DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol

 
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DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol
[Wissenswertes 2. Quartal 2020]

                                          DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS
                         Ein Museumsobjekt das seine kuriose Geschichte nicht los wird

                                                  Storytelling hat sich, wie wir wissen, in den letzten Jahren als
                                                  bewährte Methode der Wissensvermittlung auch in den Museen
                                                  etabliert. Storytelling ist eine Methode der Wissensvermittlung, die
                                                  ganzheitlich wirkt. Damit verbunden ist ihre Nachhaltigkeit – auch im
                                                  unerwünschten Fall wie bei der Geschichte eines Objektes mit der
                                                  Inventar-Nummer 100 aus dem Pfarrmuseum Serfaus. Im Gegensatz
                                                  zur Wissensdarstellung in Form von Fakten bleibt die Story im
                                                  Gedächtnis besser haften, ist anschaulich und daher breiten
                                                  Bildungsschichten zugänglich. Storytelling dockt an Emotionen an,
                                                  bietet    Identifikationsmöglichkeiten.   Gerade    wegen      dieser
                                                  emotionalen Dimension, die Erfahrungen und Empfindungen mit
                                                  einbezieht, erzielt Storytelling nachhaltige Wirkung. In den
                                                  Geschichten werden bewusst Realität und Fiktion vermischt. Was
                                                  aber, wenn der Anteil der Fiktion weit über das tolerable Maß
                                                  hinausgeht?

                                      Im Pfarrmuseum Serfaus befindet sich eine Holztruhe, die schon vor
                                      der Museumseröffnung mit einer kuriosen Geschichte verbunden
                                      war. Die kuriosen Geschichten über die „Totentruhe“ von Serfaus
                                      sind nicht auszurotten, obwohl die Objektforschung zeigen konnte,
                                      dass es sich nicht um einen Sarg handelt, sondern um eine Archiv-
                                      Truhe. Die Erzählung von den Toten, die in diesem Behältnis vom
                                      Paznauntal über das Furglerjoch (Seehöhe 2748 m) nach Serfaus
                                      getragen wurden, klingen viel aufregender als die wissenschaftlichen
                                      Ergebnisse. Die Herausforderung für das Team des Pfarrmuseums
Serfaus besteht nun darin, die spektakulären Geschichten im Lichte der historischen Fakten zu
interpretieren ohne die älteren Einheimischen und die Vorgänger-Generation der Museumsführer/innen in
ihrer Erzähltradition zu verletzen.

Historisches Umfeld
Um die Geschichte zu verstehen ist es nötig, einige Fakten über den Ort des Geschehens zu kennen.
Serfaus liegt auf einem Plateau etwa 500 m über dem Obersten Tiroler Inntal. Durch dieses Tal führt seit
der römischen Antike eine wichtige Transitstraße (Via Claudia Augusta), die Venedig mit Süddeutschland
verbindet. Auch im Mittelalter diente diese Verbindung über den Reschenpass unter der Bezeichnung
„Oberer Weg“ als Handelsroute; sie wird bis heute (B 180) benutzt. Zusätzlich gab es seit prähistorischen
Zeiten bis zum Ausbau der modernen Straßen Saumwege (Fußwege) über die Alpen. „Saum“, das alte
Wort für „Last“ sagt schon aus, dass man die Gebirge mit beladenen Eseln oder Maultieren überquerte.
Auch der Mensch fungierte als billiges Lasttier.
Der erste Landesfürst Graf Meinhard II. von Tirol teilte das Land in
Gerichtsbezirke ein. Jedes Gericht1 ist somit eine Justiz-und-
Verwaltungseinheit. Die Gerichtsgrenzen orientierten sich vielfach,
aber nicht immer, an jenen der alten Pfarren. In jedem Gericht bildete
eine Pfarre den religiösen Mittelpunkt. Nur in Ausnahmefällen waren
es zwei, wie im Gericht Laudegg nach 1300: Prutz und Serfaus. Die
Pfarren erfüllten neben der Seelsorge auch andere Aufgaben, die
heute von verschiedenen Einrichtungen wie Banken, Apotheken usw.
wahrgenommen werden. Die Menschen aus den Seitentälern
benötigten viele Stunden, um den weiten Weg zu ihrer zuständigen
Burg (Sitz des Gerichtes) oder zu ihrer Pfarrkirche zurückzulegen. So

1
    Wilfrid Beimrohr, Mit Brief und Siegel. Die Gerichte Tirols und ihr älteres Schriftgut im Tiroler Landesarchiv (TGQ = Tiroler
    Geschichtsquellen, herausgegeben vom Tiroler Landesarchiv NR. 34), Innsbruck 1994.

