Die 75-jährige Gefahr - Uwe Jenisch Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagern Millionen Tonnen Altlasten in den - DMKN

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Die 75-jährige Gefahr - Uwe Jenisch Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagern Millionen Tonnen Altlasten in den - DMKN
Die 75-jährige Gefahr
                                                                                         Uwe Jenisch

                                                                       Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
                                                                      lagern Millionen Tonnen Altlasten in den

               I                 n der Zwölfmeilenzone von
                                 Nord- und Ostsee und in der
                               seewärts anschließenden Aus-
                                                                     deutschen Gewässern. Deren Beseitigung
                                                                         wird zwischen Bund und Ländern
                                                                           weiterhin kontrovers diskutiert.
                                                                                                                                      durch austretende Stoffe wie
                                                                                                                                      TNT und Phosphor, da die
                                                                                                                                      Kampfmittel rosten und sich
                               schließlichen Wirtschaftszone                                                                          zerlegen. Private Firmen, Fi-
                               (AWZ) liegen rund 1,5 Millionen                                                                        scher, Behörden und die Ma-
                               Tonnen Munitions-Altlasten, darunter über 5000 Tonnen Gas-          rine haben seit Kriegsende viel Material unschädlich gemacht,
                               munition. Die Seekarten weisen 15 Versenkungsgebiete aus,           beispielsweise zur Segelolympiade 1972 vor Kiel. Trotzdem
                               gekennzeichnet als „Unrein (Munition)“ oder „Ankern und Fischen     bleibt angesichts der verbliebenen Gesamtmenge viel zu tun.
                               verboten“. Daneben gibt es Positionen mit verstreuter Muniti-       Die Vorgehensweise besteht darin, nach konkreter Gefährdungs-
                               on. Die Bestandsaufnahme ist bis heute nicht abgeschlossen.         beurteilung zu handeln, also in ausgewiesenen Versenkungs-
                               Seit 2011 veröffentlicht die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft        gebieten nicht zu bergen, aber die Verkehrswege zu sichern.
                               Nord- und Ostsee (Blano) den jährlich fortgeschriebenen Bericht     Auch besteht Einigkeit über die Gefährdung bei Arbeiten und
                               „Munitionsbelastung der deutschen Meeresgewässer“. Leider           Nutzungen am Meeresboden, beispielsweise bei Windkraft-
                               sind die dazugehörigen Karten seit 2011 nicht aktualisiert.         anlagen, Leitungen, Pipelines, Küstenbauwerken, Tunnelbau,
                               Zur Risikoabschätzung und Bergung laufen Forschungs- und            Sand- und Kiesgewinnung, bei der Grund- und Schleppnetzfi-
                               Entwicklungsprogramme des Bundes für Umweltmonitoring,              scherei und beim Tauchen.
                               zum Gesundheitszustand von Fischen sowie zur Entwicklung            Im Prinzip stehen drei Optionen zur Auswahl. Erstens liegen las-
                               eines Robotersystems, um Munition unter Wasser unschädlich          sen, überwachen und, falls erforderlich, Nutzungen beschrän-
                               zu machen. Die Universität der Bundeswehr München beschäf-          ken. Zweitens bergen und entsorgen. Drittens sprengen, wenn
                               tigt sich mit der Steuerung unbemannter Unterwasserfahrzeuge        der kritische Zustand keine Bergung zulässt. Zusätzlich nennt
                               zur Detektion. Zusätzlich kümmern sich internationale Organisa-     die Kieler Koalitionsvereinbarung von 2017 als Ziele ein Muni-
                               tionen wie die EU, Helcom und die Konferenz der Ostsee-Parla-       tionskataster, die Zusammenführung von Auswertungsergeb-
                               mentarier um die Altlasten. Die EU finanziert das Programm Bas-     nissen und die Förderung von Technologien. Die Küstenländer,
                               ta zur Munitionserkennung einschließlich künstlicher Intelligenz.   alle Parteien und viele Experten plädieren unermüdlich für eine
                               Gravierende Unfälle auf See oder am Strand sind heute im Ge-        flächendeckende Räumung. Die Bundesregierung räumt ein,
                               gensatz zur Nachkriegszeit sehr selten. Im Vordergrund steht        dass umweltfreundliche und kostengünstige Verfahrensweisen
                               daher gegenwärtig die Sorge um die Belastung des Ökosystems         noch zu entwickeln sind.
Foto: Bundeswehr/Marcus Mohr

