Folgen der Corona-Krise für die sozialen Sicherungssysteme im Ländervergleich

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Folgen der Corona-Krise für die sozialen Sicherungssysteme im Ländervergleich
Datum: 2. Oktober 2020

Folgen der Corona-Krise für die sozialen
Sicherungssysteme im Ländervergleich
Kerstin Bruckmeier, Regina Konle-Seidl

Ähnlich wie in Deutschland hat die Corona-Krise auch in anderen Ländern Lücken in der
sozialen Absicherung bestimmter Beschäftigtengruppen offenbart. Um diese in der Krise
besser zu schützen, wurde eine Reihe von Sozialleistungen länderübergreifend ausgeweitet.
Gleichwohl besteht auch über die Krise hinaus Handlungsbedarf. So bedarf es etwa in
Deutschland vor allem einer grundlegenden Reform der Minijobs und einer besseren
Absicherung von Solo-Selbstständigen.

Die Corona-Krise wirkt in vielen Bereichen wie ein Brennglas, unter dem bereits vorhandene
Probleme noch deutlicher als zuvor sichtbar werden. So offenbart sie Schwächen, vor allem in
der sozialen Absicherung von atypisch Beschäftigten und (Solo-)Selbstständigen –
Schwächen, die es in vielen Ländern der Europäischen Union (EU) zu beklagen gibt.

Im Folgenden werden nach einer Beschreibung der Entwicklung bei der atypischen
Beschäftigung die in fünf ausgewählten EU-Ländern ergriffenen Sofortmaßnahmen zur
Einkommenssicherung im Überblick dargestellt. Neben Deutschland sind dies Frankreich,
Finnland, Italien und das Vereinigte Königreich – Länder, die unterschiedliche

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https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                           ndervergleich/ | 1
Folgen der Corona-Krise für die sozialen Sicherungssysteme im Ländervergleich
Datum: 2. Oktober 2020

Wohlfahrtsstaatsmodelle repräsentieren. Anschließend wird die Frage erörtert, welche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im internationalen Vergleich zeigen und welcher
Anpassungsbedarf in den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland – auch über die Krise
hinaus – möglicherweise besteht.

Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Formen und
Verbreitung im Ländervergleich
In allen europäischen Ländern ist die Bedeutung unterschiedlicher Erwerbsformen jenseits
der klassischen unbefristeten Vollzeitbeschäftigung in den letzten Jahrzehnten gewachsen.
Allerdings ist der Anteil an atypisch Beschäftigten seit der letzten Wirtschaftskrise 2008/2009
im EU-Durchschnitt, mit Ausnahme von Teilzeitarbeit und sehr kurzfristigen
Beschäftigungsverhältnissen, kaum mehr angestiegen. In einigen Ländern war er sogar
rückläufig (siehe Abbildung 1).

In Deutschland ist vor allem Teilzeitbeschäftigung weit verbreitet. Der Anteil regulärer
Teilzeitbeschäftigter steigt weiter an, während die Zahl der ausschließlich geringfügigen
Teilzeitbeschäftigten, sogenannte Minijobber, seit 2015 sinkt.

Auch der Anteil der befristet Beschäftigten ist seit 2017 rückläufig. Nach Angaben des
europäischen Labour Force Surveys waren im Jahr 2019 noch gut 10 Prozent aller
Erwerbstätigen in Deutschland befristet beschäftigt. In dieser Statistik werden auch
Ausbildungsverhältnisse und befristet beschäftigte Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer
als befristet beschäftigt („temporary employed“) erfasst. In der Regel ist der Vertrag mit der
Leiharbeitsfirma in Deutschland allerdings unbefristet. So waren im Jahr 2019 knapp 60
Prozent aller von Leiharbeitnehmern aufgenommenen sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisse unbefristet.

Sehr kurzfristige Beschäftigungsverträge mit einer Dauer von unter drei Monaten spielen in
Deutschland hingegen kaum eine Rolle. In Frankreich und Finnland hingegen sind diese mit 5
beziehungsweise 4 Prozent aller Erwerbstätigen deutlich stärker verbreitet. Im Vereinigten
Königreich und vor allem in Italien wiederum sind vor allem Solo-Selbstständige eine sehr
häufige Form von atypischer Beschäftigung (siehe Abbildung 1).

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Datum: 2. Oktober 2020

Forderungen nach einer besseren sozialen Absicherung von atypisch Beschäftigten haben die
sozialpolitischen Debatten und Reformen in vielen europäischen Ländern schon während der
letzten Jahre geprägt. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass international neue Formen
der Arbeitszeitflexibilisierung an Bedeutung gewonnen haben, beispielsweise die „Arbeit auf
Abruf“ (Zero Hour Contracts).

Plattformarbeit und flexible Arbeitsverhältnisse

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Datum: 2. Oktober 2020

gewinnen an Bedeutung
Verstärkt durch die voranschreitende Digitalisierung sind auch Tätigkeiten in der
Plattformökonomie oder freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Werk- oder
Dienstverträgen in den Blickpunkt gerückt. Sie rangieren zwischen abhängiger Beschäftigung
und Selbstständigkeit.

