Deutscher Ärztetag: Sektorenübergreifende, integrative Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
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121. Deutscher Ärztetag: Sektorenübergreifende, integrative Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen Dr. med. Iris Hauth Ärztliche Direktorin Past-President der Regionalgeschäftsführerin Deutschen Gesellschaft für Koordinatorin Psychiatrie und Psychotherapie, Unternehmensentwicklung Psychosomatik und Nervenheilkunde Psychiatrie Alexianer GmbH (DGPPN e. V.)
Agenda Prävalenz psychischer Erkrankungen und Epidemiologie Individuelle und gesellschaftliche Folgen Versorgungssituation durch niedergelassene Ärzte und Kliniken Beispiele für gute Versorgungsstrukturen Stepped-Care-Modell 2
Agenda Prävalenz psychischer Erkrankungen und Epidemiologie Individuelle und gesellschaftliche Folgen Versorgungssituation durch niedergelassene Ärzte und Kliniken Beispiele für gute Versorgungsstrukturen Stepped-Care-Modell 3
Knapp jeder Dritte ist betroffen In Deutschland sind jedes Jahr 27,8 % der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffenen Personen. Von ihnen nehmen pro Jahr nur 18,9 % Kontakt zu Leistungsanbietern auf. (Jacobi et al., 2014, 2016; Mack et al. 2014)
Prävalenz psychischer Erkrankungen 12-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen Angststörungen 15,4% Unipolare Depressionen 8,2% Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum 5,7% Zwangsstörungen 3,6% Somatoforme Störungen 3,5% Psychotische Störungen 2,6% PTBS 2,3% Bipolare Störungen 1,5% Anorexia nervosa 0,8% 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16%
Werden psychische Erkrankungen häufiger? Die Prävalenz psychischer Erkrankungen hat nicht zugenommen. Jacobi et al. 2014 6
Behandlungsrate psychischer Erkrankungen Inanspruchnahme niedergelassener Fachärzte und Psychotherapeuten in den letzten 12 Monaten (Bevölkerungsanteil in %) im Vergleich BGS98 (1998) und DEGS1 (2011) Psychiatrische und psychotherapeutische Leistungen werden häufiger in Anspruch genommen. DEGS, Rattay et al. 2013 7
Trotzdem nur jeder 5. Patient in spezialisierter Behandlung 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 behandelte Prävalenz unbehandelte Prävalenz Salize 2017, Jacobi et al. 2014 8
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Teilhabe Körperliche Gesundheit Gesellschaftl. Psychische Arbeits- Teilhabe Erkrankung fähigkeit Soziales Umfeld Lebensqualität 10
Krankheitslast Psychische Erkrankungen stehen in Deutschland an vierter Stelle bei den Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. (Global burden of disease study, Plass et al., 2014)
Krankheitslast Die Lebenserwartung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um 10 Jahre verringert. (Walker et al., 2015)
Hohe Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen Psyche 17% Sonstige 25% Psychische Erkrankungen Herz-Kreislauf 4% stehen an zweiter Stelle als Ursache für AU-Tage. Atmung 15% Verletzungen 12% Verdauung 5% Muskel/Skelett 22% DAK 2018, Gesundheitsreport
Größte Ursache für Erwerbsminderungsrenten 43 % aller Erwerbsminderungsrenten im Jahr 2016 erfolgten aufgrund einer psychischen Erkrankung. Damit stehen sie unter den Ursachen an erster Stelle. 80.000 70.000 2016: 74.468 60.000 50.000 40.000 1993: 49.777 Rentenzugänge 30.000 aufgrund psychischer 20.000 Erkrankungen: + 80 % seit 1993 10.000 0 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 Deutsche Rentenversicherung 2017
