Geschlechtervarianz Sind Gesellschaft und Gesundheitswesen mit - Luzerner Psychiatrie

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Geschlechtervarianz Sind Gesellschaft und Gesundheitswesen mit - Luzerner Psychiatrie
Geschlechtervarianz

   Sind Gesellschaft und Gesundheitswesen mit
              Geschlechtervielfalt überfordert?

         Luzerner Psychiatrie, Luzern, 21. Juni 2018

                                Myshelle Baeriswyl
             Geschäftsleiterin Fachstelle für Aids- und Sexualfragen, SG
                     Dr. phil. Psychologin & Sexualpädagogin
                       Leiterin Sprechstunde Gendervarianz
                             Mitglied Fachgruppe Trans*

Fachstelle für Aids- und Sexualfragen, Tellstrasse 4, 9000 St. Gallen, Tel. 071 223 68 08 info@ahsga.ch www.ahsga.ch
Geschlechtervarianz Sind Gesellschaft und Gesundheitswesen mit - Luzerner Psychiatrie
Heteronormativität als
unsichtbare soziale Matrix

 «Heteronormativität ist ein zentraler Begriff der Queer Theory, mit dem Naturalisierung
 und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage
 gestellt werden. (…) Der Begriff Heteronormativität dient zur Analyse und Kritik der
 Verflechtung von Heterosexualität und Geschlechternormen, mit denen Macht-,
 Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse einhergehen (vgl. Engel, 2009, S. 19).

 Analysiert wird, wie Heterosexualität in die soziale Textur unserer Gesellschaft, in
 Geschlechterkonzeptionen und in kulturelle Vorstellungen von Körper, Familie,
 Individualität, Nation, in die Trennung von privat/öffentlich eingewoben ist, ohne selbst
 als soziale Textur bzw. als produktive Matrix von Geschlechterverhältnissen, Körper,
 Familie, Nation sichtbar zu sein.“ (Hark, 2009, S. 318).

       Kleiner, B. (2016). Heteronormativität. In: Gender-Glossar http://gender-glossar.de/item/55-heteronormativitaet

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Die heteronormative Logik des Sports

«Der Sport ist bis heute eine Sphäre männlicher Dominanz und
heteronormativer Geschlechtervorstellungen. Das zeigt die anhaltende
Debatte über Geschlechtertests im Leistungssport ebenso wie die
deutliche Unterrepräsentanz von Sportlerinnen in den Medien.
Diese heteronormativ-hierarchische Ordnung (re-)produziert und
legitimiert sich in Bestimmungen internationaler Sportorganisationen
und in Auseinandersetzungen von Athletinnen mit den Regeln des
Sports.
Die Leistungsklasse Geschlecht erweist sich als eine Struktur, die es für
zukünftige Visionen eines geschlechterinklusiven Sports kritisch zu
hinterfragen gilt.»
                                        Karolin Heckemeyer, 2018

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Axiome der Zweigeschlechterideologie
„Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht? Mit einer
Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften
des Abendlandes dies bejaht.“ Foucault, 1978, 7.

1. Es gibt nur zwei Geschlechter.
2. Jede_r hat nur ein Geschlecht.
3. Das Geschlecht ist unveränderbar.
4. Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität stimmen überein.
5. Geschlechtswechsel ist nur als temporäres Ritual akzeptabel.
6. Genitalien sind die essenziellen Indizien des Geschlechts.
7. Jede Person muss einem Geschlecht zuzuordnen sein.
8. Die Dichotomie männlich/weiblich ist natürlich.

                                                                           Schweizer, 2012, 22.f

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Die 8 Ebenen von Geschlecht

•   genetisch/chromosomal: XX, XY, XXY....
•   gonadal: Hoden, Eierstöcke...
•   hormonell: Östrogen, Testosteron, Progesteron...
•   gonaductal: Differenzierung innerer Geschlechtsorgane (Vagina, Prostata...)
•   genital: unterschiedliche äussere genitale Ausstattung
•   cerebral/psychisch: biolog. Hirngeschlecht/Geschlechtsidentität
•   sozial: Rollen, Verhalten, Rechte...
•   kulturell: Zweigeschlechtlichkeit, 3. Geschlecht (Kathoj, Hijras, Fafafine,
    Berdachen, Two spirits...); Mehrgeschlechtlichkeit....

Auf allen Ebenen treten grosse Variabilitäten auf. Keine Ebene determiniert die
Geschlechtsentwicklung allein oder vollständig, weder Chromosomen, noch
Gene, noch Keimdrüsen, noch Hormone.

