Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Ansätze für die Integration von weiblichen Geflüchteten - ifo Institut
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DATEN UND PROGNOSEN Clara Albrecht, Maria Hofbauer Pérez und Tanja Stitteneder Migrationsmonitor: Die Bedeutung geschlechtsspezifischer Ansätze für die Integration von weiblichen Geflüchteten Die Integration von Zuwander*innen und Geflüchteten IN KÜRZE in die Gesellschaft des Ziellandes ist von unzähligen Herausforderungen geprägt. Dies gilt sowohl für Män- ner als auch für Frauen. Jedoch haben es Frauen in Die Integration von Migrant*innen und Geflüchteten ist nach vielerlei Hinsicht schwerer. Nicht nur Sprache, Kul- wie vor von vielen Herausforderungen geprägt, auch wenn tur, Zugang zu Arbeit und die westlichen Schulsys- das Thema derzeit etwas in den Hintergrund der öffentli- teme sind neu und mit offenen Fragen verbunden. chen Diskussion gerückt ist. Ein umfassender geschlechts- Zudem übernehmen Frauen traditionell den Großteil der Haushalts- und Kinderbetreuungspflichten, von spezifischer Integrationsansatz liegt aktuell allerdings nicht denen Männer oftmals ausgenommen sind. Die In- vor, obwohl fast jede*r zweite Zuwander*in und jede*r dritte tegrationshürden belasten Frauen also in doppelter Asylbewerber*in weiblich ist. Die meisten dieser Frauen ha- Hinsicht. Doch gerade die Integration von Frauen und ben es in vielerlei Hinsicht schwer. In den Bereichen Bildung, Mädchen gilt es zu fördern, denn vor allem Mütter Arbeitsmarktbeteiligung und sozialer Integration schneiden üben großen Einfluss auf ihre Kinder aus und geben sie schlechter ab als Männer. Auch im Vergleich mit ein- ihre Erfahrungen unter Umständen bewusst oder unterbewusst an sie weiter. Zudem ist ungefähr die heimischen bzw. in der EU-geborenen Frauen ist dies der Hälfte aller Zuwanderer*innen in der EU weiblich, und Fall. Geschlechtsspezifische Bedürfnisse sollten daher ver- jede dritte geflüchtete Person ist eine Frau (Europäi- stärkt in Integrationsmaßnahmen berücksichtigt werden. sche Kommission 2018). Zwar ist die Gesamtzahl der (weiblichen) Geflüchteten in den letzten Jahren zu- rückgegangen, der Frauenanteil ist jedoch gestiegen. Somit sind unter den Geflüchteten auch immer mehr Geschwindigkeit, mit der sich die Kluft im Zeitraum Frauen. Anders als Männer migrieren sie in erster 2006–2020 verringert hat, wird es 257 Jahre dauern, Linie aus familiären Gründen, etwa zum Zweck der bis sie vollständig geschlossen ist (World Economic Familienzusammenführung. Forum 2020). Einer der Hauptgründe für die anhal- Der vorliegende Artikel beleuchtet die Herausfor- tende Ungleichheit ist die ungleiche Beteiligung von derungen für Frauen im Allgemeinen und für weibli- Frauen und Männern am Arbeitsmarkt. Während welt- che Geflüchtete im Besonderen. Dabei wird auf vier weit 78% der Männer zur aktiven Erwerbsbevölkerung zentrale Bereiche näher eingegangen: Bildung und gehören, gilt dies nur für 55% der Frauen. Dies ergibt Arbeit, Geschlechterrollen und -normen, Kenntnisse ein geschlechtsspezifisches Beschäftigungsgefälle von der Sprache des Aufnahmelandes und Erfahrungen 23%. Innerhalb der EU ist dies weniger stark ausge- mit Trauma und Gewalt. prägt, liegt aber immer noch bei 12%. Ein wesentlicher Einflussfaktor ist die ungleiche GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE IM ARBEITS- Aufteilung der unbezahlten Betreuungsarbeit in den MARKT UND DIE UNGLEICHE VERTEILUNG VON Haushalten. Es gibt kein Land auf der Welt, in dem ARBEIT Männer genauso viel Zeit für unbezahlte Arbeit auf- wenden wie Frauen. Auch in der