Foto: Gerd Altmann auf Pixabay - Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung
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STRATEGIEPAPIER #8 ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES NATIONALEN AKTIONSPLANS Foto: Gerd Altmann auf Pixabay Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung
Herausgeber: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz Hertie School Friedrichstraße 180 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 259 219 393 Internet: www.nap-gesundheitskompetenz.de Die Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz wird von der Universität Bielefeld und der Hertie School gemeinschaftlich betrieben. Autorinnen und Autoren: Eva-Maria Berens, Alexander Haarmann, Julia Klinger, Doris Schaeffer Bitte wie folgt zitieren: Berens, E.-M., Haarmann, A., Klinger, J., Schaeffer, D.: Strategiepapier #8 zu den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans. Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung. Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz 2022. DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2967580 Soweit nicht anders angegeben, wird diese Publikation unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY NC ND) veröffentlicht. Weitere Informationen finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de und https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/legalcode.de. Der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz wird aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung gefördert. Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Yvonne Adam (AMIKO Institut für Migration, Kultur und Gesundheit), Sandra Baumeister (Bundesministerium für Gesundheit), Dr. Eva-Maria Berens (Universität Bielefeld), Miriam Blume (Robert Koch Institut), Steve Burkhardt (Bundesministerium für Gesundheit), Prof. Dr. Kevin Dadaczynski (Hochschule Fulda), Dr. Saskia De Gani (Careum Schweiz), Natalia Dengler (Die Sputniks e.V. Berlin, Selbsthilfeverein russischsprachiger Eltern von Kindern mit Behinderung), Lennert Griese (Universität Bielefeld), Dr. Alexander Haarmann (Hertie School), Prof. Dr. Jan Paul Heisig (WZB/Freie Universität Berlin), Stephanie Hoffmann (Brandenburgische TU Cottbus-Senftenberg), Ansgar Jonietz („Was hab ich?“ gGmbH), Julia Klinger (Universität zu Köln), Dr. Klaus Koch (IQWiG), Daniel Männlein (Robert Bosch Stiftung), Susanne Melin (Robert Bosch Stiftung), Dr. Inga Münch (Bertelsmann Stiftung), Ramazan Salman (Ethno-Medizinisches Zentrum e.V.), Corinna Schaefer (ÄZQ), Prof. Dr. Doris Schaeffer (Universität Bielefeld), Tobias Stapf (Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung gGmbH), Dr. Dominique Vogt (DLR Projektträger), Marcel Weigand (UPD gGmbH) Wir danken zudem Prof. Dr. Theda Borde (Alice Salomon Hochschule Berlin), Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler (Bertelsmann Stiftung) und Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann (Hertie School – University of Governance, Berlin) für die Kommentierung und die wertvollen Hinweise.