Arbeitssituation schwer psychisch erkrankter Menschen 10 % im ersten 20 % in Arbeits- WfbM tätig markt 50 % ohne 15 % in Erwerbs- Hilfs- angeboten tätigkeit „Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit 15 Beeinträchtigungen“
Kosten für das Gesundheitswesen Die direkten Kosten aufgrund psychischer Erkrankungen werden in Deutschland auf rund 44,4 Mrd. Euro im Jahr geschätzt. Sie stehen damit an zweiter Stelle unter allen Krankheitsgruppen. (Statistisches Bundesamt 2017: Krankheitskosten)
Fazit Die Prävalenz psychischer Erkrankungen hat nicht zugenommen, umso mehr aber die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und ihre ökonomische Relevanz: Wie lässt sich diese Entwicklung bewältigen? 17
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Vertragsärztliche Versorgung 5.877 84 % arbeiten Psychiater, Neurologen, Nervenärzte mit psycho- therapeutischem Fokus 6.121 (Tendenz steigend!) Ärztliche Psychotherapeuten 25.297 Psychologische Psychotherapeuten 19
Regelversorgung muss gewährleistet werden Zuwachs seit 2006: 40.000 Nervenärzte 6 % 35.000 Ärztliche Psychotherapeuten 37 % 30.000 Psychologische Psychotherapeuten 64 % 25.297 25.000 20.000 15.000 6.121 10.000 5.000 5.877 0 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Nervenärzte ärztl. Psychotherapeuten Psychologische u. KiJu-Psychotherapeuten 20
Lange Wartezeiten fördern die Chronifizierung Wartezeiten auf Richtlinienpsychotherapie: 19,9 Wochen im Bundesdurchschnitt 23,4 Wochen 19,4 Wochen 16,7 Wochen BPtK, 2018 21
Angebotslücken in der Psychotherapie Anteil der Patientenkohorte bei ambulanten Behandlungen Organische oder substanzbedingte psychsiche Störung (F0 + F1) 13% Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2) 4% Affektive Störungen (F3) 70% Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) 82% Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5) 12% Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6) 17% Intelligenzstörungen (F7) 1% Entwicklungsstörungen (F8) 4% Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F9) 11% Nicht näher bezeichnete psychische Störungen (F99) 3% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% Multmeier, 2014
Angebotslücken in der Psychotherapie Anteil der Patientenkohorte bei ambulanten Behandlungen Organische oder substanzbedingte psychsiche Störung (F0 + F1) 13% Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2) 4% Affektive Störungen (F3) 70% Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) 82% Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5) 12% Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6) 17% Psychotherapieplätze kommen Menschen 1% mit Psychosen, Intelligenzstörungen (F7) Abhängigkeitserkrankungen, Entwicklungsstörungen (F8) 4% kognitiven Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F9) Beeinträchtigungen 11% nicht zugute. Nicht näher bezeichnete psychische Störungen (F99) 3% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% Multmeier, 2014
Mangelhafte Honorierung der Psychiater/Nervenärzte Fallzahlen im Quartal pro Arzt (Quartal 4/2015) 53 46 Ein Psychiater in Niederlassung behandelt durchschnittlich 480 bzw. 880 Fälle pro Quartal und erhält ca. 65 bzw. 85 € pro 482 Quartal und Fall. In psychotherapeutischen Praxen liegt die Fallzahl bei 886 ca. 40-50 pro Quartal bei einem Honorar von ca. 90 € pro Therapieeinheit (50 Minuten). Psychiater Nervenheilkundler Ärztl. Psychotherapeuten nichtärztl. Psychotherapeuten KBV, Honorarbericht 2017
Keine bedarfsgerechte regionale Verteilung Psychotherapeuten je 100.000 EW Nervenärzte je 100.000 EW Schulz et al. 2015
