BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

Die Seite wird erstellt Ava Wunderlich
 
WEITER LESEN
BULLETIN
                               DER
                         BUNDESREGIERUNG
                             Nr. 80-5 vom 8. Juni 2021

Rede des Bundesministers des Auswärtigen,
Heiko Maas,

beim Wirtschaftstag der 19. Botschafterkonferenz
am 8. Juni 2021 als Videobotschaft:

Sie sind hauchdünn und oft kleiner als eine Briefmarke. Sie stecken in unseren Han­
dys, Autos, Kaffeemaschinen und vielem mehr. Sie bündeln Informationen, aber ge­
nauso kristallisieren sich in ihnen globale Wirtschaftstrends und auch geopolitische
Konflikte. Wahrscheinlich haben viele von Ihnen schon längst erraten, um was es geht.
Ich spreche von Halbleiterchips.

Und ich erwähne sie deshalb, weil die aktuellen Lieferengpässe bei Halbleitern eines
ganz deutlich zeigen: Globale Verflechtung macht auch verwundbar. Das ist das, was
wir in den letzten Monaten an vielen Stellen, nicht nur bei Halbleitern, gesehen haben
und auch lernen mussten. Und die große Geopolitik schlägt immer stärker auf die Ge­
schäfte von Unternehmen weltweit durch. So standen kürzlich im Ford-Werk in Saar­
louis – das ist die Ecke, aus der ich komme – vorübergehend die Bänder still, und das
nicht nur für zwei Tage, sondern für einige Wochen, weil die Pandemie und Sanktionen
aus der Trump-Zeit die Lieferketten für Halbleiter unterbrochen hatten.

Unsere Antwort kann nun nicht Abkopplung oder Protektionismus lauten. Leider dient
manchen die Krise gerade in der Beziehung auch nur als Vorwand. Aber gerade wir,
als exportorientiertes Land und offene Europäische Union, brauchen offene und wider­
standsfähige Märkte, die Arbeitsplätze schützen und immer wieder neue schaffen. Die
Antwort kann daher nur mehr internationale Zusammenarbeit lauten und nicht weniger.
Ich sehe vier zentrale Hebel auf internationaler Ebene, die wir neu justieren müssen.
Bulletin Nr. 80-5 vom 8. Juni 2021 / BMAA – zum Wirtschaftstag der Botschafterkonferenz, Video

                                               -2-

Erstens: Jetzt ist die Zeit für einen engen, wirtschafts- und handelspolitischen Schul­
terschluss mit den USA. So kann „build back better“ auf beiden Seiten des Atlantiks
Realität werden, und zwar ganz im Sinne der von Präsident Biden verfolgten „foreign
policy for the middle class“.

Offene Streitigkeiten, von denen es bedauerlicherweise ja einige gibt, sollten wir dafür
endlich hinter uns lassen. Und wir kommen auch in einigen Bereichen mittlerweile vo­
ran: Das Moratorium für die Strafzölle aus dem Airbus-Boeing-Streit, die Entscheidung
der EU gegen eine Angleichung der Maßnahmen im Streit um Stahl- und Aluminium­
zölle und die Aussetzung von Sanktionen gegen die Betreiberin der Nord-Stream-2-
Pipeline sind positive Signale.

Die historische Einigung auf eine globale Mindestbesteuerung von Unternehmen von
fünfzehn Prozent sowie einer Digitalsteuer beim G7-Finanzministertreffen letzten
Samstag steht auch ganz im Zeichen unserer gemeinsamen Kraftanstrengungen. Da­
mit setzen wir dem globalen Wettrennen um den niedrigsten Steuersatz hoffentlich ein
Ende.

Es gibt weitere gute Ideen für transatlantische Zukunftsprojekte: von der Zusammen­
arbeit bei der Exportkontrolle und Investitionsprüfung über ein Assoziierungsabkom­
men zum EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation bis hin zu einem trans­
atlantischen Abkommen zu Künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. Dazu ge­
hört auch der von der EU vorgeschlagene „EU-US-Handels- und Technologierat“ und
die damit verbundene Möglichkeit, gemeinsam Standards für Technologiekonzerne zu
entwickeln. Und wir setzen alles daran, beim anstehenden EU-USA Gipfel am 15. Juni
in all diesen Punkten auch substanziell voranzukommen.