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gingen z.B. die Bewohner von Fiss und Ladis ein bis drei Stunden, jene von See im Paznauntal aber sechs
bis sieben Stunden über die Berge nach Serfaus in ihre zuständige Pfarrkirche.

Die Überlieferung
Die in See verstorbenen Menschen wurden in dieser Truhe (Inv.-Nr. 100), die von der Bevölkerung als
„Totentruhe“ bezeichnet wird, über das Furgler Joch zur Pfarrkirche in Serfaus getragen, um hier begraben
zu werden (6-7 Stunden Gehzeit). Da die Überquerung der Berge mit dem unhandlichen Holzobjekt
manchem Zuhörer zu beschwerlich vorkam, entstand eine Variante der Erzählung: Nach dieser wurde der
Tote in See in einen Ledersack gesteckt, der an Stangen befestigt, von zwei Männern über die Berge
                                     getragen wurde, so wie man es mit den Toten an der Tiroler
                                     Gebirgsfront im Ersten Weltkrieg zu tun pflegte.
                                     Auf der Komperdell Alm (Seehöhe 1970 m) – heute: Schigebiet
                                     oberhalb von Serfaus - wurde die Leiche in die Truhe bzw. in den
                                     Sarg umgebettet und von einem Trauerzug zu einem bestimmten
                                     Serfauser Bauernhof namens „Arche Noah“ getragen. Dann wurde
                                     der Leichnam im Bauernhaus „Arche Noah“ aufgebahrt. So hoffte
                                     man wohl, dem Verstorbenen einen würdevollen Leichenzug zu
                                     bieten. In manchen Varianten der Überlieferung ist sogar davon die
                                     Rede, dass der Tischler dort Maß nahm, um den endgültigen Sarg
                                     anzufertigen.

Die Zutaten
Die Kurzgeschichte „Ein Gebirgsidyll“ [Originaltitel: An Alpine Idyll] von Ernest Hemmingway (1927) heizte
die Phantasie weiter an. Gruselige und amüsante Geschichten, wie folgende kursierten in den Dörfern,
deren Bewohner im Mittelalter einen weiten Weg über die Berge zu ihrer Pfarrkirche zurücklegen mussten.
Der ehemals im Paznaun tätige Arzt und Autor Dr. Walter Köck hat sie schriftlich festgehalten. 2
Beispiel A: Ein Bauer hat seine tote Frau im Stadel an die Wand gelehnt. Ihr steif gefrorener Leichnam
wartet auf den Transport zur Pfarrkirche. Immer, wenn der Bauer im Dunkeln dort zu tun hat, hängt er seine
Laterne an der gespreizten Hand der Toten auf.3
Beispiel B: Die Leiche eines Bauern liegt gefroren am Dachboden, im alten Bauernhaus. – Die Bäuerin hat
schon einen neuen Liebhaber, der gerade bei ihr ist. Wie es in den Holzhäusern so ist, in der Wärme
beginnt das alte Gebälk zu knarren und zu krachen. Da ruft sie zur Decke hinauf: "Du brauchst dich nicht
mehr zu melden, ich habe schon einen anderen!" 4

Der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Miller Hemingway (* 21. Juli 1899 in Oak Park, Illinois; † 2. Juli
1961 in Ketchum, Idaho) hatte als einer der frühen Schitouristen die verschlafenen Orte der Tiroler
Hochtäler salonfähig gemacht. Eingang in die Literatur fand eine Toten-Transport-Geschichte zwischen
dem Tiroler Ort Galtür und Ardez in der Schweiz. Galtür gehörte im Mittelalter zur Pfarre Ardez, die die
gleichen Rechte gegenüber ihrer Filiale genoss wie Serfaus gegenüber See.

