Freude am neu:wagen Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung
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Freude am neu:wagen Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung Der Bundespräsident fordert ein Land der Ideen. Jeder zweite Bundesbürger hält das Land für reformbedürftig. Doch Stillstand und Lähmung sorgen für schlechte Stimmung im Land. Bildung, Rente, Arbeitsmarkt: Wo steckt sie – die Freude, die dabei entsteht, etwas Neues zu wagen? Da gibt es zum Bei- spiel eine kleine Gruppe von Glasmachern im Bayerischen Wald, die sich mit der Insolvenz ihrer traditionsreichen Manufaktur nicht abfinden wollte. Aus eigenem Antrieb riskierten die Handwerker den Neustart – jetzt brennen die Öfen wieder. Oder der Student aus Dresden, der genug hatte vom Jammern und Protestieren. Er gründet die erste Studentenstiftung Deutschlands, um die Studienbedingungen an seiner Universität langfristig und aus eigener Kraft verbessern zu können – und schafft damit eine neue Kultur des Selbst- Beteiligens. Was treibt sie an, die Glasmacher, den Studenten? Es ist die Freude daran, der Kraft einer guten Idee zu vertrauen – und daraus einen un- gewöhnlichen Lösungsansatz zu entwickeln, um ihn gemeinsam mit anderen in die Tat umzusetzen. Es ist die Freude daran, zu überzeugen, zu gestalten, neu anzusetzen – um Stillstandsgebiete in Bewegung zu bringen. Es ist die Freude daran, Probleme zu lösen. Wir nennen das: die Freude am neu:wagen. Das Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung in der UNIVERSITAS ist dieser Freude auf der Spur – den Geschichten, die diese Freude erzählt, und den Menschen, die sie angesteckt hat. Unsere Autoren berichten davon; Experten kommen zu Wort und stellen neue Ideen zur Diskussion. Die Stiftung freut sich, wenn die Freude am neu:wagen sich auf die Leser der UNIVERSITAS überträgt. 1056
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung Von Netzwerken ist viel und allerorten die Rede – doch wie erweckt man sie zum Leben? Indem man sich einer dringenden gesellschaftlichen Herausforderung stellt und diese meistern will: Dies zeigt ein Stadtteil-Netzwerk in Fulda, das sich um die Integration ausländischer Kinder und ihrer Familien kümmert. Pragmatisch und aus eigener Initiative motivieren ein Grundschullehrer und der Leiter des Amtes für Jugend und Familie gemeinsam mit Kirchen, Vereinen und Ausländerbeauftragten die Kulturen zu mehr Verständnis. Und alle Betei- ligten gestalten mit – ohne nach einem Budget zu fragen, das ihnen eventuell jemand zur Verfügung stellen könnte. Die Kunst der Verständigung: Was Netzwerke leisten können Stefan Sippell Der geographische Mittelpunkt Deutschlands, das haben Wissenschaftler aus- gemessen, liegt in einem Nest in Thüringen, das Niederorla heißt. Inzwischen gibt es dort eine Informationstafel, mit der man Touristen herbeizulocken ver- sucht, die einmal im Mittelpunkt stehen wollen. Nichts gegen Niederorla – aber man stellt sich die Mitte von Deutschland doch anders vor, eher im Sinne von Mit- telwert: weder als große Metropole noch als kleines Dorf; irgendwo zwischen den Himmelsrichtungen und vielleicht am Rande eines Mittel-Gebirges; mit einer langen und stolzen Geschichte, aber nicht im Mittelpunkt des Weltgesche- hens; bodenständig, bürgerlich, und weil die Struktur des Landes nun mal so ist wie sie ist, auch ziemlich konservativ. So wie die Meteorologen für ihre Wetter- vorhersagen die „gefühlte Temperatur“ erfunden haben, so könnte man auch 1057 nach der gefühlten Mitte von Deutschland fragen. Fulda fühlt sich so an. Wenn von Jugend und Familie die Zukunft abhängt, wie die Politiker immer sa- gen, dann ist Stefan Mölleney wohl so etwas wie der Zukunftsminister von Fulda. Beim Leiter des Amtes für Jugend und Familie fangen wir an mit unserer
