Der Niedergang der Goldenen Aktien - Wie der Europäische Gerichtshof die Unternehmens-kontrolle liberalisiert

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Der Niedergang der Goldenen Aktien - Wie der Europäische Gerichtshof die Unternehmens-kontrolle liberalisiert
Der Niedergang der Goldenen Aktien
Wie der Europäische Gerichtshof die Unternehmens-
­kontrolle liberalisiert                                                        BENJAMIN WERNER

Die Vereinheitlichung der Unternehmenskontrollsysteme in der Europäischen Union ist bis heute
an den gegensätzlichen Interessen der Mitgliedstaaten gescheitert. In seiner Rechtsprechung zu
den „Goldenen Aktien“ hat der Europäische Gerichtshof inzwischen allerdings damit begonnen,
eigenständig marktliberale Vorgaben zur Regulierung der Unternehmenskontrolle durchzusetzen.
Benjamin Werner erklärt, warum dieser politisch brisante Integrationsfortschritt gegen den Willen
der Mitgliedstaaten möglich war.

Der Begriff der Unternehmenskontrolle oder Corporate Governance bezeichnet jene
gesetzlichen Regeln, die die formalen Machtverhältnisse in einem Unternehmen bestim­
men. Sie legen fest, wer darüber entscheiden darf, welche Ziele ein Unternehmen auf
welche Weise verfolgt. Die Ausgestaltung dieser Regeln ist von erheblicher politischer
Be­deu­tung, da sie die Funktionsweise der zentralen Organisationen der Wirtschaft maß­
geblich bestimmen und damit Einfluss auf Beschäftigung und Wohlstand haben. Die
Unternehmenskontrolle ist also ein wichtiges Instrument, mit dem ein Land seine Wirt­
schaft reguliert.

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) haben sich historisch ganz
un­ter­
      schiedliche Systeme der Unternehmenskontrolle herausgebildet. So dominiert
in Großbritannien etwa die Vorstellung, ein Unternehmen habe hauptsächlich den

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Der Niedergang der Goldenen Aktien - Wie der Europäische Gerichtshof die Unternehmens-kontrolle liberalisiert
In den 2000er-Jahren begann der EuGH, Goldene Aktien zu Verstößen gegen die europäische Kapi­
     tal­verkehrsfreiheit zu erklären. Damit unterlief er Lösungen der EU-Länder, die diesen weiter­hin eine
     eigenständige Gestaltung ihrer Unternehmenskontrollsysteme garantierte.

     Interessen seiner Eigentümer zu folgen, was sich
     insbesondere in den weitreichenden Rechten für Die Regeln zur Unternehmens­­
     Aktionäre ausdrückt. Demgegenüber herrscht in kontrolle sind zentrale Regu­-
     den meisten kontinentaleuropäischen Ländern
                                                           ­lie­rungs­­instrumente für die
     wie Deutschland, Frankreich oder Schweden ein
     Verständnis vor, wonach auch die Interessen wei­ nationale Wirtschaft.
     terer Akteure bei der Unternehmensführung zu
     berücksichtigen sind. Hierzu zählen vor allem die Belange der Arbeitnehmer, aber auch die
     Interessen anderer „Stakeholder“, etwa die der kreditgebenden Banken oder die des Staates.

     Diese Unterschiede haben bislang alle politischen Bemühungen vereitelt, einheitliche
     Vorgaben für diesen Politikbereich im europäischen Recht zu verankern. Zwar hat es seit
     Beginn des Integrationsprozesses immer wieder Versuche gegeben, sich auf gemeinsame
     Standards der Unternehmenskontrolle zu einigen, ein Konsens darüber konnte aber nie
     erzielt werden. Zu groß waren die Widerstände der Mitgliedstaaten gegen das Abweichen
     oder gar Aufgeben zentraler Merkmale ihrer Unternehmenskontrollsysteme. Wenn über­
     haupt europäische Regelungen auf diesem Gebiet verabschiedet werden konnten, dann
     berührten sie entweder keine wesentlichen Fragen oder aber blieben in den entscheiden­
     den Punkten unverbindlich.

