Zur Ubersetzbarkeit interkultureller Literatur. Dariusz Muszer ais Autor und Ubersetzer

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Zur Ubersetzbarkeit interkultureller Literatur.
           Dariusz Muszer ais Autor und Ubersetzer

                          Małgorzata Jokiel (Opole/Oppeln)

Zusammenfassung
Von interkultureller Literatur sprechen wir, wenn literarische Werke zwischen (mindes-
tens) zwei Kulturen, Sprachen und Literaturen stehen. Das Besondere an derartigen
Texten ist, dass sie einerseits in beiden Systemen beheimatet sind, andererseits aber
selbst diese beeinflussen kónnen. Der Fokus des vorliegenden Beitrags ist auf den Stel-
lenwert der in einer Fremdsprache abgefassten Werke von Autorlnnen mit Migrations-
hintergrund innerhalb der Nationalliteratur ihres Herkunftslandes gerichtet. Da solche
Texte vor allem durch Ubersetzungen rezipiert werden, steht die weitgefasste Frage
nach der Ubersetzbarkeit interkultureller Literatur am Beispiel des in Deutschland le-
benden polnischstammigen Schriftstellers Dariusz Muszer im Zentrum dieses Beitrags.
Er ist insofern ais ein Sonderfall zu bezeichnen, da er sowohl Deutsch ais auch Polnisch
schreibt und dariiber hinaus eigene wie fremde literarische Werke (z.B. die Artur Be-
ckers) aus dem Deutschen ins Polnische ubersetzt. Den zweiten Schwerpunkt bildet
Muszers personliches Verhaltnis zur deutschen Sprache. Abgerundet wird der Beitrag
durch den Versuch, grundsatzliche Unterschiede zwischen den durch den Autor selbst
und durch einen Dritten verfasste Ubersetzungen literarischer Werke aufzuzeigen.

i   Einleitung

Die Prasenz polnischstamm iger Autoren und Autorinnen ist ein im deutsch-
sprachigen Raum seit Jahrhunderten bekanntes Phanomen. W ahrend es sich
aber fruher (z.B. im 19. jahrhundert, nach den nationalen Aufstanden 1830 und
1863, nach dem Zweiten W eltkrieg oder in den 1980CT Jahren1) hauptsachlich
um politisch verfolgte Schriftsteller handelte, haben w ir es seit den goer Jahren
des 20. Jahrhunderts und insbesondere seit dem polnischen EU-Beitritt (2004)
zunehmend mit freiwilligen Migranten zu tun, die sich fur das Leben und
SchafFen in einem anderen Land entschieden haben. Je nach individuellen
Sprachbiografien und weiteren persónlichen Umstanden verfassen sie ihre

1   Zu der Exilwelle der i98oer Jahre, zu der die hier behandelten Autoren Muszer und
    Becker gehoren, werden dariiber hinaus beispielsweise solche Autorinnen und Auto­
    ren gezahlt wie Natasza Goerke, Brygida Helbig, Maria Kolenda, Iwona Mickiewicz,
    Krzysztof Niewrzęda, Leszek Oświęcimski, Janusz Rudnicki und Krzysztof Maria Za­
    łuski (s. auch Henseler/Makarska 2013).

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W erke entweder (immer noch) in der M uttersprache Polnisch und/oder au f
Deutsch. Richtet man sich nach der Zahl der M uttersprachler weltweit, so lieRe
sich Polnisch (mit 60 Mio. Sprechern) gegeniiber dem Deutschen (.Sprache des
Zentrum s', 109 Mio. M uttersprachler) ais ,Sprache der Peripherie' bezeichnen.2
    Die W ahl der Schreibsprache hat fur Schriftsteller mit Migrationshinter-
grund weitreichende Konseąuenzen, insbesondere im Hinblick au f den poten-
ziellen Rezipientenkreis. Die M uttersprache ais Denksprache und Sprache des
Herzens scheint zu Beginn der literarischen Laufbahn in einem fremden Land,
insbesondere wenn die Kenntnisse der fremden Sprache noch nicht ausrei-
chend sind, die selbstverstandliche Losung. W enn ein Autor allerdings in sei-
ner W ahlheim at ais Schriftsteller wahrgenom m en werden will, so ist die Ent-
scheidung fur die Landessprache praktisch zwingend. Denn „in der Fremd-
sprache schreiben" ist nicht mit „in die Fremdsprache iibersetzt w erden"3 ver-
gleichbar.
    W ie Hans-Christian Trepte bemerkt, wird „die in Folgę eines erfolgreichen
Sprachwechsels entstandene Literatur slawischer Provenienz“ kaum von breite-
rem Publikum wahrgenom m en, da sie ais entkulturiert gelte und zumeist „im
Niem andsland zwischen den Kulturen und Literaturen" (Trepte 2013: 281) blei-
be. Dies ist auch wohl einer der Griinde dafur, dass die au f Deutsch entstande­
ne Literatur polnischstam m iger Autoren selten in die Sprache des Herkunfts-
landes des Schriftstellers iibersetzt w ird.4 Die in zwei Sprachen, zwei Kulturen

