DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol
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[Wissenswertes 2. Quartal 2020] DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS Ein Museumsobjekt das seine kuriose Geschichte nicht los wird Storytelling hat sich, wie wir wissen, in den letzten Jahren als bewährte Methode der Wissensvermittlung auch in den Museen etabliert. Storytelling ist eine Methode der Wissensvermittlung, die ganzheitlich wirkt. Damit verbunden ist ihre Nachhaltigkeit – auch im unerwünschten Fall wie bei der Geschichte eines Objektes mit der Inventar-Nummer 100 aus dem Pfarrmuseum Serfaus. Im Gegensatz zur Wissensdarstellung in Form von Fakten bleibt die Story im Gedächtnis besser haften, ist anschaulich und daher breiten Bildungsschichten zugänglich. Storytelling dockt an Emotionen an, bietet Identifikationsmöglichkeiten. Gerade wegen dieser emotionalen Dimension, die Erfahrungen und Empfindungen mit einbezieht, erzielt Storytelling nachhaltige Wirkung. In den Geschichten werden bewusst Realität und Fiktion vermischt. Was aber, wenn der Anteil der Fiktion weit über das tolerable Maß hinausgeht? Im Pfarrmuseum Serfaus befindet sich eine Holztruhe, die schon vor der Museumseröffnung mit einer kuriosen Geschichte verbunden war. Die kuriosen Geschichten über die „Totentruhe“ von Serfaus sind nicht auszurotten, obwohl die Objektforschung zeigen konnte, dass es sich nicht um einen Sarg handelt, sondern um eine Archiv- Truhe. Die Erzählung von den Toten, die in diesem Behältnis vom Paznauntal über das Furglerjoch (Seehöhe 2748 m) nach Serfaus getragen wurden, klingen viel aufregender als die wissenschaftlichen Ergebnisse. Die Herausforderung für das Team des Pfarrmuseums Serfaus besteht nun darin, die spektakulären Geschichten im Lichte der historischen Fakten zu interpretieren ohne die älteren Einheimischen und die Vorgänger-Generation der Museumsführer/innen in ihrer Erzähltradition zu verletzen. Historisches Umfeld Um die Geschichte zu verstehen ist es nötig, einige Fakten über den Ort des Geschehens zu kennen. Serfaus liegt auf einem Plateau etwa 500 m über dem Obersten Tiroler Inntal. Durch dieses Tal führt seit der römischen Antike eine wichtige Transitstraße (Via Claudia Augusta), die Venedig mit Süddeutschland verbindet. Auch im Mittelalter diente diese Verbindung über den Reschenpass unter der Bezeichnung „Oberer Weg“ als Handelsroute; sie wird bis heute (B 180) benutzt. Zusätzlich gab es seit prähistorischen Zeiten bis zum Ausbau der modernen Straßen Saumwege (Fußwege) über die Alpen. „Saum“, das alte Wort für „Last“ sagt schon aus, dass man die Gebirge mit beladenen Eseln oder Maultieren überquerte. Auch der Mensch fungierte als billiges Lasttier. Der erste Landesfürst Graf Meinhard II. von Tirol teilte das Land in Gerichtsbezirke ein. Jedes Gericht1 ist somit eine Justiz-und- Verwaltungseinheit. Die Gerichtsgrenzen orientierten sich vielfach, aber nicht immer, an jenen der alten Pfarren. In jedem Gericht bildete eine Pfarre den religiösen Mittelpunkt. Nur in Ausnahmefällen waren es zwei, wie im Gericht Laudegg nach 1300: Prutz und Serfaus. Die Pfarren erfüllten neben der Seelsorge auch