                                                                                                                    Mehr als genug Arbeit: Minensucher
                                                                                                                    aus verschiedenen Nationen auf dem
                                                                                                                    Weg ins Einsatzgebiet

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Die 75-jährige Gefahr - Uwe Jenisch Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagern Millionen Tonnen Altlasten in den - DMKN
Explosion einer Seemine
Foto: Koninklijke Marine

                               Damit stellt sich die Frage nach den Zuständigkeiten. Seit langer   das Bundeswasserstraßengesetz. Der Bund wird im Einzelfall
                               Zeit gibt es die genannte Arbeitsgemeinschaft Blano. Im Jahr        prüfen, ob eine konkrete Gefahr für die Schifffahrt besteht, ei-
                               2019 hat die Innenministerkonferenz die Initiierung der Arbeits-    ne latente genügt nicht. Außerdem gilt die Schranke „soweit es
                               gemeinschaft Kampfmittelräumung beschlossen. Anders als der         wirtschaftlich zu vertreten ist“. Andere Rechtsgüter sind in die-
                               Name vermuten lässt, steht nicht die Räumung im Mittelpunkt,        sem Gesetz nicht geschützt.
                               sondern Informationsaustausch, fachliche Abstimmung und ein         Der Bund ist auch dann in der Pflicht, wenn es um die Sicherheit
                               digitales Kataster. Die Umweltministerkonferenz hat Prüfaufträge    der Schifffahrt in der AWZ geht, wo sich der kleinere Anteil an
                               für Informationsbeschaffung erteilt und den Bund um zusätz-         Altlasten befindet. Nach § 1.3 Seeaufgabengesetz obliegt dem
                               liche Finanzmittel gebeten. Auch besteht seit 2013 die Melde-       Bund hier die Abwehr von Gefahren sowie die Beseitigung von
                               stelle für alle Neufunde beim Havariekommando in Cuxhaven.          Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränkt
                               Diese Strukturen sind nützlich, beschränken sich aber auf In-       auf die Verkehrswege der Schifffahrt. Andere Meeresnutzer in
                               formation, Unterstützung und Koordinierung. Die Ursachen für        der AWZ wie Unternehmer für Windparks, Pipelines oder Roh-
                               diesen „kooperativen Ansatz“ liegen im föderalen System von         stoffgewinnung sind für die Munitionsentsorgung dort selbst
                               Ländern und Bund.                                                   verantwortlich.
                               Da keine spezielle Gesetzgebung zu Munitionsaltlasten besteht,      Es gibt weitere Bundeszuständigkeiten im Seeaufgabengesetz,
                               findet im Bund-Länderverhältnis das Recht der allgemeinen Ge-       die die Munitionsräumung unterstützen wie Seevermessung,
                               fahrenabwehr Anwendung. Im gesamten Hoheitsgebiet an Land           Wracksuche und Meldepflichten für Funde. In konkreten Fällen
                               und auf See sind die Länder für Gefahrenabwehr zuständig. Die       kann die Bundeswehr Amtshilfe leisten, soweit sie noch über
                               Länderzuständigkeiten für die Polizei, auch die Wasserschutz-       Fachpersonal, Minensucher, Ortungs- und Sprengmittel verfügt.