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 1 Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung Aktuell haben rund 27 % der Bevölkerung in Fähigkeit, Gesundheitsinformationen in unter- Deutschland einen Migrationshintergrund 1 ‒ schiedlicher Form finden, verstehen, beurtei- das sind insgesamt 22 Millionen Menschen. len und anwenden zu können – gering. Zwar Menschen mit Migrationshintergrund stellen gibt es auch in Deutschland inzwischen quan- eine sehr heterogene Gruppe dar, die sich aus titative Studien zur Gesundheitskompetenz unterschiedlichsten Herkunftsländern zusam- der Bevölkerung. Meist enthalten sie ebenfalls mensetzt. Rund 14 Millionen von ihnen haben Daten zu Menschen mit Migrationshinter- eigene Migrationserfahrungen, sind also selbst grund, der Fokus liegt jedoch auf der Bevölke- nach Deutschland eingewandert. Weitere 8 rung insgesamt. Sie zeigen, dass die Mehrheit Millionen sind direkte Nachkommen. der Bevölkerung in Deutschland eine geringe Gesundheitskompetenz aufweist und dies ein- Die Beweggründe für eine Migration nach mal mehr für Menschen mit Migrationshinter- Deutschland sind sehr unterschiedlich. Bei- grund gilt. 2 spielhaft sind hier Bildungs- und Arbeitsmig- ration, Flucht und/oder Familiennachzug zu Erst die Studie HLS-MIG 3 widmete sich gezielt nennen, womit jeweils unterschiedliche Menschen mit Migrationshintergrund – dies Bleibeabsichten, Rechte und Zukunftsplanun- mit dem Anspruch, der Diversität dieser Be- gen einhergehen. völkerungsgruppe Rechnung zu tragen und eine differenzierte Betrachtung zu ermögli- Auch die Alters-, Sozial- und Bildungsstruktur chen. Um das zu realisieren, wurden die zwei ist sehr heterogen. Wenngleich ein Teil der größten Migrationsgruppen in Deutschland in Menschen mit Migrationshintergrund den den Blick genommen: Dies sind Menschen, die oberen Bildungs- und Sozialschichten ange- aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion o- hört, sind sie insgesamt sozial tendenziell der aus der Türkei eingewandert sind, und de- schlechter gestellt als die Bevölkerung ohne ren Nachkommen. Migrationshintergrund. Aus all dem ergeben sich unterschiedliche gesundheitliche Bedarfs- Die HLS-MIG Studie zeigt als zentrales Ergeb- und Bedürfnislagen und andere Anforderun- nis, dass die Gesundheitskompetenz in diesen gen an die Gesundheitsversorgung und an das Gruppen entgegen der Erwartung nicht gerin- Gesundheitssystem. ger als in der Allgemeinbevölkerung ist, und sie daher nicht per se vulnerabel für geringe Obschon Menschen mit Migrationshinter- Gesundheitskompetenz sind. Zugleich ver- grund in Deutschland einen großen Teil der deutlicht die Studie aber auch, dass gut die Bevölkerung ausmachen, ist das Wissen über Hälfte der befragten Personen über eine ge- ihre Gesundheitskompetenz – verstanden als ringe Gesundheitskompetenz verfügt. 1 2 Der Begriff „Migrationshintergrund“ wird als schwierig an- ex. Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E-M., Hurrelmann, K.: Ge- gesehen. Aktuell empfiehlt z. B. der Sachverständigenrat In- sundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergeb- tegration Migration von „eingewanderten Menschen und ih- nisbericht. Universität Bielefeld 2016. https://pub.uni-biele- ren Nachkommen“ zu sprechen. Auch der Begriff „Menschen feld.de/download/2908111/2908198/Ergebnisbericht_HLS- mit Zuwanderungsgeschichte“ findet vermehrt Zuspruch. GER.pdf Das Statistische Bundesamt nutzt nach wie vor den Begriff 3 Berens, E.-M., Klinger, J., Mensing, M., Carol, S., Schaeffer, D.: „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ (vgl. Kluge, U., Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshinter- Rau, L.: Kritische Betrachtung des Begriffes und der Defini- grund in Deutschland. Ergebnisse des HLS-MIG. Universität tion eines „Migrationshintergrundes“. In: Spallek, J., Zeeb, H. Bielefeld 2022. https://pub.uni-bielefeld.de/down- (Hg.): Handbuch Migration und Gesundheit. Grundlagen, Per- load/2960131/2960568/HLS-MIG-Bericht_web.pdf spektiven und Strategien. Hogrefe Verlag: Bern 2021, S. 29‒ 36).
