Der Kampf um die Materialität digitaler Zeichen. Dissens und Verletzbarkeit miteinander - nicht gegeneinander - denken

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Jennifer Eickelmann

   Der Kampf um die Materialität digitaler Zeichen. Dissens und
    Verletzbarkeit miteinander – nicht gegeneinander – denken

Zusammenfassung: Der Beitrag diskutiert die Diskursivierungen von ‚Political
Correctness‘ anhand des Dualismus von ‚Hassrede‘ und ‚Redefreiheit‘ im Kontext
digitaler Teilöffentlichkeiten. Einerseits funktioniert der ablehnende Rekurs auf
den Begriff ‚Political Correctness‘ unter dem Deckmantel der Redefreiheit als
Legitimierung herabsetzender Adressierungen. Andererseits dient der Begriff der
Formierung eines Diskurses über ‚Hassrede‘, der darauf zielt, die Äußerungsmög-
lichkeiten einzuschränken. Zunächst wird herausgearbeitet, inwiefern sich das
Verhältnis von ‚Hassrede‘ und ‚Redefreiheit‘ als oppositionelle Einschätzung der
Materialität digitaler Zeichen verstehen lässt. Darauf aufbauend wird dargelegt,
dass beide Diskurse an einem (vermeintlich) konsensualen Universalismus orien-
tiert sind und damit tendenziell an einer Entpolitisierung des Internets arbeiten.
Abschließend werden die Begriffe Virtualität und Verletzbarkeit als mögliche
Artikulationsformen einer alternativen Denkweise vorgestellt, welche nicht mit
der moralischen Orientierung am Konsens verknüpft ist, sondern Prozesse des
durchaus konflikthaften Aushandelns von Positionen – insbesondere im Kontext
digitaler Hypermedialität – zu einem konstitutiven Moment demokratischen Mit-
einanders erklärt.
Abstract: This article discusses the discourses of ‘political correctness’ on the
basis of the constitutive dualism of ‘hate speech’ and ‘freedom of speech’ with a
focus on digital public spheres. On the one hand, the rejection of the term ‘political
correctness’ under the guise of freedom of speech functions as a legitimization of
degrading addresses. On the other hand, the concept ‘political correctness’ crea-
tes an affirmative discourse about ‘hate speech’ by trying to restrict the freedom
of speech. First, the article shows to what extent the relationship between ‘hate
speech’ and ‘freedom of speech’ can be understood as an oppositional assessment
of the materiality of digital signs. Building on this, it is argued that both discourses
are oriented towards a (supposedly) consensual universalism and thus tend to work
towards a depoliticization of the Internet. Finally, the concepts of virtuality and
vulnerability are presented as possible forms of articulation of an alternative way
of thinking, which is not linked to the moral orientation towards consensus. It is
emphasized that processes of the conflictual negotiation of positions – especially

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in the context of digital hypermediality – are a constitutive moment of democratic
coexistence.
Keywords: Hate Speech; Hassrede; Dissens; Redefreiheit; Dekonstruktivismus;
Digitalität

                                     Einleitung

„It stops people from speaking truth in order to protect feelings. We cannot tackle
problems within our society if we refuse to see the full scope of those problems.“1
– Anhand dieses Kommentars auf der digitalen Kommunikations-Plattform reddit
lässt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Konfliktfelder ablesen, die sich
mit dem Phänomen ‚Political Correctness‘ verbinden. Bei dem Kommentar handelt
es sich um eine Antwort auf die Frage „What do you hate the most about political
correctness?“ auf dem subboard r/AskReddit, einer thematischen Teilöffentlichkeit
von reddit. Dass es sich um eine Suggestivfrage handelt, mit der sogleich eine ab-
lehnende Haltung gegenüber ‚Political Correctness‘ vorausgesetzt wird, überrascht
insbesondere deswegen kaum, da das Internet in spezifischen Teilöffentlichkeiten
‚als letzte Bastion der Redefreiheit‘ diskursiviert wird. Der Begriff ‚Political Cor-
rectness‘ wird hier als Abwertung von Bestrebungen, die Ausdrucksformen zu re-
geln suchen, funktionalisiert. Das Eingangszitat verdeutlicht dabei, dass ebenjener
Redefreiheits-Diskurs das Sprechen auf einer eher abstrakten Ebene als Mittel zur
Meinungsbildung – das wiederum eng an ein ontologisches Wahrheitsverständnis
geknüpft ist – betrachtet. Die Dinge ‚beim Namen‘ zu nennen wird hierbei zur
notwendigen Bedingung einer als kritisch verstandenen Beschäftigung mit Ge-
sellschaft. Der Begriff ‚Political Correctness‘ muss in diesem Zusammenhang
als zensorisches Eingreifen in den Blick rücken, welches die Freiheit der Rede
einschränkt. Zur an die Redefreiheit geknüpften Meinungsbildung dienen dann
allerdings auch misogyne, homophobe, rassistische, antisemitische und national-
staatlich-grenzziehende Diffamierungen und Adressierungen. Auf dem subboard
„politically incorrect‘ auf reddit lässt sich ein Eindruck davon gewinnen, inwiefern
der Redefreiheits- und damit auch Anti-Political-Correctness-Diskurs an einer
Legitimierung herabsetzender Adressierungen orientiert ist.2
    Demnach erscheint die Forderung nach ‚Political Correctness‘ als fatale Ver-
kennung wahrheitssprechender Akte: Man habe mit dem Stigma ‚Hate Speech‘
zu kämpfen, so lässt sich auf reddit lesen, obwohl man zuvorderst beabsichtige,
Augen zu öffnen. Die Forderung nach ‚Political Correctness‘ sei daher Ausdruck
des Hate Speech-Diskurses, der die Redefreiheit zugunsten der Empfindlichkeit
Einzelner einzuschränken sucht. Worte sind doch nur Worte – wie kann man da

