Freude am neu:wagen Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

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Freude am neu:wagen
       Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

       Der Bundespräsident fordert ein Land der Ideen. Jeder zweite Bundesbürger
       hält das Land für reformbedürftig. Doch Stillstand und Lähmung sorgen für
       schlechte Stimmung im Land. Bildung, Rente, Arbeitsmarkt: Wo steckt sie –
       die Freude, die dabei entsteht, etwas Neues zu wagen? Da gibt es zum Bei-
       spiel eine kleine Gruppe von Glasmachern im Bayerischen Wald, die sich mit
       der Insolvenz ihrer traditionsreichen Manufaktur nicht abfinden wollte. Aus
       eigenem Antrieb riskierten die Handwerker den Neustart – jetzt brennen die
       Öfen wieder. Oder der Student aus Dresden, der genug hatte vom Jammern
       und Protestieren. Er gründet die erste Studentenstiftung Deutschlands, um
       die Studienbedingungen an seiner Universität langfristig und aus eigener
       Kraft verbessern zu können – und schafft damit eine neue Kultur des Selbst-
       Beteiligens. Was treibt sie an, die Glasmacher, den Studenten? Es ist die
       Freude daran, der Kraft einer guten Idee zu vertrauen – und daraus einen un-
       gewöhnlichen Lösungsansatz zu entwickeln, um ihn gemeinsam mit anderen
       in die Tat umzusetzen. Es ist die Freude daran, zu überzeugen, zu gestalten,
       neu anzusetzen – um Stillstandsgebiete in Bewegung zu bringen. Es ist die
       Freude daran, Probleme zu lösen. Wir nennen das: die Freude am neu:wagen.

       Das Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung in der UNIVERSITAS ist dieser
       Freude auf der Spur – den Geschichten, die diese Freude erzählt, und den
       Menschen, die sie angesteckt hat. Unsere Autoren berichten davon; Experten
       kommen zu Wort und stellen neue Ideen zur Diskussion. Die Stiftung freut
       sich, wenn die Freude am neu:wagen sich auf die Leser der UNIVERSITAS
       überträgt.

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Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

          Von Netzwerken ist viel und allerorten die Rede – doch wie erweckt man sie zum
          Leben? Indem man sich einer dringenden gesellschaftlichen Herausforderung
          stellt und diese meistern will: Dies zeigt ein Stadtteil-Netzwerk in Fulda, das
          sich um die Integration ausländischer Kinder und ihrer Familien kümmert.
          Pragmatisch und aus eigener Initiative motivieren ein Grundschullehrer und
          der Leiter des Amtes für Jugend und Familie gemeinsam mit Kirchen, Vereinen
          und Ausländerbeauftragten die Kulturen zu mehr Verständnis. Und alle Betei-
          ligten gestalten mit – ohne nach einem Budget zu fragen, das ihnen eventuell
          jemand zur Verfügung stellen könnte.

Die Kunst der Verständigung:
Was Netzwerke leisten können
          Stefan Sippell