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trans*

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intersex

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Zweigeschlechtlichkeit
als kulturelles Konstrukt

•   A Map of Gender-Diverse Cultures (2015)
    http://www.pbs.org/independentlens/content/two-spirits_map-html/
•   In vielen Gesellschaften, vor allem ausserhalb Europas, unterscheiden sich
    Geschlechterkonstruktionen und Grenzverläufe zwischen "Mann" und "Frau"
    von unseren Mustern.
•   Was einen Mann oder eine Frau ausmacht, ob zwei oder mehr Geschlechter
    anerkannt werden, inwieweit Körper, Sexualität und soziale Rollen als
    konstitutiv für Geschlecht gelten, ist abhängig vom kulturellen Kontext und
    unterliegt kulturellem Wandel.
•   Die interessante Forschungsfrage ist weniger die nach den Ursachen von
    Geschlechtsvarianten, sondern warum in den abendländischen Gesellschaften
    das Primat der Zweigeschlechtlichkeit/Heteronormativität so verbreitet ist.

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Each person has is own genderprint

«Keine zwei Menschen haben den gleichen Fingerabdruck. Nicht
einmal eineiige Zwillinge. aber bei der Geschlechtsentwicklung,
einem unendlich komplexeren Prozess mit viel mehr Variationen,
pressen wir diese Vielfalt in zwei Boxen: weiblich oder männlich.
Aber jeder Mensch hat seinen eigenen Genderprint."

                                     Dr. Judi Herring, MD, Urologist Jacksonville Beach, FL

                         Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=TZkcGZrupEo&app=desktop

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„Nature loves diversity, society hates it“ (Milton Diamond)

 «Die biologische Variabilität kennt mehr als nur zwei Geschlechter. In der
 modernen Biologie werden die Geschlechter nicht mehr als klar geschiedene
 Alternativen gesehen, sondern in ihrer reinsten Ausprägung als zwei Pole
 begriffen, zwischen denen sich eine Variationsreihe mit fliessenden
 Übergängen entspannt. In unserer heutigen Gesellschaft gibt es jedoch
 keinen sozialen Raum für Individuen, die zwischen den Geschlechtern
 stehen.“
                                                                     Brigitte Röttger-Rössler, 1997

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Geschlechtsvarianz Trans*:
Definition & Begriffe

Sammelbegriff für Menschen, deren Identitätsgeschlecht
nicht, nicht ganz oder nur teilweise mit dem zugewiesenen
Geburtsgeschlecht übereinstimmt.

Inkongruenz/Nichtübereinstimmung von genitalem und
psychischem Geschlecht (Geschlechtsidentität)

Trans*: Transsexualität, Transidentität, Transgeschlechtlichkeit, Transgender (vgl.
Cisgender)

Coming-out; Transition, Cis-Passing

Diskriminierend: Transe, Shemale, Ladyboy; Wunschgeschlecht, Geschlechts-
umwandlung….

Sprache im Wandel, auch in der Community Uneinigkeit => Sprachguide TGNS
https://www.transgender-network.ch/medien/medienguide/

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Etymologie des Transsexualismus (TS)

•   Geschlechtervarianz gab’s zu allen Zeiten in allen Kulturen (analog
    Homosexualität).
•   Als Begriff ist TS eine Erfindung des 20. Jahrhunderts und geht auf den
    deutschen Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld zurück.
•   Er prägte 1910 die Bezeichnung Transvestiten für Menschen, die sich
    gelegentlich oder regelmässig als Angehörige des anderen Geschlechts
    kleiden.
•   Für Menschen, die seelisch dem einen, körperlich aber dem anderen
    Geschlecht zugehörten, verwendete er 1923 den Begriff des seelischen
    Transsexualismus.
•   Harry Benjamin griff den Begriff 1953 in seinem Artikel „Transvestism
    and Transsexualism“ wieder auf und etablierte ihn 1966 mit seinem
    Buch „The Transsexual Phenomenon“ in der Sexualmedizin  Harry
    Benjamin Skala http://www.transx.at/Pub/HarryBenjamin.php

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Nosologie Transsexualismus
ICD (International Statistical Classification of Diseases, WHO)
DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, APA)

•   ICD 6 (1948) & 7 (1955). Keine Terminologie
•   ICD-8 (1965). Transvestitism
•   ICD-9 (1978) Transsexualism Störungen der Geschlechtsidentität; Position 302 "Sexuelle
    Verhaltensabweichungen und Störungen“,
•   ICD-10 (1991): Transsexualism F6: „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen; F 64:
    Störungen der Geschlechtsidentität; F 64.0: Transsexualismus.
•   ICD-11 (2018): Gender Incongruence gilt nicht mehr als psychische Störung, neu
    eingeordnet unter Related to Sexual Health

•   DSM I (1952). Keine Terminologie
•   DSM II (1968). Transvestitism
•   DSM III (1980): Transsexualism, Psychosexuelle Störung
•   DSM IV (1994): Transsexualismus wird durch GID (Gender Identity Disorder) ersetzt.
•   DSM V (2013): GID wird durch Gender Dysphoria (Unbehagen im Geschlecht) ersetzt.