Im Vergleich zu den herkömmlichen Formen atypischer Beschäftigung ist die statistische
Erfassung dieser als flexibel bezeichneten Arbeitsverhältnisse allerdings schwieriger. Eine
Umfrage unter Internetnutzenden zwischen 16 und 74 Jahren in 16 EU-Ländern im Jahr 2018
lässt allerdings vermuten, dass nur circa 1,4 Prozent der Erwerbstätigen hauptsächlich in der
Plattformökonomie tätig sind. Weitere 4,1 Prozent erwirtschaften zwischen 25 und 50 Prozent
ihres Einkommens durch digitale Aufträge, wie eine 2020 erschienene Studie von Cesira Urzì
Brancati und Kollegen zeigt.

Bei Arbeit auf Abruf gaben 4,5 Prozent der im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panels
(SOEP) 2016 befragten Beschäftigten an, derartige Tätigkeiten auszuüben. Ähnliche
Größenordnungen gibt es in anderen EU-Staaten. In den Niederlanden sind 6,4 Prozent
(2016), in Großbritannien 3,2 Prozent (2018) und in Finnland 4 Prozent (2015) der
Beschäftigten in ähnlichen Arbeitsverhältnissen tätig. Dies zeigt eine Auswertung von Nikhil
Datta, Gulia Giupponi und Stephan Machin aus dem Jahr 2019.

Diese Beschäftigungsverhältnisse sind allerdings im Ländervergleich arbeitsrechtlich
unterschiedlich reguliert und auch unterschiedlich sozial abgesichert. Hierzulande sind
Beschäftigte, die Arbeit auf Abruf verrichten, arbeitsrechtlich geschützt und mit Ausnahme
von Minijobs auf Abruf regulär sozialversicherungspflichtig beschäftigt, während „Zero Hour
Contracts“ beispielsweise im Vereinigten Königreich als prekäre Beschäftigungsform gelten.

Absicherung von Nichtstandard-Arbeitnehmern in der
Krise
Etwaige Lücken bei der Absicherung von Erwerbstätigen, die ihre Beschäftigung verlieren,
können auf mehreren Ebenen auftreten. In Deutschland, Frankreich, Italien, Finnland und
dem Vereinigten Königreich gibt es ein zweistufiges Sicherungssystem. In diesem stellt eine
der Grundsicherung oder Arbeitslosenhilfe vorgelagerte Arbeitslosenversicherung die erste
Säule des Unterstützungssystems für Arbeitslose dar. Sie finanziert sich in der Regel durch
die Beiträge von Arbeitgebern und Beschäftigten, teilweise auch über staatliche Zuschüsse
wie in Finnland. Die Arbeitslosenversicherung unterscheidet im Allgemeinen nicht zwischen

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verschiedenen Beschäftigungsformen innerhalb der Versichertengemeinschaft. Grundsätzlich
steht sie auch befristet Beschäftigten oder Teilzeitbeschäftigten offen, sofern diese Beiträge
einzahlen.

In den meisten Ländern sind bestimmte Rahmenfristen und Anwartschaftszeiten
(Mindestbeschäftigungszeiten) Voraussetzung für den Bezug von Leistungen. Diese variieren
von Land zu Land erheblich. Während in Deutschland Beschäftigte in den letzten 30 Monaten
vor der Arbeitslosmeldung mindestens 12 Monate beschäftigt sein mussten, sind dies in
Frankreich 6 Monate innerhalb der letzten 24 Monate. Auch die Bezugsdauer variiert
erheblich: Während in Großbritannien nur sechs Monate lang Arbeitslosengeld als
Versicherungsleistung gewährt wird, sind es in Deutschland im Regelfall 12 Monate und in
Frankreich 24 Monate.

Bei denjenigen, die nur kurze Zeit beschäftigt waren oder einen befristeten Vertrag haben,
besteht das Risiko, dass sie die Anspruchskriterien nicht erfüllen können. Dies traf in
Deutschland auf rund ein Drittel der Personen zu, deren versicherungspflichtige
Beschäftigung in den Jahren 2016 oder 2017 endete. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie
von Gesine Stephan, die als IAB-Kurzbericht 9/2019 erschienen ist. Selbst wenn diese
Personen einen Anspruch auf Arbeitslosengeld hätten, reichen die gewährten Leistungen
nicht immer zur Sicherung des Lebensunterhalts aus – etwa, wenn sie zuvor geringe Löhne
bezogen haben oder teilzeitbeschäftigt waren.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass dieser Personenkreis ohne jegliche soziale Absicherung ist.
Je nach Bedarf im Haushaltskontext haben sie Anspruch auf ergänzende
Grundsicherungsleistungen in Form von Arbeitslosengeld II. Die Simulationsrechnungen des
IAB zeigen: Durch kürzere Anwartschaftszeiten in der Vergangenheit hätten zwar mehr neue
Arbeitslose Anspruch auf Arbeitslosengeld. Voraussichtlich wäre es aber nur einem Teil dieser
Arbeitslosen gelungen, ihren Lebensunterhalt dadurch tatsächlich zu decken. Der andere Teil
hätte trotzdem ergänzend Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen müssen, da das
versicherungsbasierte Arbeitslosengeld nicht ausgereicht hätte.

Selbstständige sind häufig nicht ausreichend
abgesichert
Eine größere Gruppe, bei denen die Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung meistens
nicht gegeben ist, sind Selbstständige – beispielsweise selbstständige Kleinunternehmer, oft
Solo-Selbstständige ohne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie erzielen häufig nur geringe
Einkommen und sind daher bei einem starken Rückgang oder Ausfall von Aufträgen und

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Datum: 2. Oktober 2020

fehlender Unterstützung durch andere Haushaltsmitglieder nicht ausreichend abgesichert.
Wie in Deutschland sind in den meisten EU-Ländern Selbstständige traditionell nicht in der
Arbeitslosenversicherung pflichtversichert. Allerdings ist in den meisten Ländern eine
freiwillige Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung möglich.