          Der geographische Mittelpunkt Deutschlands, das haben Wissenschaftler aus-
          gemessen, liegt in einem Nest in Thüringen, das Niederorla heißt. Inzwischen
          gibt es dort eine Informationstafel, mit der man Touristen herbeizulocken ver-
          sucht, die einmal im Mittelpunkt stehen wollen. Nichts gegen Niederorla – aber
          man stellt sich die Mitte von Deutschland doch anders vor, eher im Sinne von Mit-
          telwert: weder als große Metropole noch als kleines Dorf; irgendwo zwischen den
          Himmelsrichtungen und vielleicht am Rande eines Mittel-Gebirges; mit
          einer langen und stolzen Geschichte, aber nicht im Mittelpunkt des Weltgesche-
          hens; bodenständig, bürgerlich, und weil die Struktur des Landes nun mal so ist
          wie sie ist, auch ziemlich konservativ. So wie die Meteorologen für ihre Wetter-
          vorhersagen die „gefühlte Temperatur“ erfunden haben, so könnte man auch
                                                                                              1057
          nach der gefühlten Mitte von Deutschland fragen. Fulda fühlt sich so an.
          Wenn von Jugend und Familie die Zukunft abhängt, wie die Politiker immer sa-
          gen, dann ist Stefan Mölleney wohl so etwas wie der Zukunftsminister von Fulda.
          Beim Leiter des Amtes für Jugend und Familie fangen wir an mit unserer
Suche nach ein paar Problemen, die Deutschland in seiner Mitte hat – vor
       allem aber wollen wir herausfinden, wie man diese Probleme sozusagen aus
       der Mitte heraus lösen kann.
       „Das ist eine kleine Stadt“, winkt Mölleney bescheiden ab, „und auch die Be-
       deutung des Amtes ist eher klein.“ Dabei macht Mölleney durchaus den Ein-
       druck, als gäbe es genug zu tun für ihn. Er wirkt ein bisschen so, als nenne er
       Schwierigkeiten lieber Herausforderungen und packe sie gerne an: smart ge-
       streiftes Hemd, die Krawatte dazu im perfekten Muster. An der Wand hängen
       Kunstwerke seiner Kinder, die natürlich gut ins Familienamt passen. Für den
       Amtsleiter sind die Bilder wichtig, weil seine Familie ihn kaum sieht vor lauter
       Arbeit. „Fulda ist ein Anziehungspunkt mit einem großen Umland“, sagt Stefan
       Mölleney zuerst, als wir ihn bitten, uns einen kurzen Eindruck seiner Stadt zu
       vermitteln. Eine Art Insel sozusagen, und wenn man so will, dann befindet sie
       sich im Mittel-Meer: „Fulda liegt ziemlich einsam auf der grünen Wiese.“ Als
       Nächstes kommt Mölleney aber gleich auf die Tradition zu sprechen, die vor
       allem vom Barock und von der Kirche, natürlich der katholischen, geprägt wird.
       „Fulda ist sehr traditionsorientiert. Man könnte auch sagen: traditionsverhaf-
       tet. Die Menschen sind wertkonservativ hier. Das erzeugt schon eine gewisse
       Enge“, sagt Mölleney, der selbst aus Fulda stammt. Früher wollte er Priester
       werden, „bis der Wunsch abhanden kam“, wie er selbst sagt, und er wegging
       aus Fulda, aber wiederkehrte. Und feststellte: eine „Insel der Glückseligen“, das
       sei Fulda eben nicht. Wie überall im Land verändert sich auch hier die Gesell-
       schaft in einer Art und Weise, die gerade Jugend und Familien betrifft und oft
       nur schwierig zu meistern ist. Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, Armut, vor allem
       aber auch das Miss-Verstehen zwischen Deutschen und Ausländern, Konflikte
       mit fremden Kulturen, Lebensformen – was nicht zuletzt und gerade hier auch
       oft bedeutet, dass unterschiedliche Religionen aufeinander treffen, und insbe-
       sondere natürlich der Islam und das Christentum: „Es gibt nicht mehr Proble-
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       me als anderswo“, vermutet Stefan Mölleney, wohl eher weniger als beispiels-
       weise in den Metropolen wie Frankfurt oder Berlin. „Aber hier kommen die
       Probleme verspätet an, und man misst ihnen mehr Gewicht zu.“ Sie tragen so-
       zusagen schwerer daran, die Fuldaer Menschen aus Mittel-Deutschland. Es
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