andere Aufgaben, die heute von verschiedenen Einrichtungen wie Banken, Apotheken usw. wahrgenommen werden. Die Menschen aus den Seitentälern benötigten viele Stunden, um den weiten Weg zu ihrer zuständigen Burg (Sitz des Gerichtes) oder zu ihrer Pfarrkirche zurückzulegen. So 1 Wilfrid Beimrohr, Mit Brief und Siegel. Die Gerichte Tirols und ihr älteres Schriftgut im Tiroler Landesarchiv (TGQ = Tiroler Geschichtsquellen, herausgegeben vom Tiroler Landesarchiv NR. 34), Innsbruck 1994. www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
gingen z.B. die Bewohner von Fiss und Ladis ein bis drei Stunden, jene von See im Paznauntal aber sechs bis sieben Stunden über die Berge nach Serfaus in ihre zuständige Pfarrkirche. Die Überlieferung Die in See verstorbenen Menschen wurden in dieser Truhe (Inv.-Nr. 100), die von der Bevölkerung als „Totentruhe“ bezeichnet wird, über das Furgler Joch zur Pfarrkirche in Serfaus getragen, um hier begraben zu werden (6-7 Stunden Gehzeit). Da die Überquerung der Berge mit dem unhandlichen Holzobjekt manchem Zuhörer zu beschwerlich vorkam, entstand eine Variante der Erzählung: Nach dieser wurde der Tote in See in einen Ledersack gesteckt, der an Stangen befestigt, von zwei Männern über die Berge getragen wurde, so wie man es mit den Toten an der Tiroler Gebirgsfront im Ersten Weltkrieg zu tun pflegte. Auf der Komperdell Alm (Seehöhe 1970 m) – heute: Schigebiet oberhalb von Serfaus - wurde die Leiche in die Truhe bzw. in den Sarg umgebettet und von einem Trauerzug zu einem bestimmten Serfauser Bauernhof namens „Arche Noah“ getragen. Dann wurde der Leichnam im Bauernhaus „Arche Noah“ aufgebahrt. So hoffte man wohl, dem Verstorbenen einen würdevollen Leichenzug zu bieten. In manchen Varianten der Überlieferung ist sogar davon die Rede, dass der Tischler dort Maß nahm, um den endgültigen Sarg anzufertigen. Die Zutaten Die Kurzgeschichte „Ein Gebirgsidyll“ [Originaltitel: An Alpine Idyll] von Ernest Hemmingway (1927) heizte die Phantasie weiter an. Gruselige und amüsante Geschichten, wie folgende kursierten in den Dörfern, deren Bewohner im Mittelalter einen weiten Weg über die Berge zu ihrer Pfarrkirche zurücklegen mussten. Der ehemals im Paznaun tätige Arzt und Autor Dr. Walter Köck hat sie schriftlich festgehalten. 2 Beispiel A: Ein Bauer hat seine tote Frau im Stadel an die Wand gelehnt. Ihr steif gefrorener Leichnam wartet auf den Transport zur Pfarrkirche. Immer, wenn der Bauer im Dunkeln dort zu tun hat, hängt er seine Laterne an der gespreizten Hand der Toten auf.3 Beispiel B: Die Leiche eines Bauern liegt gefroren am Dachboden, im alten Bauernhaus. – Die Bäuerin hat schon einen neuen Liebhaber, der gerade bei ihr ist. Wie es in den Holzhäusern so ist, in der Wärme beginnt das alte Gebälk zu knarren und zu krachen. Da ruft sie zur Decke hinauf: "Du brauchst dich nicht mehr zu melden, ich habe schon einen anderen!" 