Die/den Tote/n trug man also gemäß der Überlieferung zuerst im Ledersack über die Berge, dann in der
Truhe bzw. im Sarg (Inv.-Nr. 100) vom hochalpinen Weidegebiet Komperdell (Seehöhe 1970 m) hinunter
nach Serfaus (Seehöhe 1429 m). So verfuhr man mit allen Toten aus See, immer wieder mit dem gleichen
Ledersack und der gleichen Truhe. Für die Wiederverwendung als Sarg eignet sich die Serfauser Truhe
jedoch nicht, fehlt ihr doch die aufklappbare Bodenplatte. Dennoch hielt sich die Vorstellung von einem
Sarg, der wiederholt zum Einsatz kam, hartnäckig. Vermutlich wurde sie von der verzerrten Erinnerung an
den unpopulären „Josephinischen Sparsarg“5 genährt: Dieser
Gemeindesarg war an der Unterseite mit einer Klappe ausgestattet,
durch die der Leichnam ins Grab gelassen wurde. Kaiser Joseph II.
von Österreich hatte ihn 1785 eingeführt.6 Die Gemüter der Leute
hatte er offenbar nachhaltig erregt. Dokumentiert ist, dass diese
Novität bei der Bevölkerung auf großen Widerstand stieß.
1970 fand jemand Knochen im Garten des Widums. Er „klassifizierte“
sie falsch als Menschenknochen. Schon kam die Idee auf, dass man
die Toten von See auf der Wiese neben dem Serfauser Widum oder
sogar zwischen Pfarrhaus und Pfarrgarten begraben habe.

2
  Walter Köck, 80 Jahre im Paznaun, Landeck 2003, S. 116f.
3
  Mündliche Erzählung von einem Mann aus der Region, im Sommer 2014.
4
  Walter Köck, zit. in Anm. 2.
5
  Ein Referenzobjekt ist im Bestattungsmuseum Wien ausgestellt.
6
  Hofdekret vom 27. April, Verordnungen zu Leichenbegängnissen in: Handbuch aller …
  Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1784. Band 6. Joh. Georg Moesle, Wien 1786, S. 565 (Digitalisat (http://alex.onb.ac.at/cgi-
  cont – Zugriff am 5.6.2019)

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Die Fakten

1) Begräbnis außerhalb des Friedhofs
Die archäologische Grabung unter der Leitung von Mag. Johannes Pöll, Bundesdenkmalamt/Abteilung Tirol
vor drei Jahren bewies, dass es im bezeichneten Bereich außerhalb der Friedhofsmauer keine Grabfunde
gibt. Auch anhand der stilistischen Einordnung der Friedhofportale in die Gotik kann man das einstige
Ausmaß des Friedhofs ermessen. Die Toten außerhalb der Friedhofsmauer zu begraben wäre Frevel. Nur
Verbrecher und Ungetaufte wurden außerhalb der geweihten Erde des Friedhofs beigesetzt. Dass sich die
Größe des Friedhofes in 700 Jahren wenig verändert hat, zeigen die gotischen Portale der Friedhofsmauer.
Die Existenz von Gräbern der Leute von See lässt sich bis noch im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg
nachweisen. Der frühere stellvertretende Vorsitzende des Kirchenrates, Herbert Mungenast, war einer der
jungen Freiwilligen, die diese verwaisten Gräber noch gepflegt haben.7

