DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN - Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten
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PER SPEK T I V E Während der Verhandlungen GLO BA L E U N D REG I O N A L E O RDN U NG der EU über einen Rettungs- fonds in Reaktion auf die Corona-Pandemie traten unter DIE DEUTSCH- den Mitgliedsstaaten neue Interessengegensätze zu Tage. FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN Die zeitweise Annäherung Frankreichs an die Position der »Südländer« rief Erwartungen an eine dauerhafte Verände- rung der Kräfteverhältnisse sowie eine Schwächung der Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten deutsch-französischen Bezie- hungen hervor. Edouard Simon November 2020 Dass das EU-Rettungspaket auf einen deutsch-französi- schen Vorschlag zurückgeht, ist dagegen Indiz für eine Wiederbelebung des deutsch- französischen Tandems.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Die deutsch- französischen Beziehungen GLO BA L E U N D REG I O N A L E O RDN U NG DIE DEUTSCH- FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten
Die Spaltung Europas und zwei Lehren aus der Coronakrise Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen 1 DIE SPALTUNG EUROPAS UND ZWEI Union am 31. Januar 2020 verändert sich das innere Gleich- LEHREN AUS DER CORONAKRISE gewicht und die innere Dynamik der EU grundlegend. Insbe- sondere auf die deutsch-französischen Beziehungen hat der Um die negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie Brexit erhebliche Auswirkungen. Deutschland und Frank- sowie der Wirtschaftskrise abzufedern, haben die europäi- reich sahen in Großbritannien bisher eine mögliche Alter- schen Länder eine Reihe wirtschaftlicher Unterstützungs- native zum häufig konfliktträchtigen deutsch-französischen maßnahmen ergriffen, die in der Geschichte der Union in Verhältnis (Rachmann 2019; Stark 2020). In wirtschaftlichen Umfang und Art der bereitgestellten Mittel beispiellos sind. Fragen war das liberale Großbritannien ein wertvoller Ver- Aus mindestens zwei Gründen ist das von den 27 Mitglied- bündeter des ordoliberalen Deutschland gegenüber dem staaten auf dem Europäischen Rat im Juli 2020 vereinbarte interventionistischen Frankreich. In strategischen Fragen Konjunkturprogramm eine Besonderheit: Erstens unterliegt hingegen sorgte Deutschland wegen seines komplizierten die Mittelverteilung nicht dem sonst zwingenden sogenann- Verhältnisses zur Armee oft für Enttäuschung in Frankreich, ten geografisch ausgewogenen Mittelrücklauf, sondern welches deshalb überzeugt war, die europäische Verteidi- orientiert sich an den jeweiligen Bedürfnissen der einzelnen gungspolitik könne nur auf einer starken französisch-bri- Mitgliedstaaten. Zweitens wird das Konjunkturprogramm tischen Zusammenarbeit aufbauen. Die Exklusivität des durch ein Gemeinschaftsdarlehen finanziert, was zwar nicht Lancaster-House-Abkommens sorgte dementsprechend für völlig neu, zumindest in dieser Höhe jedoch bisher einzig- einige Unruhe in den deutsch-französischen Beziehungen. artig ist. Auf die britische Alternative können Frankreich und Deutsch- Die Umstände, unter denen das Konjunkturpaket verab- land nun nicht mehr zurückgreifen und stehen hinsichtlich schiedet wurde, veranschaulichen den aktuellen Zustand ihrer Europapolitik vor einer simplen, aber grundlegenden der EU und der Beziehungen der Mitgliedstaaten unterei- Entscheidung: Soll ihre bilaterale Beziehung neu belebt wer- nander. Zwar ließen die Diskussionen vor und während des den, um die EU für die gewaltigen Herausforderungen des Europäischen Rates im Juli 2020 eine tiefe Spaltung Europas 21. Jahrhunderts fit zu machen, oder müssen Alternativen erkennen und führten zu heftigen Auseinandersetzungen zu ihrer Zweierbeziehung gesucht werden? zwischen Staatengruppen unterschiedlicher Interessen. Falsch wäre es jedoch, die Übereinkunft ausschließlich als Resultat einer Interessenkonfrontation darzustellen. 