4 Der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Miller Hemingway (* 21. Juli 1899 in Oak Park, Illinois; † 2. Juli 1961 in Ketchum, Idaho) hatte als einer der frühen Schitouristen die verschlafenen Orte der Tiroler Hochtäler salonfähig gemacht. Eingang in die Literatur fand eine Toten-Transport-Geschichte zwischen dem Tiroler Ort Galtür und Ardez in der Schweiz. Galtür gehörte im Mittelalter zur Pfarre Ardez, die die gleichen Rechte gegenüber ihrer Filiale genoss wie Serfaus gegenüber See. Die/den Tote/n trug man also gemäß der Überlieferung zuerst im Ledersack über die Berge, dann in der Truhe bzw. im Sarg (Inv.-Nr. 100) vom hochalpinen Weidegebiet Komperdell (Seehöhe 1970 m) hinunter nach Serfaus (Seehöhe 1429 m). So verfuhr man mit allen Toten aus See, immer wieder mit dem gleichen Ledersack und der gleichen Truhe. Für die Wiederverwendung als Sarg eignet sich die Serfauser Truhe jedoch nicht, fehlt ihr doch die aufklappbare Bodenplatte. Dennoch hielt sich die Vorstellung von einem Sarg, der wiederholt zum Einsatz kam, hartnäckig. Vermutlich wurde sie von der verzerrten Erinnerung an den unpopulären „Josephinischen Sparsarg“5 genährt: Dieser Gemeindesarg war an der Unterseite mit einer Klappe ausgestattet, durch die der Leichnam ins Grab gelassen wurde. Kaiser Joseph II. von Österreich hatte ihn 1785 eingeführt.6 Die Gemüter der Leute hatte er offenbar nachhaltig erregt. Dokumentiert ist, dass diese Novität bei der Bevölkerung auf großen Widerstand stieß. 1970 fand jemand Knochen im Garten des Widums. Er „klassifizierte“ sie falsch als Menschenknochen. Schon kam die Idee auf, dass man die Toten von See auf der Wiese neben dem Serfauser Widum oder sogar zwischen Pfarrhaus und Pfarrgarten begraben habe. 2 Walter Köck, 80 Jahre im Paznaun, Landeck 2003, S. 116f. 3 Mündliche Erzählung von einem Mann aus der Region, im Sommer 2014. 4 Walter Köck, zit. in Anm. 2. 5 Ein Referenzobjekt ist im Bestattungsmuseum Wien ausgestellt. 6 Hofdekret vom 27. April, Verordnungen zu Leichenbegängnissen in: Handbuch aller … Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1784. Band 6. Joh. Georg Moesle, Wien 1786, S. 565 (Digitalisat (http://alex.onb.ac.at/cgi- cont – Zugriff am 5.6.2019) www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
Die Fakten 1) Begräbnis außerhalb des Friedhofs Die archäologische Grabung unter der Leitung von Mag. Johannes Pöll, Bundesdenkmalamt/Abteilung Tirol vor drei Jahren bewies, dass es im bezeichneten Bereich außerhalb der Friedhofsmauer keine Grabfunde gibt. Auch anhand der stilistischen Einordnung der Friedhofportale in die Gotik kann man das einstige Ausmaß des Friedhofs ermessen. Die Toten außerhalb der Friedhofsmauer zu begraben wäre Frevel. Nur Verbrecher und Ungetaufte wurden außerhalb der geweihten Erde des Friedhofs beigesetzt. Dass sich die Größe des Friedhofes in 700 Jahren wenig verändert hat, zeigen die gotischen Portale der Friedhofsmauer. Die Existenz von Gräbern der Leute von See lässt sich bis noch im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg nachweisen. Der frühere stellvertretende Vorsitzende des Kirchenrates, Herbert Mungenast, war einer der jungen Freiwilligen, die diese verwaisten Gräber noch gepflegt haben.7 2) Besiedlung und Pfarrzugehörigkeit Im 14. Jahrhundert siedelten sich die Hirten aus Serfaus und Fiss, die über die Berge gekommen waren, dauerhaft im Unteren Paznaun an.8 Aus der Transhumanz, wie wir sie heute nur noch zwischen Vent im Ötztal und