2) Besiedlung und Pfarrzugehörigkeit
Im 14. Jahrhundert siedelten sich die Hirten aus Serfaus und Fiss, die über die Berge gekommen waren,
dauerhaft im Unteren Paznaun an.8 Aus der Transhumanz, wie wir sie heute nur noch zwischen Vent im
Ötztal und dem Südtiroler Schnalstal kennen (immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe), entwickelte sich
allmählich eine Dauerbesiedlung. Erst im Lauf der Zeit entstand aus einigen, weit verstreuten Weilern, das
Orts- bzw. Gemeindegebiet See im Paznauntal. Das Wort See bezeichnete damals aber noch keinen Ort,
sondern einen See (heute nicht mehr existent), daher auch die frühere Siedlungsbezeichnung „Zum See“.
Gab es anfänglich nur zwei Bauernhöfe (1318), so wurden es allmählich mehr. 1344 erfolgt die erste
Nennung eines Weilers der Pfarrgemeinde See (Serfaus) Um 1600 gehörten im weitläufigen Gebiet von
See 11 von insgesamt 20 Höfen zur Pfarrgemeinde Serfaus.9
In See gab es zwar spätestens ab 144510 eine kleine Kapelle für die tägliche Andacht, aber für Taufen und
Begräbnisse war ausschließlich der Pfarrer von Serfaus zuständig. Auch an den hohen Feiertagen, wie
Ostern, Weihnachten etc. ging man 6 bis 7 Stunden zu Fuß nach Serfaus in die Pfarrkirche. Im Mittelalter
war das in den Alpentälern nichts Außergewöhnliches. Schwieriger war die Situation, wenn jemand starb.
Der/die Tote musste nach Serfaus zur Beerdigung gebracht werden, natürlich in geweihter Erde auf dem
Friedhof. Vermutlich wurde der Leichnam, wie es damals üblich war, in ein Leinentuch eingenäht oder mit
einem Totenhemd bestattet. 11 So hat man ihn direkt ins Grab gelegt – ohne Sarg.12 Ob man für den
Transport als zusätzlichen Schutz einen Ledersack verwendete, lässt sich nach mehr als 400 Jahren nicht
mehr sagen.
Je größer das Dorf wurde, desto häufiger gab es Taufen und Todesfälle. Der Wunsch nach
Eigenständigkeit wurde dringlicher. Zwischen 1594 und 1600 erlangte See die seelsorgliche
Unabhängigkeit von Serfaus; wann See genau zur Kuratie erhoben wurde, lässt sich mangels
                                     archivalischer Belege nicht sagen.13 Die finanzielle Abgabepflicht an
                                     Serfaus blieb bis 1891 (Erhebung zur Pfarrkirche See). Ein Friedhof
                                     wurde angelegt und ab 165014 vorschriftsmäßig auch ein Sterbebuch
                                     geführt, in das man Namen und Sterbedatum eintrug. „Der Transport
                                     der Toten über die Berge, von dem man heute noch spricht, als hätte
                                     er noch zur Zeit unserer Großeltern stattgefunden fand also nicht, wie
                                     viele Leute glauben bis in die 1950er Jahre statt.“ (Anton Mattle,
                                     Bürgermeister von Galtür).
                                     Viel länger dauerte die Zuständigkeit des Gerichtes Laudegg. Der
                                     Amtssitz befand sich bis spätestens 168415 in der Burg Laudegg in
                                     Ladis, dann im Schloss Sigmundsried16 in Ried im Oberinntal. In

7
  Mündliche Information von Herbert Mungenast, am 24.9.2020.
8
  Die erste gesicherte Nachricht für die Pfarrgemeinde Serfaus/See stammt aus einer Urkunde von 2. Februar 1344: Hermann von
   Schrofenstein nennt 2 Höfe, nämlich „rautte“ (Rauth) und „galmitte“ (vermutlich: Glitt) - vgl. Othmar Kolp, Gemeindebuch See, See
   2008, S. 65.
9
  Zwei Bauernhöfe (1344), fünf (1427), sechs (1491), sieben (1503), zwanzig (1600). Othmar Kolp, zit. in Anm. 7, S. 65 und 72.
10
   Pfarrarchiv See, Ablassbrief vom 16. Jänner 1445, zit. bei: Othmar Kolp, Anm. 8, S. 146 mit Abbildung.
11
   Alexander Zanesco, George McGlynn, Alexander Zanesco und Stefanie Anders, Archäologische und anthropologische
   Untersuchungen zum Friedhof St. Nikolaus, Hall in Tirol, (Forum Hall, herausgegeben von Alexander Zanesco, Bd. 3), Hall in Tirol
   2012, S. 112-133, hier: 114.
12
   Sylvia Mader, Notizen zu ausgewählten Exponaten aus den Sonderausstellungen des Museums Stadtarchäologie Hall i.T. von
   2008 bis 2011 (Forum Hall, Bd. 3), S. 382-394, hier: 389.
13
   See wurde zwischen 1594 und 1600 zur Kuratie erhoben. – vgl. Othmar Kolp, zit. in Anm. 8, S. 148.
14
   Taufbuch ab 1636, Sterbebuch ab 1650, Traubuch ab 1651.- siehe: Wilfried Beimrohr, Die Matriken (Personenstandsbücher) der
   Diözese Innsbruck und des Tiroler Anteils der Erzdiözese Salzburg (TGQ Nr. 17), Innsbruck 1987, S. 132 und Othmar Kolp, zit. in
   Anm. 8, S. 151.
15
   Waltraud Comploy, Die Burgen Tirols am obersten Inn, (=Veröffentlichungen der Universität
   Innsbruck Bd. 74, Kunstgeschichtliche Studien, Bd. I), Innsbruck 1972, Seite 64.
16
   Sylvia Mader et. al., Ried zu Kaisers Zeiten. Ein Tiroler Dorf der Donaumonarchie in Bildern. Kulturverein SigmundsRied, Ried im
   Oberinntal 2018, S. 151 f.