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schon verletzt werden? Und wenn doch: Handelt es sich dann nicht zuvorderst
um ein Problem individueller Befindlichkeiten, das der freiheitlichen Suche nach
Wahrheit geopfert werden müsste?
    Mit diesen zuspitzenden Fragen, die sich aus der Perspektive des Free-Spe-
ech-Diskurses ergeben und keineswegs netzspezifisch sind, deutet sich ein Span-
nungsfeld an, das im Fokus des hier vorliegenden Beitrags stehen soll: Dienen
multimodale Herabsetzungen in digitalen Teilöffentlichkeiten der Meinungsbildung
in einem abstrakten Sinne, ohne dass ihnen eine physische (konkret: verletzende)
Macht zugeschrieben werden kann? Oder sind eben jene Herabsetzungen per se als
physischer Gewaltakt einzuschätzen, welchen es zu unterbinden gilt? Das Phäno-
men ‚Political Correctness‘ bewegt sich gewissermaßen im Spannungsfeld dieser
beiden Seiten, wird es doch längst im Rahmen des Redefreiheits-Diskurses als
‚Endgegner‘ imaginiert, um das Phantasma ‚Hate Speech‘ aus dem Weg zu räumen.
    Basierend auf diesen Überlegungen diskutiert der Beitrag in einem ersten
Schritt den Dualismus von ‚Hate Speech‘ und ‚Free Speech‘ im Kontext digitaler
Teilöffentlichkeiten. Hierbei steht die Frage im Fokus, welche Annahmen über
die Materialität digitaler Zeichen der oppositionellen Anlage beider Diskurse
zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund soll der Begriff bzw. das Phänomen
‚Political Correctness‘ eingeordnet werden. Darauf aufbauend wird der erläuterte
Dualismus aus einer dekonstruktivistischen Perspektive aufgelöst und als Ausdruck
eines Strebens nach konsensualen Universalismen gefasst, welche die ihnen je-
weils eingeschriebene Partikularität jedoch verschleiern. Es wird zu zeigen sein,
dass sowohl der Free Speech-Diskurs als auch der Hate Speech-Diskurs mit ihrer
(gemeinsamen) Orientierung an einem konsensualen Universalismus zumindest
daran arbeiten, das Medium Internet zu entpolitisieren – denn da, wo Universalien
konsensual festgeschrieben sind, lassen sich Widersprüche weder artikulieren,
noch einsetzen. Abschließend schlägt der Beitrag eine Perspektive jenseits der
Forderung nach Konsens vor, indem der Begriff der Verletzbarkeit als relationale
Größe eingeführt wird, die Überlegungen zu demokratischen Kommunikations-
formen im Wechselverhältnis von Realität und Virtualität jenseits des Begriffs
‚Political Correctness‘ ermöglicht und damit die Produktivität von Dissens betont.

         ‚Political Correctness‘ und die Materialität digitaler Zeichen

Die Frage nach der Legitimität sprachlicher Äußerungen bzw. allgemeiner der
Legitimität von Zeichen tritt in mediatisierten, gesellschaftspolitischen Debatten
derzeit deutlich in den Fokus öffentlicher Auseinandersetzungen, ist dabei jedoch
keineswegs neu. Historisch betrachtet fällt die Etablierung des Begriffs ‚Political
Correctness‘ in den 1980er Jahren mit der Etablierung des Begriffs ‚Hate Speech‘

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in etwa zusammen (vgl. Walker 1994, S. 126ff.; Hughes 2010, S. 3ff.). Der Begriff
‚Hate Speech‘ ist – ex negativo – eng an den ersten Zusatzartikel zur Verfassung der
Vereinigten Staaten geknüpft, der bekanntlich die Redefreiheit als grundlegendes
Bürgerrecht gewährleistet. Herabsetzende Begriffe mit Bezug auf die Kategorien
Gender, Race/Ethnicity und Religion werden erst mit der Etablierung des Be-
griffs ‚Hate Speech‘ zum anderen der Redefreiheit. Damit sind die Begriffe ‚Hate
Speech‘ und ‚Free Speech‘ zwar grundlegend aufeinander bezogen, allerdings in
Form eines oppositionellen Dualismus: Während der ‚Hate Speech‘-Diskurs davon
ausgeht, dass diffamierende Adressierungen einen Gewaltakt vollziehen und damit
auch rechtsstaatlich geahndet werden müssen, argumentiert der ‚Free Speech-Dis-
kurs‘, dass es sich bei entsprechenden Äußerungen nicht etwa um Gewaltakte,
sondern um freiheitliche Sprechakte diskursiver Meinungsbildung handele. Der
‚Hate Speech‘-Diskurs geht dabei davon aus, dass entsprechende Ausdrücke im
Akt der Äußerung das vollziehen, was sie benennen. Der Sprechakttheorie von
John L. Austin folgend handelt es sich hierbei um ein illokutionäres Verständnis
von Sprechakten. Judith Butler hat in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit
dem ‚Hate Speech‘-Diskurs auf dessen Effekte hingewiesen: „Nach diesem illo-
kutionären Modell konstituiert hate speech [Herv. i. Orig.] ihren Adressaten im
Augenblick der Äußerung.“ (Butler 2006, S. 36) Anders ausgedrückt fallen Seman-
tik und Materialität hier unmittelbar zusammen. Mit dem ‚Free Speech‘-Diskurs
verhält es sich genau umgekehrt. In diesem Rahmen wird davon ausgegangen,
dass der Sprechakt vordergründig der Meinungsbildung dient – Semantik und
Materialität klaffen hier weit auseinander. Herabsetzungen, die streng genommen
aus dieser Perspektive eben keine Herabsetzungen, sondern neutrale ‚Fakten‘ dar-
stellen, sind Ausdruck und Mittel der Redefreiheit, wobei ihnen keine materialen
Effekte zugeschrieben werden.
    Bereits seitdem das ‚WWW‘ im Jahr 1994 für eine breite Masse nutzbar wurde,
werden Diffamierungen in digitalen Teilöffentlichkeiten thematisiert. Insbeson-
dere aus einer gendersensiblen Perspektive wurden und werden Bedrohungen
und Herabsetzungen als ‚Hate Speech’ bzw. ‚Online Hate Speech‘ verstanden
und innerhalb dieses Diskurses als Gewaltakte problematisiert (vgl. Pritsch 2011;
Jane 2017). Auf der anderen Seite wird das Internet gleichzeitig als libertäres Me-
dium imaginiert, insbesondere im Kontext seiner Ökonomisierung. Datenströme
ermöglichen demnach neue Marktmodelle jenseits der Materialität industrieller
Produktionsformen sowie staatlicher Regulierungen (vgl. Eickelmann 2017a, S.
78ff.). Die hier vorliegenden Diskursivierungen der Materialität digitaler Zeichen
stehen sich folglich diametral gegenüber, verkomplizieren nun allerdings unsere
Ausgangslage, und zwar aus zwei Gründen: Erstens erstreckt sich die Frage da-
nach, ob digitalen Zeichen eine Materialität zuzusprechen ist oder auch nicht, im
Kontext der Beschäftigung mit digitalen Teilöffentlichkeiten über unterschiedliche

