Ein rätselhaftes Boomgeschäft

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Ein rätselhaftes Boomgeschäft
ABO+ Samstag 13. Januar 2018 04:51 Zürcher Landbote

    Ein rätselhaftes Boomgeschäft
    Winterthur In Winterthur schiessen derzeit sogenannte Escape Rooms aus dem
    Boden. Nebst Jungunternehmern macht auch das Technorama mit. Allen
    gemeinsam sind raffinierte Gruppenrätsel, die eine Geschichte erzählen.

    Nur Deko oder ein wertvoller Hinweis? Alex Zwahlen und Vladimira Scheidegger posieren
    im Raum Nora ihrer Firma Winterthur Escape an der Obergasse mit Skulpturen. (Bild:
    Madeleine Schoder)
    Michael Graf

•    8

    Wenn die Chefin und der Bürokollege zu Detektiven werden und Schränke
    durchwühlen, wenn die Tochter Türschlösser knackt und dafür gelobt wird,
    dann ist man entweder im falschen Film oder in einem Escape Room. Diese
    Gruppenrätsel, von denen bis vor kurzem kein Mensch gehört hatte, sind zum
    Boommarkt geworden. Unter Zeitdruck, meist 60 Minuten, muss die Gruppe
    aus einem speziell präparierten Raum etwas herausfinden und dabei diverse
    Logik- und Geschicklichkeitsrätsel lösen. Es ist wie ein Computerspiel – ausser
    dass man alles anfassen kann. Im März eröffnete am Lagerplatz der erste
Winterthurer Escape Room, seither sind zwei Mitbewerber dazugekommen
und ein weiteres Angebot ist in Planung. Zeit, einen Überblick zu gewinnen.

DIE NEUESTEN AM PLATZ

Drei Jahre ist es her, dass eine Freundin der heute 32-jährigen Zürcherin
Vladimira Scheidegger das erste Mal von einem Escape Room vorschwärmte.
Wenig später kündigte die gelernte Landschaftsingenieurin kurz entschlossen
ihren Job und eröffnete am Stauffacher in Zürich einen eigenen Escape Room.
Damals war es der zweite in der Stadt. Drei Jahre später wagt sie sich mit
«Winterthur Escapes» in eine zweite Stadt. Im Dezember war Eröffnung.

Vladimira Scheidegger empfängt uns im vierten Stock eines Altstadthauses an
der Obergasse. Hier liesse sich herrschaftlich wohnen, mit Blick in Innenhöfe
und über Dachlandschaften. Doch das Schlafzimmer ist abgedunkelt, nur eine
Deckenlampe spendet schummriges Licht. Wir befinden uns im Spiel «Ipogios»
und durchschnüffeln ein fremdes Büro nach Spuren. Eine grosse Weltkarte
und Konstruktionspläne sind aufgehängt, an der einen Stirnwand steht ein
Computer, auf der anderen ein Spind.
 «Heute sind die Kunden anspruchsvoller. Die Leute möchten in eine
               Geschichte eintauchen.»Vladimira Scheidegger

Innerhalb von 60 Minuten soll unser Team das Rätsel um eine Gasturbine
lösen, die aus dem Sulzer-Areal gestohlen wurde. Dabei müssen der Spind
geknackt, Computerpasswörter gefunden und knifflige Puzzles gelöst werden.
Jeder Gegenstand im Raum könnte ein Hinweis sein. Teamwork ist gefragt!
Wenn es nicht mehr weitergeht, meldet sich die Spielleitung per Walkie-
Talkie: Sie guckt aus einem anderen Raum über Video zu und gibt wertvolle
Tipps.

In den drei Jahren, in denen sie im Geschäft ist, hat Vladimira Scheidegger ihr
Geschäftskonzept mehrmals neu erfinden müssen. «Die Räume der ersten
Generation waren eine Zusammenstellung verschiedener Rätsel. Heute sind
die Kunden anspruchsvoller. Die Leute möchten in eine Geschichte eintauchen.
Auch elektronische Rätsel und Effekte gehören dazu: Licht und Ton reagieren
auf die Aktionen der Spieler.»
«Gemeinsames Rätseln eignet sich ideal für einen Team-Building-
                     Anlass.»Vladimira Scheidegger

Mithilfe ihre Partners Alex Zwahlen (39) hat sie in den letzten Monaten in der
Dachwohnung Hunderte Meter Kabel verlegt. Neben dem Industrierätsel, das
es gleich doppelt gibt, damit zwei Gruppen gegeneinander antreten können, ist
auch ein familientaugliches Fantasieszenario im Angebot: Nora, die Geschichte
um ein verschwundenes Mädchen.

Scheideggers grösste Kundengruppe sind allerdings Firmen, besonders im
zweiten Halbjahr macht sie gegen 70 Prozent ihres Umsatzes mit
Betriebsanlässen. Sie hat ein mobiles Spiel entwickelt, mit dem sie direkt in die
Betriebe gehen kann, oder ein Spiel in einem Zürcher Hotel, zu dem ein Dinner
dazugehört. «Gemeinsames Rätseln eignet sich ideal für einen Team-Building-
Anlass», sagt sie.