Zweitens: Joe Bidens „America is back“ eröffnet die Chance, endlich wieder gemein­
sam multilaterale Verantwortung zu übernehmen in einer Zeit, in der das mehr denn je
nötig ist. Nur wenn wir die regelbasierte internationale Ordnung, offene Gesellschaften
und den freien Handel gegen diejenigen verteidigen, die sie infrage stellen, bleibt unser
Wirtschaftsmodell auch international zukunftsfähig.
Bulletin Nr. 80-5 vom 8. Juni 2021 / BMAA – zum Wirtschaftstag der Botschafterkonferenz, Video

                                               -3-

In einem System globaler Arbeitsteilung bedeutet das auch, Regelverletzungen und
Marktverzerrungen klar zu benennen und auch gegenzuhalten. Vollkommen inakzep­
tabel ist, zum Beispiel, dass deutsche Unternehmen, die ihren menschenrechtlichen
Sorgfaltspflichten nachkommen, in China unter Boykottdruck gesetzt werden.

Wer so etwas rechtzeitig verhindern will, der darf nicht wegsehen, wenn Zivilgesell­
schaft unterdrückt, Völkerrecht gebrochen und Menschenrechte verletzt werden. Auch
hier brauchen wir eine transatlantisch abgestimmte Politik gegenüber Moskau, Peking
oder Minsk, die bei besonders gravierenden Verstößen natürlich auch vor Sanktionen
nicht Halt machen wird. Und ich bin dankbar für die Bereitschaft der deutschen Wirt­
schaft, diesen Weg aus Überzeugung mitzugehen.

Und ja, in der Konsequenz bedeutet dies auch, dass wir wirtschaftliche Abhängigkeiten
reduzieren und uns breiter aufstellen müssen – gerade im indopazifischen Raum. Wir
arbeiten deshalb in der Europäischen Union an einer Indopazifik-Strategie, nachdem
wir uns im letzten Jahr hier in Deutschland bereits strategische Leitlinien für diese Re­
gion gegeben haben. Es geht darum, unsere Beziehungen zu dieser hochdynami­
schen Region in ganzer Breite zu stärken. Die EU-Freihandelsagenda ergänzt um die
EU-Asien-Konnektivitätsstrategie sind dabei ganz wichtige Bausteine.

Ein dritter Hebel ist die Handelspolitik. Hier stehen wir, wie ich glaube, am Scheideweg.
Denn wenn es uns nicht gelingt, Freihandel überzeugend zu verbinden mit hohen so­
zialen und ökologischen Standards, dann wird der Rückhalt für Freihandelsabkommen
und für die Globalisierung an sich in unserer Gesellschaft weiter bröckeln. Und das
wäre für unser Land und für uns in Europa brandgefährlich.

Deshalb müssen wir die politische und geoökonomische Handlungsfähigkeit der Euro­
päischen Union auch weiter stärken. Offene strategische Autonomie als Verbindung
von Offenheit, Nachhaltigkeit und Durchsetzbarkeit ist hier das Stichwort, mit dem wir
uns auseinandersetzen. Dazu gehört natürlich, Abhängigkeiten in strategischen Berei­
chen zu verringern, wie wir es zum Beispiel mit der EU-Industriestrategie und der For­
schungsinitiative Battery 2030+ schon tun. Vor allem brauchen wir aber Partnerschaf­
ten mit der Industrie und der Wissenschaft für digitalen und grünen Wandel, so wie die
Bulletin Nr. 80-5 vom 8. Juni 2021 / BMAA – zum Wirtschaftstag der Botschafterkonferenz, Video

                                               -4-

EU sie etwa bei Halbleitern und Batteriezellen bereits anbietet. Und ich freue mich,
dass Valdis Dombrovskis, uns darüber später sicherlich noch mehr berichten wird.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, in dem sich alle anderen Punkte aber auch
bündeln: Nur eine souveräne Europäische Union ist ein starker und attraktiver interna­
tionaler Partner. Nur eine souveräne EU kann ihre eigene Stärke nach außen entfalten
und eine krisenfeste Zukunft gestalten. In Zeiten, in denen technologischer Vorsprung
zur entscheidenden Machtressource geworden ist, bedeutet das vor allem: Wir müs­
sen in Europa über Schlüsseltechnologien selbst verfügen und diese entwickeln. Dafür
nehmen wir immer mehr Geld in die Hand – etwa für Digitalisierung gerade auch im
EU-Wiederaufbauprogramm.

