Foto: Gerd Altmann auf Pixabay - Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung

 
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Foto: Gerd Altmann auf Pixabay - Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die Interventionsentwicklung
STRATEGIEPAPIER #8
ZU DEN EMPFEHLUNGEN DES NATIONALEN AKTIONSPLANS

                                          Foto: Gerd Altmann auf Pixabay

Digitale Gesundheitskompetenz und Migration.
Empfehlungen für die Interventionsentwicklung
Herausgeber:

                                              Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz
                                                              Hertie School
                                                           Friedrichstraße 180
                                                               10117 Berlin
                                                     Telefon: +49 (0)30 259 219 393
                                              Internet: www.nap-gesundheitskompetenz.de

                           Die Geschäftsstelle des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz wird von der
                                  Universität Bielefeld und der Hertie School gemeinschaftlich betrieben.

                                                         Autorinnen und Autoren:

                                   Eva-Maria Berens, Alexander Haarmann, Julia Klinger, Doris Schaeffer

                                                          Bitte wie folgt zitieren:

                                           Berens, E.-M., Haarmann, A., Klinger, J., Schaeffer, D.:
Strategiepapier #8 zu den Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans. Digitale Gesundheitskompetenz und Migration. Empfehlungen für die
                          Interventionsentwicklung. Berlin: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz 2022.
                                             DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2967580

     Soweit nicht anders angegeben, wird diese Publikation unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell -
               Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY NC ND) veröffentlicht. Weitere Informationen finden Sie unter:
   https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de und https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/legalcode.de.

                                          Der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz wird
                                              aus Mitteln der Robert Bosch Stiftung gefördert.

                                              Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer:

       Yvonne Adam (AMIKO Institut für Migration, Kultur und Gesundheit), Sandra Baumeister (Bundesministerium für Gesundheit),
  Dr. Eva-Maria Berens (Universität Bielefeld), Miriam Blume (Robert Koch Institut), Steve Burkhardt (Bundesministerium für Gesundheit),
       Prof. Dr. Kevin Dadaczynski (Hochschule Fulda), Dr. Saskia De Gani (Careum Schweiz), Natalia Dengler (Die Sputniks e.V. Berlin,
 Selbsthilfeverein russischsprachiger Eltern von Kindern mit Behinderung), Lennert Griese (Universität Bielefeld), Dr. Alexander Haarmann
 (Hertie School), Prof. Dr. Jan Paul Heisig (WZB/Freie Universität Berlin), Stephanie Hoffmann (Brandenburgische TU Cottbus-Senftenberg),
Ansgar Jonietz („Was hab ich?“ gGmbH), Julia Klinger (Universität zu Köln), Dr. Klaus Koch (IQWiG), Daniel Männlein (Robert Bosch Stiftung),
    Susanne Melin (Robert Bosch Stiftung), Dr. Inga Münch (Bertelsmann Stiftung), Ramazan Salman (Ethno-Medizinisches Zentrum e.V.),
   Corinna Schaefer (ÄZQ), Prof. Dr. Doris Schaeffer (Universität Bielefeld), Tobias Stapf (Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung
                                gGmbH), Dr. Dominique Vogt (DLR Projektträger), Marcel Weigand (UPD gGmbH)

    Wir danken zudem Prof. Dr. Theda Borde (Alice Salomon Hochschule Berlin), Dr. Sebastian Schmidt-Kaehler (Bertelsmann Stiftung)
                      und Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann (Hertie School – University of Governance, Berlin)
                                         für die Kommentierung und die wertvollen Hinweise.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                                                          1