Suche nach ein paar Problemen, die Deutschland in seiner Mitte hat – vor allem aber wollen wir herausfinden, wie man diese Probleme sozusagen aus der Mitte heraus lösen kann. „Das ist eine kleine Stadt“, winkt Mölleney bescheiden ab, „und auch die Be- deutung des Amtes ist eher klein.“ Dabei macht Mölleney durchaus den Ein- druck, als gäbe es genug zu tun für ihn. Er wirkt ein bisschen so, als nenne er Schwierigkeiten lieber Herausforderungen und packe sie gerne an: smart ge- streiftes Hemd, die Krawatte dazu im perfekten Muster. An der Wand hängen Kunstwerke seiner Kinder, die natürlich gut ins Familienamt passen. Für den Amtsleiter sind die Bilder wichtig, weil seine Familie ihn kaum sieht vor lauter Arbeit. „Fulda ist ein Anziehungspunkt mit einem großen Umland“, sagt Stefan Mölleney zuerst, als wir ihn bitten, uns einen kurzen Eindruck seiner Stadt zu vermitteln. Eine Art Insel sozusagen, und wenn man so will, dann befindet sie sich im Mittel-Meer: „Fulda liegt ziemlich einsam auf der grünen Wiese.“ Als Nächstes kommt Mölleney aber gleich auf die Tradition zu sprechen, die vor allem vom Barock und von der Kirche, natürlich der katholischen, geprägt wird. „Fulda ist sehr traditionsorientiert. Man könnte auch sagen: traditionsverhaf- tet. Die Menschen sind wertkonservativ hier. Das erzeugt schon eine gewisse Enge“, sagt Mölleney, der selbst aus Fulda stammt. Früher wollte er Priester werden, „bis der Wunsch abhanden kam“, wie er selbst sagt, und er wegging aus Fulda, aber wiederkehrte. Und feststellte: eine „Insel der Glückseligen“, das sei Fulda eben nicht. Wie überall im Land verändert sich auch hier die Gesell- schaft in einer Art und Weise, die gerade Jugend und Familien betrifft und oft nur schwierig zu meistern ist. Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, Armut, vor allem aber auch das Miss-Verstehen zwischen Deutschen und Ausländern, Konflikte mit fremden Kulturen, Lebensformen – was nicht zuletzt und gerade hier auch oft bedeutet, dass unterschiedliche Religionen aufeinander treffen, und insbe- sondere natürlich der Islam und das Christentum: „Es gibt nicht mehr Proble- 1058 me als anderswo“, vermutet Stefan Mölleney, wohl eher weniger als beispiels- weise in den Metropolen wie Frankfurt oder Berlin. „Aber hier kommen die Probleme verspätet an, und man misst ihnen mehr Gewicht zu.“ Sie tragen so- zusagen schwerer daran, die Fuldaer Menschen aus Mittel-Deutschland. Es
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung gibt aber auch welche, die entwickeln unter diesen Bedingungen besondere Kräfte. So einer ist der Grundschullehrer Werner Staubach. Wie Mölleney kommt auch Werner Staubach hier aus der Gegend, aber anders als der Amtschef ist Staubach nie wirklich weg gewesen. In einem der kleinen Orte aus dem so genannten „Einzugsgebiet“, also auf der grünen Wiese rund um die Insel Fulda, wuchs Staubach auf – und weil seine Mutter aus dem da- maligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen war, machte er als Junge gleich seine ersten Erfahrungen mit dem Anders-sein und Anders-behandelt- werden. „Wenn wir nicht so funktionierten, wie das erwartet wurde, dann wa- ren wir die ,Zigeuner‘“, erzählt Werner Staubach mit seiner leisen, weichen und immerzu freundlichen Stimme, und natürlich kann er das Wort im hessischen Dialekt aussprechen: „Zichhüner“, so ungefähr hört sich das an. Auch Stau- bach hat Theologie studiert, auch wenn er kein Priester werden wollte, aber Lehrer an einer Grundschule war ursprünglich genauso wenig ein Berufs- wunsch von ihm. Manchmal entwickeln sich die Dinge eben im Leben, und 1059 Durch das Stadtteil-Netzwerk werden Grundschule, Kirchengemeinden, Moschee und Auslandbehörde miteinander verknüpft.