1.1 Eine Rache des »Club Med«? Ein von Rivalitäten zermürbtes Europa Eine mögliche Lesart der auf der Sondertagung des Euro- päischen Rates vom 17. bis 21. Juli erzielten Übereinkunft1 ist die einer politischen Rache der Staaten »Südeuropas« an jenen »Nordeuropas« – gut zehn Jahre nach der Finanzkrise in der Eurozone und der Sparpolitik, die den »Südländern« im Gegenzug für Kredite auferlegt wurde und sie vor dem Bankrott bewahrte (und damit die Eurozone vor dem Aus- einanderbrechen rettete). In der Tat könnte der zuweilen er- bitterte Schlagabtausch zwischen den Staaten »Süd-« und »Nordeuropas«, insbesondere zwischen Italien und den Niederlanden, vermuten lassen, das Abkommen sei eine 1 Europäischer Rat (2020): Schlussfolgerungen der Außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates, 21.7.2020; www.consilium.europa. eu/media/45136/210720-euco-final-conclusions-de.pdf. 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Die deutsch- französischen Beziehungen Rache der Verfechter_innen europäischer Solidarität an den der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands und deren Anhänger_innen von Haushaltsdisziplin und Sparpolitik. Zusammenspiel mit anderen europäischen Wachstumsmo- dellen aus (vgl. Fratscher 2014). Innenpolitische Faktoren, Die heftige Konfrontation zwischen Gruppen von Mitglied- insbesondere Meinungsumfragen, die sich für eine größere staaten mit jeweils tatsächlich oder vermeintlich gleichen europäische Solidarität aussprachen (vgl. z. B. Hassenkamp Interessen sowie die in deren Zuge entstandenen karika- 2020), waren ein weiterer Grund für dieses Umschwenken turartigen Darstellungen der jeweils anderen (»Club Med« und relativieren weitgehend die Sichtweise, Deutschland versus »Geizhälse«) zeugen von der tiefen Spaltung und habe lediglich dem Druck seiner europäischen Verbündeten den starken Rivalitäten zwischen den Europäer_innen.2 Be- nachgegeben. dacht werden muss dabei, dass die Einführung der gemein- samen Währung im Wesentlichen zu einer Verlagerung der Ein ähnliches Umdenken fand innerhalb der europäischen Produktionstätigkeiten und zu miteinander unvereinbaren Institutionen schon vor Jahren seinen Anfang, als es um eine nationalen Wachstumsmodellen geführt hat: Lange Zeit angemessene Reaktion auf die Eurokrise ging – insbesonde- war Nordeuropa für die Produktion und Südeuropa für den re nachdem eine Reihe von Berichten die kontraproduktiven Konsum zuständig (Gräbner et al 2020; Herzog 2012). Infol- Auswirkungen der Anfang der 2010er-Jahre eingeführten gedessen näherten sich die Interessen der Europäer_innen Politik der Haushaltskonsolidierung aufzeigte (vgl. Veld (und ebenso ihre Realwirtschaften) seit der Einführung des 2013). Zudem veränderte die Erkenntnis der Kommission, Euro nicht nur nicht an, sondern entwickelten sich vielmehr dass die öffentlichen Investitionen in Europa dringend wie- stark auseinander. der angekurbelt werden müssen, die Herangehensweise der EU-Institutionen an die europäische Wirtschaftspolitik tief- Vor dem Hintergrund dieser Spaltung der EU-Mitglieder mag greifend. es naheliegend sein, im Vorgehen Frankreichs den Versuch zu sehen, mit dem Schließen einer »Mittelmeer-Allianz« Das Konjunkturprogramm ist also mehr als nur eine Re- und der Umkehrung der Kräfteverhältnisse innerhalb der aktion auf die direkten Konsequenzen der Wirtschaftskrise EU und der Eurozone eine Alternative zur ausschließlichen infolge des allgemeinen Lockdowns in vielen Mitgliedstaa- Zusammenarbeit mit Deutschland zu finden. Vergessen ten (insbesondere Spanien und Italien): Zumindest teilweise werden darf jedoch nicht, dass es ein deutsch-französischer soll dieses auch eine Antwort auf das wirtschaftliche und Vorschlag war, der nun den Kern des europäischen