Didaktik der Physik Frühjahrstagung - virtuell 2021 - Didaktik der ...

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Didaktik der Physik Frühjahrstagung - virtuell 2021 - Didaktik der ...
Didaktik der Physik
                                                                        Frühjahrstagung – virtuell 2021

        Modellierung naturwissenschaftlicher Leistungs- und Begabungspotenziale
                            im Kita- und Grundschulalter
                    Tobias Mehrtens, Freya Müller, Daniel Rehfeldt, Hilde Köster

                        Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin
                              t.mehrtens@fu-berlin.de, freya.mueller@fu-berlin.de,
                            daniel.rehfeldt@fu-berlin.de, hilde.koester@fu-berlin.de

       Kurzfassung
       In den Teilprojekten 3 und 9 des durch das BMBF geförderten Verbundprojekts ‚Leistung macht
       Schule’ (LemaS) am Standort Freie Universität Berlin werden Lernsettings und damit verbundene
       Diagnoseformate zur Erfassung und Beschreibung naturwissenschaftsbezogener (Leistungs-) Poten-
       ziale bei Kindern in der Kita und im Übergang von der Kita in die Grundschule (Teilprojekt 3) sowie
       im naturwissenschaftlichen Sachunterricht in der Grundschule (Teilprojekt 9) entwickelt. Mit den
       kooperierenden Kitas und Grundschulen werden die entwickelten Instrumente erprobt, evaluiert und
       entsprechend des Design-Based-Research Ansatzes (Reinmann, 2005) weiterentwickelt. Aufgrund
       fehlender konkreter Hinweise dazu, wie naturwissenschaftsbezogene (Leistungs-) Potenziale in Kita
       und Grundschule systematisch und theorie- sowie evidenzbasiert identifiziert werden können (Hö-
       ner, 2015, 59), wurde u.a. in Anlehnung an das Modell zur mathematischen Begabung im Grund-
       schulalter nach Käpnick (2014) sowie unter Berücksichtigung von Annahmen zu naturwissen-
       schaftsbezogenen Begabungen (Wegner, 2014; Labudde, 2014; Kirchner, 2006) im Rahmen des
       Teilprojektes 9 bereits ein erstes theoriebasiertes Modell naturwissenschaftsbezogener (Leistungs-)
       Potenziale für die Grundschule entwickelt (Mehrtens et al., 2021). Dieses Modell wurde nun unter
       Einbeziehung aktueller fachdidaktischer Debatten im Kontext der inklusiven und potenzialorientier-
       ten Begabungsförderung (Benölken & Veber, 2021, S. 56) weiterentwickelt und um Merkmale na-
       turwissenschaftsbezogene (Leistungs-) Potenziale von Kindern im Kitaalter (Fuchs, 2015; Anders
       et al., 2013; Fthenakis et al., 2009; Steffensky, 2017) ergänzt. Dieses Modell wird im weiteren Pro-
       jektverlauf empirisch geprüft und weiterentwickelt.