•   1973 Homosexualität wird aus DSM gestrichen. Im ICD erst 1992.

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Ätiologie Transsexualismus

• Bis heute keine wissenschaftlich belegbaren Ursachen gefunden
  (analog Homosexualität), aber viele Theorien: Hormone in
  Embryonalentwicklung; Hirnintersexualität; neurogenitales Syndrom….

• Alle biologischen, sozialen oder psychologischen Theorien erwiesen
  sich als Spekulation.

• Es gibt kein «Homosexuellen-Gen», kein «Hetero-Gen», kein Trans*-
  Gen.

• Trans* ist keine psychische Störung, sondern eine biologische
  Variante. Sie ist keine freie Wahl, sondern eine präreflexive
  «konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz» (Kunert, 2013)

• Ursachenforschung birgt Keim von Diskriminierung in sich: keine
  Erforschung der Ursachen von Heterosexualität oder Cisgender!

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Prävalenz Trans*

•    Frage der zugrunde liegenden Definition: eine genaue Zahl
     existiert nicht. Wie zählen? Klient_innen bei Therapeut_innen?                                                  Anzahl
     Klient_innen in Kompetenzzentren? Anfragen bei KK? Diagnosen?
     Operationen?
•    Gemäss einer Studie aus NL (2014) fühlt sich 1 von 200 Menschen (0.5%) nicht
     nur als das Geschlecht, dem er_sie nach der Geburt zugeordnet wurde.
     http://link.springer.com/article/10.1007/s10508-013-0140-y
•    Zählt man nur geschlechtsangleichende Operationen, sind es in CH nur ein paar
     hundert.
•    In einer Studie in den USA (Taylor, 2016) wurden die Prävalenzraten verdoppelt,
     grosse Unterschiede in den einzelnen Bundesstaaten: Hawaii, California, Georgia
     und New Mexico 0.8 %; North Dakota, Iowa, Wyoming, Montana und South
     Dakota 0.3% http://www.lgbtqnation.com/2016/06/estimated-population-transgender-americans-
     doubles-1-4-million/
•    Trans* in CH rund 40‘000 geschlechtsvariante Menschen. Knapp gleich viele wie
     Schweizer Bauern.

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Behandlungsleitlinien:
Standards of care (SOC) der WPATH

Zwei Ziele:
1. Rechtliche, ethische und medizinische Sicherheit für
   Behandler_innen;
2. „Echte“ von „unechten“ Transsexuellen unterscheiden

Lineare Behandlungsrichtlinien
Diagnostik - Psychotherapie - Alltagstest - Hormonbehandlung -
Vornamensänderung (kleine Lösung) - chirurgische Eingriffe - genitale
Angleichung - Personenstandsänderung (grosse Lösung)

Rolle der Behandler_innen
Gate-keeping; Betroffenenorganisationen in der Entwicklung nicht
involviert

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Kurze Geschichte der Standards of control (SOC)

1979    1. Version der Standards of Care (SOC) for the Hormonal
and Surgical Sex Reassignement of Gender Dysphoric Persons.
Zulassung zur Hormonbehandlung: mind. 3 Monate Alltagstest
Zulassung nicht genitale chirurgische Eingriffe: mind. 6 Monate Alltagstest
1-2 unabhängige Indikationen zwingend, nur von Psycholog_innen bzw.
Psychiater_innen zulässig
1980       2. Version: keine wesentlichen Änderungen
1981     3. Version: Zulassung weiterer „Fachpersonen“ für
Indikationsstellung
1981       Einführung des deutschen Transsexuellengesetzes TSG
1990       4. Version: keine wesentlichen Änderungen
1997     „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“
(Becker et al.). Ohne Überarbeitung bis heute in D gültig.

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Kurze Geschichte der Standards of control (SOC)

1998     5. Version: Umbenennung in „Behandlungsstandards
für Störungen der Geschlechtsidentität“; Ziel der Psychotherapie
nicht mehr Heilung, sondern Lindern des Leidens; Alltagstest für Genitalop auf
12 Monate erhöht.