Hierzulande ist eine freiwillige Versicherung für Gründerinnen und Gründer möglich.
Allerdings wurde die freiwillige Versicherung 2018 nur von rund 4 Prozent genutzt. Im
Vereinigten Königreich gibt es keine Zugangswege für Selbstständige in die staatliche
Arbeitslosenversicherung. In Italien sind sogenannte „scheinabhängige Arbeitnehmer“ durch
einen spezifischen Fonds (Gestione Seperata) abgesichert. Anders als in Deutschland,
umfasst die Künstlersozialversicherung in Frankreich (Intermittents du spectacle) auch
spezifische Regelungen bei Arbeitslosigkeit.

Nicht abgesichert in der Arbeitslosenversicherung sind Erwerbstätige, die (freiwillig oder
unfreiwillig) keine Beiträge bezahlen. In Deutschland sind dies zum Beispiel geringfügig
Beschäftigte mit Verdiensten bis 450 Euro – sogenannte Minijobber. Ihre Zahl belief sich im
Jahr 2019 auf 4,57 Millionen. Bei dieser in Europa nur noch in Österreich vorhandenen Form
der Teilzeitbeschäftigung sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der
Sozialversicherungspflicht und der Einkommensteuer befreit. Abgesichert werden die
ausschließlich geringfügig Beschäftigten durch andere Einkommenstransfers, zum Beispiel
Arbeitslosengeld II oder durch andere Haushaltsmitglieder, beispielsweise durch das
Einkommen des Partners oder der Partnerin.

In Finnland ist die freiwillige Mitgliedschaft in einem Arbeitslosenfond Voraussetzung, um das
einkommensabhängige Arbeitslosengeld zu erhalten. Im Jahr 2015 waren circa 90 Prozent
aller Beschäftigten Mitglied in einem Arbeitslosenfonds.

Die Grundsicherungssysteme in Deutschland und dem
Vereinigten Königreich sind im internationalen
Vergleich sehr umfassend
Arbeitslose, die nicht oder nicht ausreichend über die Arbeitslosenversicherung abgesichert
sind oder deren Anspruch ausgelaufen ist, können in allen hier betrachteten Ländern
nachrangige bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen beantragen. Diese Leistungen können
entweder als Arbeitslosenhilfe ausschließlich Arbeitslosen gewährt werden wie zum Beispiel
das Basisarbeitslosengeld in Finnland oder – wie in Deutschland – in ein
Grundsicherungssystem integriert sein. Leistungen werden dann unabhängig vom

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Arbeitslosigkeitsstatus all denjenigen gewährt, die eine bestimmte Einkommensgrenze
bezogen auf den gesamten Haushalt unterschreiten.

Die Grundsicherungssysteme sind in den europäischen Mitgliedsstaaten unterschiedlich stark
ausgebaut. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland und der Universal Credit
im Vereinigten Königreich sind Beispiele für zwei sehr umfassende Grundsicherungssysteme.
Sie sichern auch Selbstständige oder Geringverdiener bei geringem (Haushalts-)Einkommen
ab. In Italien wurde hingegen erstmals im Jahr 2019 eine landesweit verfügbare
bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung (Reddito di Cittadinanza) eingeführt.

Atypisch Beschäftigte arbeiten häufig in den von
Corona besonders betroffenen Branchen
Im Zuge der Covid-19-Krise hat die Absicherung atypisch Beschäftigter besondere
Aufmerksamkeit erhalten. Denn Teilzeitbeschäftigte, Selbstständige und befristet
Beschäftigte (einschließlich Leiharbeitnehmenden) sind überproportional in Sektoren
beschäftigt, die unmittelbar von den Eindämmungsmaßnahmen betroffen waren oder sind.
Dazu zählen das Hotel- und Gastgewerbe, in manchen Ländern wie Italien das Bau- und
Immobiliengewerbe, die Kultur- und Unterhaltungsindustrie sowie der Groß- und
Einzelhandel.

Atypisch Beschäftigte machen im Durchschnitt der europäischen Länder rund 40 Prozent der
Beschäftigung in diesen Sektoren aus. In Italien, den Niederlanden, Spanien und
Griechenland erreichen sie sogar mehr als 50 Prozent. In Deutschland liegt dieser Anteil
ebenfalls über 40 Prozent. Dies zeigen Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2020.

In Deutschland arbeiten fast 60 Prozent der atypisch Beschäftigten in den besonders
betroffenen Sektoren in Teilzeit – ein im internationalen Vergleich relativ hoher Anteil (siehe
Abbildung 2). Dazu zählen allerdings auch geringfügig Beschäftigte (Minijobber).

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Viele Länder haben den Zugang zu Kurzarbeit auf
atypisch Beschäftigte erweitert
Kurzarbeitergeld oder vergleichbare Leistungen sind in nahezu allen europäischen Ländern in
der aktuellen Krise das Mittel der Wahl, um die betroffenen Beschäftigten vor allzu großen
Einkommensverlusten und vor allem vor Arbeitslosigkeit zu schützen. In Ländern ohne
traditionelle Kurzarbeitsprogramme wie in Großbritannien oder Finnland wurden ähnlich
gelagerte zeitlich befristete Sonderprogramme aufgelegt. Diese werden aus dem allgemeinen
Steueraufkommen finanziert und haben keinen direkten Bezug zum
Arbeitslosenversicherungssystem.