1. Von der (Hoch-) Begabungsförderung zur in-               Jahrzehnten sowohl in der Wissenschaft, als auch in
klusiven Potenzialorientierung                              der Schulpraxis (Ziegler, 2018, S. 68) um Verfahren,
1.1 Theoretische Grundlagen der inklusiven Bega-            die entweder die Schulleistung als Grundlage für die
bungsförderung                                              Identifikation von Begabungen heranziehen oder die
                                                            Verfahren von Leistungs- und IQ-Messungen kombi-
In der Literatur zur (Hoch-)Begabungsforschung und
                                                            nieren. Einige Verfahren beziehen auch weitere als
-förderung fehlt es derzeit noch an Einheitlichkeit
                                                            bedeutsam charakterisierte Merkmale, wie z.B. die
hinsichtlich der Definition der Begriffe ‚(Hoch-)Be-
                                                            Kreativität, in das Feststellungsverfahren mit ein
gabung‘ und ‚Leistungspotenziale‘ (Schrittesser
                                                            (ebd., S. 68). Zusätzlich wird (Hoch-)Begabung in
2019, S. 56). Während in der älteren Literatur zumeist
                                                            den meisten aktuellen Beiträgen nicht mehr als allge-
auf (Hoch-)Begabungen fokussiert wurde, werden in
                                                            meine Begabung, sondern als domänenspezifische
jüngeren Arbeiten und Publikationen zunehmend
                                                            Begabung oder domänenspezifisches Leistungspo-
auch schulische Rahmenbedingungen wie z.B. die In-
                                                            tenzial verstanden (Benölken & Veber, 2021, S. 47).
klusion berücksichtigt und fachspezifische Potenzi-
                                                            Aufbauend auf Erkenntnissen der jüngeren Bega-
ale, Diagnosemöglichkeiten und Förderung domä-
                                                            bungsforschung und unter Berücksichtigung der
nenspezifischer Begabungen in der Schule diskutiert
                                                            (Weiter-)Entwicklung des Schulsystems, finden sich
(Abels & Brauns, 2021; Benölken & Veber, 2021;
                                                            zudem vermehrt inklusivere Perspektiven auf (Hoch-
Weigand, 2020). Korrespondierend mit der Vielfäl-
                                                            )Begabung, die dieses Konstrukt offener fassen. Al-
tigkeit der Beschreibung des Phänomens der Bega-
                                                            lerdings ist auch in diesen Ansätzen das Verständnis
bung in der Literatur, sind auch die Verfahren zur
                                                            des Verhältnisses zwischen Potenzial, Begabung und
Feststellung von Begabung bzw. von (Leistungs-)Po-
                                                            Leistung divers.
tenzialen je nach theoretischem Rahmen z.T. sehr un-
terschiedlich. Wurden in der Vergangenheit vor-             Wir folgen dem Ansatz, der ‚Begabung‘ als Zuschrei-
nehmlich Intelligenzmessverfahren zur Identifikation        bung aufgrund der gezeigten Leistung (Performanz)
von ‚Hochbegabten‘ eingesetzt, erweiterte sich das          auffasst, die ihren Ursprung in latenten (Leistungs-)
Spektrum der Feststellungsverfahren in den letzten          Potenzialen hat (Abels & Brauns, 2021, S. 113;