Werner Staubach scheint einer zu sein, der sie entgegennimmt und sie mit Ruhe und Zielstrebigkeit ein Stückchen weitertreibt und zum Besseren wendet – für sich und für diejenigen, die ihn umgeben. So kam er vor 30 Jahren an die Cuno-Raabe-Schule im Arbeiterviertel Ostend und ist bis heute dort geblieben. Ursprünglich hatte er auch nicht daran gedacht, sich für die Integration von ausländischen und gerade von islamischen Schülern besonders zu engagieren. Aber als in den 1970er-Jahren zum ersten Mal Förderunterricht für die Gast- arbeiterkinder angeboten wurde, musste der Jüngste im Kollegium eben an- treten. Und wieder hat sich Werner Staubach in eine Sache hineingefunden, und wieder ist er bei dieser Sache geblieben – und hat daraus etwas Besonde- res gemacht. Auf diese Weise ist schließlich ein Netzwerk entstanden, das seit vier Jahren die so genannten Brennpunkte eines Stadtteils verknüpft mit der Grundschule, mit den sozialen Anlaufstellen in Fulda, mit der großen katholi- schen und der kleineren evangelischen Kirchengemeinde, mit der Moschee und den islamisch-türkischen Vereinen, mit der Ausländerbehörde – und das auch eine feste Aufhängung hat im Amt für Jugend und Familie bei Stefan Mölleney. „Mir war aufgefallen, dass Integration nicht außerhalb der Schule aufhören kann“, so einfach formuliert Werner Staubach seinen Netzwerk-Gedanken. Netzwerk: Wie unspektakulär und gewöhnlich das heutzutage klingt, wo doch die ganze Welt überspannt zu sein scheint von lauter Netzwerken, in denen man sich eigentlich ständig verfangen und verstricken müsste – wenn sie wirklich das leisten würden, was sie versprechen. Angeblich kommt ja jeder nur noch durchs Leben, indem er „Networking“ betreibt. Aber wer weiß schon, worauf es wirklich ankommt und wie schwierig das Knüpfen ist, wenn ein Netzwerk halten und verbinden, tragen und auffangen soll? Einiges spricht dafür, dass die Mitte im Netzwerk wichtig ist. Der erste und der zentrale Knoten, an dem die anderen befestigt sind, der Anknüpfungspunkt sozusagen. Stefan Mölleney sagt, was alle eingebundenen Partner betonen: „Werner Staubach ist der Ideen- 1060 geber. Er ist die Seele des Netzwerks. Er pflegt die persönlichen Beziehungen.“ Und man merkt dem dynamischen Amtsleiter an, wie froh er ist, sich auf die Qualität dieses Beziehungssystems verlassen zu können – und auf die Unbe- irrbarkeit dessen, der die Fäden in der Hand hält.
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung Die Mitte des Netzwerks ist wichtig: Durch Werner Staubachs Initiative werden Menschen ins Gespräch gebracht. Aus der Sicht von allen Coaches, Gurus und Beratern, die sich als Networking- Experten verstehen und verkaufen, ist der Name natürlich eine Katastrophe, den Werner Staubach und seine Mitstreiter ihrem Netzwerk gegeben haben: weil er nicht nur jedes Aufplustern vermeidet, sondern im Gegenteil ein echter Tiefstapler ist – und weil er, ganz einfach gesagt, so radikal uncool klingt. „Arbeitskreis Kinder im Ostend und in Ziehers Süd“. Das nennt die beiden Stadt- teile, in denen Hilfe nötig ist; das sagt, es soll um die Kinder gehen; und das bestimmt: Wir wollen gemeinsam arbeiten hier. Wenn man daran denkt, dass die Institution des Arbeitskreises als eine Art Vorbote der Netzwerkeuphorie einmal ähnlich hoch im Kurs stand, vor allem im politisch aktiven und korrek- ten Zeitalter der 1980er-Jahre – dann passt zwar der Name vielleicht einfach 1061 gut zu Fulda und zur von Stefan Mölleney beschriebenen Insellage, bei der einiges eben erst etwas später in die Mitte schwappt. Doch wer über Integrati- on nicht nur reden, sondern sie vor Ort umsetzen und realisieren will – der muss jenseits der Kriterien „cool“ und „korrekt“ wohl sowieso über zeitlose Fähig-
