Rande ist darauf hinzuweisen, dass die die sie an den IStGH übertragen könnten. Die zent- Mehrheit der Vorentscheidungskammer die von ihr rale Bedeutung der Oslo-Verträge für die Frage der selbst eingeholten völkerrechtlichen Fachgutachten, Jurisdiktionskompetenz des IStGH ergibt sich aus der Stellungnahmen und Expertisen nicht hinreichend Tatsache, dass sie die Rechtsprechungshoheit sehr ernst genommen hat, da sie sich mit ihnen – anders genau regeln. Die PA darf danach gerichtliche Hoheit als die gut begründete abweichende Auffassung des nur für die Gebiete A und B, nicht aber für das Gebiet Kammervorsitzenden – nicht argumentativ ausein- C und damit weder für Ostjerusalem noch für die üb- andergesetzt hat. rigen umstrittenen Gebiete ausüben. Ihr sind nur die Bewohner der Gebiete A und B, nicht aber israelische Staatsbürger unterstellt. Selbst wenn man die Frage II. Mögliche politische Reaktionen nach der staatlichen Qualität ausklammert, konnte daher nach geltendem Völkerrecht dem IStGH keine 1. Staaten können sich vom IStGH zurückziehen, Jurisdiktion übertragen werden. Sanktionen verhängen oder bestehende Sanktionen beibehalten (USA). Die Behauptung des Gerichts, die Resolution der Vollversammlung der UN (67/19) aus dem Jahr 2012 2. Art. 19 des Rom-Statuts ermöglicht es Staaten, die bestätige das Recht des palästinensischen Volkes auf den IStGH tragen, eine Entscheidung über streitige Selbstbestimmung und auf Unabhängigkeit in einem Fragen herbeizuführen: Eine „Streitigkeit zwischen Staat Palästina auf dem palästinensischen Gebiet, zwei oder mehreren Vertragsstaaten über die Aus- das seit 1967 besetzt sei, widerspricht der Logik wie legung oder Anwendung dieses Statuts, die nicht den geschichtlichen Tatsachen. Weder Jordanien binnen drei Monaten nach ihrem Beginn durch Ver- noch Israel haben die östliche Waffenstillstandslinie handlung beigelegt wird, wird der Versammlung der jemals als eine Grenze anerkannt, sondern vielmehr Vertragsstaaten vorgelegt. Die Versammlung selbst wiederholt betont, dass dies eben nur eine Waffen- kann die Streitigkeit beizulegen versuchen oder stillstandslinie sei. Weder völkerrechtliche Dokumen- weitere Mittel der Streitbeilegung empfehlen, ein- te noch Handlungen haben bislang zu einer östlichen schließlich der Vorlage an den Internationalen Ge- Grenzziehung für den Staat Israel geführt. Die Frage, richtshof in Übereinstimmung mit dessen Statut.“12 welche Gebiete in einer Friedensregelung an Israel Es ist fraglich, ob diese Vorschrift eine Möglichkeit fallen werden, ist völkerrechtlich offen. Wie kann das bietet, um unerwünschte rechtliche oder politische Gericht unter diesen Umständen von feststehenden Folgen der Entscheidung zumindest zu begrenzen. Grenzen ausgehen? Wie kann die Anklagebehörde des IStGH festlegen, wer – abgesehen von den nicht 3. Die Anklagebehörde wird angesichts der Schwie- betroffenen A- und B-Gebieten der Oslo-Verträge – rigkeiten der Ermittlungen auf ihr nicht zugäng- in welchem Gebietsteil siedeln darf, wenn der Sta- lichem Gebiet (Ostjerusalem oder C-Gebiete) auf tus der Gebiete rechtlich nicht determiniert ist? Soll die Mitwirkung Israels angewiesen sein, diese Hilfe www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 4
aber aller Voraussicht nach nicht erhalten. Geht es Neben öffentlichen Erklärungen könnte dafür ein um eine unparteiliche Ermittlung der Tatsachen, so weiterer Platz die jährliche Versammlung der Ver- ist zu erwarten, dass sich die Ermittlungen über Jah- tragsstaaten sein. Würden alle Staaten, die diese re hinziehen werden. Allerdings sind angesichts des Entscheidung rechtlich und/oder politisch ablehnen, bisherigen Vorgehens der Anklagebehörde, die die mit Konsequenzen für die weitere Unterstützung Regeln des Rom-Statuts zugunsten einer offensicht- drohen, so könnte dies eine Rückbesinnung auf die lich gewünschten politischen Lösung neu interpre- eigentlichen Aufgaben des IStGH erleichtern. Neh- tiert, Zweifel an der Unparteilichkeit der bisherigen men sie diese Entscheidung ohne weitere Kritik hin, Chefanklägerin geboten. so unterstützen sie eine Politisierung des IStGH, die im Ergebnis auf eine rechtliche Selbstzerstörung hi- 4. Die Vertragsstaaten des IStGH sind mit einer nausläuft. Wird die dem Rom-Statut zugrunde lie- Entscheidung konfrontiert, die künftige mögliche gende Trennung von Völkerrecht und politischen An- Friedensverhandlungen wesentlich zu erschweren sprüchen vom IStGH nicht respektiert, so führt das droht. Es ist widersinnig, den beiden beteiligten zur juristischen Entwertung dieser Einrichtung. Parteien offene Perspektiven zu nehmen, indem die vom Völkerrecht nicht gedeckten Behauptungen 6. Eine Chance zu einer Korrektur liegt in der dies- einer Seite übernommen werden. Sollten dann