                                                                                                              65
Mehrtens et al.

Fränkel, 2019, S. 48). Fränkel fasst diese Ansicht wie   und Fuchs fassen in dem von ihnen entwickelten Mo-
folgt zusammen: „Begabung wird sichtbar, wenn die        dell mathematischer Begabung im Grundschulalter
individuellen Begabungspotenziale gefördert werden       (überdurchschnittliche) Kompetenzen als Potenziale
konnten und sich in den Leistungsbereichen nieder-       auf, die sich unter günstigen Bedingungen in Leistun-
schlagen.“ (Fränkel, 2019, S. 48) Die in diesem Bei-     gen umsetzen lassen (Käpnick, 2014, S. 106). Hierbei
trag vorgeschlagene, bis zur empirischen Validierung     werden Kompetenzen von Käpnick und Fuchs als Be-
zunächst nur hypothetische Modellierung naturwis-        gabungspotenzial gefasst (ebd., S. 104). So bilden sie
senschaftlicher Begabung im Sachunterricht, schließt     den Diskurs in der Kompetenzforschung ab, in der
sich dieser Auffassung an, da sie erstens dem rekon-     zwischen den vorhandenen latenten Kompetenzen
struktiven Charakter der Ermittlung von Potenzialen      und der tatsächlich gezeigten Leistung unterschieden
und Begabungen entspricht und wir davon ausgehen,        wird (Asbrand & Martens, 2018, S. 17; Fuchs, 2006,
dass im schulischen Rahmen – wie auch auf Kompe-         S. 68). Diese Annahme fließt auch in das hier vorge-
tenzen – nur dann auf ein vorhandenes Potenzial ge-      stellte Modell ein.
schlossen werden kann, wenn dieses in Leistung um-       Zur möglichen Identifikation dieser (hohen) Leis-
gesetzt und so beobachtbar wird (Käpnick, 2014, S.       tungspotenziale entwickelte Käpnick (1998) ein zu-
106). Die Annahme über das Vorhandensein einer be-       nächst hypothetisches Merkmalsystem für mathema-
sonderen Begabung erfolgt somit aufgrund erbrachter      tisch begabte Grundschüler*innen der dritten und
Leistungsexzellenz oder Hochleistung in einer Do-        vierten Klasse, welches in Studien überprüft, verifi-
mäne. Zum Zweiten ermöglicht diese Definition ei-        ziert und für weitere Klassenstufen (Sjuts, 2017) oder
nen stärker entwicklungsorientierten Blick auf vor-      spezielle Fragestellungen (Fuchs, 2006) adaptiert
handene Potenziale (Abels & Brauns, 2021, S. 113;        wurde. Dieses unterteilt sich einerseits in für die Ma-
Benölken & Veber, 2021, S. 55) und ermöglicht auch       thematik relevante Fähigkeiten und andererseits auf
eine Dekategorisierung und Relativierung von Labeln      die jeweiligen Aktivitäten bezogene begabungsstüt-
wie ‚begabt‘, ‚normalbegabt‘ und ‚minderbegabt‘,die      zende Persönlichkeitseigenschaften (Selbstständig-
Lernenden zu einer bestimmten Zeit unter be-             keit, Konzentrationsfähigkeit etc.). Höner (2015) ver-
stimmten Voraussetzungen zugeschrieben werden            mutet auf Käpnick bezugnehmend ähnliche bega-
(Fraundorfer, 2019, S. 36).                              bungsstützende Persönlichkeitseigenschaften für na-
1.2 Allgemeine Grundlagen des Modells naturwis-          turwissenschaftliche Begabungen (Höner, 2015). In