Kon- soziale Ungleichgewicht in Europa sein. Die beschlossene junkturpakets bildet. Dies beweist, dass eine ausschließlich sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität knüpft die Bereit- auf die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Interessen der stellung von Finanzhilfen an die Ausarbeitung nationaler Mitgliedstaaten fixierte Lesart zu kurz greift: Die entschei- »Aufbau- und Resilienzpläne«, die mit den nationalen Re- denden Neuerungen dieses europäischen Konjunkturpro- formplänen des Europäischen Semesters in Einklang stehen gramms vermag sie nicht zu erklären. müssen. Sie greift damit einen schon 2012 im sogenannten Bericht der Präsidenten3 vorgeschlagenen Entwurf auf: Die 1.2 Das Umschwenken »Nordeuropas« »Instrumente für Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit« als Ergebnis einer langfristigen Entwick- sollten insbesondere die wirtschaftliche Konvergenz wie- lung derherstellen. Das Konjunkturpaket geht also weit über die Zwar spielten Interessenkonflikte und Konfrontation in den bloße Bewältigung der verheerenden Auswirkungen von Verhandlungen zum europäischen Konjunkturprogramm Covid-19 auf die europäischen Volkswirtschaften hinaus durchaus eine Rolle, entscheidend für den Erfolg waren je- und reagiert erstmals auf die Herausforderung der divergie- doch andere Faktoren. renden Wirtschaftsentwicklungen innerhalb der EU. Dass Deutschland in der Frage gemeinsamer Schulden und Dennoch wäre es falsch, das Vorgehen Frankreichs als Ab- der notwendigen stärkeren Solidarität mit den südlichen kehr von seinen besonderen bilateralen Beziehungen zu EU-Ländern umschwenkte – und mit Deutschland auch die Deutschland zugunsten einer »Südallianz« zu interpretieren. europäischen Institutionen – passierte bei Weitem nicht so plötzlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nur kurz angerissen werden können hier die Entwicklungen in Deutschland und innerhalb der europäischen Institutio- nen der letzten zehn Jahre, welche dazu führten, dass die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Wirtschaftspoli- tik der Eurozone und der EU inzwischen anerkannt ist. In Deutschland löste die Arbeit des einflussreichen Ökonomen und Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor- schung (DIW) Marcel Fratzscher eine Debatte über die Art 2 Gemeint sind hier die Rivalitäten zwischen »Nord« und »Süd«, aber 3 van Rompuy, Herman et al.: Vers une véritable Union Economique et es gibt auch andere (z. T. ebenso tiefe) Gräben, z. B. zwischen »Ost« Monétaire. In: Europäischer Rat, 5.12.2012; www.consilium.europa. und »West«, in Wertefragen und hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit. eu/media/23805/134186.pdf. 2
Die deutsch-französische Beziehung hat ihre zentrale Bedeutung wiedererlangt 2 DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE 2. Aus der Perspektive dieser Agenda zur Umgestaltung BEZIEHUNG HAT IHRE ZENTRALE der Union stellt die deutsch-französische Beziehung ein BEDEUTUNG WIEDERERLANGT »Fundament« dar, um den von Beaune gewählten Be- griff zu verwenden. Mit anderen Worten: Deutschland In ihrer Herbstausgabe 2020 veröffentlichte die Zeitschrift spielt für Frankreich auf europäischer Ebene eine her- Politique étrangère einen Artikel des neu ernannten Staats- ausragende Rolle. Die deutsch-französische Beziehung sekretärs für europäische Angelegenheiten, Clément Be- ist in einer Union der 27 Mitgliedstaaten zwar keine aune, über die französische Vorstellung von der Zukunft hinreichende, aber eine notwendige Grundvorausset- Europas (vgl. Beaune 2020). Die Person und der Werdegang zung, um die EU für die Herausforderungen des des Autors, vormals für Europafragen zuständiger Berater 21. Jahrhunderts fit zu machen (Stichpunkte sind hier Emmanuel Macrons (seit Beginn von dessen politischer Lauf- die ökologische Wende, die Digitalisierung, das