200
Wirklichkeitsdimensionen wie Fiktionalität, Virtualität und Realität hinweg.
Zweitens unterscheiden sich die Bedingungen des Adressierungsgeschehens
grundlegend von jenen nicht-digitalisierter Sprechakte insofern, als sie als Zeichen
innerhalb eines digitalen, hypermedialen Mediums verhandelt werden. Auf beide
Aspekte soll nun vertiefend eingegangen werden.
    Die Opposition von ‚Hate Speech‘/‚Free Speech‘ verdeckt zumeist, dass ihr
spezifische Bezugnahmen zu Realitätsdimensionen inhärent sind. Dabei ist die
Offenlegung dieser impliziten Bezugnahmen erst die Voraussetzung dafür, die
Frage nach der Materialität digitaler Zeichen zu bearbeiten. Die Auseinanderset-
zung mit der Frage, welche Materialität digitalen Zeichen inhärent ist, führt bei
der Beschäftigung mit digitalen Teilöffentlichkeiten unausweichlich zur Frage nach
dem Verhältnis von Fiktionalität, Virtualität und Realität. In diesem Sinne zeigen
die folgenden Ausführungen, inwiefern der Opposition von ‚Hate-/Free Speech‘ die
oppositionelle Gegenüberstellung von ‚Realität/Fiktionalität‘ inhärent ist. Für diese
Frage sind die systemtheoretisch orientierten Ausführungen von Elena Esposito
(2010) gewinnbringend, da sie unterschiedliche Realitätsdimensionen analytisch
unterscheidbar machen, aber gleichzeitig auf deren Interferenzen verweisen. Mit
der Etablierung schriftlicher Fernkommunikation im 16./17. Jhd. spalte sich die
Realität in eine ‚reale‘ Realität und eine ‚fiktionale‘ Realität (ebd., S. 161ff.). Durch
die durch schriftliche Kommunikation bedingte Externalisierung von Informa-
tionen etabliert sich eine Differenz zwischen Realität und Fiktionalität, die fortan
eigene Logiken und zusammenhänge herausbilden und sich diametral gegenübe-
rstehen (vgl. Eickelmann 2017a, S. 61ff.). Das Fiktionale ist in dieser Konzeption
eine autonome Realitätsdimension, was für das hier dargelegte Thema bedeutet,
dass es unabhängig von der Realität und damit auch von den für die Realität
etablierten Prüfkriterien (in Bezug auf Logik, Wahrheit usw.) losgelöst existiere.
    Unterzieht man nun den oppositionellen Dualismus von ‚Hate-/Free-Speech‘
unter Rekurs auf die Ausführungen von Esposito einer Relektüre, so fällt auf,
dass der ‚Hate Speech‘-Diskurs die Realitätsdimension der ‚Realität‘ repro-
duziert, während der ‚Free Speech-Diskurs‘ die Realitätsdimension der ‚Fik-
tionalität‘ mitherstellt und stetig wiederholt.3 Die Effekte dieser Verknüpfung
sind gesellschaftspolitisch folgenreich: Während wir es derzeit auf der einen
Seite mit institutionellen wie juristischen Bestrebungen der Festsetzung digi-
taler Zeichen als unmittelbar realitätswirksame ‚Hate Speech‘ zu tun haben,
was zu einer Legitimation wie Verstärkung der Moderation, Sperrung und
Löschung von Inhalten führt, sind wir – gleichzeitig – mit einer Legitimation
und Zuspitzung eines maßlos entfesselten wie differenzmarkierenden Sprechens
konfrontiert, das auf der Annahme beruht, digitale Adressierungen könnten
keine realen Effekte zeitigen und ließen sich damit in der Sphäre fiktionaler
Adressierungen verorten.