Psychiatrische und psychosomatische stationäre Versorgung Fachkliniken und Fachabteilungen an Bettenanzahl Fallzahl 2016 allgemeinen Krankenhäusern Psychiatrie und Psychotherapie 409 55.976 823.182 Kinder- /Jugendpsychiatrie 145 6.175 59.023 und -psychotherapie Psychotherapeutische Medizin/ 253 10.857 84.600 Psychosomatik Insgesamt 807 73.008 966.805 Statistisches Bundesamt 2017: Grunddaten der Krankenhäuser 2016
Leistungsverdichtung in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Während Fallzahlen um mehr als das Doppelte angestiegen sind, sind Verweildauer um mehr als die Hälfte, Bettenzahl und Berechnungstage um ein Viertel gesunken. 300% 250% Fallzahl [%] 200% Bettenzahl [%] 150% Bettenauslastung [%] Verweildauer [%] 100% Berechnungstage [%] (inkl. Std.fälle) 50% 0% 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Statistisches Bundesamt 2017: Grunddaten der Krankenhäuser 2016
Stationäre Behandlungsdiagnosen Anteil der Patientenkohorte bei stationären Behandlungen F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch 35,43% psychotrope Substanzen F30-F39 Affektive Störungen 23,71% F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 13,40% F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 10,98% F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer 8,19% psychischer Störungen F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 3,30% F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in 2,42% der Kindheit und Jugend F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen 1,32% und Faktoren F70-F79 Intelligenzminderung 0,63% F80-F89 Entwicklungsstörungen 0,58% F99-F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen 0,04% 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Diagnosedaten 2017
Zersplittertes Versorgungs- und Finanzierungskonzept Niedergelassener Psychiater Ärztlicher Psychotherapeut ??? SGB V SGB V Hausarzt Psychologischer Psychotherapeut Ambulante Pflege SGB V SGB V SGB V Betreutes Wohnen Beratungsstellen Psychiatrische Klinik SGB XII SGB XII SGB V Sozialpsychiatrischer Dienst Institutsambulanz Eingliederungshilfe SGB XII SGB V SGB XII Ambulante Rehabilitation Tagesklinik Beschäftigung, Tagesstätten, SGB V & VI SGB V Zuverdienst SGB XII Rehaklinik Berufliche Reha Ambulante Soziotherapie SGB VI SGB IX SGB V 29
Koordination, Kooperation und Casemanagement Berufliche Reha Hausarzt Niedergelassene Geschütztes Wohnangebot Psychiater Niedergelassener ärztlicher oder Ambulante Soziotherapie psychologischer Psychotherapeut Ambulante Pflege Institutsambulanz Medizinische Reha Klinik und Tagesklinik Sozialpsychiatrischer Tagesstätte Dienst Empfehlung der Expertenkommission der Bundesregierung 1988: „In jeder Versorgungsregion ist der Aufbau eines gemeindepsychiatrischen Verbundes in Angriff zu nehmen“ 30
Agenda Prävalenz psychischer Erkrankungen und Epidemiologie Individuelle und gesellschaftliche Folgen Versorgungssituation durch niedergelassene Ärzte und Kliniken Beispiele für gute Versorgungsstrukturen Stepped-Care-Modell 31
Modellvorhaben § 64b SGB V „Regionales Psychiatrie Budget“ Schleswig-Holstein (Steinburg/Itzehoe, Rendsburg-Eckernförde, Herzogtum Lauenburg, Riedstadt…), Nordhausen, bisher 20 Verträge KK: nicht alle, sondern auch einzelne Krankenkassen VP: Kliniken der Regionalversorgung Vergütung: Jahresklinikbudget Einschluss: F- Diagnose, KH-Behandlungsbedürftigkeit Besonderheit: Ambulantisierungspotenzial Steuerung durch Klinik 32