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 2 Die digitale Gesundheitskompetenz ist noch im höheren Alter sind jedoch stärker von ge- schlechter ausgeprägt – jeweils gut zwei Drit- ringer Gesundheitskompetenz betroffen – alle- tel beider Migrationsgruppen weisen eine ge- samt Gruppen, die zu den ohnehin benachtei- ringe digitale Gesundheitskompetenz auf. ligten Gruppen in der Bevölkerung gehören. Diese ist zwar tendenziell etwas besser als in Hinzu kommen migrationsspezifische As- der Allgemeinbevölkerung. 4 Doch sieht sich pekte: So weist auch ein großer Anteil an Men- auch die Bevölkerung mit Migrationshinter- schen mit geringen Deutschkenntnissen grund vor zahlreiche Schwierigkeiten bei der und/oder eigener Migrationserfahrung eine Bewältigung der Anforderungen im Umgang geringere Gesundheitskompetenz auf. All mit gesundheitsrelevanten Informationen ge- diese Gruppen müssen bei der Förderung der stellt – egal, ob in schriftlicher, mündlicher o- Gesundheitskompetenz besondere Aufmerk- der eben in digitaler Form. Die Förderung der samkeit erhalten – auch mit Blick auf die Si- digitalen Gesundheitskompetenz von Men- cherung gesundheitlicher Chancengleichheit. schen mit Migrationshintergrund stellt daher eine wichtige Aufgabe dar. Zugleich sind mögliche Problemkumulationen zu beachten. So wird beispielsweise der Um- Die daraus erwachsenen Konsequenzen für gang mit Gesundheitsinformationen zusätzlich die Entwicklung und Umsetzung von Interven- erschwert, wenn geringe Lese- und Schreibfä- tionen waren Thema eines Expert:innen- higkeiten und geringe Deutschkennnisse zu- workshops, dessen Ergebnisse Gegenstand sammenkommen. In diesem Fall kann auch dieses Strategiepapiers sind. Es knüpft an das eine Übersetzung schriftlicher Materialien vorangegangene Strategiepapier #6 des Natio- keine Abhilfe schaffen. Überdies können bei nalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz mit eingewanderten Menschen andere Nutzungs- dem Titel „Gesundheitskompetenz in einer Ge- gewohnheiten und -erfahrungen aus dem Her- sellschaft der Vielfalt stärken“ 5 an und nimmt kunftsland Schwierigkeiten im Umgang mit besonders die Herausforderungen im Bereich Gesundheitsinformationen im Aufnahmeland der digitalen Gesundheitskompetenz in den verstärken. Ebenso können abnehmende kog- Blick. nitive oder eingeschränkte Seh- und Hörfähig- keiten im Alter den Umgang mit Gesund- Dabei wird zu sehen sein, dass viele der Emp- heitsinformationen erschweren. fehlungen nicht allein für Menschen mit Mig- rationshintergrund relevant sind, sondern Erforderlich sind daher zielgruppenspezifi- auch für die Bevölkerung ohne Migrationshin- sche Interventionen, die auf eine Stärkung der tergrund. individuellen Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund zielen 1. Förderung der Gesundheitskompetenz und dabei die demografischen und sozioöko- vorantreiben und dabei soziale Unterschiede nomischen Merkmale aufgreifen. Wichtig ist beachten ebenfalls, das Thema ‚Problemkumulationen‘ mitzudenken und die Potentiale zur Verringe- Wie die Studie HLS-MIG zeigt, verfügt etwa die rung sozialer und gesundheitlicher Ungleich- Hälfte der befragten Personen über eine ge- heit auszuschöpfen. Gleichzeitig sind struktu- ringe allgemeine Gesundheitskompetenz. relle Maßnahmen notwendig, die den Umgang Menschen mit niedrigem Bildungs- oder Sozi- mit Gesundheitsinformation erleichtern, wie alstatus und geringen finanziellen Ressourcen z. B. die Bereithaltung leicht verständlicher, sowie Menschen mit geringer Literalität oder 4 5 Schaeffer et al.: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Zu finden unter: https://www.nap-gesundheitskompe- Deutschland – vor und während der Corona Pandemie: Er- tenz.de/app/download/8109898563/NAP%20Strategie gebnisse des HLS-GER 2. Universität Bielefeld 2021. papier%20Nr.%206.pdf?t=1669190913 https://pub.uni-bielefeld.de/download/2950305/ 2950403/HLS-GER%202_Ergebnisbericht.pdf