Digitale Gesundheitskompetenz und Migration.
Empfehlungen für die Interventionsentwicklung
Aktuell haben rund 27 % der Bevölkerung in                        Fähigkeit, Gesundheitsinformationen in unter-
Deutschland einen Migrationshintergrund 1 ‒                       schiedlicher Form finden, verstehen, beurtei-
das sind insgesamt 22 Millionen Menschen.                         len und anwenden zu können – gering. Zwar
Menschen mit Migrationshintergrund stellen                        gibt es auch in Deutschland inzwischen quan-
eine sehr heterogene Gruppe dar, die sich aus                     titative Studien zur Gesundheitskompetenz
unterschiedlichsten Herkunftsländern zusam-                       der Bevölkerung. Meist enthalten sie ebenfalls
mensetzt. Rund 14 Millionen von ihnen haben                       Daten zu Menschen mit Migrationshinter-
eigene Migrationserfahrungen, sind also selbst                    grund, der Fokus liegt jedoch auf der Bevölke-
nach Deutschland eingewandert. Weitere 8                          rung insgesamt. Sie zeigen, dass die Mehrheit
Millionen sind direkte Nachkommen.                                der Bevölkerung in Deutschland eine geringe
                                                                  Gesundheitskompetenz aufweist und dies ein-
Die Beweggründe für eine Migration nach                           mal mehr für Menschen mit Migrationshinter-
Deutschland sind sehr unterschiedlich. Bei-                       grund gilt. 2
spielhaft sind hier Bildungs- und Arbeitsmig-
ration, Flucht und/oder Familiennachzug zu                        Erst die Studie HLS-MIG 3 widmete sich gezielt
nennen, womit jeweils unterschiedliche                            Menschen mit Migrationshintergrund – dies
Bleibeabsichten, Rechte und Zukunftsplanun-                       mit dem Anspruch, der Diversität dieser Be-
gen einhergehen.                                                  völkerungsgruppe Rechnung zu tragen und
                                                                  eine differenzierte Betrachtung zu ermögli-
Auch die Alters-, Sozial- und Bildungsstruktur                    chen. Um das zu realisieren, wurden die zwei
ist sehr heterogen. Wenngleich ein Teil der                       größten Migrationsgruppen in Deutschland in
Menschen mit Migrationshintergrund den                            den Blick genommen: Dies sind Menschen, die
oberen Bildungs- und Sozialschichten ange-                        aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion o-
hört, sind sie insgesamt sozial tendenziell                       der aus der Türkei eingewandert sind, und de-
schlechter gestellt als die Bevölkerung ohne                      ren Nachkommen.
Migrationshintergrund. Aus all dem ergeben
sich unterschiedliche gesundheitliche Bedarfs-                    Die HLS-MIG Studie zeigt als zentrales Ergeb-
und Bedürfnislagen und andere Anforderun-                         nis, dass die Gesundheitskompetenz in diesen
gen an die Gesundheitsversorgung und an das                       Gruppen entgegen der Erwartung nicht gerin-
Gesundheitssystem.                                                ger als in der Allgemeinbevölkerung ist, und
                                                                  sie daher nicht per se vulnerabel für geringe
Obschon Menschen mit Migrationshinter-                            Gesundheitskompetenz sind. Zugleich ver-
grund in Deutschland einen großen Teil der                        deutlicht die Studie aber auch, dass gut die
Bevölkerung ausmachen, ist das Wissen über                        Hälfte der befragten Personen über eine ge-
ihre Gesundheitskompetenz – verstanden als                        ringe Gesundheitskompetenz verfügt.

1                                                                 2
  Der Begriff „Migrationshintergrund“ wird als schwierig an-        ex. Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E-M., Hurrelmann, K.: Ge-
gesehen. Aktuell empfiehlt z. B. der Sachverständigenrat In-      sundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergeb-
tegration Migration von „eingewanderten Menschen und ih-          nisbericht. Universität Bielefeld 2016. https://pub.uni-biele-
ren Nachkommen“ zu sprechen. Auch der Begriff „Menschen           feld.de/download/2908111/2908198/Ergebnisbericht_HLS-
mit Zuwanderungsgeschichte“ findet vermehrt Zuspruch.             GER.pdf
Das Statistische Bundesamt nutzt nach wie vor den Begriff         3
                                                                    Berens, E.-M., Klinger, J., Mensing, M., Carol, S., Schaeffer, D.:
„Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ (vgl. Kluge, U.,          Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshinter-
Rau, L.: Kritische Betrachtung des Begriffes und der Defini-      grund in Deutschland. Ergebnisse des HLS-MIG. Universität
tion eines „Migrationshintergrundes“. In: Spallek, J., Zeeb, H.   Bielefeld 2022. https://pub.uni-bielefeld.de/down-
(Hg.): Handbuch Migration und Gesundheit. Grundlagen, Per-        load/2960131/2960568/HLS-MIG-Bericht_web.pdf
spektiven und Strategien. Hogrefe Verlag: Bern 2021, S. 29‒
36).
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                                          2