2    Angaben zu der Zahl der Muttersprachler nach: www.ethnologue.com (Stand: 12.04.
     2014).
3    Der polnischstammige Autor Grzegorz Kielawski, der seit acht Jahren in Ósterreich
     lebt und schreibt, formuliert diese Erfahrung folgendermalSen: „Die Sprache veran-
     dert natiirlich den Textausgang - auf Polnisch ware er wahrscheinlich anders gewor-
     den" (Kielawski 2007: 25).
4    Allerdings trifft dieses Phanomen nicht auf alle Schriftsteller mit Migrationshinter-
     grund zu, wie das Beispiel der erfolgreichen ungarischstammigen Autorin Terezia
     Moras zeigt, dereń Werke nicht nur ins Ungarische sondern auch in andere Spra­
     chen iibersetzt werden. Wenn es um auf Deutsch verfasste literarische Werke pol­
     nischstammiger Autoren geht, kann in der Zeit nach der ig89er Wende, wohl im Zu-
     sammenhang mit zunehmendem Interesse an der Migrationsproblematik insgesamt,
     au f eine Reihe von Ubersetzungen ins Polnische hingewiesen werden, von denen
     hier ein paar stellvertretend zu nennen sind: Roma Ligockas „Dziewczynka w czer­
     wonym płaszczyku" (Kraków 2001, iibers. von Katarzyna Zimmerer); Radek Knapps
     „Franio" (Poznań 1995, iibersetzt von dem Autor und Marek Szalsza, mit einem Vor-
     wort von Stanisław Lem), „Lekcje pana Kuki" (Kraków 2003, iibers. von Sława Lisiec­
     ka); Artur Beckers „Kino Muza" (Olsztyn 2008), iibersetzt von Dariusz Muszer, der
     ebenfalls seine zwei eigenen auf Deutsch entstandenen Romanę ins Polnische iiber-

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und zwei literarischen Traditionen verankerten Schriftsteller mit Migrations-
hintergrund stellen somit in beiden Landern einen Sonderfall dar. Fur die lite­
ratur- wie auch sprachwissenschaftliche ErschlieRung derartiger Literatur
scheint daher die Auslandsgerm anistik besonders pradestiniert zu sein.
   In diesem Kontext sollen die mit diesem Problem zusam m enhangenden
translationsrelevanten Probleme am Beispiel von Dariusz Muszers Roman „Die
Freiheit riecht nach Vanille“ sowie dessen eigene Ubersetzung ins Polnische ex-
emplarisch erlautert werden. Der B e g riff,Ubersetzbarkeit' ist hierbei allerdings
in einer weiteren Bedeutung aufzufassen ais die iibliche „potenzielle Moglich-
keit, in eine andere Sprache zu iibersetzen" (vgl. Koller 2001: 179-188), die vor-
ausgesetzt wird; er soli vielm ehr fur die .Begriindung fur die Ubersetzung' bzw.
.Ubersetzenswertsein' stehen.
   Dariiber hinaus werden Artur Beckers Roman „Kino Muza" und dessen
gleichnamige polnische Ubersetzung von Muszer beriicksichtigt, um grund-
satzliche Unterschiede zwischen den vom Autor selbst und von einem Dritten
verfassten Ubersetzungen literarischer W erke aufzuzeigen. Die Verfasserin des
Beitrags vertritt dabei die Meinung, dass die Erforschung literarischer Uberset­
zungen einer differenzierten interdisziplinaren Herangehensweise bedarf, zu
der sowohl translationswissenschaftliche Aspekte ais auch literatur-, kultur-
und sprachwissenschaftliche Fragestellungen und Instrumente gehóren.

2 Dariusz Muszer ais Autor und Ubersetzer

Dariusz Muszer, geboren 1959 in Górzyca (Polen), ist ais Schriftsteller, Lyriker,
Dramatiker sowie Journalist und Ubersetzer tatig und wurde mit zahlreichen
polnischen wie deutschen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.5 Der
ausgebildete Jurist lebt seit 1988 in Deutschland (Hannover). Nach seinen eige-
nen Angaben erfolgte seine Ubersiedlung teils aus politischen teils aus materi-
ellen Griinden.6 Die literarische Karriere Muszers begann bereits vor seiner
Auswanderung und bis heute schreibt er sowohl au f Deutsch ais auch au f Pol-
nisch. Sein literarisches W erk umfasst acht Romanę, davon drei a u f Deutsch
verfasst („Die Freiheit riecht nach Yanille" 1999, „Der Echsenmann" 2001 sowie

    setzte: „Wolność pachnie wanilią" (Szczecin 2008) sowie „Homepage Boga" (Szcze­
    cin 2013).
5   Eine ausfuhrliche Aufstellung der Auszeichnungen ist der Homepage des Schriftstel-
    lers zu entnehmen: www.dariusz-muszer.de/html/person (Stand: 01.07.2014).
6   Nach der Videoaufnahme „Lange Nacht polnischer Literatur mit Dariusz Muszer"
    vom 26.10.2012, auf: www.youtube.com/watch?gl=DE&v=BKbJ8yqDpuk (Stand: 20.06.
    2014).