          gibt aber auch welche, die entwickeln unter diesen Bedingungen besondere
          Kräfte. So einer ist der Grundschullehrer Werner Staubach.
          Wie Mölleney kommt auch Werner Staubach hier aus der Gegend, aber anders
          als der Amtschef ist Staubach nie wirklich weg gewesen. In einem der kleinen
          Orte aus dem so genannten „Einzugsgebiet“, also auf der grünen Wiese rund
          um die Insel Fulda, wuchs Staubach auf – und weil seine Mutter aus dem da-
          maligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen war, machte er als Junge
          gleich seine ersten Erfahrungen mit dem Anders-sein und Anders-behandelt-
          werden. „Wenn wir nicht so funktionierten, wie das erwartet wurde, dann wa-
          ren wir die ,Zigeuner‘“, erzählt Werner Staubach mit seiner leisen, weichen und
          immerzu freundlichen Stimme, und natürlich kann er das Wort im hessischen
          Dialekt aussprechen: „Zichhüner“, so ungefähr hört sich das an. Auch Stau-
          bach hat Theologie studiert, auch wenn er kein Priester werden wollte, aber
          Lehrer an einer Grundschule war ursprünglich genauso wenig ein Berufs-
          wunsch von ihm. Manchmal entwickeln sich die Dinge eben im Leben, und

                                                                                            1059

Durch das Stadtteil-Netzwerk werden Grundschule, Kirchengemeinden, Moschee und
Auslandbehörde miteinander verknüpft.
Werner Staubach scheint einer zu sein, der sie entgegennimmt und sie mit
       Ruhe und Zielstrebigkeit ein Stückchen weitertreibt und zum Besseren wendet
       – für sich und für diejenigen, die ihn umgeben. So kam er vor 30 Jahren an die
       Cuno-Raabe-Schule im Arbeiterviertel Ostend und ist bis heute dort geblieben.
       Ursprünglich hatte er auch nicht daran gedacht, sich für die Integration von
       ausländischen und gerade von islamischen Schülern besonders zu engagieren.
       Aber als in den 1970er-Jahren zum ersten Mal Förderunterricht für die Gast-
       arbeiterkinder angeboten wurde, musste der Jüngste im Kollegium eben an-
       treten. Und wieder hat sich Werner Staubach in eine Sache hineingefunden,
       und wieder ist er bei dieser Sache geblieben – und hat daraus etwas Besonde-
       res gemacht. Auf diese Weise ist schließlich ein Netzwerk entstanden, das seit
       vier Jahren die so genannten Brennpunkte eines Stadtteils verknüpft mit der
       Grundschule, mit den sozialen Anlaufstellen in Fulda, mit der großen katholi-
       schen und der kleineren evangelischen Kirchengemeinde, mit der Moschee und
       den islamisch-türkischen Vereinen, mit der Ausländerbehörde – und das auch
       eine feste Aufhängung hat im Amt für Jugend und Familie bei Stefan Mölleney.
       „Mir war aufgefallen, dass Integration nicht außerhalb der Schule aufhören
       kann“, so einfach formuliert Werner Staubach seinen Netzwerk-Gedanken.
       Netzwerk: Wie unspektakulär und gewöhnlich das heutzutage klingt, wo doch
       die ganze Welt überspannt zu sein scheint von lauter Netzwerken, in denen man
       sich eigentlich ständig verfangen und verstricken müsste – wenn sie wirklich
       das leisten würden, was sie versprechen. Angeblich kommt ja jeder nur noch
       durchs Leben, indem er „Networking“ betreibt. Aber wer weiß schon, worauf
       es wirklich ankommt und wie schwierig das Knüpfen ist, wenn ein Netzwerk
       halten und verbinden, tragen und auffangen soll? Einiges spricht dafür, dass die
       Mitte im Netzwerk wichtig ist. Der erste und der zentrale Knoten, an dem die
       anderen befestigt sind, der Anknüpfungspunkt sozusagen. Stefan Mölleney
       sagt, was alle eingebundenen Partner betonen: „Werner Staubach ist der Ideen-
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       geber. Er ist die Seele des Netzwerks. Er pflegt die persönlichen Beziehungen.“
       Und man merkt dem dynamischen Amtsleiter an, wie froh er ist, sich auf die
       Qualität dieses Beziehungssystems verlassen zu können – und auf die Unbe-
       irrbarkeit dessen, der die Fäden in der Hand hält.
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

Die Mitte des Netzwerks ist wichtig: Durch Werner Staubachs Initiative werden Menschen ins
Gespräch gebracht.