keiten verfügen. Der sollte Vertrauen erzeugen und Menschen ins Gespräch bringen können. Zuallererst geht es vielleicht darum, Schwingungen, Stimmun- gen, Bruchlinien wahrzunehmen und wiederzugeben, die man sonst viel zu leicht überhört. „Wir wollen seismographisch offen sein für die Nöte der Men- schen“, sagt Werner Staubach. „Und wir wollen uns gegenseitig pragmatisch, unbürokratisch und zielorientiert helfen.“ Und weil man Staubach anmerkt, wie ernst er es damit meint, kann in der Moschee von Fulda immer wieder beim Freitagsgebet ein kleines Wunder passieren. Auf dem Weg zwischen Bahnhof und Dom liegt das islamische Gemeindezent- rum in einer Seitenstraße, die wie fast die gesamte Innenstadt mit dem „berühmten Kopfsteinpflaster“ bestückt ist, wie Staubach es nennt – man könnte es auch als berüchtigt bezeichnen, weil es den Ungeübten so leicht zum Stolpern provoziert. Das Haus mit der Moschee dagegen taugt wirklich nicht als Stolperstein: Wer nicht danach sucht, wird es kaum finden; das „Bistrorante Sofra“ im Erdgeschoss gibt trotz seiner türkischen Spezialitäten auch keinen verräterischen Hinweis in einer Gesellschaft, der wenigstens auf den Speise- karten die Integration des Fremden seit Jahrzehnten gelingt. Gerade in Städ- ten wie Fulda ist man die einschüchternde Wucht gewohnt, mit der Kathedra- len, Altäre, Weihrauch und Bischofsgewänder den Gläubigen ihre Sterblichkeit bewusst machen sollen – da mag man gerade hier wieder einmal überrascht sein über den Pragmatismus und die Schnörkellosigkeit, mit der andere Reli- gionen ihre Rituale hinter einer unscheinbaren Fassade praktizieren. Weißes Holz, Fliesen, abgeschabtes Parkett, einfache Waschräume mit alten Schemeln „Wir wollen seismographisch offen sein für die Nöte der Menschen.“ davor – und im Gebetsraum im zweiten Stock liegen riesige Teppiche vor einer 1062 kleinen, unauffälligen Nische in der Wand, die ganz genau gen Mekka weist. Bis zu 1000 Menschen knien hier an den hohen Feiertagen und hören auf die Worte des Imams, ihres Vorbeters. Der große Aufenthaltsbereich im Geschoss darunter hat den Charakter eines Vereinsheims, einschließlich Billardtisch und
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung Großfernseher in der Ecke. Werner Staubach bewegt sich hier wie einer, der zwar von außerhalb kommt, aber mittendrin dazugehört; er wird begrüßt und umkreist, und natürlich ist ihm diese Rolle im Zentrum eher unangenehm. Um einen der Tische, auf denen die Zuckerstücke für den Tee bereitstehen und die Blumen schon ein wenig angetrocknet sind, sitzen einige von denen, die dank Staubachs Netzwerk zusammengefunden haben: der Vorsitzende des Islami- schen Vereins; eine Vertreterin des Vereins zur Förderung des Gedankenguts Atatürks; der Ausländerbeauftragte der Stadt Fulda; die Frauenvorsitzende des türkischen Elternverbandes, die in perfektem Deutsch sagt, ihr Deutsch sei lei- der nicht perfekt, und die deshalb sicherheitshalber ihre 20-jährige Tochter mit- gebracht hat. Die Hardliner der deutschen Ausländerpolitik würden wohl ihre Welt nicht mehr verstehen, wenn sie hören könnten, was diese Runde zum The- ma Integration zu sagen hat – und wie streng sie dabei mit denen ins Gericht geht, die wie sie selbst aus einer anderen Kultur stammen, eine andere Mut- tersprache sprechen, aber sich nicht so recht einfügen können oder mögen in das Leben der Gastlandbewohner. Gerade Fadime Inan, die ihre Mutter beglei- tet und das Kopftuch streng gebunden trägt, nimmt mit gestochenen Worten kein Blatt vor den Mund. „Ich werde mit vielen Vorurteilen konfrontiert und oft angestarrt auf der Straße“, sagt die junge Frau, die schon deshalb etwas von Übersetzungsarbeit versteht, weil sie eine Ausbildung zur Fremdsprachenas- sistentin macht. „Dann weiß ich: Wir müssen uns noch mehr anstrengen. Wenn man die Schuld immer nur dem Gegenüber gibt, erzielt man keinen Erfolg – wir Türken grenzen uns immer noch viel zu stark ab. Es ist unsere Aufgabe, die Sprachbarriere zu überwinden.