Die Kunst des Gehens - SINNLICH - ANARCHISCH - EIGENSINNIG - KUNSTFORUM International Bd. 266 März-April 2020
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
KUNSTFORUM International Bd. 266 März–April 2020 Die Kunst des Gehens Grenzgänger SINNLICH – ANARCHISCH – Alleingänger – EIGENSINNIG Gedankengänger
verbindet die kolonisierende Kraft der Religion mit Madrid derjenigen der Sprache, die keineswegs historisch ist. „Lerne dich selbst zu ficken“, wie der Titel auf CEIJA STOJKA Deutsch lautet, fordert in klarer Sprache dazu auf, im Anschluss an Selbsterkenntnis die Übergriffigkeit Esto ha pasado auf das Andere und den Anderen zu unterlassen. [Das ist geschehen] Die blasphemische Provokation der Bilder wird nur von der Realität selbst übertroffen, die Amorales in der Wandzeitung „Tongue of the Dead“ von 2012 Museo Reina Sofia dokumentiert. Begleitet von einem Text in unlesba- ren Zeichen zeigt er hier Reproduktionen zahlrei- 22.11.2019 – 23.03.2020 cher Fotografien von Opfern des seit 2006 andauern- den Kriegs gegen Drogen in Mexiko – unerträgliche Bilder, die für unerträgliches Leiden stehen. Diesem von Matthias Reichelt von Menschen gemachten Horror stellt er das Mo- ment der Naturkatastrophe gegenüber, genauer dem Erdbeben von 1985, das die mexikanische Hauptstadt verheerte. Lineale, deren gezackte Form an Auf- zeichnungen eines Seismografen erinnern, hängen an den Wänden und liefern als Zeichen des Chaos die Schablonen für geordnete Wandzeichnungen. Die Naturkatastrophe, positiv gedeutet, nivelliert die Hierarchien und eröffnet die Möglichkeit einer neuen Ordnung. Die Umkehrung des Negativen ins Positiven reflektiert Amorales in exakt diesem Saal mit der Rekapitulation der räuberischen Aneignung seines Evironments „Black Cloud“, das 2007 im Angeden- ken an den Tod einer seiner Großmütter entstanden war. Während sich „Black Cloud“ expansiv über vier Kabinette des Museums spannt, ein lieblicher Schwarm unzähliger, aus Papier gefalteter Motten aus Papier, erzählt „Black Cloud Aftermath“ die Aneignung dieses Werks durch die Modeindustrie, von Dior, über Dolce & Gabbana bis hin zu billigen Onlinehändlern. Anstatt zermürbender Rechtsstrei- Ceija Stojka, 1995, Foto: Christa Schnepf tigkeiten wählte Amorales diesen Weg der Approp- riation des Approbierten. Amorales, der nach seiner Rückkehr nach Mexi- Der österreichischen Malerin Ceija Stojka (1933–2013) ko das Werkstattprinzip von Andy Warhol adaptierte wurde postum eine große Ehre zuteil. Im Novem- und dort mit zahlreichen Künstlern, Technikern und ber letzten Jahres eröffnete die renommierte Reina Handwerkern die Verwirklichung seiner Ideen im Sofia, Heimstatt des Publikumsmagnets „Guernica“ Sinne einer „Factory“ betreibt, hat auch im Medium von Pablo Picasso, eine große Ausstellung mit den in- der Musik und des Klangs ebenso simple, wie deut- ternational noch eher unbekannten und figurativen liche Zeichen gesetzt. „We’ll See How All Reverber- Gemälden und Gouachen. Im Zentrum des autobio- ates“ von 2012 lädt die Besucher ein, mit Klöppeln grafischen Werkes steht die traumatische Geschichte auf Becken einzuschlagen, die Teil eines an Alexan- der Künstlerin. Dass es den Porrajmos [Romanes: das der Calder gemahnenden Mobiles sind, um damit Verschlingen], wie die Roma und Sinti den an ihnen die Ausstellungsräume entgrenzend zu beschallen. im deutschen Namen von Nazis und Helfershel- Im Ganzen eine leicht bedrückende, klaustro- fern verübten Genozid nennen, gegeben hat, davon phobische, aber überzeugende ästhetische Investiga- konnte Ceija Stojka, eine zu den Roma zählenden tion einer Zeit im elementaren Umbruch. Lovara, detailliert berichten. Knapp war sie mit der Mutter und den meisten Geschwistern der Ermor- Anlässlich der Ausstellung erschien ein Katalog in Englisch dung in Auschwitz-Birkenau entkommen, wohin sie mit Texten von Carlos Amorales, Reinaldo Laddaga und Rein Wolfs: The Factory – Carlos Amorales, ca. 224 S., 25 Euro, Ende März 1943 aus Wien deportiert worden waren. ISBN 978-90-5006-211-4. Noch vor der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ am www.stedelijk.nl 2. / 3.8.1944 sorgte die Mutter mit großem Glück und Geschick dafür, dass sie und die Kinder in andere Lager verfrachtet wurden. Der Vater war bereits 1943 309 Spanien