     Statt ihre Kompetenzen im Bereich der Unternehmenskontrolle aufzugeben, setzen die
     Länder auf autonomieschonende Lösungen, die ihnen auch weiterhin die eigenständige
     Gestaltung ihrer Unternehmenskontrollsysteme garantierte. In seiner Rechtsprechung
     zu sogenannten Goldenen Aktien hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) inzwischen
     jedoch damit begonnen, diese Autonomie einzuschränken.

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Der Niedergang der Goldenen Aktien - Wie der Europäische Gerichtshof die Unternehmens-kontrolle liberalisiert
Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs
       zu Goldenen Aktien in den Jahren 2000 bis 2007                          Abb. 1

       Jahr        Mitgliedstaat       Unternehmen       Sektor           Urteilstenor

                                       ENI, Telecom      Energie,
       2000        Italien             Italia, STET      Kommunikation    verboten

       2002        Portugal            verschiedene      verschiedene     verboten

       2002        Frankreich          Elf-Aquitaine     Energie          verboten

       2002        Belgien             SNTC, Distrigaz   Energie          erlaubt

       2003        Spanien             verschiedene      verschiedene     verboten

       2003        Großbritannien      BAA               Luftwesen        verboten

       2005        Italien             verschiedene      Energie          verboten

       2006        Niederlande         KPN, TPG          Kommunikation    verboten

       2007        Deutschland         Volkswagen        Automobil        verboten

Die Rechtsprechung des EuGH zu Goldenen Aktien –
ein Integrationsfortschritt …
Goldene Aktien sind Sonderrechte, die dem Staat wesentliche Kontrollbefugnisse in
einzelnen Unternehmen garantieren. In den 1990er-Jahren griffen viele Mitgliedstaaten
der EU auf dieses Instrument zurück, typischerweise um weiterhin Einfluss auf die
Eigentümerstruktur oder zentrale Unternehmensentscheidungen ihrer privatisierten
Staatsbetriebe auszuüben. In den 2000er-Jahren begann der EuGH jedoch, Goldene Aktien
zu Verstößen gegen die europäische Kapitalverkehrsfreiheit zu erklären (Abb. 1). Dies
betraf auch das 1960 erlassene deutsche VW-Gesetz, das Gesetz über die Überführung der
Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mbH in die private Hand. Dieses Gesetz
räumt dem Land Niedersachsen ein Vetorecht in allen wichtigen Entscheidungen ein.

Zugleich festigte der Gerichtshof im Zuge dieser Rechtsprechung eine bemerkenswert weit­
reichende Interpretation der Kapitalverkehrsfreiheit: Alle nationalen Bestimmungen, die den
Erwerb von Aktien potenziell weniger attraktiv machen könnten, sind fortan als Beschränkung
des freien Kapitalverkehrs zu werten und bedürfen der Rechtfertigung durch zwingende
Gründe des Allgemeininteresses. Als attraktivitätsmindernd stufte der EuGH insbeson­
dere solche Regelungen ein, die die Kontrollbefugnisse von Aktionären im Unternehmen
beschneiden. Hierdurch könnten, so die Richter, Anleger von einer Unternehmensbeteiligung
abgehalten werden. Rechtsexperten haben darauf hingewiesen, dass sich auf Grundlage die­
ser Rechtsprechung zukünftig noch viele weitere nationale Regelungen, die in irgendeiner
Weise die Kontrollrechte von Aktionären beschneiden, als europarechtswidrig einstufen

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ließen. Prominentestes Beispiel des davon betroffenen nationalen Rechts könnten demnach
     etwa all jene Vorgaben sein, die – wie die deutsche Aufsichtsratsmitbestimmung – den
     Arbeitnehmern Einfluss auf die Unternehmensverwaltung einräumen.