                                                                                     201
Doch wo lässt sich nun der Begriff ‚Political Correctness‘ in diesem Feld ver-
orten? Bei dem Begriff ‚Political Correctness‘ handelt es sich um eine Imaginati-
onsfolie für beide Seiten der beschriebenen dualistischen Engführung. Während
der ‚Hate Speech‘-Diskurs den Begriff für eine teleologische Ausrichtung seiner
Programme zur Festlegung von Zeichen nutzt, kassiert der ‚Free Speech‘-Diskurs
den Begriff, um unter Rekurs auf die Gefährdung der Meinungsfreiheit und unhalt-
barer Zensurbestrebungen eine ‚deutliche Sprache‘ gegen ihn zu finden, um einer
bestimmte Position qua Abwertung die souveräne Deutungsmacht zu verleihen. So
betrachtet ist der Begriff ‚Political Correctness‘ samt seinen diskursspezifischen
Implikationen im Hinblick auf oppositionell angelegte Realitätsdimensionen als
Funktionsträger zu betrachten: Da er sowohl vom ‚Hate Speech‘-Diskurs als auch
vom ‚Free Speech‘-Diskurs aufgegriffen wird, entsteht in seiner Verwendung ein
Kampfplatz, der stets zwei Antagonisten produziert und ins Feld ruft. Gleichzeitig
fungiert er als Imaginationsfolie, die stetig den Dualismus selbst reproduziert:
Entweder handelt es sich bei diffamierenden Adressierungen um reale Gewalt,
weswegen Political Correctness notwendig ist (Hate Speech/Realität) oder wir
müssen über Political Correctness nachdenken, weil sie die Meinungsfreiheit
gefährdet, und zwar basierend auf der Annahme, dass Zeichen keine materiale
Wirkmacht zukommt (Free Speech/Fiktionalität).
    In digitalen Teilöffentlichkeit konstituiert sich der besagte Kampfplatz zur
Frage, was digitale Zeichen bedeuten und ob ihre Verwendung legitim ist – an-
schaulich bspw. im Kontext der Debatten um #Gamergate4 –, häufig im Rekurs
auf die Figur des ‚Social Justice Warrior‘. Das Satzbeispiel zum Eintrag im Oxford
Dictionary lautet: „These social justice warriors want to apply their politically
correct standards and rules to others' speech“ (Oxford Dictionaries.com 2018).
Mit der Figur des ‚Social Justice Warriors‘ spitzt sich die Imaginationsfolie der
‚Political Correctness‘ zu, bedenkt man, dass die Personifizierung von ‚Political
Correctness‘ eine persönliche Benennung und damit Adressierbarkeit zur Folge
hat. Hier entsteht eine Subjektposition, die für ‚Political Correctness‘ einsteht
und andererseits von ihren GegenerInnen diffamierend angerufen wird. Der
Konflikt um die Bedeutung digitaler Zeichen spitzt sich also insofern zu, als er
als Subjektivationsmodus bedeutsam wird. Dabei ist zentral, dass die Frage nach
der Materialität, und das heißt: der Realität, digitaler Zeichen, ausgehandelt wird.
Anders ausgedrückt wird die als weiblich diskursivierte Figur des ‚Social Justice
Warrior‘ für die Position, die sich gegen Political Correctness verortet, zur Ab-
grenzungsfolie, weil sie Zeichen als unmittelbar real (Hate Speech), und damit
materiell wirksam, behauptet, während auf der anderen Seite behauptet wird, es
handele sich um fiktive Zeichen (Free Speech), die das Andere der Realität mar-
kieren, d.h. eben nicht materiell wirksam werden, sondern ‚nur‘ der diskursiven
Meinungsbildung dienen.

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Mit dem Begriff ‚Social Justice Warriors‘ werden vermeintliche Internet-
nutzerinnen adressiert, die für einen Feminismus einstehen, der völlig jenseits
sogenannter wissenschaftlicher Tatsachen operiere. Gleichzeitig gerät die liberale
Verteidigung der Redefreiheit als männlich konnotiert in den Blick. Die Ausein-
andersetzung dazu, wer wo was sagen darf, stellt sich damit nicht zuletzt auch als
Geschlechterkampf dar. Digitale Zeichen sowie das Internet werden in komplexen
Dualismen in Zusammenhang mit soziomedialen Kategorien verhandelt, die es
sichtbar zu machen gilt. Medientechnologien sind damit nicht auf ihre Technizität
reduzierbar.

          Ent-Politisierung des Internets? ‚Political Correctness‘ und
            das Streben nach einem konsensualen Universalismus

Im Folgenden geht es nun darum, den hier vorgestellten Dualismus von ‚Hate‘- und
‚Free-Speech‘ sowie die Verortung des Begriffes ‚Political Correctness‘ in diesem
Zusammenhang zu dekonstruieren. Denn es lässt sich zeigen, dass es sich bei dem
vermeintlichen Gegensatz um zwei Seiten derselben Medaille handelt, betrachtet
man beide Diskursfelder als Ausdruck einer jeweils eigentümlichen Beanspruchung
eines konsensualen Universalismus. Gemeinsam ist diesen Beanspruchungen, dass
sie die ihnen inhärente Partikularität verschleiern. Das Insistieren auf die eigene
Position als die eine legitime Position beruht mithin genau darauf, sich gerade
auf der Basis universalistischer Forderungen von der Gegenposition abzugren-
zen. Die hierbei entstehende oppositionelle Anordnung lässt sich als Effekt von
Grenzziehungsprozessen betrachten, d.h. als Effekt ‚agentieller Schnitte‘5 (Barad
2012, S. 34f.), der innerhalb einer Logik der Beanspruchung eines Universalismus
verhandelt wird. ‚Hate Speech‘ und ‚Free Speech‘ sind so argumentiert keine
unabhängig voneinander existierenden Auffassungen, sondern formieren sich
vielmehr erst in wechselseitigen Abgrenzungsprozessen und sind trotzdem Teil
einer übergeordneten Logik. Damit sind sie grundsätzlich aufeinander bezogen.6
    Judith Butler hat in ihrem Buch „Excitable Speech. A Politics of the Perfor-
mative“ (1997) in der Auseinandersetzung mit Zensurforderungen in Bezug auf
pornographische Zeichen herausgearbeitet, dass der ‚Hate Speech‘-Diskurs an
einem konsensualen Universalismus orientiert ist. Das meint, dass dieser Diskurs
insbesondere darauf ausgerichtet ist, semantische Kontingenz zu unterbinden,
um teleologisch an der Herstellung von Konsens arbeiten zu können. Die Fest-
setzung und Konventionalisierung der Bedeutung von Zeichen ist entsprechend
die Grundlage dafür, überhaupt beurteilen zu können, ob es sich denn bei einem
Zeichen bzw. einer Zeichenfolge um ‚Hate Speech‘ handelt, oder eben nicht. Erst
die Festsetzung von Bedeutung – intersubjektiv, institutionell sowie juridisch