Wir brauchen zudem auch ein besseres Regelwerk zum Schutz eben dieser Schlüs­
seltechnologien, so wie wir es mit dem neuen IT-Sicherheitsgesetz und der Novellie­
rung der Außenwirtschaftsverordnung bereits auf den Weg gebracht haben. Wir müs­
sen den Innovationstreibern in unserem Land ganz besonders den Rücken stärken.
Das gilt insbesondere für den Mittelstand in Deutschland.

Wir erleben im Ausland immer wieder, dass unsere Mittelständer bei großen Aus­
schreibungen den Kürzeren ziehen. Trotz höherer Qualität des deutschen Angebots
wird konkurrierenden Großkonsortien der Vorzug gegeben, weil sie eben alles aus ei­
ner Hand anbieten oder vorgeben anzubieten. Hier sollten wir gemeinsam Lösungen
entwickeln, wie wir zum Beispiel durch Plattformen und Kooperationen zwischen Groß­
unternehmen, kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups Abhilfe schaffen kön­
nen.

Denn wie Sie, liebe Frau Braun, kürzlich in einem Podcast gesagt haben: Die Innova­
tionskraft muss aus den eigenen Unternehmen kommen. Wir können sie aber mit den
richtigen Rahmenbedingungen dabei unterstützen.

Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in der Pandemiebekämpfung: Ohne die Inno­
vationskraft und das Engagement der Wirtschaft können wir diese Krise nicht in den
Griff bekommen. Und dass wir heute sagen können, es ist Licht am Ende des Tunnels,
hat auch etwas damit zu tun. Länder, die von der Covid-19-Pandemie besonders
Bulletin Nr. 80-5 vom 8. Juni 2021 / BMAA – zum Wirtschaftstag der Botschafterkonferenz, Video

                                               -5-

schwer getroffen wurden, haben wir gemeinsam schnell unterstützt – zuletzt Indien mit
Medikamenten, Beatmungsgeräten und einer Sauerstofffabrik.

Und kein anderer Wirtschaftsraum hat mehr Impfstoff exportiert als die Europäische
Union, auch wenn uns andere etwas anderes glauben lassen wollen. Gleichzeitig ist
Team Europe einer der wichtigsten Geldgeber für die Impfplattform Covax. Darüber
konnten bislang über 77 Million Dosen in 127 Länder geliefert werden. Und nur wenn
wir eine weltweit sichere, bezahlbare Impfstoffproduktion und einen gerechten globa­
len Zugang dazu sicherstellen können, dann werden wir auch die Diskussionen über
die Aussetzung geistiger Eigentumsrechte wieder vom Kopf auf die Füße stellen kön­
nen.

Sie, Frau Bendiek, haben das Erfolgsrezept im Handelsblatt kürzlich auf den Punkt
gebracht, indem Sie sagten: „Wer Innovation kann, der kann auch Krise.“

In den vergangenen Monaten haben auch wir als Europäer gezeigt, trotz aller Unken­
rufe, die es immer wieder gegeben hat, dass wir auch Krise können – zumal wir mit
den USA unter Joe Biden endlich wieder überzeugte Multilateralisten an unserer Seite
haben. Jetzt geht es darum, die riesigen Wiederaufbauprogramme, unsere neuen Re­
geln und Vorhaben so umzusetzen, dass daraus das nachhaltige, klimaneutrale Wirt­
schaftsmodell der Zukunft entsteht. Ein Modell, das dem Anspruch „build back better“
wirklich auch gerecht wird.

Herzlichen Dank!

                                          * * * * *
Sie können auch lesen