In Deutschland müssen die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitskräfte in jedem Fall in einem
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis stehen, da während der Kurzarbeit die
Leistungen üblicherweise aus dem allgemeinen Beitragsaufkommen der
Arbeitslosenversicherung finanziert werden (einen Überblick bietet der IAB-Forschungsbericht

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Datum: 2. Oktober 2020

4/2020). Deshalb können Minijobber im Gegensatz zu regulär Teilzeitbeschäftigten in der
Regel kein Kurzarbeitergeld beziehen.

Anders als in der Finanzkrise 2008/2009 haben viele Länder den Zugang zu Kurzarbeitergeld
auf mehr Beschäftigungsgruppen und Wirtschaftssektoren ausgedehnt, um auch
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abzusichern, die bisher keinen Anspruch hatten. So
haben beispielsweise in Deutschland inzwischen auch Leiharbeitnehmende Anspruch auf
Kurzarbeitergeld. In Frankreich wurden neben Leiharbeitnehmenden auch Hausangestellte, in
Italien und Großbritannien auch Arbeiter auf Abruf in die jeweiligen Kurzarbeitsprogramme
einbezogen (siehe Infokasten).

Temporäre Maßnahmen zur sozialen Absicherung von Erwerbstätigen
in der Corona-Krise in ausgewählten Ländern

Sofortprogramm für Solo-Selbstständige

     Deutschland (DEU): Soforthilfen; Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) für bis zu 5
     (10) Vollzeitbeschäftigte; ein einmaliger Zuschuss für 3 Monate bis zu 9.000 Euro,
     (15.000 Euro) bei bis zu 5 (10) Vollzeitbeschäftigten
     Frankreich (FRA): Solidaritätsfonds, Arbeitslosengeld unter bestimmten Bedingungen
     Finnland (FIN): Arbeitslosengeld bei Einkommen < 1.090 Euro
     Italien (IT): Zulagen in Höhe von 500-1.000 Euro im März und April auch für
     Saisonarbeiter
     Vereinigtes Königreich (UK): Self-Employment Income Support Scheme (SEISS):
     Zuschuss von 80 Prozent der entgangenen Umsätze bis zu einem Höchstbetrag von
     2.500 Pfund pro Monat für 3 Monate

Einführung/Ausdehnung von Kurzarbeit auf

     DEU: Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer
     FRA: Leih- und Saisonarbeiterinnen und -arbeiter, Hausangestellte und
     Kinderbetreuende, Handelsvertreterinnen und Handelsvertreter
     IT: Beschäftigte auf Abruf, Hausangestellte, Ausdehnung auf alle Wirtschaftssektoren
     UK: Beschäftigte mit Zero-hour-Verträgen

Arbeitslosenversicherung

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Datum: 2. Oktober 2020

     DEU: Bezugsdauer um drei Monate verlängert
     FRA: Reduzierte Mindestbeitragszeiten; temporäre Nichtanrechnung auf
     Höchstbezugsdauer
     FIN: Reduzierte Mindestbeitragszeiten; temporäre Nichtanrechnung auf
     Höchstbezugsdauer
     IT: Bezugsdauer um zwei Monate verlängert

Bedarfsgeprüfte Hilfesysteme

     DEU: Zeitlich befristete Aussetzung der Vermögensprüfung und Anerkennung und
     Erstattung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft als angemessen; Notfall-
     Kinderzuschlag
     UK: Erhöhung der Einkommensobergrenze, Erhöhung des monatlichen Regelsatzes um
     rund 100 Pfund.

In allen Ländern gab es schon vor Corona Lücken bei der Absicherung von
Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmern sowie freiberuflich Tätigen. In der Krise
haben deshalb alle fünf Länder zeitlich befristete Maßnahmen eingeführt, um diese Gruppe
besser zu unterstützen. Die einschlägigen Sofortprogramme unterscheiden sich jedoch bei
den Anspruchsvoraussetzungen und bei der Leistungshöhe deutlich voneinander (siehe
Infokasten).

Vier der fünf Vergleichsländer haben zudem zeitlich befristete Anpassungen im
Arbeitslosenversicherungssystem vorgenommen, um bei Arbeitsplatzverlust den geringeren
Chancen auf Wiederbeschäftigung Rechnung zu tragen. In Finnland und Frankreich wurden
die Mindestbeitragszeiten halbiert. Außerdem haben diese beiden Länder die Bezugsdauer
für das Arbeitslosengeld faktisch verlängert, indem die Zeiten des Leistungsbezugs während
der Krise temporär nicht auf die Anspruchsdauer angerechnet werden. Auch in Italien wurde
der Bezug von Arbeitslosengeld um zwei Monate verlängert. In Deutschland verlängerte die
Bundesregierung zeitlich befristet die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um drei Monate.