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„Gottes Hom epage" 2007) und zw ólf Gedichtbande, einer davon ist in deut-
scher Sprache erschienen („Die Geliebte aus R. und andere Gedichte", 1990).
Dariiber hinaus iibersetzte er sechs literarische W erke ins Polnische, ein-
schlieftlich seiner Romanę „Die Freiheit riecht nach Vanille“ und „Gottes
Hom epage" sowie „Kino Muza" seines neun Jahre jiingeren, ebenfalls polnisch-
stam migen Kollegen Artur Becker. Die Ubersetzung eigener W erke durch den
Verfasser kom m t relativ selten vor und ist somit ais ein translatorischer Son-
derfall zu bezeichnen, da sich aus dieser Konstellation mehrere Besonderheiten
gegeniiber Ubersetzungen Dritter ergeben.7 In der translationsrelevanten Text-
typologie von Katharina ReiR (1993: 5-26) gehoren literarische Texte grundsatz-
lich zu dem expressiven Texttyp und zeichnen sich durch ihre Senderorien-
tiertheit sowie kiinstlerische Aussage (ais primare Textfimktion) aus, somit er-
fordern sie bei der Ubersetzung eine Analogie der kiinstlerischen Gestaltung ais
Aquivalenzm aRstab.8 Reift em pfiehlt die so genannte autorgerechte (identifi-
zierende) Ubersetzungsm ethode ais angem essene translatorische Vorgehens-
weise fur diesen Texttyp. Im Vordergrund stehen dabei die individuelle Pra-
gung des jeweiligen Textes und „der Gestaltungswille des Autors" unter Bewah-
rung der aufteren Form (Reift 1993: 21). Bei der Ubersetzung des W erkes durch
dessen Verfasser wird die Identitat des Senders autom atisch beibehalten. Die
Verantwortung fur die Gestaltung des Translats tragt der Produzent des Aus-
gangtextes, so dass eventuelle Abweichungen von der Vorlage au f den Willen
des Verfassers zuriickzufuhren sind.
    Zu den Vorteilen, die der Autor in der Rolle des Ubersetzers gegeniiber ei-
nem fremden Ubersetzer besitzt, gehort ebenfalls die Kenntnis der Entste-
hungsbedingungen des W erkes sowie m oglicher Kontexte und Absichten. Des
W eiteren kann sich der Verfasser ais Ubersetzer seiner Texte mehr erlauben
(Zusatze, Erlauterungen, Auslassungen bzw. M odifizierungen des Inhaltes) ais
ein Dritter, der mit einer solchen Aufgabe betraut wird. Dariiber hinaus sind
dabei der Faktor ,Subjektivitat des Ubersetzers' (verstanden ais sein individuel-
les Verstandnis des W erkes) sowie dessen abweichende Persónlichkeitsstruktur
auszuschlieRen (ReiR 19 71:10 6 -114 ).

7     Zu den bekanntesten Beispielen von Autoren der Weltliteratur, die ihre eigenen
      Werke selbst iibersetzt haben, gehoren Vladimir Nabokov und Samuel Beckett.
8     Nach ReiS ist zwar die Zuordnung literarischer Genres zu dem expressiven Texttyp
      nur theoretisch und trifft nicht immer zu, da man vor allem die kommunikative
      Funktion des jeweiligen Werkes sowie texttypiibergreifende Genres/Textsorten wie
      z.B. Biographie, Tendenzroman, Satire beriicksichtigen soli. Die im vorliegenden
      Beitrag erwahnten Romanę von Muszer und Becker sind jedoch von ihrer kommuni-
      kativen Funktion her ais typische Beispiele fur den expressiven Texttyp aufzufassen.

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Eine erfolgreiche Ubersetzung eigener W erke setzt allerdings ausreichende
translatorische Kompetenz des Verfassers voraus, die weit iiber ausgezeichnete
Kenntnisse der Ausgangs- und Zielsprache hinausgeht. Nach Kohlmayer (2008:
1-5) handelt es sich hierbei um eine Reihe von Einzelkompetenzen, die sich je-
weils au f ein Sprachenpaar beziehen, von denen im Hinblick au f das Uberset-
zen von Literatur insbesondere sprachkontrastives W issen und Konnen, inter-
kulturelles W issen und Konnen sowie vielfaltige Kom munikationsfertigkeiten
anzufuhren sind. Bei W itte (2007) wird hingegen die Kulturkom petenz des
Ubersetzers in den Vordergrund gestellt. Im Fali von Muszer, der im Alter von
knapp 30 Jahren ausgereist ist und seit 26 Jahren in Deutschland lebt, diirfte
von seiner Bikulturalitat ausgegangen werden. Er erfiillt auch Voraussetzungen
fur die aktive Beherrschung des Polnischen wie des Deutschen fur literarische
Zwecke, da er sich bereits vor seiner Ausreise ais Autor etabliert hatte und bis
heute seine W erke in beiden Sprachen mit Erfolg9 veroffentlicht.
    Vor diesem Hintergrund scheint daher die Frage berechtigt, ob man im Fali
einer Selbstiibersetzung statt von einer ,Translation‘ eher von einer ,ffemd-
bzw. anderssprachigen Fassung des Originals' sprechen sollte. Eine solche
Schlussfolgerung liegt nahe, wenn man sich Muszers Homepage anschaut, au f
der einige W erke mit dem deutschen und dann mit dem gleichen ins Polnische
iibersetzten Titel und einem spateren Erscheinungsdatum aufgelistet sind. Un-
ter ,Ubersetzungen‘ stehen hingegen nur Texte anderer Autoren (zwei Titel von
Corinne Hofmann sowie je ein W erk von Galsan Tschinag und Artur Becker),
die von Muszer aus dem Deutschen ins Polnische iibertragen wurden. Da aber
auf den Titelseiten der Romanę „W olność pachnie wanilią" und „Homepage Bo­
ga" Dariusz Muszer sowohl ais Verfasser des W erkes sowie ais dessen Uberset-
zer genannt wird, ist hier von dem urspriinglichen Charakter der deutschen
Fassung des W erkes auszugehen.
    Wird die moderne translationswissenschaftliche Defmition der Ubersetzung
herangezogen, so stellt sich heraus, dass eine Ubersetzung alle Veranderungen
der Vorlage beziiglich Stoff, Form und Gehalt einschliefśt, die sich entweder
zwingend aus der Zielsprache oder aber aus den Spezifika der Adressaten und
dereń Rezeptionsmóglichkeiten ergeben, also nicht willkiirlich sind (Salevsky
2002: 385). Die Vertreter der Descriptive Translation Studies gehen noch wei-
ter, indem sie au f eine praskriptive Defmition der Ubersetzung verzichten und
ais Ubersetzungen alle Texte verstehen, die ais solche in einer Kultur akzeptiert
werden. Sie werden vielm ehr in ihren tatsachlichen Erscheinungsformen ais

9   Davon zeugen z.B. zahlreiche positive oder gar begeisterte Rezensionen zu Muszers
    Veróffentlichungen sowie Interviews, weitere Artikel und Sekundarliteratur, zusam-
    mengestellt auf der Internetseite des Autors: www.dariusz-muszer.de/html/presse.
    html (Stand: 10.02.2014).