dem Südtiroler Schnalstal kennen (immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe), entwickelte sich allmählich eine Dauerbesiedlung. Erst im Lauf der Zeit entstand aus einigen, weit verstreuten Weilern, das Orts- bzw. Gemeindegebiet See im Paznauntal. Das Wort See bezeichnete damals aber noch keinen Ort, sondern einen See (heute nicht mehr existent), daher auch die frühere Siedlungsbezeichnung „Zum See“. Gab es anfänglich nur zwei Bauernhöfe (1318), so wurden es allmählich mehr. 1344 erfolgt die erste Nennung eines Weilers der Pfarrgemeinde See (Serfaus) Um 1600 gehörten im weitläufigen Gebiet von See 11 von insgesamt 20 Höfen zur Pfarrgemeinde Serfaus.9 In See gab es zwar spätestens ab 144510 eine kleine Kapelle für die tägliche Andacht, aber für Taufen und Begräbnisse war ausschließlich der Pfarrer von Serfaus zuständig. Auch an den hohen Feiertagen, wie Ostern, Weihnachten etc. ging man 6 bis 7 Stunden zu Fuß nach Serfaus in die Pfarrkirche. Im Mittelalter war das in den Alpentälern nichts Außergewöhnliches. Schwieriger war die Situation, wenn jemand starb. Der/die Tote musste nach Serfaus zur Beerdigung gebracht werden, natürlich in geweihter Erde auf dem Friedhof. Vermutlich wurde der Leichnam, wie es damals üblich war, in ein Leinentuch eingenäht oder mit einem Totenhemd bestattet. 11 So hat man ihn direkt ins Grab gelegt – ohne Sarg.12 Ob man für den Transport als zusätzlichen Schutz einen Ledersack verwendete, lässt sich nach mehr als 400 Jahren nicht mehr sagen. Je größer das Dorf wurde, desto häufiger gab es Taufen und Todesfälle. Der Wunsch nach Eigenständigkeit wurde dringlicher. Zwischen 1594 und 1600 erlangte See die seelsorgliche Unabhängigkeit von Serfaus; wann See genau zur Kuratie erhoben wurde, lässt sich mangels archivalischer Belege nicht sagen.13 Die finanzielle Abgabepflicht an Serfaus blieb bis 1891 (Erhebung zur Pfarrkirche See). Ein Friedhof wurde angelegt und ab 165014 vorschriftsmäßig auch ein Sterbebuch geführt, in das man Namen und Sterbedatum eintrug. „Der Transport der Toten über die Berge, von dem man heute noch spricht, als hätte er noch zur Zeit unserer Großeltern stattgefunden fand also nicht, wie viele Leute glauben bis in die 1950er Jahre statt.“ (Anton Mattle, Bürgermeister von Galtür). Viel länger dauerte die Zuständigkeit des Gerichtes Laudegg. Der Amtssitz befand sich bis spätestens 168415 in der Burg Laudegg in Ladis, dann im Schloss Sigmundsried16 in Ried im Oberinntal. In 7 Mündliche Information von Herbert Mungenast, am 24.9.2020. 8 Die erste gesicherte Nachricht für die Pfarrgemeinde Serfaus/See stammt aus einer Urkunde von 2. Februar 1344: Hermann von Schrofenstein nennt 2 Höfe, nämlich „rautte“ (Rauth) und „galmitte“ (vermutlich: Glitt) - vgl. Othmar Kolp, Gemeindebuch See, See 2008, S. 65. 9 Zwei Bauernhöfe (1344), fünf (1427), sechs (1491), sieben (1503), zwanzig (1600). Othmar Kolp, zit. in Anm. 7, S. 65 und 72. 10 Pfarrarchiv See, Ablassbrief vom 16. Jänner 1445, zit. bei: Othmar Kolp, Anm. 8, S. 146 mit Abbildung. 11 Alexander Zanesco, George McGlynn, Alexander Zanesco und Stefanie Anders, Archäologische und anthropologische Untersuchungen zum Friedhof St. Nikolaus, Hall in Tirol, (Forum Hall, herausgegeben von Alexander Zanesco, Bd. 3), Hall in Tirol 2012, S. 112-133, hier: 114. 