Die digitale Gesundheitskompetenz ist noch                   im höheren Alter sind jedoch stärker von ge-
schlechter ausgeprägt – jeweils gut zwei Drit-               ringer Gesundheitskompetenz betroffen – alle-
tel beider Migrationsgruppen weisen eine ge-                 samt Gruppen, die zu den ohnehin benachtei-
ringe digitale Gesundheitskompetenz auf.                     ligten Gruppen in der Bevölkerung gehören.
Diese ist zwar tendenziell etwas besser als in               Hinzu kommen migrationsspezifische As-
der Allgemeinbevölkerung. 4 Doch sieht sich                  pekte: So weist auch ein großer Anteil an Men-
auch die Bevölkerung mit Migrationshinter-                   schen mit geringen Deutschkenntnissen
grund vor zahlreiche Schwierigkeiten bei der                 und/oder eigener Migrationserfahrung eine
Bewältigung der Anforderungen im Umgang                      geringere Gesundheitskompetenz auf. All
mit gesundheitsrelevanten Informationen ge-                  diese Gruppen müssen bei der Förderung der
stellt – egal, ob in schriftlicher, mündlicher o-            Gesundheitskompetenz besondere Aufmerk-
der eben in digitaler Form. Die Förderung der                samkeit erhalten – auch mit Blick auf die Si-
digitalen Gesundheitskompetenz von Men-                      cherung gesundheitlicher Chancengleichheit.
schen mit Migrationshintergrund stellt daher
eine wichtige Aufgabe dar.                                   Zugleich sind mögliche Problemkumulationen
                                                             zu beachten. So wird beispielsweise der Um-
Die daraus erwachsenen Konsequenzen für                      gang mit Gesundheitsinformationen zusätzlich
die Entwicklung und Umsetzung von Interven-                  erschwert, wenn geringe Lese- und Schreibfä-
tionen waren Thema eines Expert:innen-                       higkeiten und geringe Deutschkennnisse zu-
workshops, dessen Ergebnisse Gegenstand                      sammenkommen. In diesem Fall kann auch
dieses Strategiepapiers sind. Es knüpft an das               eine Übersetzung schriftlicher Materialien
vorangegangene Strategiepapier #6 des Natio-                 keine Abhilfe schaffen. Überdies können bei
nalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz mit                   eingewanderten Menschen andere Nutzungs-
dem Titel „Gesundheitskompetenz in einer Ge-                 gewohnheiten und -erfahrungen aus dem Her-
sellschaft der Vielfalt stärken“ 5 an und nimmt              kunftsland Schwierigkeiten im Umgang mit
besonders die Herausforderungen im Bereich                   Gesundheitsinformationen im Aufnahmeland
der digitalen Gesundheitskompetenz in den                    verstärken. Ebenso können abnehmende kog-
Blick.                                                       nitive oder eingeschränkte Seh- und Hörfähig-
                                                             keiten im Alter den Umgang mit Gesund-
Dabei wird zu sehen sein, dass viele der Emp-                heitsinformationen erschweren.
fehlungen nicht allein für Menschen mit Mig-
rationshintergrund relevant sind, sondern                    Erforderlich sind daher zielgruppenspezifi-
auch für die Bevölkerung ohne Migrationshin-                 sche Interventionen, die auf eine Stärkung der
tergrund.                                                    individuellen Gesundheitskompetenz von
                                                             Menschen mit Migrationshintergrund zielen
1. Förderung der Gesundheitskompetenz                        und dabei die demografischen und sozioöko-
vorantreiben und dabei soziale Unterschiede                  nomischen Merkmale aufgreifen. Wichtig ist
beachten                                                     ebenfalls, das Thema ‚Problemkumulationen‘
                                                             mitzudenken und die Potentiale zur Verringe-
Wie die Studie HLS-MIG zeigt, verfügt etwa die               rung sozialer und gesundheitlicher Ungleich-
Hälfte der befragten Personen über eine ge-                  heit auszuschöpfen. Gleichzeitig sind struktu-
ringe allgemeine Gesundheitskompetenz.                       relle Maßnahmen notwendig, die den Umgang
Menschen mit niedrigem Bildungs- oder Sozi-                  mit Gesundheitsinformation erleichtern, wie
alstatus und geringen finanziellen Ressourcen                z. B. die Bereithaltung leicht verständlicher,
sowie Menschen mit geringer Literalität oder