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historische und kulturelle Phanomene betrachtet und nicht nach tatsachlicher
Aquivalenz untersucht (nach Apel/Kopetzki 2003: 37). Vor diesem Hintergrund
ist die polnische Fassung von „Die Freiheit riecht nach Vanille“ ais eine Uber­
setzung zu verstehen, die mehrere Besonderheiten aufweist, da es sich dabei
um eine Selbst-Translation des Yerfassers handelt.

3 Der Roman „Die Freiheit riecht nach Vanille“ ais Ubersetzungsvor-
  lage

Aus der Analyse der deutschen O riginalfassung ergeben sich mehrere Auffallig-
keiten, die potenziell zu Ubersetzungsproblem en werden diirften. Nach Nord
(2009) kann bei der iibersetzungsrelevanten Ausgangstextanalyse zwischen in-
ternen und externen Faktoren unterschieden werden. Zu der erstgenannten
Gruppe gehóren Kategorien wie Sender, Intention, Empfanger, Medium, Ort,
Zeit, Anlass und Textfunktion. In Bezug au f literarische Texte erscheinen aller-
dings nicht alle aufgefiihrten Aspekte relevant. Im Fali der Selbst-Ubersetzung
ist der Sender mit dem Verfasser identisch, es dtirfte auch von der gleichen In­
tention des Autors im Hinblick au f den Ausgangstext sowie des Ubersetzers in
Bezug au f den Zieltext ausgegangen werden. Der Empfanger des Originals
(deutschsprachiger Leser) unterscheidet sich grundsatzlich von dem der Uber­
setzung (polnischer Rezipient), ahnlich verhalt es sich mit dem Ort und Zeit-
punkt der Rezeption: Die Ubersetzung des Romans „Die Freiheit riecht nach
Vanille“ (2008) kam erst neun Jahre nach der Veroffentlichung der deutschen
Vorlage (1999) in Polen heraus.10
    Das Medium Buch bietet zahlreiche typografische wie formale Móglichkei-
ten der Gestaltung, angefangen mit dem Buchdeckel und der Titelseite iiber die
auRere Gestaltung und innere Gliederung bis hin zur Interpunktion, so dass
sich in diesem Bereich viele Unterschiede nennen lieRen, die jedoch nicht Ge-
genstand dieses Beitrags sind.1' Die Textfunktion ergibt sich aus der jeweiligen
sprachlichen Fassung und gestaltet sich in Abhangigkeit von dem Vorwissen
des Rezipienten sowie von seiner nationalen Zugehorigkeit. W ahrend es sich
fur deutschsprachige Leser in Muszers Roman hauptsachlich um die Darstel-
lung der vertrauten innenpolitischen W irklichkeit aus der AuRenperspektive
eines Einwanderers handelt, lernen polnische Empfanger das Leben eines

10 Der andere ebenfalls ins Polnische iibersetzte Roman Muszers „Gottes Homepage"
   wurde 2007 auf Deutsch und 2013 au f Polnisch veróffentlicht.
11 Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass beide Ausgangstexte von Muszer im Verlag
   Ai (Miinchen) erschienen sind und die polnischen Ubersetzungen beim Verlag For­
   ma (Szczecin) in derselben Reihe.

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Landsmannes in einem fremden Land kennen. Da der untersuchte literarische
Text zahlreiche Beziige zur deutschen Zeitgeschichte aufweist, handelt es sich
auf der textinternen Ebene des Ausgangs- und Zieltextes um unterschiedliche
Prasuppositionen und eventuell notwendige inhaltliche M odifizierungen des
Translats, die im Folgenden punktuell exem plifiziert werden.
    In „Die Freiheit riecht nach Vanille“ wird das Schicksal eines Spataussiedlers
nach seiner Ausreise aus Polen nach Deutschland mit viel Ironie und (schwar-
zem) Humor dargestellt. Aus der Perspektive des ausgangssprachigen (deut­
schen) Lesers scheint der GrolSteil der Romanhandlung durchaus nachvollzieh-
bar und wird dank der geschilderten Realien (wie z.B. das Durchgangslager
Friedland, Hannover ais Handlungsort, Fachbezeichnungen fur Unterlagen und
Ausweise der Aussiedler) glaubwiirdig gemacht. W ahrend sich aber die Origi-
nalwerke nach Salevsky (2002: 398) in der Regel durch ihren einm aligen Cha­
rakter und ihr Verhaltnis zu einem diachronen und einem synchronen literari-
schen Kontext sowie zu einer literarischen Tradition auszeichnen und Bezug zu
einer Kultur-, Sprach- und Kom m unikationsgem einschaft haben, ist Muszers
Roman in dieser Hinsicht untypisch. In ihm wird an viele literarische Traditio-
nen angekniipft, indem alle Kapitel mit Zitaten aus der W eltliteratur (wie z.B.
Hamsun, Nabokov, Defoe, Gombrowicz, Orwell, Hebbel, Tolkien, Kafka) bzw.
mit einem Spruch oder Sprichwort beginnen, die in engem inhaltlichen Zusam-
menhang mit dem jeweiligen Kapitel stehen. Dariiber hinaus weist der Roman,
was sich bei Autoren mit M igrationshintergrund sehr oft beobachten lasst,
nicht nur Beziige zu deutschen Realien auf, sondern enthalt auch vereinzelt
Anspielungen au f bedeutende Phanomene der polnischen Geschichte und Kul­
tur, die sich beispielsweise hinter Jahresangaben verstecken bzw. nur stich-
wortartig erwahnt werden (wie Kielce 1946, 1968, Herbst 1979), die wiederum
dem ausgangssprachigen Publikum entweder unbekannt sein diirften oder von
ihm anders assoziiert werden kónnen.
    Gemaft Neubert (zitiert nach Reift 1993: 5f.) gehoren literarische Texte zu
den primar ausgangssprachlich gerichteten Texten, die aber je nach dem kultu-
rellen Hintergrund potenziell fur einen breiteren Leserkreis bestim m t werden
kónnen und bei denen Neubert von partieller Ubersetzbarkeit ausgeht. Bei der
Translation in eine andere Sprache und Kultur sowie - was dam it einhergeht -
fur eine andere Zielgruppe andern sich zwangslaufig die auftersprachlichen
Verstehensvoraussetzungen der Leser. Gem eint sind dabei nicht nur ein ande-
res Vorwissen und fehlende Kenntnis der breit gefassten Landeskunde, sondern
beispielsweise ebenfalls eine andere Perspektive au f die gem einsame Geschich­
te (s. z.B. Miiller-Ott 2002: 87-93). Derartige Defizite hat der Ubersetzer zu be-
heben, indem er entsprechende Kom pensationsstrategien entwickelt und bei­
spielsweise die zielsprachige Fassung mit zusatzlichen Erlauterungen erganzt
bzw. stellenweise modifiziert. Muszer versucht in seinen Selbstiibersetzungen