EU verrichten Frauen Männer und Frauen in der Europäischen Union neh- den größten Teil der unbezahlten Sorge- und Haus- men nicht in gleichem Maße am Arbeitsmarkt teil, arbeit, unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus. auch wenn die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den Die Diskrepanz zwischen bezahlter und unbezahlter letzten Jahrzehnten insgesamt gestiegen ist. Laut dem Arbeit vergrößert sich weiter mit der Elternschaft – Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschafts- während 88% der Mütter mit Kindern unter 18 Jahren forums beträgt der globale Gender Gap durchschnitt- täglich unbezahlte Betreuungsarbeit leisten, tun dies lich 31,4%. Im Bereich »Wirtschaftliche Teilhabe und nur 64% der Väter (im Vergleich zu 81% bei Frauen Chancen« ist der Geschlechterunterschied mit 57,8% und 48% bei Männern im Allgemeinen). In Ländern, sogar noch größer. In Anbetracht der langsamen in denen die unbezahlte Arbeit gleichmäßiger ver- ifo Schnelldienst 4 / 2021 74. Jahrgang 14. April 2021 63
DATEN UND PROGNOSEN Abb. 1 und sehen sich darüber hinaus mit zusätzlichen Her- Bildungsniveau und Geburtsland, 2019 ausforderungen konfrontiert. Geringes Bildungsniveau Mittleres Bildungsniveau Hohes Bildungsniveau Lücken in Bildung und (dokumentierter) Frauen im Alter zwischen 30–34 Jahren Berufserfahrung EU-28-Länder 12 41 48 Generell haben Geflüchtete tendenziell ein niedri Nicht-EU-28-Länder 30 30 40 geres Qualifikationsniveau als die einheimische Bevölkerung. Unter ihnen sind geflüchtete Frauen 0 20 40 60 80 100 % besonders niedrig gebildet. Dieses niedrige Bil- Männer im Alter zwischen 30–34 Jahren dungsniveau hat großen Einfluss auf ihre Beschäf- EU-28-Länder 16 48 37 tigungschancen und stellt somit ein Haupthinder- nis für ihre Integration dar (OECD 2019). Um die Bil- Nicht-EU-28-Länder 31 33 37 dungsunterschiede zwischen geflüchteten Frauen1 und einheimischen Frauen innerhalb der EU 28 zu 0 20 40 60 80 100 % Anmerkung: Sofern die Summe der Anteile nicht genau 100 beträgt, ist dies auf Rundungsfehler zurückzuführen. untersuchen, vergleicht Abbildung 1 die Anteile von Quelle: Eurostat (2020). © ifo Institut einheimischen und im Ausland geborenen Frauen im Alter von 30–34 Jahren in drei verschiedenen teilt ist, sind die Beschäftigungsquoten für Frauen Bildungsniveaus (niedrig, mittel und hoch) nach der tendenziell höher und die geschlechtsspezifischen International Standard Classification of Education.2 Unterschiede beim Einkommen geringer (Europäi- Im Jahr 2019 betrug die Bildungslücke im Tertiärbe- sches Institut für Gleichstellungsfragen 2020). Wenn reich zwischen Frauen, die in der EU 28 leben und man unbezahlte und bezahlte Arbeit kombiniert, ar- auch in der EU 28 geboren wurden, und Frauen, die beiten Frauen in den OECD-Ländern im Durchschnitt zwar in der EU 28 leben, aber außerhalb geboren wur- 25 Minuten länger (OECD Report 2020a). Die ungleiche den, – 7,4 Prozentpunkte. Dies bedeutet, dass der Verteilung unbezahlter Sorge- und Hausarbeit hat Anteil der Frauen mit tertiärem Bildungsabschluss zur Folge, dass erwerbstätige Mütter im Vergleich zu bei Frauen, die nicht in einem EU-Land geboren Vätern deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten. Während wurden, um 7,4 Prozentpunkte niedriger ist als bei 36,5% der Frauen mit Kindern unter sechs Jahren in Frauen, die dort geboren wurden. Für den mittleren der EU 27 teilzeitbeschäftigt sind, trifft dies nur auf Bildungsbereich beträgt dieser Abstand – 10,7 Pro- 5,3% der Väter zu (Eurostat 2020b). Das Ungleich zentpunkte. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Lü- gewicht zwischen den Geschlechtern im Kontext von cke für niedrige Bildungsniveaus im Gegensatz dazu Elternschaft und Erwerbstätigkeit wird auch deutlich, 18,2 Prozentpunkte betrug, was bedeutet, dass der wenn man betrachtet, wer seine Arbeitszeit reduziert, Anteil der Frauen mit niedrigem Bildungsniveau bei um die Kinderbetreuung zu gewährleisten. Auch hier Frauen, die in Nicht-EU-28-Ländern geboren wurden, sind Frauen eindeutig in der Mehrheit, denn der Frau- um 18,2 Prozentpunkte größer ist als bei Frauen, die enanteil beträgt 82% (Eurostat 2020c). in EU-28-Ländern geboren wurden. Diese Bildungslü- cken weisen auf die Benachteiligung von weiblichen ZUSÄTZLICHE HERAUSFORDERUNGEN FÜR Geflüchteten in der Bildung hin. GEFLÜCHTETE FRAUEN Bei den niedriggebildeten Männern beträgt der Abstand zwischen Einheimischen und im Ausland Ge- Viele Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen stehen vor borenen 15,4 Prozentpunkte und ist damit vergleich- sehr ähnlichen Problemen wie einheimische Frauen bar mit dem der Frauen. Bei den mittleren Bildungs- stufen beträgt der Abstand 15,2 Prozentpunkte und Abb. 2 ist größer als bei den Frauen, während er bei der ter- Bildungslücken bei Frauen: Berichtsland vs. Nicht-EU-28 tiären Bildung nur 0,2 Prozentpunkte beträgt. 2019, Anteil von Frauen zwischen 30 und 34 Jahren Für die wichtigsten europäischen Zielländer, mit Hohes Bildungsniveau Mittleres Bildungsniveau Geringes Bildungsniveau Ausnahme des Vereinigten Königreichs, zeigen die Prozentpunkte Lücken im Durchschnitt ein ähnliches Muster (vgl. 40 35 Abb. 2). Die meisten mittel- und hochgebildeten 30 20 21 23 Frauen sind meist Frauen, die in der EU geboren wur- 20 13 10 8 10 1 Wir vergleichen nicht-einheimische Frauen, die in der EU 28 leben, 2 0 mit einheimischen Frauen in den EU-28-Ländern, da aktuelle Daten -1 explizit für Geflüchtete, unseres Wissens nicht auf EU-Ebene verfüg- -10 bar sind. -10 -11 -12 -10 -12 2 Geringes Bildungsniveau bezieht sich auf einen Bildungsstand -20 -14 unter der Primärstufe (ISCED-Stufe 0), der Primärstufe (ISCED-Stu- -18 -21 -22 -30 fe 1) und der Sekundarstufe I (ISCED-Stufe 2). Mittlere Bildung um- fasst die obere Sekundarstufe (ISCED-Stufe 3) und die postsekundäre Deutschland Italien Schweden Spanien UK Frankreich nicht-tertiäre Bildung (ISCED-Stufe 4), während sich die hohe Bil- Quelle: Eurostat (2020). © ifo Institut dung auf die tertiäre Bildung (ISCED-Stufe 5–8) bezieht. 64 ifo Schnelldienst 4 / 2021 74. Jahrgang 14. April 2021
DATEN UND PROGNOSEN den. Dagegen überwiegt im unteren Bildungsniveau Abb. 3 der Anteil der Frauen, der außerhalb der EU gebo- Beteiligung am Arbeitsmarkt nach Geschlecht % der weiblichen/männlichen Bevölkerung im Alter 15–64; modellierte ILO-Schätzungen, 2020 ren ist. In Italien ist der Unterschied im Anteil der im Ausland geborenen Frauen mit niedrigem Bildungs Männer –Zielland Männer –Herkunftsland niveau im Vergleich zu den einheimischen Frauen mit Frauen – Zielland Frauen – Herkunftsland Schweden 85,1 34,9 Prozentpunkten besonders hoch. Die geringste 81,7 82,7 Deutschland 74,5 Differenz weist in diesem Zusammenhang Spanien mit UK 82,5 73,3 13,3 Prozentpunkten auf. Insgesamt weist dies auf die Slowenien 71,9 78,2 78,7 Bildungsherausforderung hin, der sich geflüchtete Spanien 68,9 Frankreich 75,8 Frauen aufgrund ihres im Durchschnitt niedrigen Bil- 68,6 78,7 Europäische Union 67,8 dungsniveaus gegenübersehen. Die Bildungsbenach- Griechenland 76,0 60,1 teiligung insbesondere von sehr gering qualifizierten Italien 56,4 75,0 86,5 weiblichen Geflüchteten muss daher durch gezielte Georgien 64,3 Kolumbien 85,5 Integrationsprogramme angegangen werden. 