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 3 zuverlässiger (mehrsprachiger) digitaler Ge- Lebensverhältnissen oder Menschen, die fest sundheitsinformationen, Informationen zur in Glaubensgemeinschaften eingebettet sind, ersten Einführung in das Gesundheitssystem oder als gut situierte eingewanderte Akademi- für neu eingewanderte Personen, flächende- ker:innen mit internationalen Familien und ckende Angebote zur (digitalen) Sprachmitt- Netzwerken. Die Beispiele verdeutlichen, wie lung und sprachliche Vereinfachung von Infor- sehr sich die lebensweltlichen Bedingungen mationen bzw. Bereitstellung von Informatio- und auch die Lebensgeschichten von Men- nen in verschiedenen Sprachen, Formaten und schen mit Migrationshintergrund unterschei- über unterschiedliche Kanäle. Zu den struktu- den. Sie stärker zu beachten, ist eine Voraus- rellen Maßnahmen gehört auch, den Themen setzung, um die Erreichbarkeit bestimmter Usability und Nutzerfreundlichkeit größere Zielgruppen zu verbessern und zugleich die Aufmerksamkeit zu schenken und dies nicht Akzeptanz und das Vertrauen in die Zuverläs- nur auf Ebene der Endnutzer:innen, sondern sigkeit von Gesundheitsinformationen zu stär- auch beim Design zugrundeliegender digitaler ken. Strukturen. 6 Wichtig ist dabei die inhaltliche Berücksichti- 2. Den unterschiedlichen lebensweltlichen gung der Lebenswelten. So sind nutzerfreund- Bedingungen Aufmerksamkeit widmen liche, diversitätssensible Informationsmateri- alien nötig, in denen die unterschiedlichen Be- Die vorliegenden Studienbefunde deuten an, darfslagen der jeweils anvisierten Zielgruppen dass das Herkunftsland offenbar eine weniger einbezogen werden. Der bestehende Fundus bedeutsame Rolle für die Ausprägung der Ge- an qualitätsgesicherten Gesundheitsinformati- sundheitskompetenz spielt. Wichtiger schei- onen muss also beispielsweise an die unter- nen die unterschiedlichen lebensweltlichen, schiedlichen ökonomischen, soziokulturellen biographischen und sozialstrukturellen Bedin- oder auch aufenthaltsrechtlichen Bedingun- gungen zu sein. Um diese Vermutung zu erhär- gen, durch sie geprägte Verhaltensweisen und ten, ist weitere Forschung nötig. sprachliche bzw. begriffliche Gewohnheiten angepasst werden. 7 Dabei muss diskriminie- Dennoch erwachsen daraus schon jetzt Konse- rungs- und stigmatisierungsfreie Sprache ver- quenzen für die Interventionsentwicklung: Bei wendet werden. der Konzipierung von zielgruppenspezifischen Strategien und Maßnahmen zur Förderung 3. Bestehende Informationsangebote von Gesundheitskompetenz wie auch bei dem bekannter machen und gezielter verbreiten Zuschnitt von Informationen sollten die Diver- sität der Lebenswege und die Vielfalt der Bio- Eine weitere Herausforderung für die Förde- graphien sowie die jeweiligen lebensweltli- rung der Gesundheitskompetenz erwächst aus chen und soziokulturellen Bedingungen be- der anhaltenden digitalen Transformation. Im sonders berücksichtigt werden. Zuge dieser Entwicklung sind zahlreiche Infor- mationsmöglichkeiten und -chancen entstan- Auch die Informationsbedarfe und -bedürf- den und haben digitale Medien und digitale In- nisse sind stark durch die jeweiligen Lebens- formationsangebote immer weiter an Bedeu- welten geprägt, was ebenfalls relevant für die tung gewonnen. So rangiert das Internet mitt- Interventionsentwicklung ist. So sind bei- lerweile auf Platz 2 der Informationsquellen spielsweise Schüler:innen mit elterlicher Mig- für gesundheitliche Fragen.3 rationserfahrung anders zu adressieren als kürzlich eingewanderte Menschen in prekären 6 7 Schmidt-Kaehler, S. et al. Gesundheitskompetenz: Deutsch- Dabei sind u. a. unterschiedliche Ernährungsweisen zu be- land in der digitalen Aufholjagd. Einführung technologischer achten, so beispielsweise die Information, ob zur Herstellung Innovationen greift zu kurz. Das Gesundheitswesen 2021, der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 Bestandteile von Schwei- 83(5). https://doi.org/10.1055/a-1451-7587 nen genutzt werden.