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abgelegenen Siedlungen, wie See wurde eine Anwaltschaft bestellt, die eine Art Filiale des Gerichtes
darstellte. Der Anwalt konnte Außerstreitverfahren bis zu einem Vermögenswert von 1000 Gulden
abhandeln. 17 1770 kam See hinsichtlich Rechtsprechung zum Gericht Landeck. Jedoch war Laudegg
weiterhin für die Steuerangelegenheiten zuständig. Erst 1791/92 wurde die Funktionsteilung aufgehoben
und alle Zuständigkeiten dem Gericht Landeck zugeordnet.18 Damit verkürzte sich der Weg zum
Gerichtssitz beträchtlich.

3) Klassifizierung und stilistische Überlegungen zur Giebeltruhe (Inv.-Nr. 100)
Für die Verwaltung des jeweiligen Pfarrervermögens waren einst ein oder mehrere Kirchmaier (auch:
Kirchpropst) verantwortlich, später entwickelte sich daraus der Kirchenrat. 1555 war Hans Franz von
Wehingen oberster Kirchmaier von Serfaus19, 1556 sein Bruder Christoph.20

Vermutlich benutzten die Brüder die alte, gotische Truhe mit
dem Wehinger-Wappen – ein Familieneigentum, das schon
etwas aus der Mode gekommen war - zur Aufbewahrung
von Liegenschaftsinventaren, Verträgen, Kaufbriefen und
anderen wichtigen Schriftstücken der Pfarre. Es war üblich,
solche Dokumente in einer Truhe diebstahlsicher und
geschützt aufzubewahren. Die Truhe (Inv.-Nr. 100) erfüllte
diese Bedingungen durch die stabilisierenden Eisenbänder, den Lederüberzug
als Schutz vor Feuchtigkeit und die beiden leider verlorenen Vorhänge-
Schlösser (Vier-Augen-Prinzip).

Truhen wurden, bevor sich Kästen durchgesetzt haben, für die Aufbewahrung
von allen möglichen Gegenständen verwendet, von Kleidungsstücken, über
Geschirr, bis zu Gewehren; auch Getreide bewahrte man in Truhen auf.
Sogenannte Gemeinde-Truhen dienten dem Verwahren von Dokumenten,
Verträgen u.a. Obwohl es die Gemeinde als politische Einheit auch erst seit
181921 gibt, wurden schon früher die Archivalien der Dorfgemeinschaft in
solchen Truhen aufbewahrt. Eine ähnliche Verwendung unseres
Untersuchungsgegensandes, als Kirchpropst-Truhe, liegt also nahe.