senschaftlicher Begabung im Kita- und Grund-             der Erstellung des hier vorgestellten Modells sind
schulalter                                               diese Merkmale daher ebenfalls eingeflossen.
Das entwickelte Modell naturwissenschaftlicher Be-       Benölken und Veber (2021) ergänzen die Debatte der
gabung im Kita- und Grundschulalter orientiert sich      potenzialorientierten Begabungsförderung um ein
an aktuellen Modellen der Entwicklung und Be-            diversitätsorientiertes Modell zur Entwicklung ma-
schreibung von Begabungen und Potenzialen aus der        thematischer Begabung, in dem neben dem Einfluss
Erziehungswissenschaft und verschiedener Fachdi-         von Diversitätsfacetten auf die Entwicklung von Be-
daktiken, die eine fachliche Nähe zum Sachunterricht     gabung insbesondere das Fördern der Potenzialent-
aufweisen. Allen Modellen ist die Annahme einer dy-      wicklung durch eine Fokussierung dieser herausgear-
namischen, durch persönliche und umweltbezogene          beitet wird (Benölken & Veber, 2021). Durch die For-
Einflüsse geprägten und domänenspezifischen Ent-         mulierung der Notwenigkeit einer „Potenzialfokus-
wicklung von (Leistungs-)Potenzialen bzw. Bega-          sierung“ (ebd., S. 54f) wird die Problematik hervor-
bungen immanent (Fischer, 2015; Fuchs, 2006;             gehoben, dass Potenziale nicht zwangsläufig auch in
Käpnick, 2014; Wegner, 2014). Käpnick unterschei-        Leistung umgesetzt werden und dass diese sich nicht
det beispielsweise für die Entwicklung mathemati-        immer zu Begabungen entwickeln können. Erst durch
scher Begabung zwischen fördernden bzw. hemmen-          die bewusste oder auch unbewusste Fokussierung
den und typprägenden intrapersonalen Katalysatoren,      dieser Potenziale im Wechselspiel mit förderlichen
wie allgemeine physische, psychische, kognitive und      inter- und intrapersonalen Katalysatoren können
persönlichkeitsprägende Grundkompetenzen, sowie          diese in Leistung umgesetzt werden und sich im
fördernden bzw. hemmenden und typenprägenden in-         Laufe der Bildungsbiographie zu einer Begabung ent-
terpersonalen Katalysatoren, unter denen etwa insti-     wickeln (ebd., S. 55).
tutionalisierte Lerngelegenheiten, wie Kita und          Aufgrund der hier dargelegten, wenn auch verkürz-
Schule, aber auch den Einfluss von einzelnen Perso-      ten, Argumentation verstehen wir (Leistungs-)Poten-
nen und Ereignissen auf die Entwicklung der Lernen-      ziale (zusammengefasst) als besondere domänenspe-
den gefasst werden (Käpnick, 2014, S. 104). Die For-     zifischen Kompetenzen eines Kindes zu einem be-
mulierung ‚typenprägend‘ bezieht sich auf Bega-          stimmten Zeitpunkt. Jede Kompetenz bildet dabei ih-
bungstypen, die sich nicht nur durch besondere Leis-     rerseits das Potenzial zur (Weiter-)Entwicklung. Die
tungen in inhaltlichen Subdomänen auszeichnen, son-      Kompetenzen eines Kindes zeigen sich in der Perfor-
dern auch unterschiedliche Arbeits- und Denkstile,       manz, sodass ausgehend von der gezeigten Leistung
etwa im Bereich der Problemlösefähigkeit und dem
Vorgehen beim Lösen von Problemen aufweisen
(Fuchs, 2006; Sjuts, 2017; Sumida, 2010). Käpnick