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 4 Doch zugleich haben Fehl-, Falsch- oder ge- wichtig, die Möglichkeiten zugehender Infor- zielte Desinformationen sprunghaft zugenom- mationsverbreitung/-vermittlung (Push-Prin- men – besonders im Internet. Verbunden da- zip) intensiver zu nutzen: Informationen also mit ist die Informationslandschaft unüber- nicht nur bereitzustellen, in der Hoffnung dass sichtlicher geworden, sodass das Finden gesi- sie gefunden und abgerufen werden, sondern, cherter und zuverlässiger Informationen und anders herum, Informationen zu den anvisier- auch die Beurteilung speziell von digitalen In- ten Nutzer:innengruppen zu bringen – sie formationen schwieriger geworden ist. Damit etwa aktiv über verschiedene Kanäle oder di- sind die Anforderungen an den Umgang mit rekt in den Lebenswelten zu verbreiten und Information gestiegen und zugleich sind die dort präferierte Informationswege und -mög- Akzeptanz und das Vertrauen in Gesundheits- lichkeiten zu nutzen. Empfehlenswert ist au- information tendenziell gesunken. Daher ist ßerdem, stärker als bislang, nicht-schriftliche nicht verwunderlich, dass die digitale Gesund- Formate auszubauen, z. B. Formen des Edu- heitskompetenz geringer als die allgemeine tainments und der Gamification, die insbeson- Gesundheitskompetenz ist. 3,4 Ebenso wenig dere für junge Menschen geeignet sind 11, zu erstaunt, dass die Beurteilung digitaler Infor- berücksichtigen, ebenso interaktive und indi- mationen vielfach schwerfällt und dass viel an vidualisierte Ansätze. existenter Information nicht bekannt ist und daher die Adressat:innen nicht erreicht. Die Zeit während der Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür, wie die erhöhte Verfüg- Für die Förderung der Gesundheitskompetenz barkeit von Informationen und ein großes In- bedeutet dies, die Unübersichtlichkeit nicht formationsangebot über verschiedene Kanäle ungewollt weiter zu erhöhen und nach dem zu einer verbesserten Information der Bevöl- Gießkannenprinzip immer neue, vermeintlich kerung beigetragen hat: Über Monate hinweg zielgruppenspezifische oder adressatenge- kam man als Nutzer:in – unabhängig, in wel- rechte Informationsangebote zu schaffen. Viel- chem Medium – nicht umhin, Informationen mehr sollten die bestehenden Informationsan- über Symptome einer Corona-Infektion, die gebote leichter auffindbar gemacht werden – Wichtigkeit von Impfungen sowie die Ent- sei es durch Navigationshilfen, Lots:innen wicklung und den Einsatz von Impfstoffen, die oder aber durch gebündelte Informationen, Krankenhausauslastung und vorhandene Prä- beispielsweise in Portalen und auf Plattfor- ventionsmaßnahmen zu erhalten. Diese Omni- men, oder durch individuell zugeschnittene präsenz von Informationen, ohne nach ihnen Informationen in der elektronischen Patien- suchen zu müssen, dürfte einer der Faktoren tenakte. Vor allem aus Nutzer:innensicht wer- für die Verbesserung der Gesundheitskompe- den gebündelte, einfach zugängliche und dabei tenz in dieser Zeit sein. 12 Die einfache Verfüg- zugleich vertrauenswürdige Informationen als barkeit dürfte zudem geholfen haben, auch wünschenswert erachtet. 8,9,10 Menschen zu erreichen, die sich mit dem Thema normalerweise nicht auseinanderge- Neben den klassischen Pull-Angeboten, wie setzt hätten. Portalen oder Internetseiten, ist es deshalb 8 Gille, S., Griese, L., Schaeffer, D.: Preferences and Experi- Berlin 2022. https://www.bosch-stiftung.de/de/publika- ences of People with Chronic Illness in Using Different tion/neuzugewanderte-frauen-besser-informieren-und-be- Sources of Health Information. Results of a Mixed-Methods raten Study. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 13185. 