Come- bahn), verdienen besondere Aufmerksamkeit: Es kommt back der Machtpolitik und insbesondere die Konfron- selten vor, dass einer der wichtigsten Architekt_innen der tation zwischen China und den USA). Die deutsch-fran- französischen Europapolitik die Erwartungen und Absichten zösische Beziehung ist alternativlos. Auch hier setzte Frankreichs so klar artikuliert. Der Text bietet zudem einen die Wahl Macrons den stets erfolglosen Versuchen sei- Einblick in die französische Wahrnehmung der deutsch- ner Vorgänger ein Ende, eine Alternative zu Deutsch- französischen Beziehungen und ihrer Bedeutung. land zu finden (sei es Großbritannien in militärischen oder Südeuropa in wirtschaftlichen Fragen). Die 2.1 Die zentrale Stellung der deutsch- deutsch-französische Beziehung ist für Frankreich un- französischen Beziehung verzichtbar. in der f ranzösischen Europapolitik Drei Erkenntnisse lassen sich aus diesem Artikel über die 3. Frankreich betrachtet auch das Verhältnis zu Deutsch- französische Haltung zu den Beziehungen zu Deutschland land als Beziehung, die auf einer dynamischen und gewinnen. konstruktiven Auseinandersetzung über die Unter- schiede beider Länder beruht. Diese Unterschiede wer- 1. Frankreich betrachtet seine Beziehungen zu Deutsch- den akzeptiert und gelten nicht als unüberwindbar. In land in erster Linie als Teil des europäischen Projekts der deutsch-französischen Beziehung lag der französi- und im Lichte der Agenda zur Umgestaltung der Union, schen Politik des Gedenkens vormals ein starres und die Präsident Macron seit seiner Wahl verfolgt. Die einheitliches Bild von Deutschland zugrunde, wodurch deutsch-französischen Beziehungen stellen keinen verhindert wurde, dass bestehende Gegensätze über- Selbstzweck mehr dar. So erinnert Beaune zu Recht an wunden werden konnten. Dagegen muss dem derzei- die Neigung einiger Vorgänger Macrons, das Verhältnis tigen französischen Staatspräsidenten und seiner Re- zu Deutschland vor allem aus einer Erinnerungskultur gierung zugestanden werden, über ein viel besseres heraus zu pflegen. Er nennt dies eine »andauernde Fei- Verständnis des heutigen Deutschlands, seiner Funk- erlichkeit«. Dieser Sichtweise nach war die Beziehung tionsweise und seiner inneren Dynamik zu verfügen. zu Deutschland für Frankreich streckenweise wichtiger Die von Clément Beaune skizzierte übliche Vorgehens- als das europäische Projekt selbst, das nur eine Art Wei- weise in den deutsch-französischen Beziehungen (Be- terentwicklung der deutsch-französischen Aussöhnung jahung von Differenzen, bilaterale Zusammenarbeit auf darstellte. Sehr oft jedoch diente die Inszenierung der mehreren Ebenen zur Überwindung dieser Differenzen, deutsch-französischen Freundschaft nur zur Verschleie- Abschluss eines Abkommens) ist zwar altbekannt. Dass rung der Tatsache, dass Frankreich keine besonders Frankreich diese Vorgehensweise wieder zu schätzen ehrgeizigen europapolitischen Ziele verfolgte und dem weiß, ist jedoch eine positive Entwicklung und offen- europäischen Projekt sogar mit einer gewissen Zwie- bart Irrtümer früherer Regierungen. spältigkeit gegenüberstand. Von diesem mangelnden Interesse an der EU bzw. der Unkenntnis in Bezug auf Seit der Wahl Emmanuel Macrons engagiert sich Frank- ihre Funktionsweise war Frankreich zwei Jahrzehnte reich politisch also wieder stärker für seine Beziehung zu lang geprägt. Bei seinen Partnern, darunter auch Deutschland. Deutschland, sorgte dies häufig für Frustration und Un- geduld. Demgegenüber hat die klar europafreundliche 2.2 Strategische Ad-hoc-Koalitionen Positionierung des Präsidenten Emmanuel Macron die als Gegengewicht zu einem scheinbar französische Ambivalenz gegenüber dem europäischen unvorteilhaften Machtverhältnis Projekt (zumindest vorübergehend) ausgeräumt. Euro- Dass die deutsch-französische Beziehung in der französi- pa ist wichtiger Bestandteil