63,2 78,6 Venezuela 50,0 Aufgrund ihres niedrigen Qualifikationsniveaus Nigeria 58,6 48,1 sind weibliche Geflüchtete zusätzlich mit Hindernissen Türkei 38,3 78,3 Pakistan 84,7 auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert, vor allem wenn sie 23,2 Afghanistan 76,5 über keine oder nur wenig Berufserfahrung auf dem 22,8 75,8 Iran 18,7 Arbeitsmarkt des Ziellandes verfügen (Degler et al. Syrien 77,7 15,4 2017). Dabei beeinflusst Arbeitserfahrung unabhängig Irak 12,4 76,8 vom Land, in dem sie erworben wurde, die Integra 0 20 40 60 80 100 % tionschancen enorm. Folglich kann die Erwerbsquote Quelle: World Bank (2020). © ifo Institut von Frauen in den Herkunftsländern als guter Prädik- tor für die Arbeitsmarktintegration im Ankunftsland betrachtet werden (Knize Estrada 2018; Frank und Abbildung 4 geht näher auf die Erwerbsbeteili- Hou 2015). gung ein und zeigt die Beschäftigungs- und Arbeits- Abbildung 3 zeigt die Erwerbsquoten von Män- losenquoten von Männern und Frauen in ausgewähl- nern und Frauen in ausgewählten europäischen ten europäischen Ländern. In allen Ländern sind die Zielländern (hellgraue und hellblaue Balken) und in Erwerbsquoten der einheimischen Frauen höher als den zehn häufigsten Herkunftsländern von Asylsu- die der im Ausland geborenen Frauen. Dies gilt nicht chenden (dunkelgraue und dunkelblaue Balken) im unbedingt für Männer: In Griechenland, Italien, Slowe- Jahr 2019 (World Bank 2020). In den meisten Her- kunftsländern ist die Frauenerwerbsquote niedriger Abb. 4 als in den europäischen Zielländern. Während die Beschäftigungs- und Arbeitslosenquoten, 2019 durchschnittliche Quote in den Herkunftsländern bei Im Ausland geborene Frauen 35,6% liegt, weisen die europäischen Länder eine Im Berichtsland geborene Frauen Beschäftigungsquoten (15- bis 64-Jährige) Im Ausland geborene Männer durchschnittliche Frauenerwerbsquote von 69,4% Im Berichtsland geborene Männer % auf (der EU-Durchschnitt liegt bei 67,8%). Die Her- 90 kunftsländer mit den niedrigsten Frauenerwerbs- quoten sind der Irak (12,4%), Syrien (15,4%) und der 60 Iran (18,7%), während die Quoten in Georgien (64,3%), Kolumbien (63,2%) und Venezuela (50,0%) mit de- 30 nen der europäischen Zielländer wie Italien (56,4%) und Griechenland (60,1%) vergleichbar sind. Im Ge- 0 gensatz dazu sind die Quoten einiger europäischer Länder wie Schweden (81,7%), Deutschland (74,5%), Großbritannien (73,3%) und Slowenien (71,9%) deut- lich höher. Arbeitslosenquoten (15- bis 64-Jährige) Die grauen Balken zeigen die Erwerbsquoten von % 40 Männern. Während in den europäischen Zielländern 30 die Unterschiede für Frauen und Männer im Durch- schnitt moderat sind, unterscheiden sich diese in den 20 Herkunftsländern erheblich. In den Hauptherkunfts- 10 ländern gehen Frauen in der Regel seltener einer Er- werbsarbeit nach als Männer. Die Aufnahmeländer 0 müssen berücksichtigen, dass viele Frauen weniger (dokumentierte) Berufserfahrung sammeln konnten und eventuell spezielle Programme notwendig sind, damit die Integration gelingen kann. Quelle: OECD (2020b). © ifo Institut ifo Schnelldienst 4 / 2021 74. Jahrgang 14. April 2021 65