“ Wahrscheinlich steht das im Mittelpunkt von allen Integrationsversuchen im Allgemeinen und von Werner Staubachs Netz- werk im Besonderen: die Kunst zu pflegen, sich gegenseitig verständlich zu machen. Damit lassen sich Erfolge erzielen, die auf den ersten Blick nicht wie ein Triumph aussehen – aber langfristig doch eine wunderhafte Wirkung ent- 1063 falten können. „Wo gibt es das schon“, fragt Staubach irgendwann ganz eupho- risch, „dass der Imam jede Woche beim Freitagsgebet in der Moschee seiner Gemeinde einschärft, die Kinder in den deutschen Kindergarten zu bringen?“ Vom Kindergarten über den Jugendclub bis zum Mütterzentrum: Weil Werner
Staubach und die Menschen, die sich mit ihm engagieren, diese Kunst der Ver- ständigung so außergewöhnlich gut beherrschen – deshalb gibt es im Traditi- ons-Arbeiterviertel rund um die Cuno-Raabe-Schule inzwischen zahlreiche Möglichkeiten, sich zur Selbst-Integration anregen zu lassen. Immer noch wer- den die Rahmenbedingungen im Ostend vor allem von den großen Gummiwer- ken bestimmt, deren Fabrikgelände den Stadtteil begrenzt; und immer noch gibt es in der Kneipe am Eck „jeden Mittwoch Pferdeklopse“, wie ein handge- schriebenes Schild im Fenster verspricht. Aber an der Grenze zwischen den reichlich heruntergekommenen Mietshäusern, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Kasernen dienten, und den etwas besser hergerichteten Woh- nungen brechen inzwischen Spannungen zwischen verschiedenen Gastarbei- tergenerationen auf. Und der Anteil der Kinder, die ohne ausreichende Deutsch- kenntnisse auf die Schule kommen, ist in den letzten Jahren immer weiter gewachsen (übrigens auch unter den deutschen Schülern). Andere Lehrer be- kommen Burn-out-Symptome. Werner Staubach knüpft weiter Knoten um Knoten. Da ist die Erzieherin, die den so genannten Betreuungsunterricht an- bietet vor und nach der Schule und während des christlichen Religionsunter- 1064 Angebote wie Betreuungsunterricht stellen konkrete Schritte zur Integration ausländischer Kinder dar.
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung richts: Sie verschafft den computerspielgeschädigten Kids aller Nationalitäten endlich einmal Auslauf von Körper und Phantasie; sorgt dafür, dass Hausauf- gaben erledigt werden; setzt Grenzen und verschafft Freiräume – und zwingt die Grundschüler wie nebenbei dazu, sich mithilfe des kleinsten gemeinsamen Nenners verständig zu machen, also auf Deutsch. Da ist der Türkischlehrer, der mit einer Gruppe von Mädchen türkische Tänze für den Auftritt beim Stadt- teilfest einstudiert. Da ist die türkische Elternvertreterin, die als ehemalige „Wo gibt es das schon, dass der Imam jede Woche beim Freitagsgebet in der Moschee seiner Gemeinde einschärft, die Kinder in den deutschen Kindergarten zu bringen?“ Schülerin von Werner Staubach Deutschkurse für türkische Mütter ins Leben gerufen hat. Da sind die Frauen vom Mütterzentrum, die sich nicht damit abfin- den wollen, dass Elternzeit immer noch viel zu oft das Abrutschen in die beruf- liche Isolation bedeutet – und die sich selbst und alle anderen in einem vielfäl- tigen Kursprogramm weiterbilden. Die eine oder die andere hat dabei schon ihre Begabung als Beraterin entdeckt und sich später selbstständig gemacht; und die Freude ist groß, wenn sich allmählich ab und an auch türkische Mütter dazutrauen. Das Stadtteil-Netzwerk von Fulda übernimmt vieles von dem, was in anderen Ecken der Stadt und des Landes nach wie vor als selbstverständlich gilt – und immer wieder gibt es aus den traditionsorientierten, gutbürgerlichen Kreisen die