Der hausförmige Korpus (Giebeltruhe) ist typisch für gotische Truhen. In der
Renaissance und im Barock bevorzugt man flache Deckel. Auch zeigen die
späteren Truhen meist geschwungene Sockel und oft eine ornamentierte Front.
Dennoch wurden Truhen dieser Bauweise – Giebeltruhen - bis ins 19. Jahrhundert
verwendet.22 Für eine Datierung in die frühe Neuzeit sprechen das Wappen (siehe
unten) und die Rollwerk-Enden der Beschläge. Die beiden Vorhängeschlösser und
der Tragegriff sind leider nicht erhalten. Ein Schloss aus der Schell-Collection ist
geeignet, eine Vorstellung vom kompletten Aussehen der Truhe zu liefern.

 Das Wehinger Wappen - in Blau ein silberner Zickzackbalken - ohne Schildteilung
ist das Stammwappen der Familie23. Veit von Wehingen verwendete es noch. Es
ist nicht auszuschließen, dass die Truhe mit dem alten Wehinger-Wappen

17
   Wilfried Beimrohr, zit. in Anm. 1, S. 139.
18
   Othmar Kolp, zit in Anm. 8, S. 78.
19
   Sebastian Hölzl, Urkunden und Akten der Gemeindearchive Serfaus und Tösens, (TGQ Nr. 8), Innsbruck 1980, Nr. 8a: 1555
   August 15 a: „Hanns Frantz von Wechyngen zu Sygmundsriedt, königlicher Rat und Pfleger zu Laudegg verleiht als oberster
   Kirchmayr des Gotteshauses Unnser lieben Frawen, zu Serfaus……“
20
   Pfarrarchiv Serfaus, Pergamenturkunde, 1556 XI 26 [Urbar] Verzeichnis der Grundzinse und Verpflichtungen der Besitzer der
   Höfe in St. Georgen und St. Zeno gegenüber den Kirchen St. Georgen und St. Zeno verfasst von Christoph von Wehingen,
   Kirchmair – Ebenda, Auszug aus Kirchmair Rechnungen 1556, verfasst und unterzeichnet von Christoph von Wehingen.
   [Kirchmaier, Verwalter des Kirchenguts – vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden.
   Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis
   Leipzig 1971. Online-Version vom 10.06.2019.
21
   Wilfried Beimrohr, Übungen zu Schriften der Neuzeit – Workshop „Paläographie intensiv“, Tiroler Bildungsforum, Neustift, 8. Juni
   2019.
22
   Information/Email von Mag. Martina Pall, Direktorin der Schell-Collection, am 13.06.2019 08:28 Uhr.
23
   Siehe 1) Wappenmalerei in der Erdgschoß-Halle des Schlosses Sigmundsried, Ried im Oberinntal; 2) runde Wappenscheibe
   (Bleiglasfenster) des Veit von Wehingen von 1538 im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, aus Schloss
   Sigmundsried; 3) Darstellung des Wappens im Ingeram-Codex von 1459. - Vgl. Charlotte Becher, Ortwin Gamber (Hrsg.): Die
   Wappenbücher Herzog Albrechts VI. von Österreich: Ingeram-Codex d. ehem. Bibliothek Cotta. (= Jahrbuch der Heraldisch-
   Genealogischen Gesellschaft Adler. Folge 3, Band 12, 1984/85), Wien/ Köln/ Graz 1986.
   Die Wappenbücher Herzog Albrechts VI. von Österreich: Ingeram-Codex d. ehem. Bibliothek Cotta; hrsg. v. Charlotte Becher u.
   Ortwin Gamber; Wien; Köln; Graz;1986. (Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft Adler; Folge 3, Bd. 12 Jg.
   1984/85)

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ursprünglich dem geschätzten Heerführer Veit von Wehingen, dem Vater der beiden Kirchmaier, als
Waffentruhe gedient hat. Immerhin war er als Gerichtspfleger für die Verteidigung der Burg und des
Umlandes verantwortlich. Ein ähnliches, aber kürzeres Objekt für Armbrustpfeile, mit aufgemalten Wappen
ist bei der 96. Auktion im Palais Kinsky am 19.6.2013 angeboten worden.
Veits Sohn Hans Franz ist 1550 bereits seit vier Jahren mit Magdalena Schurf verheiratet.24 Er benutzt das
viergeteilte Allianzwappen Wehingen-Neuhaus25 und wohnt im Schloss Sigmundsried. Sein Vater hat das
Schloss gekauft, weil die Burg Laudegg in Ladis in schlechtem baulichem Zustand und wohl kaum mehr
bewohnbar war. Christoph von Wehingen war für eine kirchliche Karriere vorgesehen. Seinem Bruder Hans
Franz verkaufte er 1550 seinen halben Erbanteil am Schloss Sigmundsried.26 Dennoch scheint er öfter als
Gerichtsherr von Laudegg auf (am 29.6.1545, am 12.12.1545, am 30.4.1550, am 24.8.1557)27 als sein
Bruder Hans Franz (am 20.7.1560 – im Regest Nr. 153 irrtümlich 1660, und am 21.6.1555).28. Als
Kirchmaier fungierten beide, 1555 Hans Franz29 und 1556 Christoph30.