der politischen Identität der schen Europapolitik von grundlegender Bedeutung ist, ist neuen Mehrheit in Frankreich – und bleibt dies weiter- nur ein Aspekt dieser Europapolitik. Die Suche nach Bünd- hin, trotz der Krisen, die erneut eine eher nationale nissen und Koalitionen in Abhängigkeit von Themen und Ausrichtung hätten bewirken können, seien es innen- Interessen gehört zu den von Frankreich eingesetzten Instru- politische Krisen wie die der sogenannten Gelbwesten menten der politischen Einflussnahme und wird als solches oder von außen kommende wie die Corona-Pandemie auch offen eingestanden. Interessant ist das Zusammenspiel und die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise. zwischen diesen Ad-hoc-Bündnissen und dem deutsch-fran- zösischen Verhältnis, da es von der dynamischen Heran- 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Die deutsch- französischen Beziehungen gehensweise zeugt, die Frankreich in seiner Beziehung zu 3 SCHLUSSFOLGERUNG: Deutschland zu entwickeln sucht. DROHT EIN DEUTSCH-FRANZÖSISCHES IMPERIUM? Für diese Strategie hat Frankreich zwei Gründe. So ist das deutsch-französische Verhältnis nicht wirklich eines von Dass sich Frankreich wieder mehr für Europa und für seine Gleichberechtigten. In Frankreich wird die Beziehung zu Beziehung zu Deutschland engagiert, ist begrüßenswert. Deutschland oft als asymmetrisch empfunden – dies gilt Gleiches gilt für die daraus resultierende Wiederbelebung sowohl in absoluten Zahlen (Deutschland ist die größte der deutsch-französischen Beziehungen. Allerdings darf Volkswirtschaft, der bevölkerungsreichste und größte Mit- diese besondere Beziehung die anderen 25 Mitgliedstaaten gliedstaat der EU) als auch relativ (die Wirtschaftsleistung nicht benachteiligen. Deutschlands liegt im Vergleich zur französischen eindeutig vorne). Nur im militärischen Bereich ist Frankreich klar über- Ein solches deutsch-französisches »Imperium« stellt durch- legen. Der strategische Rückgriff auf Ad-hoc-Koalitionen ist aus eine gewisse Verlockung dar, zumindest für Frankreich. für Frankreich also auch ein Mittel, um das Verhältnis zu Mit seinem Drängen auf die Bestätigung Ursula von der Deutschland wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Clément Leyens als Präsidentin der EU-Kommission beabsichtigte Beaune räumt dies zwischen den Zeilen ein, wenn er die Macron zweifelsohne, eine Art Mittlerin für seine europäi- Wichtigkeit vielfältiger bilateraler Beziehungen unterstreicht: schen Ziele und die deutsch-französischen Übereinkünfte zu sowohl um Deutschland im Einzelfall zu überzeugen als gewinnen. Dass dies zum Teil schon gelungen ist, illustriert auch um Einstimmigkeit über das Konjunkturprogramm zu die Vorstellung des Konjunkturpakets recht anschaulich: erzielen. Allerdings hat Frankreich dies nicht völlig allein in Die Kommission hatte dabei den französisch-deutschen der Hand – die jeweiligen Interessen seiner europäischen Vorschlag wortwörtlich übernommen und lediglich ergänzt. Partner dürfen hier nicht unberücksichtigt bleiben. Nichts wäre jedoch schädlicher als eine Kommission »im Zweiter Grund für diese Strategie ist, dass Frankreich eine Dienste der großen Staaten«, insbesondere in der aktuel- ehrgeizige Agenda zur Umgestaltung der EU verfolgt, die len Situation, in der die europäischen Zielsetzungen und sowohl mit dem neuen geopolitischen Kontext Europas im das europäische Projekt neu ausgerichtet werden müssen. 