                                                                               203
– erlaubt Übereinkünfte dazu, wie mit eben jenen Zeichen umgegangen werden
soll. Damit legt der Diskurs die Wirkmacht eben dieser Zeichen vorab fest: Eine
als ‚Hate Speech‘ definierte Äußerung ist gewalttätig. Da sie gewalttätig ist, muss
ihr, insbesondere juristisch, nachgegangen werden, und zwar zum Zwecke der Ver-
hinderung ihrer Wiederholung. Ein konsensualer Universalismus ist damit sowohl
notwendige als auch hinreichende Bedingung dafür, dass die Forderung nach ‚Poli-
tical Correctness‘ überhaupt erst artikuliert werden kann. Genauer gesagt ist es der
dem ‚Hate Speech‘-Diskurs eingeschriebene konsensuale Universalismus, der die
Grenzen der ‚politischen Korrektheit‘ definiert. Grenzüberschreitungen werden mit
Forderungen nach Unsichtbarmachung und/oder rechtlicher Verfolgung versucht
zu sanktionieren. So betrachtet gerät ‚Political Correctness‘ als Instrument einer
universalpragmatischen Regulierung von Zeichen in den Blick, die teleologisch
am Konsens orientiert ist. Dabei handelt es sich beim ‚Hate Speech‘-Diskurs um
eine idealisierende und idealisierte Unterstellung eines Konsenses darüber, wo
die Grenze des Sagbaren verläuft (mit der Annahme, dass diffamierende Zeichen
per se verletzen), die wiederum zuvorderst an eine juridische Definition gebunden
bleibt: Insbesondere der Rechtsstaat wird hier in die Position gesetzt darüber zu
entscheiden, welche Zeichen sagbar sind und welche nicht, d.h.: einen rechtsstaat-
lich abgesicherten Konsens zu schaffen.
    Im Kontext digitaler Zeichen verkompliziert sich diese Lage insbesondere
deswegen, weil es nicht mehr allein der Rechtsstaat ist, der in diese Position ge-
setzt wird, sondern zudem – mehr oder weniger in Auseinandersetzung mit dem
Rechtsstaat – privatwirtschaftliche Unternehmen, d.h. Plattformbetreibende.7 Da
selbstverständlich neben dem Rechtsstaat insbesondere Plattformbetreibende
zuvorderst ökonomische Interessen vertreten, handelt es sich hier keineswegs um
eine Durchsetzung eines universellen Konsenses darüber, wo die Grenze des Sag-
baren und Sichtbaren verläuft, sondern notwendigerweise um eine Durchsetzung
partikularer Interessen. Das meint konkret, dass die semantische Kontingenz von
Zeichen zugunsten paternalistischer wie ökonomischer Interessen zurückgewiesen
wird. Darauf, dass es sich hierbei um eine folgenreiche Zurückweisung handelt,
hat Judith Butler bereits hingewiesen, indem sie herausgearbeitet hat, inwiefern
die „permanente Diversität im semantischen Feld“ und sich daraus ergebende
Widersprüche erstens erst die Voraussetzung für die kritische Wiederaneignung
verletzender Zeichen darstellt und zweitens erst die Grundlage dafür darstellt,
die Grenze des Sag- und Sichtbaren herauszufordern und neu zu justieren (Butler
2006, S. 137ff.). Damit wird die Begrenztheit des hier performativ hergestellten An-
spruchs auf Universalität sichtbar. Einblicke in die Sperrungs- und Löschpraxis von
Facebook, bei der sogenannte „digitale Drecksarbeiter“8 in Manila Entscheidungen
im Sinne eines westlichen Unternehmens treffen sollen, und zwar als Angestellte
von Drittunternehmen im Niedriglohnbereich, denen das Sprechen untersagt ist,

204
zeigen zudem weitreichende Folgeprobleme der Regulierung von Zeichen im Kon-
text digitaler Medien an. Diese zeigen die Partikularität des Universal-Anspruchs
des ‚Hate Speech‘-Diskurses wohl am Deutlichsten auf.
    Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass auch der ‚Free Speech‘-Diskurs auf einem
konsensualen Universalismus insistiert, und zwar der Beanspruchung grenzen-
loser Redefreiheit. Dabei funktionalisiert der ‚Free Speech‘-Diskurs die vom ‚Hate
Speech‘-Diskurs gesetzte Grenze des Sag- und Sichtbaren, indem er eben jene
Grenze als Einschränkung des als universal verstandenen Rechts auf Redefrei-
heit diskursiviert. Die Partikularität des Universal-Anspruchs des ‚Hate Speech‘-
Diskurses wird hier zugunsten eines entgrenzten Sprechens so funktionalisiert,
dass diffamierende Abgrenzungspolitiken als Notwendigkeit im Kampf für das
universale Recht auf Redefreiheit erscheinen. Als durchaus widersprüchlich lässt
sich dieses Diskursfeld insofern beschreiben, als hier im Kontext des Kampfes für
eine universell geltende Redefreiheit gleichzeitig eine dogmatische Beanspruchung
einer individuellen Souveränität autorisiert wird. Damit wird – paradoxerweise
– auf der Grundlage einer Universalitäts-Beanspruchung eben diese zugunsten
individueller Souveränität wieder zurückgenommen. Jede Kritik an individueller
Souveränität und damit einhergehend jeder Verweis auf die Frage nach der Grenze
des Sag-/Sichtbaren muss dann zwangsläufig als illegitim erscheinen und zwar
deswegen, weil die bloße Frage nach der Grenze als Gefährdung individueller
Freiheit erscheinen muss. Die Imaginationsfolie der ‚Political Correctness‘ dient
hier als Symptom für die Beschneidung eines universalistisch begründeten und
individualistisch bzw. souverän gewendeten Rechts auf Redefreiheit.
    Jene Beanspruchung individueller Souveränität stellt sich im Kontext digitaler
Teilöffentlichkeiten auf eine spezifische Art und Weise dar. Werfen wir nochmal
einen Blick in das subboard „politically incorrect“ auf reddit. Auffällig ist hier,
dass die Nutzungspraxis des subboards erst performativ herstellt, was ‚politische
Korrektheit‘ vermeintlich ist, und zwar indem ebendiese Grenzen überschritten
werden, d.h. dass ganz gezielt Begriffe verwendet werden, die sich durchaus als
rassistisch, sexistisch homophob und antisemitisch verstehen lassen. Anders
ausgedrückt verbindet sich der skandalisierende Tabubruch mit dem Recht auf
Redefreiheit (Deuber-Mankowsky 2013, S. 196). In dieser Praxis wird ‚politische
Inkorrektheit‘ eingesetzt, um gegen Minderheiten Position zu beziehen (ebd., S.
193), in jüngerer Zeit allerdings auch gegen die politischen – und interessanter-
weise eben nicht die ökonomischen – Eliten. Zentral ist, dass die performative
Herstellung ‚politischer Inkorrektheit‘ die Funktion hat, mittels der Herabsetzung
eine hegemoniale, auf Individualität beruhende Gemeinschaft herzustellen, die
sich von Minderheiten abgrenzt.
    So lässt sich sichtbar machen, dass es sich bei der an Souveränität orientier-
ten, individualistischen Wendung des als universal argumentierten Rechts auf