66
Modellierung naturwissenschaftlicher Leistungs- und Begabungspotenziale im Kita- und Grundschulalter

   Abb. 1: Theoriebasiertes Modell naturwissenschaftsbezogener (Leistungs-) Potenziale für die Grundschule.

die vorhandenen (Leistungs-)Potenziale bzw. Kom-          begriffs, und es fehlt deshalb auch an klaren Orientie-
petenzen rekonstruiert werden können. Die Entwick-        rungslinien dazu, wie Begabungen bzw. (Leistungs-)
lung der (Leistungs-)Potenziale wird durch intraper-      Potenziale in pädagogischen Kontexten zu sind
sonale (etwa kognitive und persönlichkeits-prägende       (Rohrmann & Rohrmann, 2017). Für eine Sensibili-
Grundkompetenzen) und interpersonale Katalysato-          sierung der Fachkräfte für frühe naturwissenschafts-
ren (beispielweise Interventionen in Schule und Kita      bezogene Potenziale bei Kita-Kindern könnten u.E.
oder besondere Bezugspersonen) gefördert oder ge-         insbesondere prozessorientierte Indikatoren hilfreich
hemmt. Bei optimaler Entwicklung dieser (Leistungs-       sein. Mit der hier vorgestellten Modellierung zum Er-
)Potenziale können diese in überdurchschnittliche         fassen früher naturwissenschaftsbezogener Potenzi-
Leistung umgesetzt werden, welche dann als domä-          ale werden Merkmale beschrieben, die sich auch
nenspezifische Begabung wahrgenommen werden               durch pädagogische Fachkräfte in der Kita beobach-
kann.                                                     ten lassen (siehe Abbildung 1). Dazu gehört u.a. ins-
Nachfolgend werden theoriebasiert hypothetisch an-        besondere das gezeigte Interesse an einem Gegen-
genommene Merkmale naturwissenschaftlicher                stand oder Phänomen.
(Leistungs-)Potenziale für Lernende im Kita- und          In Modellen zur Beschreibung domänenspezifischer
Grundschulalter formuliert.                               Begabungen wird das Interesse als Teilindikator von
                                                          Kompetenz auch als mögliches Merkmal zur Erfas-
2. Merkmale naturwissenschaftlicher Leistungs-            sung von (Leistungs-)Potenzialen betrachtet (z.B.
potenziale im Kitaalter                                   Fuchs, 2015; Wegner & Schmiedebach, 2017). Inte-
Das frühe Erkennen und Fördern kindlicher Potenzi-        resse zeigt sich insbesondere in der intensiven, aus-
ale bzw. Begabungen im Elementarbereich kann              dauernden und gegenstandsbezogenen Auseinander-
heute als bedeutsames bildungspolitisches Ziel ange-      setzung, in selbstintentionalen Handlungen (Prenzel
sehen werden (JMK & KMK, 2004; Rohrmann &                 et al., 1986, S. 168) sowie auch in emotionalen und
Rohrmann, 2017; Behörde für Arbeit, Soziales, Fami-       kognitiven Äußerungen (Schiefele, 2008). Nölke et
lie & Integration (BASFI)(2012); Fthenakis, 2012).        al. (2013) gehen davon aus, dass sich naturwissen-
Die Analyse von Bildungsplänen für den Elementar-         schaftliches Interesse bereits im frühen Kindesalter
bereich zeigt jedoch eine Unschärfe des Begabungs-        zeigt. Als Hinweis auf ein frühes Potenzial deutet