Objektgeschichte
Später, vielleicht im späten 19. Jahrhundert oder frühen 20. Jahrhundert, als die Pfarre Serfaus einen
Tresor anschaffte, wurde die Truhe nutzlos. Sie geriet in Vergessenheit. Erstmals wieder aufgefunden
wurde sie 195831. Das Wissen über ihren Funktionszusammenhang war aber inzwischen verloren
gegangen oder wurde aus irgendwelchen Gründen verschwiegen. Als „Totentruhe“ bezeichnet fand sie
den Weg in die Tagespresse: Nach Abriss des Bauernhauses „Arche Noah“ wurde die Truhe im Hause von
Günter Schwarz verwahrt,32 von wo man sie 2002 wieder in die Pfarre brachte, um sie in der
Jubiläumsausstellung zu präsentieren.
Anlässlich des höchst zweifelhaften 1575-Jahr-Jubiläums der Serfauser Wallfahrt im Jahre 2002 beschrieb
Robert Klien die Totentruhe im Dorfbuch33 und verhalf der Bestattungsgeschichte damit zu fragwürdiger
Seriosität.

Zusammenfassung
Jedes Dorf hat seine Geschichten. Sie entstehen besonders dort, wo es in der Vergangenheit
Lebensbedingungen gab, die uns heute unvorstellbar erscheinen. Neigt man doch dazu die Vergangenheit
aus der Sicht der Gegenwart zu beurteilen. Die mündliche Überlieferung ist so nachhaltig, weil die
Kurisosität der Geschichten gegen die wissenschaftlichen Fakten immer den Sieg davonträgt.
Was sich als besonders unangenehm in den Herzen unserer Vorfahren eingegraben hat, wird von
Generation zu Generation weitererzählt. Immer mehr verschwimmen die Details. Was bleibt, ist das
unangenehme Gefühl, das eine unbeliebte kaiserliche Reform hinterlässt. Die Fakten verblassen, aber der
Sarg geht nicht mehr aus den Köpfen. Die Erinnerung an die Leichentransporte über die Berge ist in Tirol
vielleicht nie ganz versiegt, neu belebt wurde sie jedenfalls durch Ernest Hemingway. Die falsch
„klassifizierten“ Knochenfunde ließen sogar vergessen, dass Christen nur in geweihter Erde begraben
werden. Schon war da ein externer Begräbnisort für die Leute von See. Last but not least wäre nochmals
daran zu erinnern, dass die Zugehörigkeit der orographisch rechts gelegenen Bauernhöfe am von See, zur
Pfarre Serfaus von ca. 1400 bis ca. 160034 dauerte. Der Leichentransport über die Berge der
Samnaungruppe findet also seit über vier Jahrhunderten nicht mehr statt, die Geschichten darüber leben
weiter.
Nur schwer lassen sich Manche überzeugen, dass man die Geschichte anders erzählen kann, ja muss,
wenn man die Forschungsergebnisse mit einbezieht.

Herzlicher Dank gilt Frau Mag. Martina Pall, Direktorin der Schell Collection, für wertvolle Informationen
und die für den Kongress-Vortrag und diese Publikation zur Verfügung gestellten Fotos.