21. Jahrhundert als auch den französischen Interessen in Die Kommission bezieht ihre Stärke und ihre Legitimation Einklang steht. Die Agenda beinhaltet tiefgreifende Refor- daraus, dass sie die europäischen Gemeinschaftsinteressen men mehrerer europäischer Politikbereiche (u. a. Wirtschaft, vertritt – die nicht zwangsläufig mit den Interessen Deutsch- Handel, Verteidigung) und der Funktionsweise der EU. An- lands und Frankreichs übereinstimmen. Eine Vorgehens- gesichts der Fülle von Vorschlägen des französischen Präsi- weise, bei der 25 Staaten regelmäßig deutsch-französische denten hat das Ausbleiben einer Reaktion der deutschen Vorschläge abnicken müssten, wäre auf lange Sicht nicht Regierung in Paris zuweilen ernsthafte Fragen aufgeworfen: tragfähig. über das Interesse Deutschlands am Status quo einerseits sowie seine Bereitschaft, in die deutsch-französischen Be- Zwar ist die Neubelebung der Beziehung zwischen Frank- ziehungen zu investieren andererseits. Auch hier hatten die reich und Deutschland wichtig, ebenso entscheidend ist je- Ad-hoc-Kooperationen strategisch wohl zum Ziel, Deutsch- doch, dass die EU-Institutionen, allen voran die Kommission, land zu veranlassen, sich zu einem bestimmten Thema zu ihre Befugnisse und ihre Unabhängigkeit zurückerobern. Für positionieren. Ein Beispiel dafür ist die französische Bekräfti- eine EU mit 27 Mitgliedstaaten ist dies eine unerlässliche gung des Ziels der Klimaneutralität der EU bis 2050, für das Voraussetzung. Frankreich zunächst vier und später neun Mitgliedstaaten um sich scharte, bevor Deutschland sich diesem Ziel schließ- lich anschloss. Die Europapolitik Frankreichs erfährt also eine Normalisie- rung. Auch wenn dieser Ansatz der Ad-hoc-Koalitionen für Frankreich neu ist, sollte er nicht überraschen – handelt es sich doch um eine denkbar konventionelle Strategie in Zeiten, in denen die europäische Integration vielfältige politische Kooperationen erforderlich macht. Zahlreiche Mitgliedstaaten, nicht zuletzt Deutschland, bedienen sich dieser Strategie ebenfalls. Die zentrale Stellung der deutsch- französischen Beziehung in der französischen Europapolitik stellt sie dabei nicht infrage, sondern verleiht ihr Dynamik und gibt ihr bisweilen einen notwendigen Anstoß. 4
Literatur LITERATUR Beaune, Clément (2020): L’Europe, par-delà le COVID-19. In: Politique étrangère 85 (3); www.ifri.org/fr/publications/politique-etrangere/artic- les-de-politique-etrangere/leurope-dela-covid-19. Fratzscher, Marcel (2014): Die Deutschland-Illusion: Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen. Carl Hanser Verlag Gräbner, Claudius et al. (2020): Is the Eurozone disintegrating? Ma- croeconomic divergence, structural polarization, trade and fragility. In: Cambridge Journal of Economics 44 (3), S. 647–669 Hassenkamp, Milena (2020): Mehrheit der Deutschen für EU-Wieder- aufbaufonds. In: Der Spiegel (online), 21.5.2020; www.spiegel.de/politik/ deutschland/corona-krise-mehrheit-der-deutschen-fuer-eu-wiederauf- baufonds-a-a51b787a-3845-49cf-9e55-b9eda3ba98fb. Herzog, Philippe (2012): Une stratégie industrielle européenne fondée sur la coopération. In: Confrontations Europe La Revue (98), S. 2–32 Rachman, Gideon (2019): Brexit has destabilised the Franco-German couple. In: Financial Times (online), 25.11.2019; www.ft.com/con- tent/000e9634-0f63-11ea-a7e6-62bf4f9e548a Stark, Hans (2020): Après le Brexit, l’impossible tête-à-tête franco-all- emand au sein de l’UE à 27. In: ThucyBlog (online), Nr. 20, 19.3.2020; www.ifri.org/fr/publications/publications-ifri/articles-ifri/apres-brexit-lim- possible-tete-tete-franco-allemand-sein. Veld, Jan in ’t (2013): Fiscal consolidations and spillovers in the Euro area periphery and core. In: European Commission (Hrsg.): European Eco- nomy. Economic Papers 506; ec.europa.eu/economy_finance/publicati- ons/economic_paper/2013/pdf/ecp506_en.pdf. 5