                                                                                                              67
Mehrtens et al.

Fuchs (2015) im Bereich der Mathematik auch ein          Frühe naturwissenschaftsbezogene Potenziale im
ausgeprägtes Explorationsverhalten. Dieses Merkmal       Elementarbereich können demzufolge über ausge-
scheint uns auf den Bereich der Naturwissenschaften      prägte Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie über affek-
gut übertragbar (Köster, 2018; Fthenakis et al., 2009;   tive Aspekte wie beispielweise ein vertieftes Inte-
Mehrtens et al., 2020) und zeigt sich insbesondere bei   resse, beschrieben werden. Eine zentrale Annahme,
intensiver Beschäftigung mit naturwissenschaftsbe-       die sich theoretisch stützen lässt, ist somit das Heran-
zogenen Phänomenen (vgl. Köster, 2018; Fthenakis         ziehen eines mehrdimensionalen Kompetenzver-
et al., 2009).                                           ständnisses, welches neben kognitiven Dimensionen
Geht man von frühen Potenzialen in Form von ge-          auch persönlichkeitsbezogene Facetten miteinbezieht
zeigten Leistungen im Elementarbereich aus, kann         (Käpnick, 2014; Weinert, 1999).
hier zur Beschreibung dieser auf das Scientific Lite-    2.1 Naturwissenschaftsbezogene (Leistungs-) Po-
racy Bildungskonzept zurückgegriffen werden (z.B.        tenziale im Übergang von der Kita in die Grund-
(Fthenakis et al., 2009; Gelman & Brenneman, 2004;       schule
Steffensky, 2017). Nach diesem Bildungskonzept           In Hinblick auf die bildungspolitischen Zielvorgaben
wird naturwissenschaftliche Kompetenz in Teilberei-      der JMK & KMK (2004) soll es zwischen dem Ele-
che untergliedert, die einerseits naturwissenschaftli-   mentar- und Primarbereich zu einer institutionsüber-
ches Wissen über Konzepte, Theorien und Wissen           greifenden Zusammenarbeit kommen. Die Gründe
und andererseits Wissen über Naturwissenschaften,        dafür liegen zum einen in der Gewährleistung von
also Denk- und Arbeitsweisen sowie deren Fähigkeit       Anschlussfähigkeit, um individuelle Lern- und Ent-
zur Anwendung in Alltagssituationen beinhalten. Zu-      wicklungsprozesse zu unterstützen und zu fördern
dem schließt es affektive Aspekte mit ein, wie bei-      und andererseits, um einen ko-konstruktiven Transi-
spielsweise das Interesse, Einstellungen und Begeis-     tionsprozess zu gestalten (Griebel & Niesel 2004;
terung für Naturwissenschaften (Anders, 2013a; Nor-      2011).
ris & Phillips, 2003; Weinert, 1999). Ausgehend von
                                                         Um eine Anschlussfähigkeit schulischer Angebote an
dem Scientific Literacy Konzept wurde durch Cars-
                                                         die frühkindliche Bildungsbiographie sicherstellen zu
tensen et al. (2011) ein theoretisch begründetes Mo-
                                                         können, kann unter anderem die Weitergabe von Bil-
dell zur Erfassung naturwissenschaftlicher Kompe-
                                                         dungsdokumentationen als elementare Schlüssel-
tenz empirisch überprüft. Naturwissenschaftliche
                                                         komponente angesehen werden (Knauf, 2019). Im na-
Kompetenzen werden nach diesem Modell als Fähig-
                                                         turwissenschaftlichen Bereich fehlt es aber für den
keit, Wissen in alltagsnahen Kontexten anzuwenden,
                                                         Übergang von der Kita in die Grundschule an geeig-
verstanden, das über den Einsatz von Arbeits- und
                                                         neten Dokumentationsinstrumenten (Voigt & Köster,
Denkweisen wie dem Beobachten, Vergleichen, Mes-
                                                         2019). Aus einer Studie von Röbe et al. (2010) geht
sen oder Dokumentieren erfasst werden kann (Cars-
                                                         zudem hervor, dass etwa 50 Prozent der befragten Er-
tensen et al., 2011, S. 655–656; Steffensky, 2017).
                                                         zieher*innen für die Umsetzung von gezielten Be-
Ausgehend von diesem Modell und in Anknüpfung
                                                         obachtungen und damit verbundenen Bildungsdoku-
an das Scientific Literacy Konzept können z.B. das
                                                         mentationen konkretere Umsetzungshinweise benöti-
Anwenden von basalen naturwissenschaftlichen
                                                         gen. Unterstützt wird diese Einschätzung durch Fried
Denk- und Arbeitsweisen als auch das Erkennen ers-
                                                         (2013, S. 840), der darauf aufmerksam macht, dass es
ter Ursache- und Wirkungszusammenhänge als mög-
                                                         „[…] die Wissenschaft versäumt […]“ hat, „[…] ihr
liche Indikatoren zur Beschreibung und Erfassung
                                                         generiertes Wissen zur domänenspezifischen Ent-
früher naturwissenschaftsbezogener Potenziale ge-
                                                         wicklung junger Kinder für die Entwicklung hoch-
nutzt werden.
                                                         qualitativer frühpädagogischer Diagnoseverfahren zu
Ein weiteres Merkmal, welches zum prozessorientier-      nutzen. Alles in allem wird es also Erzieher*innen
ten Erkennen von früher mathematischer Begabung          nicht leichtgemacht, die domänenspezifische Ent-
beschrieben wird, sind Anzeichen auf reflexives Den-     wicklung junger Kinder angemessen zu diagnostizie-
ken und auffällige Begriffs-, Abstraktions- und Über-    ren.“ Im Teilprojekt 3 des Projekts LemaS (s.o.) wer-
tragungsleistungen (Fuchs, 2015). Nach Dewey             den daher in enger Kooperation mit den teilnehmen-
(1997) meint reflexives Denken das Nachdenken über       den Kitas Dokumentationsinstrumente und Leitfäden
Inhalte, Konzepte, Vorstellungen und Überzeugun-         entwickelt, die den Bedarfen in der Praxis gerecht
gen. Wird das oben genannte naturwissenschaftliche       werden können.
Kompetenzverständnis für die Potenzialerfassung
herangezogen, können demnach auch für frühe natur-       3. Modell naturwissenschaftlicher Leistungspo-
wissenschaftsbezogene Potenziale Merkmale, wie           tenziale im Kita- und Grundschulalter
Hinweise auf das Reflektieren sowie die Übertragung      In der nationalen und internationalen Literatur finden
und Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Be-          sich verschiedene Vorschläge zur Identifikation von
griffen und Konzepten auf alltagsnahe Phänomene          ‚begabten‘ oder ‚gifted‘ Schüler*innen im Bereich
zur möglichen Potenzialbestimmung herangezogen           der Naturwissenschaften, insbesondere auf die wei-
werden (Carstensen et al., 2011; Lück, 2015, 2018;       terführenden Schulstufen bezogen. Diese Vorschläge
Steffensky, 2017).                                       weisen wiederkehrende Elemente auf, die bezogen
                                                         auf den Sachunterricht in ein erstes Modell (Mehrtens