DATEN UND PROGNOSEN nien, Spanien und dem Vereinigten Königreich ist die stimmung oder Ablehnung der Aussage »Wenn Ar- Beschäftigungsquote der im Ausland geborenen Män- beitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Recht ner höher als die der im Inland geborenen Männer. auf einen Arbeitsplatz haben als Frauen«, Q33, World Die untere Abbildung zeigt die Arbeitslosenquo- Values Survey) stark und negativ mit der Beschäf ten. Auch hier liegen die Arbeitslosenquoten der im tigungsquote von Frauen zusammenhängen. In An Ausland geborenen Frauen weit über den Quoten der betracht der Tatsache, dass Überzeugungen und im Inland geborenen Frauen. Besonders in Griechen- Einstellungen früh im Leben etabliert und über Ge- land ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen unabhängig nerationen hinweg weitergegeben werden, spielt die von ihrer Herkunft hoch. Die Arbeitslosenquoten der Kultur von Zuwanderinnen folglich eine entschei- Männer folgen in allen Ländern einem ähnlichen Mus- dende Rolle für ihr Arbeitsmarktverhalten in den ter, sind aber weniger stark ausgeprägt. Die Arbeits- Aufnahmeländern.3 marktbeteiligung von Frauen ist somit nicht nur in Inwieweit die Kultur für die Arbeitsmarktergeb- den Hauptherkunftsländern geringer, sondern auch nisse von Frauen eine Rolle spielt, ist die Forschungs- auf den europäischen Arbeitsmärkten. frage von Fernández und Fogli (2009). Die Autorinnen Im Zusammenhang mit der Berufserfahrung und untersuchen das Arbeitsmarktverhalten von Migran- dem Bildungsniveau besteht eine weitere Herausfor- tinnen der zweiten Generation und verwenden die derung darin, dass weibliche Geflüchtete tendenziell weibliche Erwerbsbeteiligung im Herkunftsland als in informellen Beschäftigungsverhältnissen wie im quantitativen Proxy für Kultur, da die Entscheidung, häuslichen Bereich arbeiten. Folglich arbeiten geflüch- auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu werden, von der Ver- tete Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit in Jobs mit teilung von Präferenzen und Überzeugungen abhängt. geringer Bezahlung und Wertschätzung (Kabir und Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Kultur eine Klugman 2019). signifikante Determinante für die Arbeitsergebnisse Weibliche Geflüchtete sind mit einer doppelten von Frauen ist, die sowohl von den Präferenzen der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert, einzelnen Frauen als auch von den Präferenzen ihrer aufgrund ihres Geschlechts und weil sie einen Asylsta- männlichen Ehepartner abhängt, falls sie verheiratet tus haben, der es ihnen erschwert, einen Job zu fin- sind. den, der ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entspricht. Betrachtet man die weibliche Arbeitsmarktbe Wie die Europäische Kommission 2018 feststellte, ist teiligung in den Hauptherkunftsländern von Asyl die doppelte Diskriminierung von Flüchtlingsfrauen bewerber*innen in Europa (Abb. 3) in Kombination noch nicht ausreichend im Fokus der Politik. mit den vorherrschenden Vorstellungen zu Geschlech terrollen (Abb. 5) und den Positionierungen im Global Geschlechtsspezifische Normen Gender Gap Index (World Economic Forum 2019), fällt eine starke Korrelation zwischen den drei Indikatoren Die in einem Land vorherrschenden geschlechtsspe- auf – Länder mit sehr niedrigen Frauenerwerbsquoten zifischen Normen beeinflussen das Arbeitsmarktver- und/oder einer großen geschlechtsspezifischen halten von Männern und Frauen und tragen so zu Beschäftigungslücke weisen in der Regel extrem Unterschieden im Erwerbsverhalten bei (Akerlof und schlechte Ergebnisse in Bezug auf die Gleichstellung Kranton 2000; Bertrand 2011). der Geschlechter und sehr traditionelle Geschlecht- Fortin (2015) untersucht die Auswirkungen von errolleneinstellungen auf. Dagegen zeigen Länder mit Einstellungen bezüglich der Geschlechterrollen auf ähnlichen Frauenerwerbsquoten wie in der Europä- die Arbeitsmarktergebnisse von Frauen in den OECD- ischen Union (z.B. Kolumbien und Venezuela) auch Ländern und stellt fest, dass traditionelle