DIE ERFOLGREICHEN PIONIERE

Während die halbe Schweiz schon im Escape-Room-Fieber war, blieb
Winterthur lange ein weisser Fleck auf der Karte. Die Pioniere waren im März
zwei erst 23-jährige Studenten, Miro Hintermüller und Cédric Holenstein. Ihr
«Geheimgang 188» besticht schon allein durch die atmosphärische Lokalität:
Durch einen langen abschüssigen Gang gelangt man vom Lagerplatz in die
Katakomben des Sulzer-Areals. In dem bunkerartigen alten Notspital gibt es
nicht einmal Handyempfang. Dafür zwei äusserst stimmungsvolle
Rätselräume.
«Unsere Erwartungen sind komplett übertroffen worden.»Miro Hintermüller

Seit Eröffnung im März konnte der «Geheimgang 188» schon über 6300
Kunden verzeichnen, sagt Hintermüller. «Unsere Erwartungen sind komplett
übertroffen worden.» An vielen Wochenenden sei jeder einzelne Termin
belegt. Wenn die jungen Unternehmer im Sommer ihr Studium abschliessen,
Hintermüller in Journalismus, Holenstein in Wirtschaft, wollen sie sich
hauptberuflich dem «Geheimgang 188» widmen.

«Ehrlich gesagt war das Projekt in den letzten Monaten bereits oft unser
Hauptberuf, und das Studium musste hintanstehen», sagt Hintermüller.
Inzwischen haben die zwei ein ortsunabhängiges Spiel entwickelt, das man für
Anlässe buchen kann, ein dritter Rätselraum ist in Planung. Als Spielleiter sind
sie dagegen selten im Einsatz – dafür haben sie sieben Studierende angestellt.

DIE VOLLPROFIS

Im Schweizer Markt der Escape Rooms gibt es viele Quereinsteiger und kleine
Anbieter. Im Vergleich dazu ist die Firma Adventure Rooms aus Bern ein Riese.
2012 wurde sie vom Berner Gymnasiallehrer Gabriel Palacios gegründet,
dessen Schulprojekt so erfolgreich war, dass es ein Eigenleben annahm.
Seither hat Adventure Rooms unzählige Filialen im Franchisesystem in 20
Länder auf der ganzen Welt verkauft, darunter die USA, Australien, Katar,
Deutschland, Peru und Estland. Als das Technorama sich entschloss, selbst
zwei Räume anzubieten, setzte man daher auf diesen erfahrenen Partner.
«Diese Räume sind spektakulär. Für mich als Physiklehrer ist ein lang
           gehegter Traum wahr geworden.»Gabriel Palacios

Seit September ist «Equilibrium» spielbar, im Frühling soll «Continuum»
folgen. Das Besondere: Die Rätsel hier sind von naturwissenschaftlichen
Phänomenen inspiriert und wurden durch die erfahrenen Exponatebauer des
Technoramas hergestellt. Firmengründer Palacios gerät ins Schwärmen:
«Diese Räume sind spektakulär. Für mich als Physiklehrer ist ein lang gehegter
Traum wahr geworden.»

Das Spiel richtet sich vor allem an Erwachsene und Jugendliche. Der Eintritt
von 30 bis 40 Franken pro Person, abhängig von der Gruppengrösse, ist nicht
im Eintritt enthalten und ist vergleichbar mit dem «Geheimgang 188» und
«Winterthur Escape».

DIE NEUEINSTEIGER

Mitten in Seen, an der Bollstrasse 6, will ein junges Paar seinen Traum vom
eigenen Escape Room verwirklichen. Linda Altwegg (26) und Cyril Odermatt
(28) kamen vor knapp zwei Jahren bei einem Schweden-Urlaub auf den
Geschmack. «Wir waren total begeistert, wie tief man dort in die Geschichte
eintauchen konnte», sagt Altwegg. Zurück in der Schweiz testeten sie diverse
Angebote – und waren enttäuscht. «Das Angebot entsprach nicht unseren
Wünschen», sagt Altwegg. «Viele waren sehr auf die Rätsel fixiert. Bei uns soll
die Geschichte ganz im Vordergrund stehen.»

Im letzten Frühling reifte der Entschluss, es selbst zu versuchen. Die
Voraussetzungen sind gut: Cyril Odermatt hat als Elektroniker ein Händchen
für technische Rätsel. Und Linda Altwegg konnte als gelernte
Hochbautechnikerin die Pläne für die Umnutzung der Räume gleich selbst
erstellen. Im Moment wartet die Escape Stories GmbH noch auf Bewilligungen,
doch Ende Mai möchten sie eröffnen.
 «Bei uns soll die Geschichte ganz im Vordergrund stehen.»Linda Altwegg

Von den Machern des «Geheimgangs 188» erhalten sie freundliche
Unterstützung – eine allfällige spätere Kooperation sei nicht ausgeschlossen,
heisst es von beiden Seiten. Ganz auf die Karte Escape Room wollen Altwegg
und Odermatt aber zunächst nicht setzen: Beide behalten ihre Jobs und wollen
die zwei Räume mit Angestellten betreiben.
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