68
Modellierung naturwissenschaftlicher Leistungs- und Begabungspotenziale im Kita- und Grundschulalter

et al., 2021) eingeflossen sind, welches die Grundlage    Entwicklung naturwissenschaftsbezogener (Leis-
für das hier vorgestellte Modell darstellt. Als zentra-   tungs-)Potenziale bis hin zur Begabung darstellen.
les Element eines hohen naturwissenschaftlichen           Auch die Verkürzung komplexer Vorgänge, wie die
(Leistungs-)Potenzials wird hierbei das gezeigte Inte-    Anwendung des naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
resse an naturwissenschaftlichen Inhalten angenom-        weges, ist der Übersichtlichkeit geschuldet. Auf
men (Abels & Brauns, 2021; Kircher, 2006; Taber,          Grundlage dieses Modells werden im Projekt diffe-
2007; Wegner, 2014; Adamina, 2018, S. 312, Krapp,         renzierte diagnostische Formate entwickelt, die einer-
2010, 20f). Auch in der internationalen Literatur fin-    seits die Komplexität der hier aufgezeigten Merkmale
den sich Hinweise auf die Bedeutsamkeit des indivi-       detaillierter widerspiegeln und gleichzeitig die indi-
duellen Interesses für die Entwicklung und Entfaltung     viduellen Ausprägungen für jede*n Lernende*n er-
von (Leistungs-Potenzialen (Heilbronner & Renzulli,       fassen sollen. Das hier vorgeschlagene Modell erhebt
2016; Taber, 2007). Ähnlich lässt ich auch die Neu-       zudem keinen Anspruch auf eine vollständige Reprä-
gier an neuen Erkenntnissen in diesem Themenberei-        sentation des Forschungsstandes naturwissenschaftli-
chen fassen, die die Lernenden in eine produktive Un-     cher Begabung bzw. (Leistungs-)Potenziale, kann
ruhe versetzt, mehr über bestimmte Themenfelder zu        u.E. jedoch eine Orientierungshilfe in einem weiten
erfahren (Taber, 2007, S. 10).                            und diversen Forschungsfeld sein.
Während des Erkundens naturwissenschaftlicher             Das Projekt LemaS-DiaMINT Sachunterricht ist Teil
Phänomene stoßen Wissenschaftler*innen wie auch           der LemaS-Initiative und wird mit Mitteln des BMBF
Lernende häufig auf Herausforderungen und der na-         finanziert (Förderkennzeichen 01JW1801B).
turwissenschaftliche Erkenntnisweg weist viele Ähn-
lichkeiten mit dem Prozess des Problemlösens auf          5. Literatur
(Höner et al., 2017, S. 10). Bei Kindern mit hohen        Abels, S., & Brauns, S. (2021). Inklusive Begabungs-
Leistungs-)Potenzialen geht man davon aus, dass sie           förderung im Chemieunterricht. In C. J. Kiso & S.
diesen Prozess kreativ, selbstständig und teilweise           Fränkel (Hrsg.), Inklusive Begabungsförderung in
unter zu Hilfenahme (für die Lehrkraft) unerwarteter          den Fachdidaktiken Diskurse, Forschungslinien
Lösungsansätze verfolgen (Sumida, 2010; Taber,                und Praxisbeispiele. Julius Klinkhardt.
2007). Die Nutzung eines naturwissenschaftlichen          Adamina, M. (2018). Interessen von Schülerinnen
Erkenntnisweges und die Anwendung bereichsspezi-              und Schülernam Fach und an Themen des Sach-
fischer Methoden der Erkenntnisgewinnung stellen              unterrichts bzw. Des Fachbereichs Natur,
weitere wesentliche Merkmale bzw. möglichen Indi-             Mensch, Gesellschaft (NMG). In M. Adamina, M.
katoren für das Vorliegen naturwissenschaftlicher             Kübler, K. Kalcsics, S. Bietenhard, & E. Engeli