In Ländern mit einem stark ausgebauten Grundsicherungssystem wie im Vereinigten
Königreich (Universal Credit) oder Deutschland (Grundsicherung für Arbeitsuchende) wurden
auch Maßnahmen im nachgelagerten bedürftigkeitsgeprüften Sicherungssystem ergriffen.
Ziel dieser Maßnahmen ist es, den Zugang zu Sozialleistungen für Gruppen zu erleichtern, die
nicht unter die Kurzarbeiterregelungen fallen oder bei Arbeitsplatzverlust keinen Anspruch
auf Arbeitslosengeld haben.

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https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
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Datum: 2. Oktober 2020

Großbritannien hat die Obergrenze für Sozialleistungen gelockert und den Regelsatz um
knapp 100 Pfund erhöht. In Deutschland hat die Bundesregierung unter anderem die
Vermögensprüfung in der Grundsicherung temporär ausgesetzt. Mit dem „Notfall-
Kinderzuschlag“ wurde zudem der Zugang zum Kinderzuschlag für Familien mit geringem
Einkommen von April bis Ende September 2020 erleichtert.

Kurzfristige Auswirkungen der Pandemie in
Deutschland: Viele Kurzarbeitende, aber auch mehr
Arbeitslose
Die langfristigen Folgen der durch die Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise können jetzt
noch nicht abgeschätzt werden. Zu unsicher ist die weitere Entwicklung. Für die ersten
Monate der Eindämmungsmaßnahmen liegen allerdings bereits Arbeitsmarktzahlen vor: Im
Mai (April) wurde laut Hochrechnung der Bundesagentur für Arbeit für 5,8 Millionen (6,0
Millionen) Beschäftigte in gut 500.000 Betrieben Kurzarbeitergeld bezahlt. Zuletzt ist die Zahl
der Kurzarbeiter im Juni auf 5,4 Millionen zurückgegangen. Auch weil die Betriebe Kurzarbeit
intensiv nutzten, stieg die Arbeitslosigkeit bisher nur moderat.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit dürfte die Corona-Krise die Zahl der Arbeitslosen
bis August 2020 um schätzungsweise 637.000 erhöht haben („Corona-Effekt“). Die Zunahme
der Arbeitslosigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverlustes geht überwiegend auf einen
Anstieg der im Rechtskreis der Arbeitslosenversicherung (SGB III) registrierten Arbeitslosen
zurück. Somit erfolgt die Einkommenssicherung neben dem Kurzarbeitergeld bisher
hauptsächlich durch die Arbeitslosenversicherung: Im Juni stieg die Zahl der
Arbeitslosengeldempfänger um etwa 350.000 (+50 %) gegenüber Juni 2019 auf etwas mehr
als eine Million.

Da Minijobber kein Arbeitslosengeld erhalten, meldet sich erfahrungsgemäß auch nur ein
geringer Anteil von ihnen arbeitslos, weshalb im Juni (April) lediglich 1.900 (3.800) ehemals
geringfügig Beschäftigte in der Arbeitslosenstatistik neu registriert wurden. Tatsächlich ist
davon auszugehen, dass weitaus mehr Minijobber ihre Beschäftigung verloren haben,
darunter Schüler, Studenten und Rentner. Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnten
Beschäftigten hat sich im Juni 2020 nach Hochrechnungen der Statistik der Bundesagentur
für Arbeit im Vorjahresvergleich um 346.000 oder 7,4 Prozent verringert. Der Rückgang der
geringfügig Beschäftigten im Nebenjob fiel mit 8,5 Prozent noch höher aus.

Der Grundsicherung für Arbeitsuchende kommt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der

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Datum: 2. Oktober 2020

Absicherung von Erwerbstätigen in der Krise zu, wenngleich das Ausmaß der
Inanspruchnahme nicht mit den Leistungen des SGB III vergleichbar ist. Im Juni waren gut
200.000 mehr Arbeitslose in der Grundsicherung gemeldet (+14 %).

Tatsächlich geht die Grundsicherung über die Absicherung von Arbeitslosen hinaus und
unterstützt zahlreiche weitere Gruppen. In der Krise gehören dazu insbesondere Bezieher von
Kurzarbeitergeld, die unter das in der Grundsicherung festgelegte Mindesteinkommen fallen,
sowie Selbstständige.

Auswertungen der Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur Meldedauer von
Grundsicherungsbeziehenden legen nahe, dass zwischen April und Juni 2020 im
Vorjahresvergleich etwa 73.000 mehr abhängig Beschäftigte in der Grundsicherung
registriert wurden. Bei den Selbstständigen betrug der Anstieg gegenüber dem
Vorjahreszeitraum circa 60.000 Personen.

Müssen die sozialen Sicherungssysteme langfristig
angepasst werden?
Durch die Sofortmaßnahmen, die ergriffen wurden, und insbesondere die Ausdehnung des
Kurzarbeitergeldes auf Teile der atypisch Beschäftigten konnte verhindert werden, dass sich
die Segmentierung zwischen Beschäftigten in regulären Jobs und solchen in atypischer
Beschäftigung weiter verstärkt.

Dennoch hat die Krise vorher schon bekannte Lücken des sozialen Sicherungssystems noch
einmal deutlicher hervortreten lassen. Perspektivisch stellt sich die Frage, welche der
außerordentlichen Krisen-Maßnahmen zur sozialen Absicherung Beschäftigter auch nach der
Krise beibehalten werden sollten.

Minijobs bewähren sich in der Krise nicht
Im deutschen versicherungsbasierten Arbeitslosengeld- und Kurzarbeitergeld-System sind
Minijobber häufig Verlierer der Krise. Da sie weder Arbeitslosengeld bekommen noch durch
das Kurzarbeitergeld in Beschäftigung gehalten werden, erleiden sie oft
Einkommenseinbußen, wenn sie ihre Arbeit verlieren.