11 Edutainment meint ein unterhaltsames Lernen; Gamifica- https://doi.org/10.3390/ijerph182413185 tion ist eine konkrete Anwendungsform, bei der spielerische 9 Adam, Y., Carol, S.: Gesundheitskompetenz von Menschen Elemente für den Wissenserwerb genutzt werden. Ex. Da- mit Migrationshintergrund. Perspektive und Erfahrungen daczynski, K., Schiemann, S., Paulus, P. (Hg.): Gesundheit von türkisch- und russischsprachigen Frauen. Universität spielend fördern. Potenziale und Herausforderungen von di- Bielefeld 2020. https://doi.org/10.4119/unibi/2949096 gitalen Spieleanwendungen für die Gesundheitsförderung 10 ex. Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung (Hg.): und Prävention. Beltz Verlag, Weinheim, Basel, 2016. 12 Neuzugewanderte Frauen besser informieren und beraten. Schaeffer, D. et al.: Gesundheitskompetenz in Deutschland Chancen und Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien. vor und während der Corona-Pandemie. Das Gesundheitswe- sen 2021, 83(10). http://dx.doi.org/10.1055/a-1560-2479
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 5 4. Besonderheiten des Informationsverhal- Vereinen, Glaubensgemeinschaften, Selbsthil- tens beachten fegruppen, aber auch Schulen und Stadtteil- zentren etc. kommt dabei eine wichtige Multi- Wichtig ist bei der Verbreitung von Informati- plikatorenrolle zu.5 Damit sie diese auch aus- onen, die Präferenzen und Verhaltensweisen füllen können, bedarf es für sie allerdings ge- der anvisierten Zielgruppe zu berücksichtigen. bündelter und verlässlicher Informationen, Denn Menschen mit Migrationshintergrund die sie in ihre Kanäle bei sozialen Medien ein- informieren sich nicht nur auf etablierten In- speisen und ggf. für die jeweilige Zielgruppen ternetseiten. Vielmehr haben für sie über per- anpassen können. sönlichere, interaktive Kanäle, wie soziale Me- dien, Chatgruppen oder Videoplattformen, 5. Digitale und analoge Ansätze kombinieren verbreitete und diskutierte Informationen eine hohe Bedeutung.9 Zielgruppenorientierung bedeutet zudem, analoge Ansätze nicht aus dem Blick zu verlie- Zudem bevorzugt ein großer Anteil von Men- ren und nach dem Prinzip „Digital first, but schen mit Migrationshintergrund Gesund- leave no one behind“ zu agieren. Denn digitale heitsinformationen in der Erstsprache3 und Informationsquellen rangieren zwar bereits zieht dazu auch digitale Informationsquellen auf dem zweiten Platz in der Hierarchie der aus dem Herkunftsland (der Eltern) heran, Informationsquellen, doch sind personale In- weshalb sie auch als digitale Wanderer zwi- formationsquellen wie Ärzt:innen und andere schen den Welten bezeichnet werden.8 Dies Gesundheitsprofessionen oder auch die Fami- dürfte u. a. dazu beitragen, dass die digitale lie und Freunde mitunter ebenso wichtig. Gesundheitskompetenz bei Menschen mit Migrationshintergrund besser ausfällt als in Zugleich sind nicht alle Zielgruppen gleicher- der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. maßen digital gesundheitskompetent. Wenn- Zugleich gehen damit Herausforderungen ein- gleich Menschen mit Migrationshintergrund her: Denn die Informationen, Deutungsmuster insgesamt digital aktiver sind als die Bevölke- und Erklärungen aus dem Herkunftsland und rung ohne Migrationshintergrund, gilt der „di- die daraus abgeleiteten Empfehlungen können gital divide“ auch für sie. Um Menschen mit sich von den hiesigen unterscheiden, mitei- geringer digitaler Gesundheitskompetenz, wie nander konkurrieren oder sich sogar wider- beispielsweise ältere Menschen oder Men- sprechen. Bei der Konzipierung von Interven- schen aus niedrigen Bildungs- und Sozial- tionen und Informationen muss das stärker schichten, besser zu erreichen, ist daher emp- als bislang beachtet werden. fehlenswert, verstärkt Mittler:innen und soge- nannte Knowledge Broker auszubilden und Damit eine bedarfsgerechte Verbreitung ge- einzusetzen, die digitale Informationen in die lingt, ist erforderlich, bestehende Netzwerke analoge Welt überführen bzw. solche Informa- und bekannte Strukturen der Lebenswelten zu tionen offline nutzbar machen. Zugleich kön- nutzen und Informationen gezielt über dort nen sie in die digitale Welt einführen, Zu- etablierte digitale Kanäle zu distribuieren. Auf gangswege zu gesuchten Informationen erklä- diese Weise kann das vorhandene Vertrauen ren oder erläutern, wie qualitativ gesicherte in diese Kanäle genutzt werden, um gezielt von fragwürdiger bzw. falscher Information qualitativ hochwertige (digitale) Gesund- unterschieden werden kann. Als Mittler:innen heitsinformationen zu verbreiten. sind Personen aus den digitalen wie analogen Communities oder erwachsene Angehörige ge- eignet. 