dar- jährigen Ablösung der Chefanklägerin. Ihr Nachfol- aus strafrechtliche Instrumente geformt werden und ger, der Mitte dieses Jahres sein Amt antreten wird, die nur durch Verhandlungen zu lösende Frage nach ist nicht an die Rechtsauffassung seiner Vorgängerin dem Status von Gebieten in einem neu konstruier- oder an den Beschluss der Kammer gebunden. Nach ten, dem Völkerrecht widersprechenden Rechtsmo- Art. 53 Abs. 4 des Rom-Statuts kann der Ankläger dell zur Voraussetzung von Anklagen gemacht wer- „eine Entscheidung über die Einleitung der Ermitt- den, so wäre den Bemühungen der Vertragsstaaten lungen oder der Strafverfolgung auf der Grundlage um eine Verhandlungslösung ein Bärendienst geleis- neuer Tatsachen oder Informationen jederzeit über- tet worden. prüfen“.13 Unter „neue Informationen“ in diesem Sinne fallen auch Erklärungen der Vertragsstaaten 5. Die Vertragsstaaten des IStGH sollten sich in einer oder neu eingeholte Fachgutachten. Eine derartige derart explosiven Lage politisch und rechtlich ver- Überprüfung können rechtlich auch Vertragsstaaten pflichtet sehen, die schädlichen Auswirkungen die- anregen. ser Entscheidung anzusprechen und zu kritisieren. Über den Gastautor: Prof. Dr. Wolfgang Bock war seit 1979 als Richter in Frankfurt am Main und Wiesbaden tätig, ehe er sich ab 1993 wissenschaftlich mit dem Nahen und Mittleren Osten sowie mit der Entwicklung des Islams befasste. Seit 2004 lehrt er an verschiedenen deutschen Universitäten und war von 2012 bis 2017 als Studienreferent an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik im Bereich Staats- und Völkerrecht mit den Schwerpunkten Islam sowie Naher und Mittlerer Osten tätig. Seit 2012 ist er Professor für Öffentliches Recht an der Justus- Liebig-Universität in Gießen. www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 5
Quellenverzeichnis 1. IStGH: „Decision on Applications for Leave to File Observations to the Prosecution Request Pursuant to Article 19(3) for a Ruling on Pursuant to Rule 103 of the Rules of Procedure and Evidence“, the Court’s Territorial Jurisdiction in Palestine“, 14.02.2020 in 05.02.2021 in https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2021_01165. https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2020_00463.PDF; PDF. Badinter, Robert/Verdirame, Guglielmo: „Application for leave to file written observations on the question of jurisdiction pursuant to 2. Kovács, Péter: „Judge Péter Kovács’Partly Dissenting Opinion“, Rule 103 of the Rules of Procedure and Evidence, 14.02.2020 in 05.02.2021 in N°ICC-01/181/1545 https://www.icc-cpi.int/ https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2020_00488.PDF; Blank, RelatedRecords/CR2021_01167.PDF S. 6ff. Laurie et al.: Amicus Curiae Observations of Prof. Laurie Blank (…)“, 16.03.2020 in: https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/ 3. Vgl. Stahnke, Jochen: „Zwei Staaten, ein Gericht“, 21.02.2021 in CR2020_01058.PDF. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/was-darf-der-interna tionale-strafgerichtshof-16644248-p2.html. 9. United Nations: „Interim Agreement on the West Bank and Gaza Strip“, 28. September 1995 Article XXXI Chapter 5-7 in https://www. 4. ORF: „PLO erkennt Israel nicht mehr an“, 30.10.2018 in https://orf. un.org/unispal/document/auto-insert-185434/. at/stories/3085461/. 10.IStGH: „Observations by the Federal Republic of Germany“, 5. Die Zeit: „Palästinenser starten diplomatische Initiative gegen 16.03.2020, S. 7-10 in https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/ Israel“, 01.04.2014 in https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-04/ CR2020_01075.PDF. palaestinenser-vereinte-nationen-nahost-konflikt 11.IStGH: „Observations by the Federal Republic of Germany“, 6. IStGH: „Decision on Applications for Leave to File Observations 16.03.2020 in https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2020_01075. Pursuant to Rule 103 of the Rules of Procedure and Evidence“, PDF S. 11ff. 05.02.2021 in https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2021_01165. PDF. 12.IStGH: „Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“, 17.07.1998 in https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/ 7. Ebd. roemstat1.html#T219. 8. Vgl. Shaw, Malcolm: „Request for Leave to Submit Observations 13.IStGH: „Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“, Pursuant to Rule 103“, 14.02.2020 in https://www.icc-cpi.int/Cour 17.07.1998 in https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/ tRecords/CR2020_00492.PDF; Benvenisti, Eyal: „Request for Leave roemstat1.html#T553. to Submit Amicus Curiae Observations in the Proceedings relating www.elnet-deutschland.de | deutschland@elnetwork.eu 4
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