Innovationsfonds: NPPV – Neurologisch-psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung Projektleitung: KV Nordrhein Kostenträger: AOK Rheinland Hamburg, BKK Landesverband NORDWEST 400-800 teilnehmende Ärzte und Psychotherapeuten 14.000 teilnehmende Patienten mit F- und G-Diagnosen geplant Ziel: intensivierte ambulante Komplexbehandlung − Gestufte und koordinierte Versorgung von Menschen mit neurologischen und psychischen Erkrankungen − Hohe Zuwendungsdichte in versorgungskritischen Situationen − Frühzeitige Feststellung des Versorgungsbedarfs − Vernetzung aller relevanten Akteure − Bedarfsgerechte und koordinierte Behandlung Steuerung durch die Vertragsärzte 33
NPPV – Versorgungsprozess Patienten Zusteuerung Koordination Modulare Therapie Hausarzt Arzt/ Therapeut Inaktive Versorgungsphase Bezugs- Facharzt arzt Gruppentherapie Psychotherapeut / Bezugs- Soziale Dienste Betriebsarzt therapeut Klinik novego Unterstützung durch Koordinationsstelle und IT-System Der Bezugsarzt/ -psychotherapeut übernimmt die Koordination der abgestuften Behandlung in Zusammenhang mit weiteren Leistungserbringern 34
Innovationsfonds: RECOVER Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf KK: BARMER, AOK Rheinland/Hamburg, DAK-Gesundheit, HEK 2 Modellstandorte: Hamburg und Steinburg/Itzehoe Implementierung und Erprobung einer sektorenübergreifend-koordinierten, schweregradgestuften und evidenzbasierten Versorgung Ziel: Verbesserung der Behandlungsqualität und Effizienz durch Zusammenarbeit, Steuerung, Koordination und evidenzbasierte Ergänzung Einschlusskriterien: F2-F6 sowie F9-Diagnosen Steuerung durch die Kliniken 35
Innovationsfonds: RECOVER 36
Agenda Prävalenz psychischer Erkrankungen und Epidemiologie Individuelle und gesellschaftliche Folgen Versorgungssituation durch niedergelassene Ärzte und Kliniken Beispiele für gute Versorgungsstrukturen Stepped-Care-Modell 37
Definierter Versorgungspfad in der Region Stepped-Care-Modell geringer Bedarf höherer Bedarf hoher komplexer Bedarf Fachärzte/ Vertragsärzte/ Beratung Hausarzt Psychologische psychologische PIA Psychotherapeuten Psychotherapeuten Ambulante Ambulante Psychotherapie psychiatrische psychiatrische TK Pflege Pflege Ambulante Krisen- Ambulante Pflege/ Ambulante Soziotherapie, Soziotherapie Soziotherapie intervention Ergotherapie Etc. Hilfen zum Wohnen, Stationäre Etc. Beschäftigung & Arbeit Behandlung Ambulante Leistungen z.B. IV-Verträge, § 64 Modelle STÄB •abgestimmte modulare Leistungen Gemeindepsychiatrische •Case-Management Klinikleistungen Leistungen • gemeinsame Therapieziele •Qualitätssicherung •Steuerungsgremium 38
Zusammenfassung 1. Psychische Erkrankungen sind Volkserkrankungen – 30 % der Erwachsenen- Bevölkerung ist betroffen – der Behandlungsbedarf sowohl ambulant als auch in der Klinik ist in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegen. 2. Deutschland verfügt über ein differenziertes, aber fraktioniertes Versorgungs- und Finanzierungssystem. 3. Die ambulante Regelversorgung durch Fachärzte für Psychiatrie und Nervenärzte ist durch ausreichende Honorierung und Nachwuchsgewinnung zu sichern. 4. Für die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie und für die Kliniken für Psychosomatik und Psychotherapie sind Personalausstattungen zu definieren, die leitlinienorientierte Behandlung ermöglichen und seitens der Kostenträger refinanziert werden. 5. Zur Qualitätssicherung der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist eine strukturierte verbindliche Kooperation aller Leistungserbringer im Sinne der sektorübergreifenden Versorgung zu fördern.
In necessariis unitas; In dubiis libertas; In omnibus caritas. Im Notwendigen die Einheit; Im Zweifel die Freiheit; In allem die Liebe. 40
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