Begabung bzw. eines naturwissenschaftlichen Leis-             (Hrsg.), „Wie ich mir das denke und vorstelle...“:
tungspotenzials dar (Wegner, 2014, S. 223).                   Vorstellungen von Schülerinnen und Schülern zu
Kinder mit hohen (Leistungs-)Potenzialen weisen zu-           Lerngegenständen des Sachunterrichts und des
dem häufig ein spezialisiertes Fachwissen in einem            Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft. Ver-
oder mehreren naturwissenschaftlichen Bereichen               lag Julius Klinkhardt.
auf, das sie oft mit bereits erlernter Fachsprache zum    Anders, Y. (2013a). Theoretische Vorannahmen. In
Ausdruck bringen (Taber, 2007, S. 11).                        Y. Anders, I. Hardy, S. Pauen, J. Ramseger, B.
An letzter, allerdings nicht abschließender Stelle ist        Sodian & M. Steffensky (Hg.), Wissenschaftliche
noch die Fähigkeit, vernetzend und abstrakt zu den-           Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung "Haus der
ken als angenommenes Merkmal naturwissenschaft-               Kleinen Forscher": Band 5. Wissenschaftliche
licher (Leistungs-) Potenziale zu benennen, welches           Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung "Haus der
für die Naturwissenschaften von großer Bedeutung ist          kleinen Forscher" (1. Aufl., S. 20–28). SCHUBI
(Abels & Brauns, 2021, S. 115). Aufgrund des Alters           Lernmedien AG.
und des Entwicklungsstandes der Grundschulkinder          Anders, Y. (2013b). Zieldimensionen Kinder. In Y.
kann aber davon ausgegangen werden, dass sich die-            Anders, I. Hardy, S. Pauen, J. Ramseger, B.
ses Denken eventuell nur in Ansätzen zeigt, da der            Sodian & M. Steffensky (Hg.), Wissenschaftliche
Wechsel zwischen der konkreten und der abstrakten             Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung "Haus der
Ebene sehr herausfordernd sein kann (ebd., S.116).            Kleinen Forscher": Band 5. Wissenschaftliche
Im Projekt LemaS zeigen allerdings auch einige Kin-           Untersuchungen zur Arbeit der Stiftung "Haus der
der genau dieses Verhalten auf einem für ihre Alters-         kleinen Forscher" (1. Aufl., S. 89–116). SCHUBI
gruppe überdurchschnittlichen Niveau.                         Lernmedien AG.
4. Diskussion und Limitation                              Asbrand, B., & Martens, M. (2018). Dokumentari-
                                                              sche Unterrichtsforschung. Springer VS.
Die hier vorgestellte Modellierung und Beschreibung
naturwissenschaftlicher (Leistungs-)Potenziale für        Behörde für Arbeit, Soziales, Familie & Integration
Kinder im Kita- und Grundschulalter kann - wie an-            (BASFI) (2012):. Hamburger Bildungsempfeh-
dere Begabungsmodelle auch (Benölken & Veber,                 lungen für die Bildung und Erziehung von Kin-
2021, S. 49) - nur einen Ausschnitt und eine Verein-          dern in Tageseinrichtungen. Hamburg: Freie und
fachung des vielschichtigen Phänomens der                     Hansestadt Hamburg.

                                                                                                             69
Mehrtens et al.

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70
Modellierung naturwissenschaftlicher Leistungs- und Begabungspotenziale im Kita- und Grundschulalter

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