12 Sylvia Mader, Notizen zu ausgewählten Exponaten aus den Sonderausstellungen des Museums Stadtarchäologie Hall i.T. von 2008 bis 2011 (Forum Hall, Bd. 3), S. 382-394, hier: 389. 13 See wurde zwischen 1594 und 1600 zur Kuratie erhoben. – vgl. Othmar Kolp, zit. in Anm. 8, S. 148. 14 Taufbuch ab 1636, Sterbebuch ab 1650, Traubuch ab 1651.- siehe: Wilfried Beimrohr, Die Matriken (Personenstandsbücher) der Diözese Innsbruck und des Tiroler Anteils der Erzdiözese Salzburg (TGQ Nr. 17), Innsbruck 1987, S. 132 und Othmar Kolp, zit. in Anm. 8, S. 151. 15 Waltraud Comploy, Die Burgen Tirols am obersten Inn, (=Veröffentlichungen der Universität Innsbruck Bd. 74, Kunstgeschichtliche Studien, Bd. I), Innsbruck 1972, Seite 64. 16 Sylvia Mader et. al., Ried zu Kaisers Zeiten. Ein Tiroler Dorf der Donaumonarchie in Bildern. Kulturverein SigmundsRied, Ried im Oberinntal 2018, S. 151 f. www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
abgelegenen Siedlungen, wie See wurde eine Anwaltschaft bestellt, die eine Art Filiale des Gerichtes darstellte. Der Anwalt konnte Außerstreitverfahren bis zu einem Vermögenswert von 1000 Gulden abhandeln. 17 1770 kam See hinsichtlich Rechtsprechung zum Gericht Landeck. Jedoch war Laudegg weiterhin für die Steuerangelegenheiten zuständig. Erst 1791/92 wurde die Funktionsteilung aufgehoben und alle Zuständigkeiten dem Gericht Landeck zugeordnet.18 Damit verkürzte sich der Weg zum Gerichtssitz beträchtlich. 3) Klassifizierung und stilistische Überlegungen zur Giebeltruhe (Inv.-Nr. 100) Für die Verwaltung des jeweiligen Pfarrervermögens waren einst ein oder mehrere Kirchmaier (auch: Kirchpropst) verantwortlich, später entwickelte sich daraus der Kirchenrat. 1555 war Hans Franz von Wehingen oberster Kirchmaier von Serfaus19, 1556 sein Bruder Christoph.20 Vermutlich benutzten die Brüder die alte, gotische Truhe mit dem Wehinger-Wappen – ein Familieneigentum, das schon etwas aus der Mode gekommen war - zur Aufbewahrung von Liegenschaftsinventaren, Verträgen, Kaufbriefen und anderen wichtigen Schriftstücken der Pfarre. Es war üblich, solche Dokumente in einer Truhe diebstahlsicher und geschützt aufzubewahren. Die Truhe (Inv.-Nr. 100) erfüllte diese Bedingungen durch die stabilisierenden Eisenbänder, den Lederüberzug als Schutz vor Feuchtigkeit und die beiden leider verlorenen Vorhänge- Schlösser (Vier-Augen-Prinzip). Truhen wurden, bevor sich Kästen durchgesetzt haben, für die Aufbewahrung von allen möglichen Gegenständen verwendet, von Kleidungsstücken, über Geschirr, bis zu Gewehren; auch Getreide bewahrte man in Truhen auf. Sogenannte Gemeinde-Truhen dienten dem Verwahren von Dokumenten, Verträgen u.a. Obwohl es die Gemeinde als politische Einheit auch erst seit 181921 gibt, wurden schon früher die Archivalien der Dorfgemeinschaft in solchen Truhen aufbewahrt. Eine ähnliche Verwendung unseres Untersuchungsgegensandes, als Kirchpropst-Truhe, liegt also nahe. Der hausförmige Korpus (Giebeltruhe) ist typisch für gotische Truhen. In der Renaissance und im Barock bevorzugt man flache Deckel. Auch zeigen die