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Redefreiheit notwendigerweise um eine partikulare Beanspruchung handelt. In
diesem Kontext muss die historisch rückgebundene Verletzungsmacht von Zei-
chen und damit ihre Situierung zurückgewiesen werden. Auf dieser Grundlage
sind es die partikularen Interessen einer westlichen, zumeist weißen, männlichen
Leitkultur, die hier vertreten und mittels der diffamierenden Adressierung im
Kampf um das Recht auf Redefreiheit immunisiert werden. Damit ist der Rekurs
auf das Recht auf freie Rede in eine hegemoniale, abgrenzende Identitätspolitik
eingebunden. An einem partikularen Konsens ist diese Beanspruchung insofern
orientiert, als sie – paradoxerweise – auf genau das abzielt, was ihre Grundlage
eigentlich gefährden muss: die Unterminierung von Meinungsvielfalt zugunsten
einer Wahrheit bzw. einer die Wahrheit sprechenden Gemeinschaft. Die Funktio-
nalisierung des Rechts auf freie Meinungsäußerung dient also der Herstellung einer
souveränen Gemeinschaft, die an einer generalisierenden wie vereindeutigenden
Identitätspolitik ausgerichtet ist: Die in diesem Kontext zu beobachtenden Diffa-
mierungen bringen sich entsprechend gegen ‚den Feminismus‘,,die Schwarzen‘,
‚die Juden, ‚die Homosexuellen‘ usw. in Stellung. Dabei sind entsprechende Dis-
kussionen teleologisch an den gegenseitigen Versicherungen der Legitimität der
Argumentation orientiert, kurz: an der Bekräftigung eines partikularen Konsenses.
Astrid Deuber-Mankowsky hat entsprechend auf den Punkt gebracht: „Die zentrale
Funktion der Inanspruchnahme der freien Rede ist […] nicht Dissens, sondern die
Bekräftigung eines Konsenses“ (ebd., S. 193). Worum es mir geht, ist nicht die
Frage, ob diese Inhalte ‚ernst‘ zu nehmen sind oder nicht. Mir geht es vielmehr
darum zu zeigen, dass der Rekurs auf das Recht der Redefreiheit in spezifischen
digitalen Teilöffentlichkeiten und darüber hinaus genutzt wird, um Diffamierungen
unter Rekurs auf das als universal gedachte Recht auf Redefreiheit zu legitimie-
ren. Die in diesem Kontext hegemonial strukturierte Differenz ‚Wir‘/‚Sie‘, ‚Eige-
nes‘/‚Fremdes‘ wird hier stetig aktualisiert. So gesehen wird deutlich, dass sowohl
der ‚Hate Speech‘-Diskurs, als auch der ‚Free Speech‘-Diskurs – und damit die
Imaginationsfolie der ‚Political Correctness‘, die für beide Seiten funktionalisiert
wird – an der Beanspruchung einer konsensualen Universalpragmatik orientiert
sind, wobei ihr eigentlich partikularistischer Impetus gemeinhin verschleiert bleibt.
    Nun ließe sich behaupten, dass die Debatten um ‚Political Correctness‘ von
einer durchaus problematischen Politisierung des Internets und seiner Teilöf­
fentlichkeiten zeugen. Demgegenüber ließe sich mit einem an Möglichkeiten
des Dissens statt an der Durchsetzung von Konsens orientierten Begriff vom
Politischen (vgl. Rancière 2008, S. 35f.) zeigen, dass es sich beim Rekus auf die
‚Political Correctness‘ bzw. die Figur des ‚Social Justice Warrior‘ nicht etwa um
eine Politisierung digitaler Teilöffentlichkeiten, sondern – ganz im Gegenteil – um
eine Ent-Politisierung handelt. Das Politische zeichnet sich so betrachtet gerade
durch die Unmöglichkeit seiner Festschreibung aus (vgl. Ranciére 2016, S. 39).

206
Die Orientierung an einer konsensualen Universalpragmatik erscheint vor diesem
Hintergrund als Phantasma, das die Mehrdeutigkeit von Zeichen unberücksichtigt
lässt (vgl. Butler 2006, S. 143). Davon ausgehend, dass jeder Akt der Adressierung
seine Verfehlung stets mit sich führt, gerät die Mehrdeutigkeit von Adressierungen
als durchaus politisches Moment in den Blick. Dissensorientierter Widerstreit wird
damit als politisches Potenzial und Widerständigkeit gegen Regulierungstechno-
logien im weitesten Sinne sichtbar (vgl. ebd., S. 234ff.; Rancière 2016, S. 39ff.).
    Wenn also das Politische in diesem Sinne ein unbestimmbarer Möglichkeits-
raum der Aushandlung von Bedeutungen darstellt, dann lässt sich argumentieren,
dass die Debatten um ‚Political Correctness‘ im Kontext digitaler Teilöffentlichkei-
ten und die damit einhergehende Orientierung am konsensualen Universalismus,
bspw. in Form von Löschungen und Sperrungen, aber auch der entfesselten Dif-
famierung gesellschaftlicher Minderheiten, tendenziell an einer Entpolitisierung
des Internets arbeiten (vgl. Eickelmann 2017a, S. 127ff.).