           Aus der Sicht von allen Coaches, Gurus und Beratern, die sich als Networking-
           Experten verstehen und verkaufen, ist der Name natürlich eine Katastrophe,
           den Werner Staubach und seine Mitstreiter ihrem Netzwerk gegeben haben:
           weil er nicht nur jedes Aufplustern vermeidet, sondern im Gegenteil ein echter
           Tiefstapler ist – und weil er, ganz einfach gesagt, so radikal uncool klingt.
           „Arbeitskreis Kinder im Ostend und in Ziehers Süd“. Das nennt die beiden Stadt-
           teile, in denen Hilfe nötig ist; das sagt, es soll um die Kinder gehen; und das
           bestimmt: Wir wollen gemeinsam arbeiten hier. Wenn man daran denkt, dass
           die Institution des Arbeitskreises als eine Art Vorbote der Netzwerkeuphorie
           einmal ähnlich hoch im Kurs stand, vor allem im politisch aktiven und korrek-
           ten Zeitalter der 1980er-Jahre – dann passt zwar der Name vielleicht einfach
                                                                                              1061
           gut zu Fulda und zur von Stefan Mölleney beschriebenen Insellage, bei der
           einiges eben erst etwas später in die Mitte schwappt. Doch wer über Integrati-
           on nicht nur reden, sondern sie vor Ort umsetzen und realisieren will – der muss
           jenseits der Kriterien „cool“ und „korrekt“ wohl sowieso über zeitlose Fähig-
keiten verfügen. Der sollte Vertrauen erzeugen und Menschen ins Gespräch
       bringen können. Zuallererst geht es vielleicht darum, Schwingungen, Stimmun-
       gen, Bruchlinien wahrzunehmen und wiederzugeben, die man sonst viel zu
       leicht überhört. „Wir wollen seismographisch offen sein für die Nöte der Men-
       schen“, sagt Werner Staubach. „Und wir wollen uns gegenseitig pragmatisch,
       unbürokratisch und zielorientiert helfen.“ Und weil man Staubach anmerkt, wie
       ernst er es damit meint, kann in der Moschee von Fulda immer wieder beim
       Freitagsgebet ein kleines Wunder passieren.
       Auf dem Weg zwischen Bahnhof und Dom liegt das islamische Gemeindezent-
       rum in einer Seitenstraße, die wie fast die gesamte Innenstadt mit dem
       „berühmten Kopfsteinpflaster“ bestückt ist, wie Staubach es nennt – man
       könnte es auch als berüchtigt bezeichnen, weil es den Ungeübten so leicht zum
       Stolpern provoziert. Das Haus mit der Moschee dagegen taugt wirklich nicht als
       Stolperstein: Wer nicht danach sucht, wird es kaum finden; das „Bistrorante
       Sofra“ im Erdgeschoss gibt trotz seiner türkischen Spezialitäten auch keinen
       verräterischen Hinweis in einer Gesellschaft, der wenigstens auf den Speise-
       karten die Integration des Fremden seit Jahrzehnten gelingt. Gerade in Städ-
       ten wie Fulda ist man die einschüchternde Wucht gewohnt, mit der Kathedra-
       len, Altäre, Weihrauch und Bischofsgewänder den Gläubigen ihre Sterblichkeit
       bewusst machen sollen – da mag man gerade hier wieder einmal überrascht
       sein über den Pragmatismus und die Schnörkellosigkeit, mit der andere Reli-
       gionen ihre Rituale hinter einer unscheinbaren Fassade praktizieren. Weißes
       Holz, Fliesen, abgeschabtes Parkett, einfache Waschräume mit alten Schemeln