24
   Leopold Stierle, Die Herren von Wehingen, Sigmaringen 1989, S. 90.
25
   runde Wappenscheibe (Bleiglasfenster) des Hans Franz von Wehingen von 1550 im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum,
   Innsbruck, aus Schloss Sigmundsried; Wappen: geviertet; 1 und 4: in Blau ein silberner Zickzackbalken; 2 und 3: in Schwarz eine
   linksschräg gestellte, silberne Zinnenmauer.
26
   Waltraud Comploy, Die Burgen Tirols am obersten Inn, (=Veröffentlichungen der Universität
   Innsbruck Bd. 74, Kunstgeschichtliche Studien, Bd. I), Innsbruck 1972, S. 63.
27
   Sebastian Hölzl, Gemeindearchiv Kauns – Gerichtsarchiv Laudegg (TGQ Nr. 14), Innsbruck 1984.
28
   Ebenda (TGQ Nr. 14) Nr. 153, S. 71 und Sebastian Hölzl, Gemeindearchive Bezirk Landeck (TGQ Nr. 31), 30/25, S. 255)
29
   Wie Anm. 20.
30
   Wie Anm. 19.
31
   Herbert Buzas, ][ohne Titel] in: Tiroler Tageszeitung Nr. 192, 22.8.1958, zit. bei Robert Klien, Anm. 33.
32
   Maria Köhle, Die letzte Reise führte über Joch nach Serfaus, in: Tiroler Tageszeitung NR 75-TO, 29.März 2002.
33
   Robert Klien, Die Pfarre Serfaus, in: Gemeinde Serfaus (Hg.), Serfaus [bearbeitet von Robert Klien], Serfaus o.J. [2002], S. 152-
   165, hier: 153 f.
34
   Mündliche Information von Othmar Kolp beim Museumshuangart/Podiumsduskussion „Mit den Toten über’s Joch“ im
   Pfarrmuseum Serfaus, am 24.9.2019 – Dokumentation siehe: arthoss.film – online unter: https://www.youtube.com/watch?v=MK3-
   aAwiHVQ

www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal/
DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol
Zitierempfehlung:
Sylvia Mader, Die „Totentruhe“ von Serfaus – ein Museumsobjekt, das seine kuriose Geschichte nicht los
wird [Originaltitel: „The Coffin of Serfaus - a museum object that cannot rid itself of its history“], ICOM
International Conference "Heritage Interpretation: the Power of Storytelling in Museums", June 27 – 29 th ,
2019, St. Petersburg, Russian Federation, The State Hermitage Museum, Gatchina Palace and Estate
Museum, St Isaac's Cathedral State Museum.
Online unter: https://www.tirol.gv.at/kunst-kultur/kulturportal/museumsportal [Rubrik: Wissenswertes]

© Land Tirol, Dr. Sylvia Mader (Text, Abb. 3, 5, 6, 9, 10)
© Pfarrmuseum Serfaus & Andreas Schalber Fotografie (Abb. 1, 2)
© Gemeinde Serfaus (Abb. 4)
© Schell Collection, Graz (Abb. 8)

Abbildungen
    1 Pfarrmuseum, Objekt Inv.-Nr. 100, Giebeltruhe/Archivtruhe, sogenannte „Totentruhe“
    2 ebenso, Stirnseite der Giebeltruhe
    3 Ensemble Pfarrzentrum Serfaus
    4 Furgler, Furgler Joch und Komperdell Alm (im Vordergrund), Fotoabzug um 1950, Gemeindearchiv
      Serfaus
    5 Pfarrgarten (im Vordergrund) und Widum
    6 Burg Laudegg in Ladis, Sitz des Gerichtes Laudegg (später. Bezirksgericht Ried im Oberinntal)
    7 Giebeltruhe/Archivtruhe, Ausschnitt mit graphische Ergänzungen der verlorenen Details der
      Giebeltruhe Inv.-Nr. 100 (© wie Abb. 1)
    8 Vorhängeschloss, 16. Jh., Foto zur Verfügung gestellt von Mag. Martina Pall, Schell-Collection
    9 Wappen des Veit von Wehingen, unbekannter Maler
  10 Friedhof südlich der Wallfahrtskirche. Hier befanden sich bis in die 1950er Jahre verwaiste Gräber
      der Bevölkerung von See.

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DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol DIE TOTENTRUHE VON SERFAUS - Land Tirol
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