Einstel- bessere Ergebnisse in Bezug auf die Gleichstellung lungen zu Geschlechterrollen (erfasst durch die Zu- der Geschlechter und weniger traditionelle Geschlech- ternormen. Extreme Beispiele sind der Irak und Pa- Abb. 5 kistan, die den vorletzten und drittletzten Platz im Zustimmung zur Aussage: Gender Gap Index (von 153 einbezogenen Ländern) »Wenn Arbeitsplätze knapp sind, sollten Männer mehr Recht auf einen Job haben als Frauen« belegen, die gleichzeitig geschlechtsspezifische Be- % schäftigungslücken von über 60 Prozentpunkten auf- 90 85,3 78,1 weisen und zu den Ländern mit den traditionellsten 69,6 64,6 Geschlechterrolleneinstellungen zählen. 60 48,6 51,2 Folglich hängt die erfolgreiche Arbeitsmarktinte 37,7 gration von Migrantinnen und geflüchteten Frauen 25,4 30 18,9 auch stark von den Geschlechternormen (und de- 11,5 9,2 11,6 10,8 2,9 6,5 nen ihrer Ehepartner) in ihren Herkunftsländern ab. 0 Politische Maßnahmen, die auf eine Erhöhung der 3 Guiso et al. (2006) definieren Kultur als die gewohnheitsmäßigen Überzeugungen und Werte, die ethnische, religiöse und soziale Grup- pen verhältnismäßig unverändert von Generation zu Generation wei- Quelle: World Values Survey Wave 7: 2017–2020, Q33. © ifo Institut tergeben. 66 ifo Schnelldienst 4 / 2021 74. Jahrgang 14. April 2021
DATEN UND PROGNOSEN weiblichen Arbeitsmarktbeteiligung abzielen, sollten Abb. 6 auch die fortbestehenden Geschlechterrollenvorstel- Teilnahme an Integrations- und Sprachkursen lungen berücksichtigen, falls das Herkunftsland der Geflüchtete in Deutschland, 2016 Zielgruppe eines mit einem großen Gleichstellungs- % Insgesamt Frauen Männer 50 gefälle ist. Da auch die Einstellung der Männer ge- 42 genüber berufstätigen Frauen eine entscheidende 37 39 40 34 Rolle für die Erwerbsbeteiligung von Frauen spielt, 30 30 25 sollten Initiativen, die Männer und ihre traditionellen Geschlechternormen ansprechen, nicht vernachläs- 20 sigt werden. 7 8 10 6 2 1 3 Mangel an Sprachkenntnissen und fehlende 0 Integrationskurs Sprachkurs Sprachprogramm Andere Kenntnis über Initiativen (BAMF) (ESF-BAMF) der Bundesagentur Deutschkurse für Arbeit Neben Benachteiligungen in der Ausbildung, am Ar- Quelle: DIW (2017), basierend auf der IAB-BAMF-SOEP Befragung 2016, gewichtet. © ifo Institut beitsplatz und aufgrund kultureller Hintergründe spielen auch fehlende Sprachkenntnisse eine Rolle. Um Zuwander*innen bestmöglich auf die Arbeits- Hinzukommt, dass viele der Angebote, die im Gast- welt vorzubereiten, wurde in den letzten Jahren ver- land verfügbar sind, nicht unbedingt unter den Ge- mehrt der Ruf nach spezifischeren berufsbezogenen flüchteten bekannt sind. Zweifellos ist das Beherr- Sprachkursen laut (vgl. z.B. Extramiana 2012). Solche schen der Sprache des Aufnahmelandes für die sozi- Kurse würden sich jedoch vorwiegend an Migrant*in- ale und wirtschaftliche Integration von Geflüchteten nen mit einem Job oder guten Arbeitsmarktaussich- förderlich (z.B. Chiswick und Miller 2001; Ager und ten richten, böten aber nicht unbedingt eine Lö- Strang 2008). Dies gilt besonders, wenn die Sprach- sung für Frauen, die für ihre Partner oder Familien kenntnisse frühzeitig nach der Ankunft gefördert wer- migriert oder gar geflüchtet sind und unter Umstän- den. Sprach- und Integrationskurse sollen den im den schlechtere Arbeitsmarktaussichten haben. In Ausland geborenen und in der EU lebenden Perso- dem Bemühen, die Geschlechterunterschiede auszu- nen zumindest grundlegende Sprachkenntnisse und gleichen, wurden in Deutschland Kurse geschaffen, Wissen über die kulturellen Normen des Gastlandes die sich speziell an Frauen richten (BAMF 