                 „Wir wollen seismographisch offen sein für die Nöte der
                 Menschen.“

       davor – und im Gebetsraum im zweiten Stock liegen riesige Teppiche vor einer
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       kleinen, unauffälligen Nische in der Wand, die ganz genau gen Mekka weist.
       Bis zu 1000 Menschen knien hier an den hohen Feiertagen und hören auf die
       Worte des Imams, ihres Vorbeters. Der große Aufenthaltsbereich im Geschoss
       darunter hat den Charakter eines Vereinsheims, einschließlich Billardtisch und
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

          Großfernseher in der Ecke. Werner Staubach bewegt sich hier wie einer, der
          zwar von außerhalb kommt, aber mittendrin dazugehört; er wird begrüßt und
          umkreist, und natürlich ist ihm diese Rolle im Zentrum eher unangenehm. Um
          einen der Tische, auf denen die Zuckerstücke für den Tee bereitstehen und die
          Blumen schon ein wenig angetrocknet sind, sitzen einige von denen, die dank
          Staubachs Netzwerk zusammengefunden haben: der Vorsitzende des Islami-
          schen Vereins; eine Vertreterin des Vereins zur Förderung des Gedankenguts
          Atatürks; der Ausländerbeauftragte der Stadt Fulda; die Frauenvorsitzende des
          türkischen Elternverbandes, die in perfektem Deutsch sagt, ihr Deutsch sei lei-
          der nicht perfekt, und die deshalb sicherheitshalber ihre 20-jährige Tochter mit-
          gebracht hat. Die Hardliner der deutschen Ausländerpolitik würden wohl ihre
          Welt nicht mehr verstehen, wenn sie hören könnten, was diese Runde zum The-
          ma Integration zu sagen hat – und wie streng sie dabei mit denen ins Gericht
          geht, die wie sie selbst aus einer anderen Kultur stammen, eine andere Mut-
          tersprache sprechen, aber sich nicht so recht einfügen können oder mögen in
          das Leben der Gastlandbewohner. Gerade Fadime Inan, die ihre Mutter beglei-
          tet und das Kopftuch streng gebunden trägt, nimmt mit gestochenen Worten
          kein Blatt vor den Mund. „Ich werde mit vielen Vorurteilen konfrontiert und oft
          angestarrt auf der Straße“, sagt die junge Frau, die schon deshalb etwas von
          Übersetzungsarbeit versteht, weil sie eine Ausbildung zur Fremdsprachenas-
          sistentin macht. „Dann weiß ich: Wir müssen uns noch mehr anstrengen. Wenn
          man die Schuld immer nur dem Gegenüber gibt, erzielt man keinen Erfolg – wir
          Türken grenzen uns immer noch viel zu stark ab. Es ist unsere Aufgabe, die
          Sprachbarriere zu überwinden.“ Wahrscheinlich steht das im Mittelpunkt von
          allen Integrationsversuchen im Allgemeinen und von Werner Staubachs Netz-
          werk im Besonderen: die Kunst zu pflegen, sich gegenseitig verständlich zu
          machen. Damit lassen sich Erfolge erzielen, die auf den ersten Blick nicht wie
          ein Triumph aussehen – aber langfristig doch eine wunderhafte Wirkung ent-
                                                                                              1063
          falten können. „Wo gibt es das schon“, fragt Staubach irgendwann ganz eupho-
          risch, „dass der Imam jede Woche beim Freitagsgebet in der Moschee seiner
          Gemeinde einschärft, die Kinder in den deutschen Kindergarten zu bringen?“
          Vom Kindergarten über den Jugendclub bis zum Mütterzentrum: Weil Werner
Staubach und die Menschen, die sich mit ihm engagieren, diese Kunst der Ver-
       ständigung so außergewöhnlich gut beherrschen – deshalb gibt es im Traditi-
       ons-Arbeiterviertel rund um die Cuno-Raabe-Schule inzwischen zahlreiche
       Möglichkeiten, sich zur Selbst-Integration anregen zu lassen. Immer noch wer-
       den die Rahmenbedingungen im Ostend vor allem von den großen Gummiwer-
       ken bestimmt, deren Fabrikgelände den Stadtteil begrenzt; und immer noch
       gibt es in der Kneipe am Eck „jeden Mittwoch Pferdeklopse“, wie ein handge-
       schriebenes Schild im Fenster verspricht. Aber an der Grenze zwischen den
       reichlich heruntergekommenen Mietshäusern, die bis zum Ende des Zweiten
       Weltkriegs als Kasernen dienten, und den etwas besser hergerichteten Woh-
       nungen brechen inzwischen Spannungen zwischen verschiedenen Gastarbei-
       tergenerationen auf. Und der Anteil der Kinder, die ohne ausreichende Deutsch-
       kenntnisse auf die Schule kommen, ist in den letzten Jahren immer weiter
       gewachsen (übrigens auch unter den deutschen Schülern). Andere Lehrer be-
       kommen Burn-out-Symptome. Werner Staubach knüpft weiter Knoten um
       Knoten. Da ist die Erzieherin, die den so genannten Betreuungsunterricht an-
       bietet vor und nach der Schule und während des christlichen Religionsunter-