4                                                            5
 Schaeffer et al.: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in    Zu finden unter: https://www.nap-gesundheitskompe-
Deutschland – vor und während der Corona Pandemie: Er-       tenz.de/app/download/8109898563/NAP%20Strategie
gebnisse des HLS-GER 2. Universität Bielefeld 2021.          papier%20Nr.%206.pdf?t=1669190913
https://pub.uni-bielefeld.de/download/2950305/
2950403/HLS-GER%202_Ergebnisbericht.pdf
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                                                 3

zuverlässiger (mehrsprachiger) digitaler Ge-                   Lebensverhältnissen oder Menschen, die fest
sundheitsinformationen, Informationen zur                      in Glaubensgemeinschaften eingebettet sind,
ersten Einführung in das Gesundheitssystem                     oder als gut situierte eingewanderte Akademi-
für neu eingewanderte Personen, flächende-                     ker:innen mit internationalen Familien und
ckende Angebote zur (digitalen) Sprachmitt-                    Netzwerken. Die Beispiele verdeutlichen, wie
lung und sprachliche Vereinfachung von Infor-                  sehr sich die lebensweltlichen Bedingungen
mationen bzw. Bereitstellung von Informatio-                   und auch die Lebensgeschichten von Men-
nen in verschiedenen Sprachen, Formaten und                    schen mit Migrationshintergrund unterschei-
über unterschiedliche Kanäle. Zu den struktu-                  den. Sie stärker zu beachten, ist eine Voraus-
rellen Maßnahmen gehört auch, den Themen                       setzung, um die Erreichbarkeit bestimmter
Usability und Nutzerfreundlichkeit größere                     Zielgruppen zu verbessern und zugleich die
Aufmerksamkeit zu schenken und dies nicht                      Akzeptanz und das Vertrauen in die Zuverläs-
nur auf Ebene der Endnutzer:innen, sondern                     sigkeit von Gesundheitsinformationen zu stär-
auch beim Design zugrundeliegender digitaler                   ken.
Strukturen. 6
                                                               Wichtig ist dabei die inhaltliche Berücksichti-
2. Den unterschiedlichen lebensweltlichen                      gung der Lebenswelten. So sind nutzerfreund-
Bedingungen Aufmerksamkeit widmen                              liche, diversitätssensible Informationsmateri-
                                                               alien nötig, in denen die unterschiedlichen Be-
Die vorliegenden Studienbefunde deuten an,                     darfslagen der jeweils anvisierten Zielgruppen
dass das Herkunftsland offenbar eine weniger                   einbezogen werden. Der bestehende Fundus
bedeutsame Rolle für die Ausprägung der Ge-                    an qualitätsgesicherten Gesundheitsinformati-
sundheitskompetenz spielt. Wichtiger schei-                    onen muss also beispielsweise an die unter-
nen die unterschiedlichen lebensweltlichen,                    schiedlichen ökonomischen, soziokulturellen
biographischen und sozialstrukturellen Bedin-                  oder auch aufenthaltsrechtlichen Bedingun-
gungen zu sein. Um diese Vermutung zu erhär-                   gen, durch sie geprägte Verhaltensweisen und
ten, ist weitere Forschung nötig.                              sprachliche bzw. begriffliche Gewohnheiten
                                                               angepasst werden. 7 Dabei muss diskriminie-
Dennoch erwachsen daraus schon jetzt Konse-                    rungs- und stigmatisierungsfreie Sprache ver-
quenzen für die Interventionsentwicklung: Bei                  wendet werden.
der Konzipierung von zielgruppenspezifischen
Strategien und Maßnahmen zur Förderung                         3. Bestehende Informationsangebote
von Gesundheitskompetenz wie auch bei dem                      bekannter machen und gezielter verbreiten
Zuschnitt von Informationen sollten die Diver-
sität der Lebenswege und die Vielfalt der Bio-                 Eine weitere Herausforderung für die Förde-
graphien sowie die jeweiligen lebensweltli-                    rung der Gesundheitskompetenz erwächst aus
chen und soziokulturellen Bedingungen be-                      der anhaltenden digitalen Transformation. Im
sonders berücksichtigt werden.                                 Zuge dieser Entwicklung sind zahlreiche Infor-
                                                               mationsmöglichkeiten und -chancen entstan-
Auch die Informationsbedarfe und -bedürf-                      den und haben digitale Medien und digitale In-
nisse sind stark durch die jeweiligen Lebens-                  formationsangebote immer weiter an Bedeu-
welten geprägt, was ebenfalls relevant für die                 tung gewonnen. So rangiert das Internet mitt-
Interventionsentwicklung ist. So sind bei-                     lerweile auf Platz 2 der Informationsquellen
spielsweise Schüler:innen mit elterlicher Mig-                 für gesundheitliche Fragen.3
rationserfahrung anders zu adressieren als
kürzlich eingewanderte Menschen in prekären