in Hartheim ermordet worden und Ceija Stojkas kleiner Bruder Ossi überlebte Adolf Mengeles medi- zinische „Experimente“ nicht. Der Ausstellungstitel Esto ha pasado [Das ist geschehen] klingt vor dem Hintergrund dieser traumatischen Geschichte wie ein Beharren auf den Tatsachen, als Strategie gegen die Leugner und Relativierer in Europa, für die die zwölf Jah- re unter Hitler nichts als ein „Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte sind. Mit einer unbändigen Energie hat Ceija Stojka ihr Trauma von der Seele gemalt. Während die ersten Nachkriegsjahre mit Verdrängen, Familie gründen und einer neuen Exis- tenz als Teppichhändlerin in Wien zu bewältigen 01 waren, spielten sich die grausamen Erinnerungen dennoch immer stärker in den Vordergrund und wurden nicht nur in vielen Notizbüchern festge- halten, sondern auch mit starker visueller Sprache und eigener Metaphorik in Bildern fixiert. In einem nur vage zu schätzenden Gesamtwerk von weit über 1000 Zeichnungen, Gouachen und Acrylgemälden hat Ceija Stojka in den letzten 20 Jahre ihres Lebens ihre Biografie festgehalten. In der letzten Etappe ihres Lebens wurde Ceija Stojka zu einer wichtigen Aktivistin und goss ihre Ängste in Texte: „Ich habe Angst, dass Europa seine Vergangenheit vergisst und dass Auschwitz nur schläft.“ Erste Publizität hatte Ceija Stojka durch die von der österreichischen Autorin und Filmemacherin 02 Karin Berger herausgegebenen Bücher und zwei Dokumentarfilme. Ceija Stojka war also längst keine Unbekannte mehr und präsentierte auch in vielen kleinen Ausstellungen ihre Bilder, die aber eher als „Outsider-Kunst“ und naiv gelabelt wurden. 2014 wurden postum unter dem Titel „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“ nahezu alle verfügbaren Ar- beiten der Künstlerin zum Porrajmos begleitend zu drei Ausstellungen in einem umfangreichen Buch im Verlag für moderne Kunst ediert. Zum ersten Mal fanden dafür die umfangreichen Rückseitentex- te der Künstlerin Berücksichtigung und wurden als integraler Bestandteil des Werkes bewertet und ab- gedruckt. Mit dieser Publikation erhielt das Œuvre schlagartig eine neue Aufmerksamkeit, so auch die des Mäzens und Kunstsammlers Antoine de Galbert, der das Maison Rouge in Paris bis 2018 betrieb. Für ihn konzipierten Paula Aisemberg, Xavier Marchand und Noëlig Leroux eine große Ausstellung und pu- blizierten einen eigenen Katalog mit Arbeiten Sto- jkas. Dies war ein entscheidender Schritt und Stoj- kas Werk erfuhr eine fulminante Rezeption. Diese Ausstellung tourte in leicht veränderter Fassung im Frühjahr 2019 nach Nijmegen, wo sie im Museum Het Valkhof gezeigt wurde und nun also in der Rei- na Sofia zu sehen ist. Der Ausstellungsparcour wur- de entlang der Lebens- und Leidensstationen Ceija Stojkas organisiert. Er beginnt mit Acryl-Gemälden, die Lovara mit Wohnwagen und Pferden in grüner Landschaft zeigen. Allmählich schleichen sich in die 03 310 Ausstellungen
04 Katalog (spanisch), 184 S., durchgängig farbig mit romantisierten Idyllen nach dem Anschluss Öster- Beiträgen von Gerhard Baumgartner, Philippe Cyroulnik reichs an Nazi-Deutschland die ersten Hakenkreuze. und Xavier Marchand, 25 Euro. Es folgt die Festsetzung in Wien, dann die Konzent- www.museoreinasofia.es ration in der Rossauer Lände und Ende März 1943 die Deportation nach Auschwitz. Die Leidensgeschichte setzt sich mit Ravensbrück und Bergen-Belsen fort, wo britische Soldaten die letzten Überlebenden, um- geben von Leichenbergen Verhungerter, am 15. April 1945 befreien. Die Familie trifft sich nach monatelan- gen Fußmärschen wieder in Wien. Die Reina Sofia verzichtet wohltuend darauf, die Künstlerin bereits im Titel als Romni vorzustellen und ebenso auf den fragwürdigen und aus einer paternalistischen Haltung heraus verwendeten Ter- minus der Outsider-Kunst. Leider sind in der Aus- stellung aber nur wenige Blätter von dem zentralen Zyklus zu sehen, den Ceija Stojka unter dem Titel „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“ in 18 Jah- ren schuf. Seit der letztjährigen Pariser Ausstellung 01 Ceija Stojka, Ohne Titel / Wien–Auschwitz (Sin título / Viena–Auschwitz), o.D., Acryl auf Karton, erfolgten zahlreiche Verkäufe über eine Pariser Gale- 50 × 70 cm, Sammlung Nuna und Hojda Stojka, rie, mit denen die Stojka-Erben zusammenarbeiten. Ceija Stojka Internationaler Fonds, Wien So positiv die Nobilitierung des Œuvres durch den 02 Ceija Stojka, Ohne Titel (Sin titulo), 2006, Kunstmarkt ist, wichtige Teile werden nun ausein- Acryl auf Karton, 50 × 70 cm, Sammlung Nuna und Hojda andergerissen und in alle Winde zerstreut werden. Stojka, Ceija Stojka Internationaler Fonds, Wien Um es zumindest virtuell komplett zu erfassen und 03 Ceija Stojka, 1944 Auschwitz. Wir schämen uns, 2003, der Öffentlichkeit auch für wissenschaftliche Zwe- Tinte auf Papier, 42 × 29,5 cm, Galerie Kai Dikhas, Berlin cke zugänglich zu machen, will sich der 2018 in Paris 04 Ceija Stojka, Esto ha pasado (Das ist passiert), gegründete Ceija Stojka International Fund [www. Installationsansicht, 2019, Museo Nacional Centro ceijastojka.org] kümmern. de Arte Reina Sofia, Foto: Joaquin Corés / Román Lores, © Archivfotografie des Museums Reina Sofia 311 Spanien
Sie können auch lesen