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       Angebote wie Betreuungsunterricht stellen konkrete Schritte zur Integration ausländischer Kinder
       dar.
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

          richts: Sie verschafft den computerspielgeschädigten Kids aller Nationalitäten
          endlich einmal Auslauf von Körper und Phantasie; sorgt dafür, dass Hausauf-
          gaben erledigt werden; setzt Grenzen und verschafft Freiräume – und zwingt
          die Grundschüler wie nebenbei dazu, sich mithilfe des kleinsten gemeinsamen
          Nenners verständig zu machen, also auf Deutsch. Da ist der Türkischlehrer, der
          mit einer Gruppe von Mädchen türkische Tänze für den Auftritt beim Stadt-
          teilfest einstudiert. Da ist die türkische Elternvertreterin, die als ehemalige

„Wo gibt es das schon, dass der Imam jede Woche beim Freitagsgebet in
der Moschee seiner Gemeinde einschärft, die Kinder in den deutschen
Kindergarten zu bringen?“

          Schülerin von Werner Staubach Deutschkurse für türkische Mütter ins Leben
          gerufen hat. Da sind die Frauen vom Mütterzentrum, die sich nicht damit abfin-
          den wollen, dass Elternzeit immer noch viel zu oft das Abrutschen in die beruf-
          liche Isolation bedeutet – und die sich selbst und alle anderen in einem vielfäl-
          tigen Kursprogramm weiterbilden. Die eine oder die andere hat dabei schon
          ihre Begabung als Beraterin entdeckt und sich später selbstständig gemacht;
          und die Freude ist groß, wenn sich allmählich ab und an auch türkische Mütter
          dazutrauen.
          Das Stadtteil-Netzwerk von Fulda übernimmt vieles von dem, was in anderen
          Ecken der Stadt und des Landes nach wie vor als selbstverständlich gilt – und
          immer wieder gibt es aus den traditionsorientierten, gutbürgerlichen Kreisen
          die Reaktion des Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagens: Doch was
          nützt es schon, auf „diese Eltern, diese Familien, diese Jugend von heute“ zu
          schimpfen und ihnen Versagen vorzuwerfen? Den zuständigen Amtsleiter be-
          eindruckt jedenfalls, mit welcher Eigeninitiative und Eigenverantwortung das
                                                                                              1065
          Netzwerk etabliert wurde und gepflegt wird. „Diese Kontinuität des Einsatzwil-
          lens“, sagt Stefan Mölleney, „die gibt es in keinem anderen Viertel. Die fragen
          nicht als Erstes nach dem Budget, das ihnen die Stadt zur Verfügung stellt –
          nach dem Motto: Sonst fangen wir erst gar nicht an. Die machen das einfach.“
Im Mittelpunkt des Stadtteil-Netzwerkes in Fulda steht das Pflegen der Kunst, sich gegenseitig
       verständlich zu machen.