         Eine andere Sprache finden: Von Virtualität und Verletzbarkeit

Beabsichtigt man auf der Basis dieser Überlegungen eine Perspektivverschiebung,
kommt man nicht umhin, andere Begriffe und Denkweisen zu entwickeln. Möglich
wird dies, wenn an die Stelle einer universalpragmatischen Argumentation eine
an Kontingenz und Dissens orientierte Sichtweise gesetzt wird (vgl. Singer 2008).
    Subjektivationstheoretisch lässt sich argumentieren, dass dem Akt der Ad-
ressierung eine Produktivität zukommt, sofern Körper „durch die Anredeformen
wechselseitig erhalten und bedroht“ (Butler 2006, S. 14) werden. Zeichenhafte
Adressierungen ermöglichen die Anerkennung eines Subjekts, gefährden es aber
zugleich, insbesondere dann, wenn die zeichenhafte Adressierung auf Missach-
tung zielt. Die Kluft zwischen dem Akt der Adressierung und seiner Effektivität
ermöglicht zugleich ein Möglichkeitsraum für Wiederaneignungen, sofern man
ihre Wirkmacht als Kette von Effekten versteht, die ihrerseits in medientechno-
logische Bedingtheiten eingebunden sind. Denn das Adressierungsgeschehen wird
im Kontext digitaler Teilöffentlichkeiten auch durch die Technizität und Ästhetik
spezifischer Plattformen mitbestimmt. Um auf die Frage nach der Materialität
digitaler Zeichen zurückzukommen: Diffamierende Adressierungen im Netz sind
so betrachtet, d.h. sofern man die besagte Kluft ernst nimmt, weder unmittelbarer
Gewaltakt in der Realität (Hate Speech) noch ‚lediglich‘ Instrument der diskursiven
Meinungsbildung in der Fiktionalität (Free Speech). Die Frage, ob diffamierende
Adressierungen, die im Rahmen digitaler Teilöffentlichkeiten prozessieren also
gewaltvolle, körperliche Effekte in der Realität vollziehen, oder eben nicht, ist so
betrachtet nicht im Vorhinein entscheidbar, allerdings keineswegs willkürlich: Je

                                                                                207
nach situativer Einbindung, je nach Kontext, je nach SprecherInnenposition, je
nach Machtkonstellation, je nach Teilöffentlichkeit usw. ist diese Frage stattdessen
immer wieder neu zu stellen und – performativitätstheoretisch argumentiert – von
den Effekten her zu lesen und gerade nicht konzeptuell zu vereindeutigen.
     Für dieses Weder-Noch lassen sich wiederum die Schriften von Esposito frucht-
bar machen: Sie hat ein Verständnis des Virtuellen vorgeschlagen, das sich erstens
quer zur Unterscheidung Realität/Fiktionalität verhält und sich zweitens zuvorderst
durch Kontingenz auszeichnet (vgl. Esposito 2014, S. 233, 245). Virtualität meint
hier einen „Horizont des Realen“, was bedeutet, dass sie nicht ohne einen Bezug
zum Realen existieren kann, aber auch nicht mit der Realität zusammenfällt.
Gleichzeitig kann so verdeutlicht werden, dass es sich bei Diffamierungen in
digitalen Teilöffentlichkeiten keineswegs um reine Fiktion handelt, denn: „Die
fiktive Realität der fiction [Herv. i. Orig.] bleibt nicht ohne Folgen für die reale
Realität.“ (ebd., S. 11) Das Virtuelle selbst ist also ein Effekt des Interferierens
von Realität und Fiktionalität (ebd., S. 233, 245). Damit ist zugleich ihre subjekt-
konstitutive Wirkmacht beschrieben. Umgekehrt produzieren Subjektivationspro-
zesse aber immer auch erst eben jene Medientechnologien. Ausgehend von einer
Durchdringung des Lebens durch digitale, verletzte Technologien zeitigen sich
Subjektivationsprozesse als relationale Konstitutionsverhältnisse. Universalisti-
sche Vereindeutigungen von Zeichen können so als Engführung sichtbar gemacht
werden, die der Kontingenz semantischer Inhalte grundsätzlich zuwiderlaufen (vgl.
Villa 2006, S. 150). Digitale Zeichensysteme spitzen dieses Grundproblem insofern
zu, als die Situierung von Zeichen als ständige Bewegungen gefasst werden muss,
die Vorstellungen souveräner Subjektivität ad absurdum führt.
     Um über diese Relationalität nachdenken zu können, hat Butler den Begriff
der Verletzbarkeit vorgeschlagen. Hiermit ist keineswegs eine anthropologische
Konstante gemeint, sondern – im Gegenteil – eine notwendige Bezüglichkeit von
Subjektivität (vgl. Butler 2014, S. 13; Eickelmann 2017a). Mit dem Begriff der Ver-
letzbarkeit wird entsprechend auf die Situiertheit jedweden Seins verwiesen, die
von Anerkennungsordnungen abhängig ist. Dieses Ausgesetztsein als produktives
Moment zu fassen, beschreibt es doch die Unfestschreibbarkeit von Subjektivität,
ist ein vielversprechender, alternativer Zugang zur Frage, inwiefern digitale Zeichen
verletzen können. Statt mithilfe des Rekurses auf die Imaginationsfolie der ‚Poli-
tical Correctness‘ konsensuale Festschreibungen und dualistische Engführungen
vorzunehmen, ginge es dann darum, Verletzbarkeit als grundlegende Bedingung
des Seins anzuerkennen. Zu erkennen, dass Subjektivität immer auch von sozio-
medialen Anerkennungsordnungen abhängt würde eine Perspektivverschiebung
in dem hier diskutierten Feld bedeuten, da die Anerkennung von Verletzbarkeit
erst die Grundlage dafür darstellt, die „Bedeutung und Struktur der Verletzbarkeit
selbst zu ändern“ (Butler 2012, S. 62).