2020). Das vermitteln. Aufgrund des Mangels an länderübergrei- Programm beinhaltet Sprach- und Orientierungs- fenden Daten zu Geflüchteten greifen wir auf natio- kurse für Mütter mit Migrationshintergrund, die in nale Daten aus Deutschland zurück, um einen tieferen der Vergangenheit aufgrund von Kinderbetreuung Einblick in die Teilnahme von Frauen an Sprachkursen oder Haushaltspflichten nicht in der Lage waren, re- und mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede guläre Sprach- oder Integrationskurse zu besuchen. zu erhalten. Die angebotenen Kurse bieten ihnen die Möglichkeit, Abbildung 6 zeigt den Anteil der Geflüchteten, die sich weiterzubilden und sich mit anderen Müttern mit im Jahr 2016 an verschiedenen Sprach- und Integrati- Migrationshintergrund zu vernetzen. Derartige Initia- onskursen in Deutschland teilgenommen haben. Aus tiven gehen auf geschlechtsspezifische Herausforde- der Abbildung geht hervor, dass Männer und Frauen rungen ein und unterstützen weibliche Geflüchtete, nicht gleich häufig teilnehmen. Nur 25% der weib Fähigkeiten und Kenntnisse für ihr tägliches Leben in lichen Geflüchteten haben an einem Integrationskurs Deutschland zu erwerben. Diese Kurse sind ein erster des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Schritt zur Integration in die Gesellschaft. teilgenommen, im Vergleich zu 37% der männlichen Geflüchteten. Ähnlich groß ist der Unterschied in der Erfahrungen mit Trauma und körperlicher Gewalt Teilnahme bei anderen Sprachkursen und Mentoren- vor und während der Flucht programmen. Gerade letztere sind ein weiteres gutes politisches Instrument, um die Integration von Ge- NGOs und die Medien berichten häufig über die skan- flüchteten zu fördern und ihre Sprachkenntnisse zu dalösen Zustände in den Flüchtlingslagern und die verbessern (DIW 2020). Resnjanskij et al. (2021) zei- gefährliche Reise nach Europa (vgl. z.B. UNHCR und gen, dass Mentoring insbesondere die Arbeitsmarkt- MMC 2020). Während dies allein schon eine enorme chancen von jungen Erwachsenen aus benachteiligten Herausforderung für Geflüchtete im Allgemeinen dar- Familien, zu denen Geflüchtete häufig gehören, erhö- stellt, gibt es immer wieder Fälle, in denen Frauen hen kann. Die Autoren finden positive Effekte auf die zudem Opfer von (sexueller) Gewalt werden (OECD Mathematikleistungen, die Geduld und die sozialen 2019). Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Kompetenzen von Migrant*innen der ersten Genera- Angelegenheiten gibt an, dass eine von drei Frauen in tion sowie auf deren Arbeitsmarktorientierung. Eine ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt, grobe Kosten-Nutzen-Analyse legt dabei nahe, dass was mit höheren Raten von HIV, Depressionen und der zu erwartende Nutzen des Programms die Kosten schwangerschaftsbedingten Problemen verbunden im Verhältnis von fast 31 zu 1 übersteigt. ist (UN OCHA 2018). ifo Schnelldienst 4 / 2021 74. Jahrgang 14. April 2021 67
DATEN UND PROGNOSEN Der Zugang zu medizinischer und psycholo nissen sowie kognitiven Potenzialen, verfügbar unter: https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.563710.de/ gischer Versorgung ist daher entscheidend, um solche diwkompakt_2017-123.pdf. traumatischen Erlebnisse zu überwinden. Während DIW – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (2020), »Mentoren- die medizinische Versorgung theoretisch der gesam- programme fördern die Integration von Geflüchteten«, DIW Wochenbe- richt (49), 905–914. ten Bevölkerung, und somit auch allen Migrant*innen Europäische Kommission (2018), »Integration of Migrant Women«, und Geflüchteten, in der EU zusteht, sieht es in der verfügbar unter: https://ec.europa.eu/migrant-integration/feature/ Realität oft anders aus. Die Untersuchung von Lebano integration-of-migrant-women. et al. (2020) hinsichtlich der Bereitstellung und dem Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen (2020), »Gender Inequali- ties in Care and Pay in the EU«, verfügbar unter: https://eige.europa.eu/ Zugang zur Gesundheitsversorgung zeigt, dass große sites/default/files/documents/20203246_mh0320445enn_pdf.pdf. Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. Eurostat (2020a), »Population by Educational Attainment Level, Sex, Age Insbesondere die psychische Gesundheitsversorgung, and Country of Birth (%)«, verfügbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/edat_lfs_9912/default/ die präventive Versorgung und die Langzeitpflege für table?lang=en. ältere Menschen müssen demnach verbessert wer- Eurostat (2020b), »Percentage of Part-Time Employment of Adults by den. Kohlenberger et al. (2019) analysieren den Zu- Sex, Age Groups, Number of Children and Age of Youngest Child«, Feb- gang von Geflüchteten zur Gesundheitsversorgung ruar, verfügbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ lfst_hhptechi/default/table?lang=en. in Österreich. Sie stellen fest, dass der selbst ein- Eurostat (2020c), »Persons in Employment with Childcare Responsi- geschätzte Gesundheitszustand von Geflüchteten bilities by Effect on Employment and Educational Attainment Level«, niedriger ist als der der einheimischen Bevölkerung, verfügbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ lfso_18ceffed/default/table?lang=en. obwohl die medizinische Grundversorgung für beide Extramiana, C. (2012), Learning the Language of the Host Country for Gruppen sichergestellt ist. Mangelnde Sprachkennt- Professional Purposes – Outline of Issues and Educational Approaches, nisse, (versteckte) Kosten und soziokulturelle Fak Language Policy Division, Council of Europe, verfügbar unter: https://rm.coe.int/16802faa70. toren bilden dabei die Hauptbarrieren. Somit werden Fernández, R. und A. Fogli (2009), »Culture: An Empirical Investigation die Gesundheitsbedürfnisse der Geflüchteten oft nur of Beliefs, Work, and Fertility«, American Economic Journal: Macroecono- unzureichend verstanden und selten adäquat be- mics 1(1), 146–177. rücksichtigt, was zu gesundheitlichen Ungleichheiten Fortin, N. (2005), »Gender Role Attitudes and the Labour-market Out- comes of Women across OECD Countries«, Oxford Review of Economic führt und die Integration behindert. Dies sei insbe- Policy 21(3), 416–438, sondere bei Frauen und afghanischen Geflüchteten Frank, K. und F. Hou (2016), »Beyond Culture: Source Country Female der Fall. Labour Force Participation and the Earnings of Immigrant Women«, Quarterly Journal of Experimental Psychology 30(3), 29–40. Auf Länderebene gibt es bereits einige vielver- Guiso, L., P. Sapienza und L. Zingales (2006), »Does Culture Affect Econo- sprechenden Projekte, allerdings fehlt eine europä- mic Outcomes?«, Journal of Economic Perspectives 20(2), 23–48. ische oder internationale Strategie zur Integration Kabir, R. und J. Klugman (2019), Unlocking Refugee Women’s Potential, von zugewanderten oder geflüchteten Frauen und Rescue Works, verfügbar unter: https://www.rescue.org/sites/default/ files/document/3987/reportrescueworksunlockingrefugeewomenspoten- Mädchen. Die Vorteile entsprechender Programme tial.pdf. könnten die erforderlichen Investitionen bei weitem Knize Estrada, V. J. (2018), »Migrant Women Labor-force Participation übersteigen. 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