Reaktion des Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagens: Doch was nützt es schon, auf „diese Eltern, diese Familien, diese Jugend von heute“ zu schimpfen und ihnen Versagen vorzuwerfen? Den zuständigen Amtsleiter be- eindruckt jedenfalls, mit welcher Eigeninitiative und Eigenverantwortung das 1065 Netzwerk etabliert wurde und gepflegt wird. „Diese Kontinuität des Einsatzwil- lens“, sagt Stefan Mölleney, „die gibt es in keinem anderen Viertel. Die fragen nicht als Erstes nach dem Budget, das ihnen die Stadt zur Verfügung stellt – nach dem Motto: Sonst fangen wir erst gar nicht an. Die machen das einfach.“
Im Mittelpunkt des Stadtteil-Netzwerkes in Fulda steht das Pflegen der Kunst, sich gegenseitig verständlich zu machen. Und dann stutzt er einen Moment und schiebt die Überlegung nach: „Ich weiß gar nicht, wer ihnen das beigebracht hat.“ Wenn man auf die Deutschlandkarte schaut, die an der Bürotüre von Stefan Möl- leney hängt, und wenn die Augen dann unbewusst nach einem Zentrum suchen – dann bleibt der Blick hängen an einem hellgrünen Fleck in der Mitte, der nicht Niederorla, sondern Fulda heißt. Man muss dabei wissen, dass die Karte einen Flickenteppich zeigt – jeder Landkreis hat in dieser Studie eine eigene Farbe, die seine Familienfreundlichkeit signalisiert, die nach unzähligen Kriterien ermit- telt wurde. Und dieses Hellgrün von Fulda, das steht ausgerechnet für „unauf- fällig“. Stefan Mölleney ist damit natürlich unzufrieden. Aber wenn die Mitte von Deutschland auch dank des Netzwerks von Werner Staubach die Farbe der Hoff- nung trägt: Ist das nicht ein gutes Zeichen dafür, was alles gelingen kann? 1066 Der vorliegende Text ist eine für die UNIVERSITAS leicht erweiterte Version einer Reportage, die in dem von Sanem Kleff herausgegebenen Band „Islam im Klassenzimmer. Impulse für die Bildungsarbeit“ veröffentlicht wird. Das
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung Buch stellt die Projektarbeit der Körber-Stiftung vor, erscheint im Oktober 2005 in der edition Körber-Stiftung und ist im deutschen Buchhandel für 12 Euro er- hältlich. „Islam im Klassenzimmer“ präsentiert erfolgreiche und praxiserprobte Ideen und Projekte zum Umgang mit diesen Anforderungen und zeigt, wie z. B. durch Theaterspiele oder die Erforschung der eigenen Familiengeschichte Verständ- nis und Integration gelingen kann. Ein Praxisbuch für Pädagogen, Eltern, Bil- dungsexperten und alle, die an Migration und Bildung interessiert sind. Stefan Sippell, Magister in Geschichte und Philosophie, derzeit Pro- motion in Geschichte; Journalist und Redakteur, unter anderem für „tz“, „Deutsche Welle“, „Süddeutsche Zeitung“. Von 2000 bis 2004 Projektleiter bei der Eberhard von Kuenheim Stiftung. Kontakt zum Forum Eberhard von Kuenheim Stiftung, Stiftung der BMW AG, Amiraplatz 3, 80333 München, www.kuenheim-stiftung.de Going global! Werden auch Sie Pate! Seit drei Jahren unterstützt die UNIVERSITAS die jetzt neunjährige Elvi- ra Angelina Maquin aus Guatemela. Der Geldbetrag wird nicht nur für Elvira verwendet, sondern für die Verbesserung der Lebensbedingun- gen in der Region, in der sie und ihre Familie leben. Wer mehr über die Kinderhilfsorganisation PLAN INTERNATIONAL, die Elvira vermittelt hat, wissen will, kann dies unter www.plan-international.de tun. Vielleicht wollen ja auch Sie Patin oder Pate werden und damit einen Beitrag zu einer gelingenden Globalisierung leisten. Sie erhalten regelmäßig Post von Ihrem Patenkind und einen Be- richt über die Entwicklung der gefördeten Projekte. 1067 Wenden Sie sich an Plan International Deutschland e. V., Bramsfelder Straße 70, 22305 Hamburg, Telefon 0 40/6 11 14 00 Fax: 0 40/61 14 01 40, www.plan-deutschland.de
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