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einerseits Elemente der deutschen Kultur beizubehalten, andererseits bietet er
dem zielsprachigen Leser auch Zusatzerlauterungen, wie beispielsweise an der
Stelle, wenn der Protagonist im Grenzdurchgangslager Friedland Urkunden er-
halt, dereń Bezeichnungen in der polnischen Fassung des Romans zunachst im
Originalwortlaut („Registrierschein", ,,Vertriebenenausweis“) genannt und
gleich mit polnischen Aquivalenten erklart werden: „zaświadczenie rejestracyj­
ne", „dowód osobisty wypędzonego" (Muszer 2008: 61). In einem anderen Kapi­
tel wird au f das Autokennzeichen von Ham burg angespielt: „Dort blieb ich ste-
hen und holte aus meinem Rucksack ein Blatt Papier mit den Buchstaben HH.“
(M uszer 1999 :129 ), was ohne einen ausdriicklichen Hinweis fur polnische Leser
nicht unbedingt verstandlich sein diirfte; daher wird der zitierte Satz in der
polnischen Ubersetzung um den Zusatz „das Autokennzeichen von Hamburg"
(M uszer 1999:103) erganzt.

4 Zum Spannungsverhaltnis zwischen Deutsch und Polnisch in Mu­
  szers Werken

W enn es sich um den Um gang mit der deutschen und polnischen Sprache in
M uszers „Die Freiheit riecht nach Vanille handelt", ist eine Reihe von Beson-
derheiten zu beobachten. Grundsatzlich wird der Roman au f Deutsch verfasst,
an mehreren Stellen werden allerdings auch polnische Phrasen im Original­
wortlaut zitiert. In den meisten Fallen wird der W echsel zwischen Deutsch und
Polnisch gemafś den iiblichen Literatur- und Filmkonventionen nur indirekt
synchronisiert bzw. m etasprachlich markiert, ohne die Sprache tatsachlich zu
w echseln, und beispielsweise durch folgende Formulierungen eingeleitet:

     Er sprach zu mir halb polnisch, halb deutsch (Muszer 1999: 63L),
     murmelte ich auf polnisch (Muszer 1999: 70),
     dann erklarte ich in gebrochenem Polnisch (Muszer 1999:130),
     Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mit meinem Vater polnisch gesprochen hatte
     (Muszer 1999:138).

Dariiber hinaus werden die im Roman auftretenden Polen in einen breiteren,
(ober)schlesischen bzw. (ost)slawischen Kontext eingebettet,12 und zwar durch
Hinweise wie:

12 Siehe auch bei Radek Knapp, einem weiteren polnischstammigen deutsch schrei-
   benden Autor, der seine polnische Identitat in dem osteuropaischen Kontext wahr-
   nimmt und oft Ausdriicke wie „slawische Seele", „wir Slawen", „Ostblock", „Ostler"
   yerwendet (z.B. Knapp 1999, 2005).

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   Mit Handen und Fiilśen zu reden und die typischen Gesten der Ostslawen habe
   ich mir bis heute nicht abgewóhnt (Muszer 1999:142),

oder:

   Die Sprache, die er im Moment hóchster Gefahr benutzte, verriet ihn. Er war
   gewissermafien ein Landsmann von mir. Nicht, weil er auch Aulśerirdischer war,
   sondern weil er aus Oberschlesien stammte (Muszer 1999: 36).

An einer Stelle, wo im Original das Polnische sowohl wórtlich zitiert wird ais
auch metasprachlich erscheint, entscheidet sich Muszer in der Ubersetzung fiir
eine paradoxe (?) Lósung. Im deutschen Original (Muszer 1999: io8f.) heiftt es:

   „Du hast dich noch nicht vorgestellt.“
   „Mam na imię Sarah."
   „Wie schón fur dich Sarah. Du sprichst sogar Polnisch, das ist bemerkenswert."
   „Ein paar Brocken. Ich habe Polen 1968 verlassen, da war ich gerade drei gewor-
   den. Meine Eltern sprachen zu Hause nur Polnisch, po polsku. Polnisch war also
   die erste Sprache, die ich einigermalśen beherrschte."