Damit Minijobber Zugang zu Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld bekommen, müssten die
spezifischen Steuer- und Abgabenregelungen von Minijobs abgeschafft und diese
sozialversicherungspflichtiger Arbeit gleichgestellt werden. Jede Stunde Arbeit wäre dann voll

                                                                                     Quelle:
https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 12
Datum: 2. Oktober 2020

sozialversicherungs- und steuerpflichtig.

Allerdings ist zu bedenken: Selbst wenn Minijobber Zugang zur Arbeitslosenversicherung
hätten, wäre die Leistung nicht existenzsichernd. Fraglich ist zudem, ob alle Minijobber
besonders schutzbedürftig sind. Viele dürften durch den Partner oder die Partnerin oder
andere Sozialleistungen abgesichert sein.

Gleichzeitig sind Minijobs nicht nur aufgrund mangelnder finanzieller Absicherung
problematisch, sondern auch aus gleichstellungspolitischen Gründen. Minijobs „pur“ werden
mehrheitlich von Frauen ausgeübt. Sie entwickeln sich beruflich häufig zur Sackgasse, da sie
kaum Aufstiegschancen bieten und ungeeignet sind, um eine eigenständige wirtschaftliche
Absicherung und den Aufbau hinreichender Rentenansprüche zu ermöglichen. Aufgrund der
steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Sonderstellung lohnt sich zudem eine
Erhöhung der Arbeitszeit meist nicht.

Wer die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung
stärken will, müsste die Äquivalenz von Beiträgen und
Leistungen aufbrechen
Stärker als in anderen EU-Ländern ist das deutsche System von der Versicherungslogik
geprägt, also einer engen Verknüpfung von Beiträgen und Leistungen. Nach dieser Logik
müsste aus einer Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auch eine Erhöhung des
Arbeitslosengeldes folgen. Andernfalls würde das Kurzarbeitergeld zu einem verlängerten,
großzügig ausgestatteten Arbeitslosengeld werden.

Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld sind also zusammenhängende Systeme. Sie sollen die
kurzfristigen Einkommensrisiken aufgrund von Arbeitsausfall abfedern, ohne zugleich den
Anreiz zu mindern, die Arbeit im bisherigen oder einem anderen Betrieb möglichst rasch
wieder aufzunehmen. Die zeitlich befristete Erhöhung des Kurzarbeitergeldes nach dem
vierten und siebten Monat wurde deshalb mit einer Besserstellung von
Arbeitslosengeldbeziehenden verbunden, indem das Arbeitslosengeld zeitlich befristetet um
drei Monate verlängert wurde.

Eine Ausweitung des Systems der Arbeitslosenversicherung würde in der Folge die
Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen aufbrechen. Durch kürzere
Mindestbeschäftigungszeiten könnten mehr atypisch Beschäftigte in die
Arbeitslosenversicherung einbezogen und die Leistungsdauer ausgedehnt werden.

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https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 13
Datum: 2. Oktober 2020

Die Diskussion um eine Ausweitung des Empfängerkreises der Arbeitslosenversicherung
wurde hierzulande bereits vor der Krise geführt. Berechnungen des IAB zeigen: Insbesondere
kürzere Anwartschaftszeiten von 4 Monaten innerhalb einer Rahmenfrist von 36 Monaten
würden auch solchen Personen den Zugang zum Arbeitslosengeld eröffnen, die sonst nie eine
Gegenleistung für ihre Beitragszahlungen erhalten (näheres zur Studie können Sie im IAB-
Kurzbericht 9/2019 nachlesen).

Andererseits würden aber Personen, die nur ab und zu kurz beschäftigt sind und dann
regelmäßig erworbene Ansprüche einlösen, überproportional von der
Arbeitslosenversicherung profitieren. Allerdings würde eine kürzere Anwartschaftszeit nach
dem Äquivalenzprinzip auch zu relativ kurzen Anspruchsdauern führen. Somit ließe sich der
Bezug von Arbeitslosengeld II in diesen Fällen kaum vermeiden.

Neben Gerechtigkeitsüberlegungen sind auch Anreizprobleme nicht außer Acht zu lassen.
Erleichterte Zugangsbedingungen zur Arbeitslosenversicherung können höhere
Anspruchslöhne und damit mehr Arbeitslosigkeit nach sich ziehen.

Der erleichterte Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung durch kürzere
Mindestbeschäftigungszeiten birgt zudem die Gefahr einer Verringerung der
Beschäftigungswahrscheinlichkeit. Dies zeigt die Evaluation einer Reform der
Zugangsvoraussetzungen durch Laura Khoury und Co-Autoren in Frankreich. Die
Mindestbeschäftigungszeit war im April 2009 von 6 Monaten (innerhalb der letzten 22
Monate) auf 4 Monate (innerhalb der letzten 28 Monate) verkürzt worden.

Selbstständige müssen besser abgesichert werden
Die Corona-Krise hat für eine zweite Gruppe Lücken in der Absicherung deutlich gemacht: die
der Selbstständigen, insbesondere der Solo-Selbstständigen. In den vergangenen 20 Jahren
ist die Zunahme beruflicher Selbstständigkeit in Deutschland fast nur auf Selbstständige
ohne weitere Beschäftigte zurückzuführen (lesen Sie hierzu auch den IAB-Kurzbericht
12/2013). Inzwischen sind laut der europäischen Arbeitskräfteerhebung die Solo-Selbststän-
digen in der Überzahl.