IMPRESSUM ÜBER DEN AUTOR IMPRESSUM Edouard Simon ist Forschungsleiter am Institut de re- Friedrich-Ebert-Stiftung Paris cherches internationales et stratégiques (IRIS) mit einem 41 bis, bd. de la Tour-Maubourg | 75007 Paris | France Arbeitsschwerpunkt auf europäischer Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. www.fesparis.org Kontakt: fes@fesparis.org Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert- Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schrift- liche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankreich wurde Le Bras, Hervé und Warnant, Achille 1985 in Paris eröffnet. Seine Tätigkeit zielt darauf ab, unter- Ungleiches Frankreich halb der Ebene des Austauschs und der Zusammenarbeit zwi- Radiografie der sozioökonomischen schen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs eine und regionalen Disparitäten Vermittlerfunktion im deutsch-französischen Verhältnis zu erfüllen. Dabei steht im Mittelpunkt, Entscheidungsträgern Laurent, Éloi aus Politik und Verwaltung sowie Akteuren der Zivilgesell- Kommunen und sozial-ökologische Wende schaft Gelegenheit zu geben, sich zu Themen von beidersei- Erfahrungen aus Frankreich tigem Belang auszutauschen und die Probleme und Heraus- forderungen, die die jeweils andere Seite zu bewältigen hat, Bréchon, Pierre kennenzulernen. Deutsche und französische Partner der FES Die Werte der Franzosen können dadurch zu gemeinsamen Positionen insbesondere Entwicklungen, die Anlass zu Optimismus geben, Paris, 2020 zur europäischen Integration gelangen und bei der Formu- lierung von Lösungen für die jeweils eigenen Probleme auf Rossignol, Laurence; Fourtic, Yseline vorhandene Kenntnisse und Erfahrungen des Nachbarlandes Politische Parität in Frankreich zurückgreifen. Langjährige Veranstaltungsreihen sind die Was ein Gesetz kann – und was nicht, Paris, 2020 Deutsch-französischen Strategiegespräche (»Cercle stratégi- que«) über aktuelle außen- und sicherheitspolitischen The- Guillou, Antoine men, Jahreskonferenzen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Eine wirksame und gerechte CO2-Steuer Fragen (»Deutsch-Französischer Wirtschaftsdialog«) und das Paris, 2020 Deutsch-französische Gewerkschaftsforum. Gliniasty, Jean de Die Russlandpolitik Präsident Macrons Finchelstein, Gilles Paris, 2020 Sozial-ökologischer Block in Frankreich Neue Perspektiven für die Präsidentschaftwahl Rémi Lefebvre Gelbwesten und politische Repräsentation Maulny, Jean-Pierre Paris, 2019 Nach dem Brexit Europäische Sicherheitspolitik aus französischer Perspektive Fourquet, Jérôme; Manternach, Sylvain Die »Gelbwesten« Morin, Chloé; Perron, Daniel Ein Zeichen der gesellschaftlichen Spaltung Frankreichs Für einen neuen Blick auf das Älterwerden Paris, 2019 Überlegungen im Nachgang der Covid-Krise in Frankreich Finchelstein, Gilles Bellais, Renaud Profil der Anhänger von La République en Marche Dienstpflicht statt Wehrpflicht Paris, 2019 Der Service national universel in Frankreich Finchelstein, Gilles Profil der Anhänger der Sozialistischen Partei Paris, 2019 Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten Im Zuge der Verhandlungen über eine Die zeitweise Annäherung Frankreichs Dass das EU-Rettungspaket letztlich auf solidarische Antwort der EU auf die an die Position der »Südländer«, die ge- einen deutsch-französischen Vorschlag durch die Corona-Pandemie aufgewor- genüber den auf Sparsamkeit behar- zurückgeht, verweist dagegen auf eine fenen wirtschaftlichen und sozialen He- renden »Nordländern« mehr Solidarität Wiederbelebung des deutsch-französi- rausforderungen traten unter den Mit- einforderten, rief Erwartungen an eine schen Tandems. Dieses muss allerdings gliedssaaten tiefe Interessengegensätze dauerhafte Veränderung der Kräftever- vermeiden, die eigenen Interessen mit und neue Interessenkoalitionen zu Tage, hältnisse in der EU sowie eine Schwä- den europäischen Gemeinschaftsinter- die die Handlungsfähigkeit der EU zu chung der deutsch-französischen Bezie- essen gleichzusetzen und von den an- schwächen drohten. hungen als Motor des europäischen deren Mitgliedsstaaten als zu dominant Projektes hervor. wahrgenommen zu werden. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: www.fesparis.org
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