In der polnischen Fassung lesen wir entsprechend (Muszer 2008: 88):

   - Jeszcze się nie zdążyłaś przedstawić.
   - Ich heilśe Sarah - odezwała się pierwszy raz po polsku13 [riickiibersetzt: sagte sie
   zum ersten Mai auf Polnisch, M.J.].
   - To się ciesz, Saro. I mówisz nawet po ichniemu, to godne podziwu. [Du sollst
   froh dariiber sein, Sarah. Und du sprichtst sogar ihre Sprache, das ist bewun-
   dernswert.]
   - Tylko trochę - wróciła na niemiecki [wechselte sie ins Deutsche], - Opuściłam
   Polskę w 1968 roku, skończyłam wtedy akurat trzy lata. Moi rodzice mówili w
   domu tylko po polsku. Polski był pierwszym językiem, który jako tako opanowa­
   łam.

Aufter den auffallenden Unterschieden im Bereich der Zeichensetzung bei der
Anfiihrung von Zitaten (Gedankenstriche statt Anfiihrungszeichen), die au f
Konventionen der jeweiligen Nationalliteratur zuruckzufiihren sind, wird die
zielsprachige Variante um drei Satze erganzt (im vorangestellten Zitat kursiv
markiert), welche den W echsel zwischen den Sprachen nachvollziehbar ma-
chen sollen. Allerdings wirkt der deutsche Satz („Ich heilSe Sarah") mit dem

13 Durch Kursivierung werden in dem zitierten Dialog Hinzufugungen gegenuber dem
   deutschen Ausgangstext markiert, in eckigen Klammern stehen von der Verfasserin
   ins Deutsche ruckubersetzte Zusatze.

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Kom mentar: „odezwała się pierwszy raz po polsku" (ruckiibersetzt: sagte sie
zum ersten Mai a u f Polnisch) immer noch m erkwurdig und unlogisch.
   Das Thema der Sprachenwahl ist auch ais Teil der Handlung des Romans
„Gottes H om epage"/4 der sich in der Zukunft, „im Zeitalter des Regenbogens,
im Jahr des achtundachtzigsten Violetts“, ais die Erde nur von wenigen echten
M enschen und zunehmend von Geklonten und Hologrammen bewohnt wird,
und ein Schriftsteller (Gepin) ais einer der wenigen iiberlebenden Menschen
seine Erinnerungen niederzuschreiben versucht. In diesem Zusammenhang
wird er von einem Vertreter der Kulturbehorde (Dr. Multer) geffagt, welche
Sprache er verwenden werde. Daraufhin entwickelt sich ein Gesprach, das ais
Kom mentar zur Lage der Schriftsteller mit M igrationshintergrund in dem auf-
nehmenden Land interpretiert werden kann; zugleich werden Fragen nach dem
Stellenwert einzelner Sprachen sowie sprachliche Assoziationen und Vorurteile
aufgeworfen. Zu Beginn heiftt es:

     Dr. Multer ffagte mich, in welcher Sprache ich zu erzahlen beabsichtige, worauf
     ich antwortete, ich wiirde immer noch auf Polnisch denken und traumen. Es sei
     meine erste Muttersprache, fugte ich nach einer Weile hinzu. [...] Am liebsten
     wiirde ich also meine Memoiren auf Polnisch verfassen (Muszer 2007: 2if.).

Dr. M ulter zeigt sich allerdings mit dieser Entscheidung unzuffieden und gibt
Gepin klar zu verstehen, was von ihm erwartet wird (Muszer 2007: 22):

     „Sie miissen eine andere Sprache verwenden, Herr Gepin", sagte er. „Wie ware es
     zum Beispiel mit Rumanisch, Skandinavisch oder ... Deutsch? Ja, Deutsch klingt
     ausgezeichnet. Finden Sie nicht?"
     „Herr Multer, ich will doch keine Gebrauchsanweisung schreiben."
     „Hat hier jemand irgendwelche Vorurteile gegenuber den Germanen und ihrer
     fabelhaften Sprache? Wenn ja, dann musste ich das sofort melden."

Am Ende des Gesprachs sagt Dr. Multer Gepin ausdriicklich seine Meinung:

     „Denken Sie, wie Sie wollen, au f Anglos [eine fiktive Sprache, M.J.] oder meinet-
     wegen auf Polnisch. Doch schreiben diirfen Sie nur auf Deutsch. Ist das klar?"
     (Muszer 2007: 24).

Im weiteren Teil des Romans wird iiber die Arbeit an der Niederschrift der Er­
innerungen in der deutschen Sprache berichtet, doch im Lebenskontext des
Yerfassers scheint dies wieder eine selbstbezogene Aussage oder gar Bekennt-

14 Aus Griinden des Umfangs wird der zweite von Muszer iibersetzte eigene Roman
   nur am Rande erwahnt.

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nis Muszers zu sein, die vielleicht seine Entscheidung fur Deutsch ais (zweite)
Schreibsprache einigermaBen zu erklaren versucht:

   Ein Menschenleben auf Deutsch zu verarbeiten ist keine angenehme Aufgabe,
   besonders wenn man kein Sprachforscher ist [...] Ja, zuweilen kann ich nicht ab-
   schalten und denke in der Sprache, in der ich schreibe. Das gehórt zu meiner
   Rolle ais Schriftsteller, glaube ich (Muszer 2007: 48f.).