Bei Selbstständigen hat die Corona-Krise massive Lücken in der Absicherung gegen
unerwartete Einkommensverluste aufgezeigt. Zwar können Existenzgründerinnen und -
gründer freiwillig in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung bleiben, allerdings spielt diese
Möglichkeit fast keine Rolle mehr. So wurden 2019 nur 2.600 Selbstständige in diese
Versicherung aufgenommen. Das dürfte wohl an den als zu hoch empfundenen Beiträgen
liegen und an der Unsicherheit über die Höhe der Leistungen, wie auch Elke Jahn und Michael

                                                                                     Quelle:
https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 14
Datum: 2. Oktober 2020

Oberfichtner in einem IAB-Kurzbericht aus dem Jahr 2020 argumentieren.

Bei der derzeitigen Ausgestaltung stehen Beiträge und Leistungen nicht in einem festen
Verhältnis. Der Beitrag ist für alle Selbstständigen gleich hoch. Die Höhe des
Arbeitslosengeldes orientiert sich dagegen am erzielbaren Lohn in abhängiger Beschäftigung
und variiert mit dem früheren Arbeitseinkommen oder der beruflichen Qualifikation.

In Zukunft wird die Frage der sozialen Absicherung Selbstständiger, insbesondere Solo-
Selbstständiger weiter an Bedeutung gewinnen – etwa durch die fortschreitende
Digitalisierung, durch die sich Erwerbsformen wie Crowdworking weiter verbreiten werden.
Auf EU-Ebene werden schon länger Forderungen erhoben, Solo-Selbstständige besser sozial
abzusichern. Eine der größten Herausforderungen hierzulande besteht darin, sich darauf zu
verständigen, wie die Ausweitung der staatlichen Rentenversicherung auf alle Selbstst-
ändigen konkret ausgestaltet werden sollte.

Während die Diskussion um die Einbeziehung von Selbstständigen in die Rentenversicherung
in vollem Gange ist, sind auch in der Arbeitslosenversicherung entsprechende
Nachbesserungen nötig. Durch eine sozialversicherungsrechtliche Gleichbehandlung von
Selbstständigen und abhängig Beschäftigten könnten die dadurch entstehenden
Sicherungslücken vermieden werden.

Damit würde zudem dem Umstand Rechnung getragen, dass eine klare Grenze zwischen ab-
hängiger und selbstständiger Erwerbsarbeit immer schwerer zu ziehen ist. Mit dem Wandel
der Erwerbsformen gibt es mehr Selbstständige mit arbeitnehmerähnlichen Eigenschaften,
für die Arbeitnehmerschutzrechte häufig nicht gelten und deren soziale Absicherung oft unzu-
reichend ist. Ähnliche Entwicklungen gibt es in anderen europäischen Ländern. Ein OECD-
Bericht aus dem Jahr 2018 zu den Erfahrungen mit einer freiwilligen Arbeitslosenversicherung
in verschiedenen Ländern kommt zu der Einschätzung, dass eine freiwillige Versicherung –
unabhängig von der konkreten Ausgestaltung – nirgendwo gut funktioniert.

Diskussion um einen universellen Sozialschutz
Weitergehende Forderungen beispielsweise der OECD, den Sozialschutz universeller zu
gestalten, würden den Sozialschutz und das Arbeitsverhältnis entkoppeln. Damit gewönne
das nachgelagerte System der steuerfinanzierten Grundsicherung an Bedeutung.

Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, ob dieses universeller oder bedürftigkeitsgeprüft
ausgestaltet werden sollte. Vor der Krise wurde die Notwendigkeit eines bedingungslosen
Grundeinkommens unter anderem im Zusammenhang mit drohenden Arbeitsplatzverlusten

                                                                                     Quelle:
https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 15
Datum: 2. Oktober 2020

durch Digitalisierung diskutiert (lesen Sie dazu auch den 2019 erschienenen Beitrag
„Reformen der Grundsicherung im internationalen Vergleich“ im IAB-Forum).

Die internationale Diskussion um die Ausgestaltung sozialer Schutzsysteme hat der
Forderung nach einer bedingungslosen Grundsicherung neuen Auftrieb gegeben. Darin wäre
die gesamte Bevölkerung einbezogen, was eine große finanzielle Herausforderung für die
öffentlichen Haushalte mit sich brächte. Würde beispielsweise ein Pauschalbetrag – ohne
Erhöhung der allgemeinen Steuern – alle bestehenden Leistungen für Personen im
erwerbsfähigen Alter so ersetzen, dass keine Mehrbelastung für die öffentlichen Haushalte
entsteht, würde dies in allen OECD-Ländern zu Leistungsniveaus führen, die unterhalb der
Armutsgrenze liegen. Dies ergaben Berechnungen der OECD aus dem Jahr 2017.