     Mit seiner Rechtsprechung zu Goldenen Aktien
     verankerte der EuGH folglich spezi­    fische Vor­ Goldene Aktien widersprechen
     ga­
       ben, die die Mitgliedstaaten in Zukunft bei der Interpretation der Kapital­
     der Ausgestaltung ihrer Unternehmens­     kontroll­
                                                         verkehrsfreiheit durch den EuGH.
     systeme zu berücksichtigen haben. Er begrenzte
     das Recht der Mitgliedstaaten, die Macht der
     Eigentümer in den Unternehmen auf nationaler Ebene einzuschränken. Damit hatte
     der EuGH erreicht, was politisch bislang weder gewollt noch durchsetzbar war: eine
     Integrationsvertiefung im Bereich der Unternehmenskontrolle auf marktliberalem Nenner.

     … und seine Determinanten
     Angesichts der politischen Bedeutung der Unternehmenskontrolle und des Umstands,
     dass die Mitgliedstaaten hier vehement ihre nationale Gestaltungshoheit verteidigt haben,
     stellt sich die Frage, weshalb der EuGH in der Lage war, solch eine Integrationsvertiefung
     herbeizuführen. Warum ließen sich die Mitgliedstaaten das gefallen?

     Der wohl wichtigste Grund hierfür ist, dass durch den EuGH eigenmächtig herbeige­
     führte Integrationsfortschritte kaum korrigiert werden können. Denn die institutionellen
     Hürden hierfür sind nur schwer zu überwinden. Geht es um europäische Richtlinien,
     bedarf die Korrektur einer entsprechenden Initiative der Europäischen Kommission, die
     wiederum von einer qualifizierten Mehrheit im Ministerrat sowie einer absoluten Mehr­
     heit im Europäischen Parlament unterstützt werden muss. Bei Urteilen, die – wie im Fall
     der Goldenen Aktien – Vertragsbestimmungen betreffen, sind die Hürden sogar noch
     höher, da ein korrigierender Eingriff hier nur durch eine Vertragsänderung erfolgen
     kann. Diese muss einstimmig von allen Regierungen angenommen und zudem in allen
     Mitgliedstaaten per Parlamentsbeschluss, in einigen Fällen sogar per Volksabstimmung,
     ratifiziert werden. Solange also auch nur ein Mitgliedstaat ein pro-integratives Urteil als
     nützlich betrachtet, sinken die Chancen auf eine Korrektur der Rechtsprechung.

     Diese geringen Aussichten auf Erfolg dürften
     sicher­
           lich erheblich dazu beigetragen haben, Integrationsfortschritte, die der
     dass die Mitgliedstaaten die Rechtsprechung zu EuGH eigenmächtig herbeiführt,
     Goldenen Aktien bislang nicht korrigiert haben.
                                                        können kaum korrigiert werden.
     In Anbetracht der politischen Bedeutung der
     Unternehmenskontrolle wäre allerdings zu erwar­
     ten, dass sie zumindest versuchen würden, diese hohen Hürden zu nehmen. Doch inter­
     essanterweise haben die Mitgliedstaaten diese Option bislang nicht einmal in Erwägung
     gezogen. Die vom EuGH erzielte Integrationsvertiefung muss also auf weiteren Faktoren
     beruhen; dazu gehören:

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Unsicherheit. Der EuGH entwickelte seine weitreichende Interpretation der Kapital­
verkehrs­freiheit nicht auf einen Schlag, sondern erst nach und nach. Dieses schleichend-
kumulative Vorgehen des EuGH erschwerte es den Mitgliedstaaten, nach einem einzelnen
Urteil das genaue Ausmaß ihres Autonomieverlustes einzuschätzen. Für die Mitgliedstaaten
war immer nur klar, was ein Urteil für den konkret betroffenen Sachverhalt bedeutete.
Welche weiteren Konsequenzen sich aus diesem Urteil ergeben könnten, blieb dagegen
ungewiss. So ließ sich etwa nach den ersten Urteilen zu Goldenen Aktien nicht eindeutig
feststellen, ob davon auch das deutsche VW-Gesetz betroffen sein könnte. Und bis heute
ist unklar, wie sich diese Rechtsprechung auf Unternehmenskontrollregelungen jenseits
der Goldenen Aktien auswirken wird.