späteren Truhen meist geschwungene Sockel und oft eine ornamentierte Front. Dennoch wurden Truhen dieser Bauweise – Giebeltruhen - bis ins 19. Jahrhundert verwendet.22 Für eine Datierung in die frühe Neuzeit sprechen das Wappen (siehe unten) und die Rollwerk-Enden der Beschläge. Die beiden Vorhängeschlösser und der Tragegriff sind leider nicht erhalten. Ein Schloss aus der Schell-Collection ist geeignet, eine Vorstellung vom kompletten Aussehen der Truhe zu liefern. Das Wehinger Wappen - in Blau ein silberner Zickzackbalken - ohne Schildteilung ist das Stammwappen der Familie23. Veit von Wehingen verwendete es noch. Es ist nicht auszuschließen, dass die Truhe mit dem alten Wehinger-Wappen 17 Wilfried Beimrohr, zit. in Anm. 1, S. 139. 18 Othmar Kolp, zit in Anm. 8, S. 78. 19 Sebastian Hölzl, Urkunden und Akten der Gemeindearchive Serfaus und Tösens, (TGQ Nr. 8), Innsbruck 1980, Nr. 8a: 1555 August 15 a: „Hanns Frantz von Wechyngen zu Sygmundsriedt, königlicher Rat und Pfleger zu Laudegg verleiht als oberster Kirchmayr des Gotteshauses Unnser lieben Frawen, zu Serfaus……“ 20 Pfarrarchiv Serfaus, Pergamenturkunde, 1556 XI 26 [Urbar] Verzeichnis der Grundzinse und Verpflichtungen der Besitzer der Höfe in St. Georgen und St. Zeno gegenüber den Kirchen St. Georgen und St. Zeno verfasst von Christoph von Wehingen, Kirchmair – Ebenda, Auszug aus Kirchmair Rechnungen 1556, verfasst und unterzeichnet von Christoph von Wehingen. [Kirchmaier, Verwalter des Kirchenguts – vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Online-Version vom 10.06.2019. 21 Wilfried Beimrohr, Übungen zu Schriften der Neuzeit – Workshop „Paläographie intensiv“, Tiroler Bildungsforum, Neustift, 8. Juni 2019. 22 Information/Email von Mag. Martina Pall, Direktorin der Schell-Collection, am 13.06.2019 08:28 Uhr. 23 Siehe 1) Wappenmalerei in der Erdgschoß-Halle des Schlosses Sigmundsried, Ried im Oberinntal; 2) runde Wappenscheibe (Bleiglasfenster) des Veit von Wehingen von 1538 im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, aus Schloss Sigmundsried; 3) Darstellung des Wappens im Ingeram-Codex von 1459. - Vgl. Charlotte Becher, Ortwin Gamber (Hrsg.): Die Wappenbücher Herzog Albrechts VI. von Österreich: Ingeram-Codex d. ehem. Bibliothek Cotta. (= Jahrbuch der Heraldisch- Genealogischen Gesellschaft Adler. Folge 3, Band 12, 1984/85), Wien/ Köln/ Graz 1986. Die Wappenbücher Herzog Albrechts VI. von Österreich: Ingeram-Codex d. ehem. Bibliothek Cotta; hrsg. v. Charlotte Becher u. Ortwin Gamber; Wien; Köln; Graz;1986. (Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft Adler; Folge 3, Bd. 12 Jg. 1984/85) www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
ursprünglich dem geschätzten Heerführer Veit von Wehingen, dem Vater der beiden Kirchmaier, als Waffentruhe gedient hat. Immerhin war er als Gerichtspfleger für die Verteidigung der Burg und des Umlandes verantwortlich. Ein ähnliches, aber kürzeres Objekt für Armbrustpfeile, mit aufgemalten Wappen ist bei der 96. Auktion im Palais Kinsky am 19.6.2013 angeboten worden. Veits Sohn Hans Franz ist 1550 bereits seit vier Jahren mit Magdalena Schurf verheiratet.24 Er benutzt das viergeteilte Allianzwappen