6                                                              7
  Schmidt-Kaehler, S. et al. Gesundheitskompetenz: Deutsch-      Dabei sind u. a. unterschiedliche Ernährungsweisen zu be-
land in der digitalen Aufholjagd. Einführung technologischer   achten, so beispielsweise die Information, ob zur Herstellung
Innovationen greift zu kurz. Das Gesundheitswesen 2021,        der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 Bestandteile von Schwei-
83(5). https://doi.org/10.1055/a-1451-7587                     nen genutzt werden.
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                                                    4

Doch zugleich haben Fehl-, Falsch- oder ge-                        wichtig, die Möglichkeiten zugehender Infor-
zielte Desinformationen sprunghaft zugenom-                        mationsverbreitung/-vermittlung (Push-Prin-
men – besonders im Internet. Verbunden da-                         zip) intensiver zu nutzen: Informationen also
mit ist die Informationslandschaft unüber-                         nicht nur bereitzustellen, in der Hoffnung dass
sichtlicher geworden, sodass das Finden gesi-                      sie gefunden und abgerufen werden, sondern,
cherter und zuverlässiger Informationen und                        anders herum, Informationen zu den anvisier-
auch die Beurteilung speziell von digitalen In-                    ten Nutzer:innengruppen zu bringen – sie
formationen schwieriger geworden ist. Damit                        etwa aktiv über verschiedene Kanäle oder di-
sind die Anforderungen an den Umgang mit                           rekt in den Lebenswelten zu verbreiten und
Information gestiegen und zugleich sind die                        dort präferierte Informationswege und -mög-
Akzeptanz und das Vertrauen in Gesundheits-                        lichkeiten zu nutzen. Empfehlenswert ist au-
information tendenziell gesunken. Daher ist                        ßerdem, stärker als bislang, nicht-schriftliche
nicht verwunderlich, dass die digitale Gesund-                     Formate auszubauen, z. B. Formen des Edu-
heitskompetenz geringer als die allgemeine                         tainments und der Gamification, die insbeson-
Gesundheitskompetenz ist. 3,4 Ebenso wenig                         dere für junge Menschen geeignet sind 11, zu
erstaunt, dass die Beurteilung digitaler Infor-                    berücksichtigen, ebenso interaktive und indi-
mationen vielfach schwerfällt und dass viel an                     vidualisierte Ansätze.
existenter Information nicht bekannt ist und
daher die Adressat:innen nicht erreicht.                           Die Zeit während der Corona-Pandemie ist ein
                                                                   gutes Beispiel dafür, wie die erhöhte Verfüg-
Für die Förderung der Gesundheitskompetenz                         barkeit von Informationen und ein großes In-
bedeutet dies, die Unübersichtlichkeit nicht                       formationsangebot über verschiedene Kanäle
ungewollt weiter zu erhöhen und nach dem                           zu einer verbesserten Information der Bevöl-
Gießkannenprinzip immer neue, vermeintlich                         kerung beigetragen hat: Über Monate hinweg
zielgruppenspezifische oder adressatenge-                          kam man als Nutzer:in – unabhängig, in wel-
rechte Informationsangebote zu schaffen. Viel-                     chem Medium – nicht umhin, Informationen
mehr sollten die bestehenden Informationsan-                       über Symptome einer Corona-Infektion, die
gebote leichter auffindbar gemacht werden –                        Wichtigkeit von Impfungen sowie die Ent-
sei es durch Navigationshilfen, Lots:innen                         wicklung und den Einsatz von Impfstoffen, die
oder aber durch gebündelte Informationen,                          Krankenhausauslastung und vorhandene Prä-
beispielsweise in Portalen und auf Plattfor-                       ventionsmaßnahmen zu erhalten. Diese Omni-
men, oder durch individuell zugeschnittene                         präsenz von Informationen, ohne nach ihnen
Informationen in der elektronischen Patien-                        suchen zu müssen, dürfte einer der Faktoren
tenakte. Vor allem aus Nutzer:innensicht wer-                      für die Verbesserung der Gesundheitskompe-
den gebündelte, einfach zugängliche und dabei                      tenz in dieser Zeit sein. 12 Die einfache Verfüg-
zugleich vertrauenswürdige Informationen als                       barkeit dürfte zudem geholfen haben, auch
wünschenswert erachtet. 8,9,10                                     Menschen zu erreichen, die sich mit dem
                                                                   Thema normalerweise nicht auseinanderge-
Neben den klassischen Pull-Angeboten, wie                          setzt hätten.
Portalen oder Internetseiten, ist es deshalb