                               polizei, Sicherheit und Ordnung, Kampfmittelräumdienste, Ka-        Gelegentlich lassen sich Manöver der Marine nutzen, wenn es
                               tastrophenschutz, Umwelt- und Naturschutz sind im Grundge-          darum geht, konkret am Meeresboden tätig zu werden. Für die
                               setz festgelegt. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass der      Marine gilt dann die Grundsatzweisung für den Umweltschutz
                               Bund kein „eigenes“ Gebiet hat, denn die Republik setzt sich        der Bundeswehr. Demnach sind Schäden gering zu halten.
                               aus den Ländern zusammen. Das Land kann seine Räumdiens-            Falls größere Zwischenfällen oder komplexe Schadenslagen
                               te einsetzen oder Aufträge an Firmen vergeben und wird das          durch Munitionsunfälle eintreten, ist das Havariekommando zur
                               tun, wenn der Zustand der Munition es erfordert. Jede Vorge-        Koordinierung von Maßnahmen zuständig. Für konkrete Scha-
                               hensweise verlangt eine Einzelfallprüfung durch Fachperso-          densfälle haften die Länder oder der Bund bei Personen- oder
                               nal. Wegen der Gebietszuständigkeit tragen so die Länder die        Sachschäden. Eine generelle Haftung der Staaten für die Fol-
                               Hauptlast der Räumung, zumal sich die Masse der Altlasten im        gen der Versenkung von Munition wird teilweise vertreten, wird
                               Küstenmeer befindet.                                                aber kaum durchsetzbar sein.
                               Die Bundesregierung verweist stets auf fehlende generelle Zu-       Bei Sprengungen, wie bei der Vernichtung von 42 britischen
                               ständigkeiten im Grundgesetz. Es gelten jedoch sektorale Aus-       Seeminen im August 2019 vor Fehmarn, kann es zu einem Kon-
                               nahmen. Wichtigster Bereich einer Zuständigkeit des Bundes          flikt mit dem Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) kommen.
                               ist „die Abwehr von Gefahren für Sicherheit und Leichtigkeit des    Das Gesetz enthält ein Tötungsverbot für Schweinswale, und
                               Verkehrs“ auf den Seewasserstraßen im gesamten Küstenmeer,          es besteht eine generelle Beteiligungspflicht. Die Rechtslage zu
                               wobei mit „Verkehr“ der Schiffsverkehr gemeint ist. Rechts-         Sprengungen war 2020 Gegenstand der Beantwortung Kleiner
                               grundlage ist das Seeaufgabengesetz. Die Durchführung liegt         Anfragen und eines Sachstands der Wissenschaftlichen Dienste
                               bei der bundeseigenen Wasserstraßen- und Schifffahrtsver-           des Bundestags. Danach sind Schifffahrt und militärische Übun-
                               waltung (WSV). Dabei geht es allerdings nur um die Sicherheit       gen in naturschutzrechtlich geschützten Gebieten grundsätzlich
                               des Verkehrsweges. Geschützt ist der normale Verkehrsablauf         zulässig. Aber es besteht eine Informations- und Beteiligungs-
                               durch die Befreiung von Hindernissen. Weitere Details regelt        pflicht, falls Belange des Naturschutzes berührt sind wie bei