Wehingen-Neuhaus25 und wohnt im Schloss Sigmundsried. Sein Vater hat das Schloss gekauft, weil die Burg Laudegg in Ladis in schlechtem baulichem Zustand und wohl kaum mehr bewohnbar war. Christoph von Wehingen war für eine kirchliche Karriere vorgesehen. Seinem Bruder Hans Franz verkaufte er 1550 seinen halben Erbanteil am Schloss Sigmundsried.26 Dennoch scheint er öfter als Gerichtsherr von Laudegg auf (am 29.6.1545, am 12.12.1545, am 30.4.1550, am 24.8.1557)27 als sein Bruder Hans Franz (am 20.7.1560 – im Regest Nr. 153 irrtümlich 1660, und am 21.6.1555).28. Als Kirchmaier fungierten beide, 1555 Hans Franz29 und 1556 Christoph30. Objektgeschichte Später, vielleicht im späten 19. Jahrhundert oder frühen 20. Jahrhundert, als die Pfarre Serfaus einen Tresor anschaffte, wurde die Truhe nutzlos. Sie geriet in Vergessenheit. Erstmals wieder aufgefunden wurde sie 195831. Das Wissen über ihren Funktionszusammenhang war aber inzwischen verloren gegangen oder wurde aus irgendwelchen Gründen verschwiegen. Als „Totentruhe“ bezeichnet fand sie den Weg in die Tagespresse: Nach Abriss des Bauernhauses „Arche Noah“ wurde die Truhe im Hause von Günter Schwarz verwahrt,32 von wo man sie 2002 wieder in die Pfarre brachte, um sie in der Jubiläumsausstellung zu präsentieren. Anlässlich des höchst zweifelhaften 1575-Jahr-Jubiläums der Serfauser Wallfahrt im Jahre 2002 beschrieb Robert Klien die Totentruhe im Dorfbuch33 und verhalf der Bestattungsgeschichte damit zu fragwürdiger Seriosität. Zusammenfassung Jedes Dorf hat seine Geschichten. Sie entstehen besonders dort, wo es in der Vergangenheit Lebensbedingungen gab, die uns heute unvorstellbar erscheinen. Neigt man doch dazu die Vergangenheit aus der Sicht der Gegenwart zu beurteilen. Die mündliche Überlieferung ist so nachhaltig, weil die Kurisosität der Geschichten gegen die wissenschaftlichen Fakten immer den Sieg davonträgt. Was sich als besonders unangenehm in den Herzen unserer Vorfahren eingegraben hat, wird von Generation zu Generation weitererzählt. Immer mehr verschwimmen die Details. Was bleibt, ist das unangenehme Gefühl, das eine unbeliebte kaiserliche Reform hinterlässt. Die Fakten verblassen, aber der Sarg geht nicht mehr aus den Köpfen. Die Erinnerung an die Leichentransporte über die Berge ist in Tirol vielleicht nie ganz versiegt, neu belebt wurde sie jedenfalls durch Ernest Hemingway. Die falsch „klassifizierten“ Knochenfunde ließen sogar vergessen, dass Christen nur in geweihter Erde begraben werden. Schon war da ein externer Begräbnisort für die Leute von See. Last but not least wäre nochmals daran zu erinnern, dass die Zugehörigkeit der orographisch rechts gelegenen Bauernhöfe am von See, zur Pfarre Serfaus von ca. 1400 bis ca. 160034 dauerte. Der Leichentransport über die Berge der Samnaungruppe findet also seit über vier Jahrhunderten nicht mehr statt, die Geschichten darüber leben weiter. Nur schwer lassen sich Manche überzeugen, dass man die Geschichte anders erzählen kann, ja muss, wenn man die Forschungsergebnisse mit einbezieht. Herzlicher Dank gilt Frau Mag. Martina Pall, Direktorin der Schell Collection, für wertvolle Informationen und die für den Kongress-Vortrag und diese Publikation zur Verfügung gestellten Fotos. 