Hierzulande war die Diskussion um die Zukunft der sozialen Sicherung bereits vor der Krise
stark von Gerechtigkeitsüberlegungen geprägt. Ein Beispiel ist die bessere Anerkennung von
Lebensleistungen auch in der Grundsicherung. So empfinden es viele als ungerecht, dass es
für die Höhe der SGB-II-Leistungen gleichgültig ist, wie lange Transferempfänger vorher
gearbeitet haben. Dabei wäre eine bessere Absicherung langjährig Berufstätiger, zum
Beispiel durch eine erhöhte Freistellung von Vermögen bei der Berechnung eines
Grundsicherungsanspruches, durchaus denkbar. Optionen für künftige Reformen könnten an
dieser Stelle ansetzen, ohne grundsätzlich auf Aktivierung und Unterstützung durch
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zu verzichten.

Fazit
Durch die Corona-Krise haben viele Menschen sehr schnell ihr Erwerbseinkommen ganz oder
teilweise verloren. Viele Länder haben rasch reagiert und eine Reihe von Instrumenten
eingesetzt, um diejenigen zu unterstützen, die ihre Existenzgrundlage eingebüßt haben. So
haben mittlerweile nahezu alle EU-Staaten Kurzarbeitsprogramme eingeführt. Einige
gestalteten auch ihre Arbeitslosenunterstützungs- und Grundsicherungssysteme großzügiger
und erleichterten die Zugangsvoraussetzungen.

Anpassungsbedarf in den sozialen Sicherungssystemen besteht hierzulande über die Krise
hinaus bei den geringfügig Beschäftigten (Minijobber) und bei Selbstständigen, insbesondere
Solo-Selbstständigen, die durch die fortschreitende Digitalisierung, etwa in Form von
Crowdworking, voraussichtlich weiter zunehmen werden.

Eine weitreichendere Ausdehnung der Zugangsmöglichkeiten von atypisch Beschäftigten zur
Arbeitslosenversicherung kann allerdings zur Aufgabe des Äquivalenzprinzips führen. Zudem
wäre eine Stärkung der Grundsicherung denkbar, beispielsweise durch eine bessere

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https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 16
Datum: 2. Oktober 2020

Anerkennung von Lebensleistungen von langjährig Berufstätigen etwa durch eine höhere
Freistellung von Vermögen bei der Berechnung des Grundsicherungsanspruchs.

Eine Absicherung über ein bedingungsloses Grundeinkommen ist dagegen teuer und
angesichts sinkender finanzieller Spielräume weniger denn je zu finanzieren. Darüber hinaus
widerspricht ein bedingungsloses Grundeinkommen auch dem Aktivierungsgedanken. Ziel
sollte weiterhin sein, mehr Menschen in existenzsichernde Arbeit zu bringen, statt
Arbeitslosigkeit über eine Grundsicherung ohne jede Vorbedingung zu finanzieren.

Literatur
Bruckmeier, Kerstin; Konle-Seidl, Regina (2019): Reformen der Grundsicherung im
internationalen Vergleich: neue Wege ja, Systemwechsel nein (Serie „Zukunft der
Grundsicherung“). In: IAB-Forum vom 10.7.2019.

Datta, Nikhil; Giupponi, Gulia; Machin, Stephan (2019): Zero hours contracts and labour
market policy. In: Economic Policy, Volume 34, Issue 99, S. 369–427 .

Evers, Katalin; Schleinkofer, Michael; Wießner, Frank (2013): Freiwillige
Arbeitslosenversicherung für Existenzgründer: Etwas mehr Sicherheit, IAB-Kurzbericht Nr. 12.

Jahn, Elke; Oberfichtner, Michael (2020): Freiwillige Arbeitslosenversicherung: Nur wenige
Selbstständige versichern sich gegen die Folgen von Arbeitslosigkeit, IAB-Kurzbericht Nr. 11.

Khoury, Laura; Brébion, Clément; Briole, Simon (2019): Entitled to Leave: the Impact of
Unemployment Insurance Eligibility on Employment Duration and Job Quality.
‌halshs-02393383‌.

Konle-Seidl, Regina (2020): Kurzarbeit in Europa: Die Rettung in der aktuellen Corona-Krise?,
IAB-Forschungsbericht Nr. 4.

OECD (2020): Distributional risks associated with non-standard work: Stylised facts and policy
considerations, OECD Publishing, Paris, 12. June 2020
http://www.oecd.org/coronavirus/policy-responses/distributional-risks-associated-with-non-sta
ndard-work-stylised-facts-and-policy-considerations-68fa7d61/

OECD (2018): The Future of Social Protection. What Works for Non-standard Workers? OECD
Publishing, Paris.
http://www.oecd.org/els/the-future-of-social-protection-9789264306943-en.htm

                                                                                     Quelle:
https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 17
Datum: 2. Oktober 2020

OECD (2017): Basic Income as a policy option: Can it add up? Policy Brief on the future of
work. http://www.oecd.org/social/soc/Basic-Income-Policy-Option-2017-Presentation.pdf

Stephan, Gesine (2019): Anspruchsvoraussetzungen beim Arbeitslosengeld: Längere
Rahmenfrist hat überschaubare Auswirkungen, IAB-Kurzbericht Nr. 9.

Urzì Brancati, Cesira, Pesole, Annarosa, Fernández-Macías, Enrique (2020): New evidence on
platform workers in Europe. Results from the second COLLEEM survey, EUR 29958 EN,
Publications Office of the European Union, Luxemburg.

                                                                                     Quelle:
https://www.iab-forum.de/folgen-der-corona-krise-fuer-die-sozialen-sicherungssysteme-im-lae
                                                                          ndervergleich/ | 18
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