8
   Gille, S., Griese, L., Schaeffer, D.: Preferences and Experi-   Berlin 2022. https://www.bosch-stiftung.de/de/publika-
ences of People with Chronic Illness in Using Different            tion/neuzugewanderte-frauen-besser-informieren-und-be-
Sources of Health Information. Results of a Mixed-Methods          raten
Study. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 13185.        11
                                                                      Edutainment meint ein unterhaltsames Lernen; Gamifica-
https://doi.org/10.3390/ijerph182413185                            tion ist eine konkrete Anwendungsform, bei der spielerische
9
   Adam, Y., Carol, S.: Gesundheitskompetenz von Menschen          Elemente für den Wissenserwerb genutzt werden. Ex. Da-
mit Migrationshintergrund. Perspektive und Erfahrungen             daczynski, K., Schiemann, S., Paulus, P. (Hg.): Gesundheit
von türkisch- und russischsprachigen Frauen. Universität           spielend fördern. Potenziale und Herausforderungen von di-
Bielefeld 2020. https://doi.org/10.4119/unibi/2949096              gitalen Spieleanwendungen für die Gesundheitsförderung
10
    ex. Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung (Hg.):     und Prävention. Beltz Verlag, Weinheim, Basel, 2016.
                                                                   12
Neuzugewanderte Frauen besser informieren und beraten.                Schaeffer, D. et al.: Gesundheitskompetenz in Deutschland
Chancen und Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien.            vor und während der Corona-Pandemie. Das Gesundheitswe-
                                                                   sen 2021, 83(10). http://dx.doi.org/10.1055/a-1560-2479
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                                   5