5 Muszer ais Ubersetzer von fremden Werken - Artur Beckers „Kino
  Muza“

Durch die M igrationsproblematik ist auch ein weiteres von Muszer ubersetztes
Werk gepragt: Artur Beckers Roman „Kino Muza". Ahnlich wie Muszer gehórt
sein Freund Becker zu den in Deutschland lebenden polnischstamm igen
Schriftstellern. Er wurde mit dem renom mierten Adelbert-von-Cham isso-Preis
ausgezeichnet, mit dem herausragende deutsch schreibende Autoren geehrt
werden, dereń W erk von einem Kulturwechsel gepragt ist, und die ein berei-
chernder Umgang mit Sprache verbindet.‘5 Beckers Verhaltnis zum Polnischen
und Deutschen kann ais kompliziert und differenziert aufgefasst werden. Er be-
zeichnet sich selbst ais „polnischen Autor deutscher Sprache".16 Polnisch sei
seine Muttersprache, in der er seine ersten literarischen Arbeiten verfasste.
Nach der Ubersiedlung entschied er sich jedoch eindeutig fur Deutsch ais seine
Literatursprache, die er „Dienstsprache" nennt (zitiert nach Balzer 2009: 4-10).
Seine private Sprachphilosophie bringt er in einem Aufsatz au f den Punkt:
„Sprache ais System von Zeichen existierte praktisch nicht. Ich wollte verges-
sen, dass ich eine Sprache benutzte, wollte nicht wissen, ob sie deutsch oder
polnisch war, und das war ein neues befreiendes Geftihl" (Becker o.J.). Natio-
nalliteraturen halt er daher fur irrsinnig. Mit seiner Familie spricht er Polnisch
und ist in beiden literarischen Traditionen beheimatet, was man unter ande-
rem an seiner zweigeteilten Bibliothek erkennt (Balzer 2009: 8). Beckers
Sprachphilosophie scheint auch eine m ógliche Selbstiibersetzung seiner W erke

15 Zum Chamisso-Preis s. www.bosch-stiftung.de (Stand: 02.07.2014).
16 In einem Beitrag iiber Artur Becker, veróffentlicht auf der Website des Goethe-Insti-
   tuts (www.goethe.de/kue/lit/aug/de7488893.htm , Stand: 20.06.2014) wiederholt
   Klaus Hubner diese Meinung: „Der Autor Artur Becker behauptet bei jeder passen-
   den Gelegenheit, er schreibe polnische Literatur - nur eben in deutscher Sprache"
   und fiigt gleichzeitig hinzu: „Becker [...] handhabt die deutsche Literatursprache
   derart virtuos, dass man ihn mit einigem Recht ais deutschen Schriftsteller bezeich-
   nen darf, und zwar ais einen der besten im Lande".

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auszuschlieRen. Zwei seiner Romanę sind bisher au f Polnisch erschienen: „Kino
M uza“ (2009) und „W ódka und M esser“ („Nóż w wódzie", 2014), iibersetzt von
Joanna Demko und Magdalena Żółtowska-Sikora.
   „Kino Muza" (in der polnischen Ubersetzung gleichlautend) ist das erste ins
Polnische iibersetzte W erk Artur Beckers.'7 Der Roman spielt sich gróRtenteils
(etwa zwei Drittel des Textum fangs) in der polnischen Heimat des Verfassers,
in Bartoszyce/M asuren, ab. Seine Handlung steht in einem engen Zusammen-
hang mit der polnischen Geschichte (die Zeit der Volksrepublik Polen). Die
Ubersetzung ins Polnische wird somit zu einer Quasi-Riickubersetzung: Bei der
Lektiire der deutschen Originalfassung entsteht der Eindruck, ais ob wir es mit
einem im K opf des Autors urspriinglich au f Polnisch entstandenen Text zu tun
hatten, der zunachst in der deutschen Sprache niedergeschrieben wurde, um
schlieRlich von einem Landsm ann des Verfassers und ebenfalls Schrifisteller
(Dariusz Muszer) ins Polnische ruckiibersetzt zu werden. Der implizite Emp-
fanger des Romans ist eindeutig ein deutscher Leser. Dies lasst sich z.B. an
zahlreichen Erlauterungen und Kommentaren zu polnischen Realien deutlich
erkennen:

     Die ZOMO war die Spezialeinheit der Miliz (Becker 2003: 41).
     Vor dem Geschaft mit Westwaren, dem PEWEX, lauerten immer zwei, drei jungę
     Manner auf Kunden (Becker 2003:183).
     An der Weichsel und in Bartoszyce sagte man: mit der Zunge am Hals (Becker
     2003: 293)
     Plakate und Schilder mit Parolen der PZPR, der Arbeiterpartei (Becker 2003:136).
     Marian schloss ihnen auf und sprang sie an - mit offenen Armen und nassen
     Kussen, nach alter polnischer Sitte (Becker 2003: 267).

Die Landschaften, Realien, Sitten und Verhaltensm uster der Helden miissen
dem polnischen Rezipienten bekannt vorkom m en. Im Gegensatz zu der Uber­
setzung von „Die Freiheit riecht nach Vanille“ kónnten bei „Kino Muza" man-
che im Original berechtigterweise enthaltenen Erlauterungen au f Grund des
Adressatenwechsels und der dam it einhergehenden Redundanz fur polnisch-
sprachige Leser ausgelassen werden. Dies kommt jedoch kaum vor; was da-
durch erklart werden kann, dass bestimm te Umstande der polnischen Nach-
kriegsgeschichte auch manchen polnischen Lesern, insbesondere denjenigen,
die nach der W ende gehoren sind, unbekannt sein diirften. Anderseits ist zu
vermuten, dass sich der Ubersetzer nicht berechtigt fuhlte, derartige Kiirzun-
gen vorzunehm en. Und lediglich diese Zusatze kónnten ein Hinweis darauf
sein, dass w ir es hier mit einer Ubersetzung zu tun haben. Die polnische Fas-

17 Das deutsche Original erschien 2003, die polnische Ubersetzung 2008 in der Reihe
   „Remigracje" des Borussia-Yerlags in Olsztyn.