13 Sie nehmen häufig die Rolle des In- formationsmanagers ein und sollten deshalb 13 ex. Berens, E-M., Adam, Y.: Gesundheitskompetenz für die Präv Gesundheitsf 2022, 17, 96‒103. Familie: Frauen mit Migrationshintergrund als Mittlerinnen. https://doi.org/10.1007/s11553-021-00841-0
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8 6 gezielt als solche adressiert, qualifiziert und in verschiedene Kanäle oder die Aktualisierung die Förderung der Gesundheitskompetenz der Informationen. Zudem werden Kompeten- eingebunden werden. zen oft über befristete Projekte ausgebildet, sodass das gesammelte Erfahrungswissen 6. Interventionsentwicklung partizipativ nach Auslauf der Förderphase verloren geht. gestalten und strukturell berücksichtigen Wünschenswert sind daher finanziell nachhal- tige Strukturen, damit Partizipation sicherge- Damit Maßnahmen zur Förderung der digita- stellt werden kann. len Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund Erfolg haben, sollten 7. Weitere Forschung/Bedarfserhebungen sie partizipativ und interdisziplinär entwickelt notwendig werden – darüber herrscht mittlerweile Kon- sens. Nur so kann sichergestellt werden, dass Um die Sichtweise, Erwartungen und Bedürf- Informationen nutzerorientiert sind und nicht nisse beachten und in die Interventionsent- am Bedarf und den Bedürfnissen vorbeigehen wicklung einbeziehen zu können, ist ausrei- und dass auch die Verbreitungswege nutzer- chendes empirisches Wissen über die Adres- konform sind. sat:innen oder anvisierten Zielgruppen, ihre Bedürfnisse, Bedarfe, Gewohnheiten und Prä- Das bedeutet, Menschen mit Migrationshinter- ferenzen der Informationsnutzung und -verar- grund bereits in die Konzipierung von Infor- beitung Voraussetzung. mationen und Interventionen einzubeziehen und sie nicht nur als Rezipient:innen und Zudem herrscht heute Einigkeit darüber, dass „Verbreitungsinstanz“ zu begreifen. Dabei auch die Interventionsentwicklung empirisch spielen neben Migrantenselbstorganisationen fundiert, also evidenzbasiert, erfolgen sollte. und Ansprech-/Kontaktpersonen verschiede- Das gilt auch für Maßnahmen zur Stärkung ner einschlägiger Communities auch Gesund- der Gesundheitskompetenz. Damit das – wie heitsfachpersonen mit Migrationshintergrund im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskom- eine wichtige Rolle. Damit kann auch stigmati- petenz gefordert – ermöglicht werden kann, sierenden Inhalten entgegengewirkt werden. ist notwendig, die Forschung zur Gesundheits- kompetenz in Deutschland auszubauen und zu Wichtig ist außerdem, Strukturen für die Si- intensivieren. 14 Mit der Studie HLS-MIG cherstellung von Partizipation bei der Ent- wurde dieser Forderung für die Bevölkerung wicklung von Informationsstrategien und der mit Migrationshintergrund in einem ersten Informationsverbreitung zu schaffen. Denn Schritt entsprochen. Notwendig sind jedoch bislang wird zwar die Erstellung und Quali- auch hier weitere Anstrengungen. Dazu ist al- tätssicherung von Informationen z.B. auf Por- lerdings unerlässlich, die Forschung im Be- talen finanziert, nicht aber die Anpassung an reich Gesundheitskompetenz auszubauen, was unterschiedliche Zielgruppen und die Verbrei- auch die Bereitstellung ausreichender Förder- tung in verschiedenen Netzwerken bzw. über mittel umfasst. 14 NAP Strategiepapier #5: Gesundheitskompetenz systema- tisch erforschen. https://www.nap-gesundheitskompe- tenz.de/app/download/8068934963/NAP%20Strategie papier%20Nr.%205.pdf?t=1669190913
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