2001       Version 6: keine wesentlichen Änderungen

2011       Operationszwang im TSG abgeschafft

2012     Version 7: Geschlechtsinkongruenz wird als Normvariante im Spek-
trum geschlechtlicher Erlebens- und Verhaltensweisen aufgefasst; Empfeh-
lung, den bis dato üblichen linearen Behandlungsverlauf entsprechend der
individuellen Geschlechtsdysphorie zu modifizieren; Psychotherapie als
Voraussetzung für somatische Behandlungen nicht mehr zwingend.

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Rechtliche Situation in der Schweiz

Kein Transsexuellengesetz

Es gelten Bestimmungen des öffentlichen und Privatrechts. Von Kanton zu
Kanton und von Gericht zu Gericht grosse Unterschiede in Auslegung und
Rechtsprechung.

Ohne psychiatrische Diagnose/Bestätigung keine Kassenleistungen.

Bis vor wenigen Jahren keine Personenstandsänderung möglich ohne
nachgewiesene operative Sterilität (genitale Angleichung).

Präzedenzurteil Zürcher Obergericht 2011: „Der irreversible Geschlechtswech-
sel setzt nicht zwingend einen chirurgischen Eingriff voraus.“ Regionalgericht
Bern-Mittelland 2012: „Weder ein operativer Eingriff noch die Fortpflanzungs-
unfähigkeit sind notwendige und zulässige Voraussetzungen für den
registerrechtlichen Geschlechtswechsel.

                                  Quellen: Büchler, 2013, Transsexualität und Recht in der Schweiz Namens- und
                                  Geschlechtsänderung; Recher, 2015, Rechte von Transmenschen.
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Rechtliche Situation in der Schweiz: Zivilstand

Bis vor wenigen Jahren in der gerichtlichen Praxis staatliche Zwangs-
scheidung zur Verhinderung gleichgeschlechtlicher Ehen.

Es ist nicht zulässig, einer Person das Recht auf registerrechtlichen Nachvoll-
zug einer Änderung der Geschlechtsidentität zu verweigern, weil sie verheiratet
ist.

Erfolgt der registerrechtliche Nachvollzug, wird die Ehe nicht zu einer Nichtehe
oder ungültigen Ehe Erzwungene Scheidung ist unzulässig.

Es gibt keine gesetzliche Grundlage zur Umwandlung einer Ehe in eine
eingetragene Partnerschaft (oder umgekehrt)

                          Büchler, 2013, Transsexualität und Recht in der Schweiz Namens- und
                          Geschlechtsänderung

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Transphobie/Diskriminierung

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Psychosoziale Diskriminierung

•   Ablehnende, feindliche Haltung oder Reaktionen…
•   Sprache: Verweigerung der korrekten Ansprache oder des Namens, Verwen-
    dung falscher Personalpronomen, „Du warst doch früher ein Mann…“
•   Mobbing: Beschimpfungen, abfällige Kommentare, nach OP oder Genitalien
    fragen, Verspottungen, Ausgrenzung…
•   Untersagen geschlechtsadäquater Kleidung (Schule, Arbeitsplatz…)
•   Ausschluss oder Nichtaufnahme in (Sport-)Vereinen
•   Verbot Benützung adäquater Toiletten oder Duschen (Hallenbäder, Fitness-
    clubs, Schule…) => Bathroom Bills in den USA
•   Suizidalität: höher als in jeder anderen gesellschaftlichen Gruppe. Fast jeder
    Transmensch hat suizidale Gedanken. Hohe Dunkelziffer!
•   Gewalt, körperliche Attacken, Mord => Trans Murder Monitoring (TGEU)
•   2008 bis 2016 weltweit 2016 Morde an trans* Menschen dokumentiert,
    mehrheitlich trans* Women of Color (Mehrfachstigmatisierung)
    http://transrespect.org/en/tdov-2016-tmm-update/

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Medizinisch-psychiatrische Diskriminierung

 Pathologisierung
 Ohne psychotherapeutische Begleitung und Diagnose kein Zugang zu
 Krankenkassenleistungen und medizinischen Leistungen.

 Leistungsverweigerungen Krankenkassen
 • Willkür bei Entscheiden;
 • Für jeden Schritt Atteste/Diagnosen/Gesuche nötig, teilweise mehrfach;
 • reduzierte bzw. verweigerte Leistungen (keine Kostenübernahme);
 • Zusatzversicherungen nötig (oft abgelehnt);
 • Pflichtleistungen zuwenig definiert;
 • Überforderung/Unkenntnis des Personals....