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sung liest sich sonst wie ein Original in polnischer Sprache, zumal der Uberset­
zer auch im stilistischen Bereich eine weit gehende „Analogie der kiinstleri-
schen Gestaltung" zu schaffen vermochte.
   Die polnische Sprache ist im Original nur symbolisch prasent - einzelne
Wórter (darunter Schimpfwórter), Anreden (pani, pan, panowie [Frau/Herr/
Herren] - im Buch kursiv hervorgehoben), Eigennamen (von Personen: Gienek
Pajło, Zbyszek Muracki, August Kuglowski, sowie von Institutionen: PKO, PZPR,
Solidarność), Zitate (z.B. aus Liedern: Chciałbym być sobą), die die Handlung
glaubwiirdig machen, ohne den deutschsprachigen Leser zu irritieren. Beson-
ders hervorgehoben werden polnische Marken (Autos: Tarpan, Polonez, Polski
Fiat, Jelcz, Komar; W ódka: Bałtycka). W ie bei Muszer wird auch in „K ino
Muza" der Sprachwechsel in den meisten Fallen nur konventionell angedeutet
(„sprach sie weiter au f Polnisch" usw.). A u f Grund der Ausreise des Protagonis-
ten spielt die Handlung des fiinften und sechsten Buches des Romans in
Deutschland. Im Hinblick au f den Translationsprozess hat es zufolge, das sich
somit die Verstehensvoraussetzungen andern und die polnischen Realien durch
fremdkulturelle ersetzt w erden.18

6 Schlussfolgerungen

Laut der Polysystem-Theorie von Even-Zohar‘9 erfolgt die Auswahl der zu iiber-
setzenden Texte gemafś den spezifischen Bediirfnissen der aufnehm enden Lite­
ratur. Diese stehen allerdings in einem engen Zusam m enhang mit jeweils aktu-
ellen Themen, Trends, Genres. Ais weitere Einflussfaktoren, die iiber die Veróf-
fentlichung einer literarischen Ubersetzung entscheiden, sind die Verlagspoli-
tik2° sowie in- und auslandische Kulturfórderung zu nennen.21 Die in den zwei
letzten Jahren veróffentlichten Ubersetzungen deutschsprachiger Prosa pol-
nischstammiger Autoren (Muszer 2013, Becker 2014) scheinen ein Indiz fur zu-

18 In diesem Zusammenhang empfiehlt sich eine ausfuhrlichere vergleichende Analyse
   des Ausgangstextes mit dem Zieltext auf der lexikalischen Ebene. Dies wiirde jedoch
   den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
19 Nach Prunć (2012: 235-239).
20 Beispielsweise durch die Einrichtung einer Reihe wie „Remigracje" des Borussia-
   Verlags in Olsztyn.
21 Die Ver5ffentlichung aller drei in diesem Beitrag erwahnten Werke wurde vom Goe-
   the-Institut gefórdert; im Fali von „Kino Muza" kamen dariiber hinaus Mittel der
   Stiftung fiir deutsch-polnische Zusammenarbeit, des Deutschen Generalkonsulats
   Danzig sowie der Georg und Maria Dietrich Stiftung (Offenburg) hinzu.

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nehmendes Interesse an der so genannten interkulturellen Literatur in Polen
zu sein.
     Ubersetzte Literatur kann grundsatzlich entweder das zielkulturelle literari-
sche System unterstiitzen oder aber neue Impulse, Ideen, asthetische wie
sprachliche Konzepte in die jeweilige Nationalliteratur einfiihren (Prunc 2012:
238). Dieses Prinzip lasst sich allerdings au f ubersetzte Texte der Schriftsteller
mit M igrationshintergrund kaum anwenden, da ihre W erke meistens zwischen
zwei Literatur- und Sprachsystem en stehen und sowohl der muttersprachli-
chen ais auch der deutschen Literatur zugeordnet werden konnen, was Artur
Becker mit seiner Skepsis gegeniiber dem Begriff .Nationalliteratur pragnant
zum Ausdruck bringt (Becker o.J.). W ahrend sich also Muszers und Beckers
Originalwerke innerhalb des Systems der deutschen Sprache und Literatur be-
finden, wird ihren Ubersetzungen immer noch eine periphere Bedeutung fur
die polnische Nationalliteratur beigemessen.
     Sowohl den Aufterungen (Becker) ais auch den literarisch verarbeiteten Ge-
schichten (Muszer) der genannten polnischstamm igen Autoren lasst sich ent-
nehmen, dass ihnen die Entscheidung fur Deutsch ais Literatursprache keines-
falls leicht gefallen ist. Dariusz Muszer, der bereits vor seiner Ausreise ais Autor
a u f Polnisch debiitierte, setzt seine literarischen Tatigkeiten parallel in beiden
Sprachen fort. Artur Becker, der ais Jugendlicher Polen verlieft, schreibt hinge­
gen konsequent Deutsch.
     Die erwahnten deutschsprachigen W erke polnischstam m iger Autoren bie-
ten keine uniiberwindbaren translationsrelevanten Probleme, zumal wenn sie
die polnische W irklichkeit darstellen und von ihrem Verfasser selbst ins Polni­
sche iibersetzt werden. Potenzielle Schwierigkeiten ergeben sich eventuell aus
dem Spannungsverhaltnis zwischen dem Deutschen und Polnischen sowie aus
dem Um gang mit frem dkulturellen Realien. Bei der Ubersetzung der eigenen
W erke ins Polnische geniefSt Dariusz Muszer eine grolSere translatorische Frei-
heit, was sich in einer Reihe von kleinen Hinzufugungen und weiteren Modifi-
zierungen beobachten lasst. Muszers Translation des Romans von Artur Becker
steht dem Original naher, der Ubersetzer verzichtet a u f eine funktional-adres-
saten-orientierte Anpassung bei der Darstellung polnischer Realien fur ziel-
sprachige Leser.

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