Zugeständnisse. Der EuGH machte den Mitgliedstaaten spezielle Konzessionen. Ein Bei­
spiel hierfür ist das Urteil gegen Belgien – der einzige Fall, in dem der EuGH eine Goldene
Aktie nicht verbot. Die Richter begründeten diese Entscheidung mit dem Argument,
dass zwar auch die belgische Regelung gegen den freien Kapitalverkehr verstoße, es hier
aber eine Reihe von zulässigen Gründen gebe, die diesen Verstoß rechtfertigten. Damit
hielt der EuGH seine Beschneidung der mitgliedstaatlichen Autonomie im Bereich der
Unternehmenskontrolle im Grundsatz aufrecht. Zugleich signalisierte er den Mitgliedstaaten
aber, dass es durchaus noch Möglichkeiten gibt, nationale Interessen zu verteidigen.

Kreative Urteilsbefolgung. Den Mitgliedstaaten verblieb nach ihrer Verurteilung noch
Spielraum, um ihre unmittelbar betroffenen Interessen zu wahren. Beispielhaft hierfür
ist etwa der VW-Gesetz-Fall: Nach dem Urteil schaffte Deutschland das Gesetz nämlich
nicht einfach ab, sondern passte es lediglich schonend an. Dadurch gelang es, wesentliche
Elemente der bisherigen Kontrollstruktur im Volkswagen-Konzern zu erhalten.

Dass die Mitgliedstaaten gegen die integrationsvertiefende Rechtsprechung des EuGH nicht
vehementer Widerstand leisteten, ist also nicht allein den geringen Erfolgsaussichten politi­
scher Korrekturversuche geschuldet. Sie schritten vielmehr deshalb nicht ein, weil aus ihrer
Sicht der Schaden nicht groß genug beziehungsweise kontrollierbar erschien. Damit bleibt
die vom EuGH geschaffene Rechtsprechung aber in Kraft und die Bedrohung für alle natio­
nalen Bestimmungen, die die Entfaltung des Aktionärswillens beschränken, bestehen.

Integration gewonnen – Akzeptanz verloren?
Der hier geschilderte Vorgang zeigt: Der Fortgang der europäischen Integration wird
nicht allein durch politische Übereinkünfte mit parlamentarischer Beteiligung bestimmt.
Auch der EuGH ist ein wichtiger „Motor der Integration“. Diese Form der Integration ist
allerdings nicht unproblematisch. Werden nämlich Integrationsfortschritte, die zudem mit
bedeutenden, nicht konsensfähigen Grundsatzentscheidungen einhergehen, in politisch
sensiblen Politikfeldern wie der Unternehmenskontrolle vom EuGH eigenmächtig durch­
gesetzt, dann könnte dies als undemokratisch und illegitim betrachtet werden. Es besteht
daher die Gefahr, dass der EuGH mit seinem integrationspolitischen Aktivismus Europa-
Kritikern weitere Argumente liefert.

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BENJAMIN WERNER

                       Benjamin Werner ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er studier-
                       te Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft, Soziologie
                       und Sozialpsychologie in Frankfurt und Lyon und wurde 2012 an der Universität
                       zu Köln promoviert.

                       Forschungsinteressen: Staatstheorie; politische Ökonomie; Liberalisierungs­politik;
                       europäische Integration.

     Zum Weiterlesen   GERNER-BEUERLE, C.: Shareholders Between        SCHARPF, F. W.: Legitimität im europäischen

                       the Market and the State: The VW Law and        Mehrebenensystem. Leviathan 37, 244–280
                       Other Interventions in the Market Economy.      (2009).
                       Common Market Law Review 49, 97–144
                       (2012).

                       GRUNDMANN, S. & MÖSLEIN, F.: Die Gol­

                       de­ne Aktie: Staatskontrollrechte in Euro­pa­
                       recht und wirtschaftspolitischer Bewertung.
                       Zeitschrift für Unternehmens- und
                       Gesellschaftsrecht 32, 317–366 (2003).

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