4. Besonderheiten des Informationsverhal-                     Vereinen, Glaubensgemeinschaften, Selbsthil-
tens beachten                                                 fegruppen, aber auch Schulen und Stadtteil-
                                                              zentren etc. kommt dabei eine wichtige Multi-
Wichtig ist bei der Verbreitung von Informati-                plikatorenrolle zu.5 Damit sie diese auch aus-
onen, die Präferenzen und Verhaltensweisen                    füllen können, bedarf es für sie allerdings ge-
der anvisierten Zielgruppe zu berücksichtigen.                bündelter und verlässlicher Informationen,
Denn Menschen mit Migrationshintergrund                       die sie in ihre Kanäle bei sozialen Medien ein-
informieren sich nicht nur auf etablierten In-                speisen und ggf. für die jeweilige Zielgruppen
ternetseiten. Vielmehr haben für sie über per-                anpassen können.
sönlichere, interaktive Kanäle, wie soziale Me-
dien, Chatgruppen oder Videoplattformen,                      5. Digitale und analoge Ansätze kombinieren
verbreitete und diskutierte Informationen
eine hohe Bedeutung.9                                         Zielgruppenorientierung bedeutet zudem,
                                                              analoge Ansätze nicht aus dem Blick zu verlie-
Zudem bevorzugt ein großer Anteil von Men-                    ren und nach dem Prinzip „Digital first, but
schen mit Migrationshintergrund Gesund-                       leave no one behind“ zu agieren. Denn digitale
heitsinformationen in der Erstsprache3 und                    Informationsquellen rangieren zwar bereits
zieht dazu auch digitale Informationsquellen                  auf dem zweiten Platz in der Hierarchie der
aus dem Herkunftsland (der Eltern) heran,                     Informationsquellen, doch sind personale In-
weshalb sie auch als digitale Wanderer zwi-                   formationsquellen wie Ärzt:innen und andere
schen den Welten bezeichnet werden.8 Dies                     Gesundheitsprofessionen oder auch die Fami-
dürfte u. a. dazu beitragen, dass die digitale                lie und Freunde mitunter ebenso wichtig.
Gesundheitskompetenz bei Menschen mit
Migrationshintergrund besser ausfällt als in                  Zugleich sind nicht alle Zielgruppen gleicher-
der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.                   maßen digital gesundheitskompetent. Wenn-
Zugleich gehen damit Herausforderungen ein-                   gleich Menschen mit Migrationshintergrund
her: Denn die Informationen, Deutungsmuster                   insgesamt digital aktiver sind als die Bevölke-
und Erklärungen aus dem Herkunftsland und                     rung ohne Migrationshintergrund, gilt der „di-
die daraus abgeleiteten Empfehlungen können                   gital divide“ auch für sie. Um Menschen mit
sich von den hiesigen unterscheiden, mitei-                   geringer digitaler Gesundheitskompetenz, wie
nander konkurrieren oder sich sogar wider-                    beispielsweise ältere Menschen oder Men-
sprechen. Bei der Konzipierung von Interven-                  schen aus niedrigen Bildungs- und Sozial-
tionen und Informationen muss das stärker                     schichten, besser zu erreichen, ist daher emp-
als bislang beachtet werden.                                  fehlenswert, verstärkt Mittler:innen und soge-
                                                              nannte Knowledge Broker auszubilden und
Damit eine bedarfsgerechte Verbreitung ge-                    einzusetzen, die digitale Informationen in die
lingt, ist erforderlich, bestehende Netzwerke                 analoge Welt überführen bzw. solche Informa-
und bekannte Strukturen der Lebenswelten zu                   tionen offline nutzbar machen. Zugleich kön-
nutzen und Informationen gezielt über dort                    nen sie in die digitale Welt einführen, Zu-
etablierte digitale Kanäle zu distribuieren. Auf              gangswege zu gesuchten Informationen erklä-
diese Weise kann das vorhandene Vertrauen                     ren oder erläutern, wie qualitativ gesicherte
in diese Kanäle genutzt werden, um gezielt                    von fragwürdiger bzw. falscher Information
qualitativ hochwertige (digitale) Gesund-                     unterschieden werden kann. Als Mittler:innen
heitsinformationen zu verbreiten.                             sind Personen aus den digitalen wie analogen
                                                              Communities oder erwachsene Angehörige ge-
                                                              eignet. 13 Sie nehmen häufig die Rolle des In-
                                                              formationsmanagers ein und sollten deshalb