       Und dann stutzt er einen Moment und schiebt die Überlegung nach: „Ich weiß
       gar nicht, wer ihnen das beigebracht hat.“
       Wenn man auf die Deutschlandkarte schaut, die an der Bürotüre von Stefan Möl-
       leney hängt, und wenn die Augen dann unbewusst nach einem Zentrum suchen
       – dann bleibt der Blick hängen an einem hellgrünen Fleck in der Mitte, der nicht
       Niederorla, sondern Fulda heißt. Man muss dabei wissen, dass die Karte einen
       Flickenteppich zeigt – jeder Landkreis hat in dieser Studie eine eigene Farbe, die
       seine Familienfreundlichkeit signalisiert, die nach unzähligen Kriterien ermit-
       telt wurde. Und dieses Hellgrün von Fulda, das steht ausgerechnet für „unauf-
       fällig“. Stefan Mölleney ist damit natürlich unzufrieden. Aber wenn die Mitte von
       Deutschland auch dank des Netzwerks von Werner Staubach die Farbe der Hoff-
       nung trägt: Ist das nicht ein gutes Zeichen dafür, was alles gelingen kann?
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       Der vorliegende Text ist eine für die UNIVERSITAS leicht erweiterte Version
       einer Reportage, die in dem von Sanem Kleff herausgegebenen Band „Islam
       im Klassenzimmer. Impulse für die Bildungsarbeit“ veröffentlicht wird. Das
Wortwechsel - Freude am neu:wagen - Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung

          Buch stellt die Projektarbeit der Körber-Stiftung vor, erscheint im Oktober 2005
          in der edition Körber-Stiftung und ist im deutschen Buchhandel für 12 Euro er-
          hältlich.
          „Islam im Klassenzimmer“ präsentiert erfolgreiche und praxiserprobte Ideen
          und Projekte zum Umgang mit diesen Anforderungen und zeigt, wie z. B. durch
          Theaterspiele oder die Erforschung der eigenen Familiengeschichte Verständ-
          nis und Integration gelingen kann. Ein Praxisbuch für Pädagogen, Eltern, Bil-
          dungsexperten und alle, die an Migration und Bildung interessiert sind.

                               Stefan Sippell, Magister in Geschichte und Philosophie, derzeit Pro-
                               motion in Geschichte; Journalist und Redakteur, unter anderem für
                               „tz“, „Deutsche Welle“, „Süddeutsche Zeitung“. Von 2000 bis 2004
                               Projektleiter bei der Eberhard von Kuenheim Stiftung.

                               Kontakt zum Forum
                               Eberhard von Kuenheim Stiftung, Stiftung der BMW AG, Amiraplatz 3,
                               80333 München, www.kuenheim-stiftung.de

                               Going global! Werden auch Sie Pate!
            Seit drei Jahren unterstützt die UNIVERSITAS die jetzt neunjährige Elvi-
            ra Angelina Maquin aus Guatemela. Der Geldbetrag wird nicht nur für
            Elvira verwendet, sondern für die Verbesserung der Lebensbedingun-
            gen in der Region, in der sie und ihre Familie leben. Wer mehr über die
            Kinderhilfsorganisation PLAN INTERNATIONAL, die Elvira vermittelt hat,
            wissen will, kann dies unter www.plan-international.de tun. Vielleicht
            wollen ja auch Sie Patin oder Pate werden und damit einen Beitrag zu
            einer gelingenden Globalisierung leisten. Sie erhalten
            regelmäßig Post von Ihrem Patenkind und einen Be-
            richt über die Entwicklung der gefördeten Projekte.
                                                                                                      1067
            Wenden Sie sich an Plan International
            Deutschland e. V., Bramsfelder Straße 70,
            22305 Hamburg, Telefon 0 40/6 11 14 00
            Fax: 0 40/61 14 01 40, www.plan-deutschland.de
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