                                                                                                                                     4 – 2021 marineforum       15
Die 75-jährige Gefahr - Uwe Jenisch Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagern Millionen Tonnen Altlasten in den - DMKN
Sprengungen. Beteiligungspflicht bedeutet vorherige Information    tion hilft der Bund mit jährlich 30 Millionen Euro in Form von
  und Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb angemessener           Erstattungen an die Länder für Fälle bei unmittelbarer Gefahr.
  Fristen für die Naturschutzbehörden. Es ist kein „Einvernehmen“    Für die Bergung und Vernichtung alliierter Munition gewährt
  vorgeschrieben, sondern lediglich eine Beteiligung im wörtlichen   er eine freiwillige Erstattung von 50 Prozent der Kosten. Die
  Sinn. Dabei geht es um Verträglichkeitsprüfungen, um den Ein-      Länder erkennen diese Leistungen durchaus an, bemängeln
  satz von Maßnahmen zur Verminderung oder um Fristverschie-         aber, dass sie nur in Einzelfällen helfen und das Megaproblem
  bungen. Bei Eilbedürftigkeit und Gefahr für Leib und Leben sind    auf See nicht lösen können.
  kurze Beteiligungsfristen möglich. Rechtlich läuft es hinaus auf   Zusammenfassend gilt: Die föderale Rechtslage weist den Küs-
  eine Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens (von See-             tenländern die zentralen Aufgaben der Altlasten zu. Der Bund
  leuten) und von Schiffen und andererseits dem Naturschutz.         beschränkt sich auf sektorale Zuständigkeiten. Freiwillig bie-
  Die Bundesministerien für Umwelt und der Verteidigung haben        tet er eine Kostenerstattung in Einzelfällen. Er unterstützt For-
  2020 ein gemeinsames Vorgehen bei Sprengungen vereinbart.          schung und Technologieentwicklung und kann mit seinen Be-
  Die Marine will angeblich auf Sprengungen verzichten, womit        hörden und der Bundeswehr Amtshilfe leisten. Eine Änderung
  ein weiterer Fähigkeitsverlust zu befürchten ist.                  des Grundgesetzes mit dem Ziel stärkerer Bundeszuständigkei-
  Hinsichtlich der Kostenverteilung bei Munitionsräumungen gilt      ten ist theoretisch möglich. Das Beispiel erfolgloser siebzigjäh-
  generell das Konnexitätsprinzip des Artikels 104 a GG. Danach      riger Bemühungen zur Errichtung einer einheitlichen deutschen
  folgt die Ausgabenlast der Aufgabenlast. So wie die Länder         Küstenwache, die Bundes- und Länderaufgaben auf See zu-
  ihre Polizei und Bildungseinrichtungen finanzieren, sind sie       sammenfasst, zeigt, dass eine Unterstützung durch Parlamen-
  auch für die Munitionsräumung in der Pflicht. An dieser Stel-      te, Ministerien und die öffentliche Meinung weithin fehlt, wenn
  le kommt zusätzlich Artikel 120 GG „Besatzungskosten und           es um die Verlagerung von Aufgaben und Kosten geht. So ist
  Kriegsfolgelasten“ ins Spiel. Danach trägt der Bund „ …die Auf-    auch hier der enorme finanzielle Bedarf für großräumige Ber-
  wendungen für Besatzungskosten und die sonstigen inneren           gung, Transport und Aufbereitung der Haupthinderungsgrund.
  und äußeren Kriegsfolgelasten nach näherer Bestimmung von          Hoffnungen richten sich auf die möglicherweise kostengünsti-
  Bundesgesetzen“. Ein solches Bundesgesetz, um das sich die         gere Delaborierung auf Plattformen auf See. Kurzfristig bleiben
  Länder seit 1992 bemühen, gibt es bisher nicht. Zwar hat der       daher nur die Dokumentation der Funde, Verbote in kritischen
  Bundesrat auch in der gegenwärtigen Legislaturperiode den          Gebieten, die Verstärkung der Räumdienste der Länder und die
  Entwurf für ein „Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz“ (Rüst-      Nutzung der Amtshilfe der vernachlässigten Minensuchkräfte
  AltFG) im Geschäftsgang. Es sieht die Übertragung der Kosten       der Marine, die nicht nur zu diesem Zweck wieder aufgebaut
  auf den Bund vor. Die Bundesregierung lehnt diese Vorstöße         werden müssen.                                                ≈
  jedoch seit Jahrzehnten ab und verweist auf die Zuständig-
  keit der Länder für Gefahrenabwehr, auf das Konnexitätsprin-       Der Beitrag ist eine aktualisierte Kurzfassung der Veröffentlichung
  zip und auf die Maßnahmen, die der Bund zur Entlastung der         „Rechtslage zur Munitionsräumung auf See – Zuständigkeiten,
  Länder finanziell unterstützt. Insbesondere betont er die seit     Maßnahmen, Kostenregelung“ in der Zeitschrift für öffentliches
  den Fünfzigerjahren etablierte „Staatspraxis“ seiner tatsäch-      Recht in Norddeutschland (NordÖR), Nr. 11/2020.
  lichen Kostenbeteiligung im Umfeld des Artikels 120 GG. Der
  Bund unterscheidet zwischen „reichseigenen“ und „alliierten        Ministerialrat a.D. und Kapitän zur See d.R. Prof. Dr. Uwe
  Kampfmitteln“ – eine Differenzierung, die die Länder als rea-      Jenisch lehrt am Walther-Schücking-Institut für Internatio-
  litätsfremd ansehen. Bei der Entsorgung reichseigener Muni-        nales Recht der Universität Kiel.

Deutsche GC-Mine aus
dem Zweiten Weltkrieg

                                                                                                                                           Foto: Koninklijke Marine

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