13
  ex. Berens, E-M., Adam, Y.: Gesundheitskompetenz für die    Präv Gesundheitsf 2022, 17, 96‒103.
Familie: Frauen mit Migrationshintergrund als Mittlerinnen.   https://doi.org/10.1007/s11553-021-00841-0
GESUNDHEITSKOMPETENZ | STRATEGIEPAPIER #8                                                               6

gezielt als solche adressiert, qualifiziert und in         verschiedene Kanäle oder die Aktualisierung
die Förderung der Gesundheitskompetenz                     der Informationen. Zudem werden Kompeten-
eingebunden werden.                                        zen oft über befristete Projekte ausgebildet,
                                                           sodass das gesammelte Erfahrungswissen
6. Interventionsentwicklung partizipativ                   nach Auslauf der Förderphase verloren geht.
gestalten und strukturell berücksichtigen                  Wünschenswert sind daher finanziell nachhal-
                                                           tige Strukturen, damit Partizipation sicherge-
Damit Maßnahmen zur Förderung der digita-                  stellt werden kann.
len Gesundheitskompetenz von Menschen mit
Migrationshintergrund Erfolg haben, sollten                7. Weitere Forschung/Bedarfserhebungen
sie partizipativ und interdisziplinär entwickelt           notwendig
werden – darüber herrscht mittlerweile Kon-
sens. Nur so kann sichergestellt werden, dass              Um die Sichtweise, Erwartungen und Bedürf-
Informationen nutzerorientiert sind und nicht              nisse beachten und in die Interventionsent-
am Bedarf und den Bedürfnissen vorbeigehen                 wicklung einbeziehen zu können, ist ausrei-
und dass auch die Verbreitungswege nutzer-                 chendes empirisches Wissen über die Adres-
konform sind.                                              sat:innen oder anvisierten Zielgruppen, ihre
                                                           Bedürfnisse, Bedarfe, Gewohnheiten und Prä-
Das bedeutet, Menschen mit Migrationshinter-               ferenzen der Informationsnutzung und -verar-
grund bereits in die Konzipierung von Infor-               beitung Voraussetzung.
mationen und Interventionen einzubeziehen
und sie nicht nur als Rezipient:innen und                  Zudem herrscht heute Einigkeit darüber, dass
„Verbreitungsinstanz“ zu begreifen. Dabei                  auch die Interventionsentwicklung empirisch
spielen neben Migrantenselbstorganisationen                fundiert, also evidenzbasiert, erfolgen sollte.
und Ansprech-/Kontaktpersonen verschiede-                  Das gilt auch für Maßnahmen zur Stärkung
ner einschlägiger Communities auch Gesund-                 der Gesundheitskompetenz. Damit das – wie
heitsfachpersonen mit Migrationshintergrund                im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskom-
eine wichtige Rolle. Damit kann auch stigmati-             petenz gefordert – ermöglicht werden kann,
sierenden Inhalten entgegengewirkt werden.                 ist notwendig, die Forschung zur Gesundheits-
                                                           kompetenz in Deutschland auszubauen und zu
Wichtig ist außerdem, Strukturen für die Si-               intensivieren. 14 Mit der Studie HLS-MIG
cherstellung von Partizipation bei der Ent-                wurde dieser Forderung für die Bevölkerung
wicklung von Informationsstrategien und der                mit Migrationshintergrund in einem ersten
Informationsverbreitung zu schaffen. Denn                  Schritt entsprochen. Notwendig sind jedoch
bislang wird zwar die Erstellung und Quali-                auch hier weitere Anstrengungen. Dazu ist al-
tätssicherung von Informationen z.B. auf Por-              lerdings unerlässlich, die Forschung im Be-
talen finanziert, nicht aber die Anpassung an              reich Gesundheitskompetenz auszubauen, was
unterschiedliche Zielgruppen und die Verbrei-              auch die Bereitstellung ausreichender Förder-
tung in verschiedenen Netzwerken bzw. über                 mittel umfasst.

14
   NAP Strategiepapier #5: Gesundheitskompetenz systema-
tisch erforschen. https://www.nap-gesundheitskompe-
tenz.de/app/download/8068934963/NAP%20Strategie
papier%20Nr.%205.pdf?t=1669190913
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