24 Leopold Stierle, Die Herren von Wehingen, Sigmaringen 1989, S. 90. 25 runde Wappenscheibe (Bleiglasfenster) des Hans Franz von Wehingen von 1550 im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, aus Schloss Sigmundsried; Wappen: geviertet; 1 und 4: in Blau ein silberner Zickzackbalken; 2 und 3: in Schwarz eine linksschräg gestellte, silberne Zinnenmauer. 26 Waltraud Comploy, Die Burgen Tirols am obersten Inn, (=Veröffentlichungen der Universität Innsbruck Bd. 74, Kunstgeschichtliche Studien, Bd. I), Innsbruck 1972, S. 63. 27 Sebastian Hölzl, Gemeindearchiv Kauns – Gerichtsarchiv Laudegg (TGQ Nr. 14), Innsbruck 1984. 28 Ebenda (TGQ Nr. 14) Nr. 153, S. 71 und Sebastian Hölzl, Gemeindearchive Bezirk Landeck (TGQ Nr. 31), 30/25, S. 255) 29 Wie Anm. 20. 30 Wie Anm. 19. 31 Herbert Buzas, ][ohne Titel] in: Tiroler Tageszeitung Nr. 192, 22.8.1958, zit. bei Robert Klien, Anm. 33. 32 Maria Köhle, Die letzte Reise führte über Joch nach Serfaus, in: Tiroler Tageszeitung NR 75-TO, 29.März 2002. 33 Robert Klien, Die Pfarre Serfaus, in: Gemeinde Serfaus (Hg.), Serfaus [bearbeitet von Robert Klien], Serfaus o.J. [2002], S. 152- 165, hier: 153 f. 34 Mündliche Information von Othmar Kolp beim Museumshuangart/Podiumsduskussion „Mit den Toten über’s Joch“ im Pfarrmuseum Serfaus, am 24.9.2019 – Dokumentation siehe: arthoss.film – online unter: https://www.youtube.com/watch?v=MK3- aAwiHVQ www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
Zitierempfehlung: Sylvia Mader, Die „Totentruhe“ von Serfaus – ein Museumsobjekt, das seine kuriose Geschichte nicht los wird [Originaltitel: „The Coffin of Serfaus - a museum object that cannot rid itself of its history“], ICOM International Conference "Heritage Interpretation: the Power of Storytelling in Museums", June 27 – 29 th , 2019, St. Petersburg, Russian Federation, The State Hermitage Museum, Gatchina Palace and Estate Museum, St Isaac's Cathedral State Museum. Online unter: https://www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal [Rubrik: Wissenswertes] © Land Tirol, Dr. Sylvia Mader (Text, Abb. 3, 5, 6, 9, 10) © Pfarrmuseum Serfaus & Andreas Schalber Fotografie (Abb. 1, 2) © Gemeinde Serfaus (Abb. 4) © Schell Collection, Graz (Abb. 8) Abbildungen 1 Pfarrmuseum, Objekt Inv.-Nr. 100, Giebeltruhe/Archivtruhe, sogenannte „Totentruhe“ 2 ebenso, Stirnseite der Giebeltruhe 3 Ensemble Pfarrzentrum Serfaus 4 Furgler, Furgler Joch und Komperdell Alm (im Vordergrund), Fotoabzug um 1950, Gemeindearchiv Serfaus 5 Pfarrgarten (im Vordergrund) und Widum 6 Burg Laudegg in Ladis, Sitz des Gerichtes Laudegg (später. Bezirksgericht Ried im Oberinntal) 7 Giebeltruhe/Archivtruhe, Ausschnitt mit graphische Ergänzungen der verlorenen Details der Giebeltruhe Inv.-Nr. 100 (© wie Abb. 1) 8 Vorhängeschloss, 16. Jh., Foto zur Verfügung gestellt von Mag. Martina Pall, Schell-Collection 9 Wappen des Veit von Wehingen, unbekannter Maler 10 Friedhof südlich der Wallfahrtskirche. Hier befanden sich bis in die 1950er Jahre verwaiste Gräber der Bevölkerung von See. www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
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