208
Eine Orientierung an der Produktivität des Dissens‘ ist hierbei insofern pro-
duktiv, als er stetige Neujustierungen ermöglicht. Konsensorientierung hingegen
beruht auf einer Vorstellung von Souveränität, welche die Debatten um ‚politische
Korrektheit‘ sowie die Figur des ‚Social Justice Warrior‘ erst ins Leben gerufen
und in eine argumentative Sackgasse geführt hat.
     Demokratische Aushandlungsprozesse sind hingegen grundlegend auf Dissens
angewiesen, wobei die Herausforderung darin besteht, eine Sprache zu finden, die
dissidente Relationen im Spannungsfeld unterschiedlicher Realitätsdimensionen
produktiv macht. Eine noch weiterzudenkende, am Dissens orientierte Ethik der
Relationalität kommt dabei nicht umhin, neue Grenzen zu ziehen und sich der Frage
zu stellen, wie sich dissidente Formen der Auseinandersetzung so konkretisieren
lassen, dass Herabsetzungen und Diffamierungen eben nicht als konstitutiver Teil
von Dissens beschreibbar werden.9 Die Frage danach, welche Funktionen diese
beiden Arten und Weisen der Kommunikation haben, scheint vielversprechend:
Während Herabsetzungen und Diffamierungen in einer individualistischen Sou-
veränitätsrhetorik verhaftet bleiben und vor diesem Hintergrund auf Abgrenzung
abzielen, verstehe ich Rancières Überlegungen zum Dissens genau anders: Dissens
bringt neue Formen der Sicht- und Sagbarkeit unterschiedlicher Interessen hervor
und konstituiert damit eine „paradoxe Welt, die getrennte Welten zusammenbringt“
(Rancière 2008, S. 36). Die beteiligten Subjektivitäten sind dabei keineswegs fest-
gesetzt, und zwar ebenso wenig wie die Themen ihrer Auseinandersetzung sowie
ihr Ort. In diesem Sinne wurde zu zeigen versucht, dass eine Anreicherung der
öffentlich-politischen wie wissenschaftlichen Diskussion also nur dann gelingen
kann, wenn man Subjektivität, Virtualität und Verletzbarkeit als niemals abge-
schlossene, relationale Bezüglichkeit begreift (vgl. Eickelmann 2017a, S. 61 ff.,
S. 162). Um noch einmal auf das Problem der Universalität zurückzukommen: Sich
aus einer relationalen Bezüglichkeit ergebende Widersprüche und Uneindeutig-
keiten lassen sich so betrachtet als Grundlage dafür formulieren, die Partikularität
von Universalitäts-Beanspruchungen herauszufordern und sichtbar zu machen, und
zwar in einem niemals abgeschlossenen und abschließbaren Sinne.
     Damit ginge es zuvorderst um dissidente Formen der Zuwendung, die alle Be-
teiligten im Kontext ihrer medientechnologischen Bedingtheit in Bewegung hält.
Hierzu möchten die vorliegenden Überlegungen einen Beitrag leisten.

                                     Anmerkungen

1   Online unter: https://www.reddit.com/r/AskReddit/comments/68ojrw/what_do_you_
    hate_the_most_about_political/ [Abgerufen am 02.07.2018].
2   Online unter: https://www.reddit.com/r/politicallyincorrect/ [Abgerufen am 02.07.2018].

                                                                                      209
3     Hier deutet sich ein weiteres Problemfeld an: Dass innerhalb von Sprechakten bzw.
      digitalen Zeichen, die an einer Verteidigung der Redefreiheit orientiert sind, die Mei-
      nungsbildung auch in Abgrenzung zu sogenannten ‚Fake News‘ prozessieren kann,
      hängt auch damit zusammen, dass sich eben jener Diskurs als Fiktion reproduziert.
      Zu einer fiktionalen Realitätsdimension wird die Verteidigung der Redefreiheit
      nämlich genau dann, wenn ihr Bezug zur Realität negiert wird: Damit können diffa-
      mierende Adressierungen in der Realität weder verletzen, noch müssen sie sich den
      Prüfkriterien für Wahrheitsfindung, die sich in der Realität etabliert haben, stellen.
      Erst auf dieser Grundlage kann mit Affekten eine Politik gemacht werden, die auf
      ausschließenden Universalismen beruht.
4     Bei #Gamergate handelt es sich um eine kaum überschaubare Gleichzeitigkeit unter-
      schiedlicher Argumentationen und Verweise, die sich um die Frage drehen, ob und wenn
      ja, inwiefern, digitale Spiele und ihre Industrie Machtordnungen reproduzieren, die im
      Zusammenhang mit ‚gender‘ und ‚race‘ stehen. (Vgl. Eickelmann 2017a, S. 190 ff.)
5     Mit dem Begriff ‚agentielle Schnitte‘ beschreibt Karen Barad Grenzziehungsprakti-
      ken, die komplexe Relationalitäten vereindeutigen (Barad 2012, S. 34 f.).
6     Jacques Derrida hat mit dem Begriff der différance darauf verwiesen, dass die Pra-
      xis des Bedeutens sich immer nur in der Anwesenheit des vermeintlich Abwesenden
      vollzieht. Bei dem Verhältnis differentieller Verweisungen handelt es sich also nicht
      etwa um Oppositionen, sondern um aufeinander angewiesene Ebenen, die jeweils ihr
      Anderes mit sich führen (vgl. Derrida 1990, S. 91).
7     In Deutschland ist zu Beginn des Jahres 2018 das Netzwerkdurchsetzungsgesetz
      (NetzDG) in Kraft getreten, das soziale Netzwerke mit über zwei Mio. Nutzenden
      zur Löschung bzw. Sperrung rechtswidriger Hassrede sowie Falschnachrichten ver-
      pflichtet (vgl. Eickelmann et al. 2017b).
8     Online unter: https://www.tagesspiegel.de/medien/loeschen-oder-nicht-die-digitalen-
      drecksarbeiter-von-manila/22 573670.html [Abgerufen am 02.07.2018].

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   line unter: http://adanewmedia.org/2012/11/issue1-consalvo/ [Abgerufen am 21.08.18].
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   Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies.
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