 Ungenügende Fachkompetenz des psychologischen und medizinischen
 Personals: wenig thematische Sensibilität; chirurgische Ergebnisse mangelhaft.

 Sonderbehandlungen in Spitälern
 Trans Frauen auf Männerabteilungen, Weigerungen des Pflegepersonals…

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Rechtliche Diskriminierung

•   Weltweit grosse Unterschiede, aber fast überall Verstoss gegen grund-
    legende Menschenrechte: Verletzung der körperlichen Integrität;
    Diskriminierung aufgrund des Geschlechts…
•   Transsexuellengesetz (D). Juristische Richtlinien für die Namens- und
    Personenstandsänderung (seit 1.1.1981). „Kleine und grosse Lösung.“
    Operationszwang für Personenstandsänderung 2011 abgeschafft.
•   In CH kein Transsexuellengesetz. Von Kanton zu Kanton und von Gericht zu
    Gericht grosse Unterschiede. Generell: keine Personenstandsänderung
    möglich ohne nachgewiesene Sterilität (Hormone/OP); staatliches
    Fortpflanzungsverbot!
•   In Malta, Argentinien und Norwegen transfreundlichste Gesetzgebung:
    Änderung des Geschlechtseintrags möglich ohne Psychiatrisierung
•   Für rechtliche Fragen: Rechtsabteilung von TGNS https://www.transgender-
    network.ch/beratung-treffen/recht/

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Wirtschaftliche Diskriminierung

•   Arbeitslosigkeit weit über 20 % (CH aktuell 3 %).
•   Fast alle kennen Jobverlust; teils mehrfache Kündigungen; meist nach
    Coming-out oder während Transition…
•   Arbeitsplatz: Kleidungsverbote; Verbot der korrekten Toilette; Verbot des
    Namens…
•   Neueinstellung zu schlechteren Arbeitsbedingungen: nur noch teilzeit,
    weniger Lohn…
•   HR-Abteilungen überfordert oder nicht sensibilisiert, keine Antidiskriminie-
    rungs- bzw. Diversity-Konzepte für LGBTI.
•   Weltweit arbeiten viele Transfrauen in der Prostitution und/oder in der
    Pornobranche.

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Mediale Diskriminierung

•   Boulevardisierung: reisserische, sexualisierte
    Berichterstattung
•   Falsche Fakten, Vorher-nachher-Bilder, Verletzung
    der Intimität, Individualisierung…
•   Genderstereotypisierung, Reduktion auf
    Zweigeschlechtlichkeit
•   Inkorrekte Sprache: «Transe», falsche
    Pronomen, Nennung des alten Namens…

•   Positiv: 2014 Laverne Cox auf Titelbild
    des Time Magazins: als schwarze Transfrau
    (3fach-Stigmatisierung!)

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Politische Diskriminierung

•   Meist kein politisches Thema, an Medizin & Psychiatrie delegiert
•   Meist kein parteipolitisches Thema: Angst sich die Finger zu verbrennen
•   Noch zu wenig politische Lobbyarbeit, auch seitens Schwulen und
    Lesbenverbänden oft wenig Unterstützung
•   Noch wenig nationale oder internationale Dachverbände wie TGEU oder
    TGNS

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Medizinische Forderungen der Transcommunity

 • Abschaffen der verpflichtenden Psychotherapie
 • Flexibilisierung und Individualisierung von Behandlungsmassnahmen
 • Invasive Fragen ohne Behandlungsrelevanz nicht mehr zulassen
 • „Diagnose“prozess verkürzen
 • Leistungspflicht der Krankenkassen gesetzlich verankern
 • Behandlungen und Begleitungen partizipativ entwickeln: Informed
   Consent
 • Geschlechtervarianz gehört in die Curricula von Medizin, Psychiatrie,
   Psychologie, Psychotherapie und Pflege
 •  www.fachgruppetrans.ch
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Politische Forderungen der Transcommunity

•   Abschaffung des Nachweises der Unfruchtbarkeit.
•   Vereinfachung des Namens- und Personenstandsänderungsverfahrens (kein
    OP-Zwang!).
•   Abschaffung des Scheidungszwangs oder Umwandlung in gleichgeschlecht-
    liche Partnerschaft.
•   Entflechtung von Psychiatrie, Medizin und Recht.
•   Stop Trans Pathologization! Löschen aus den Klassifikationssystemen ICD
    und DSM (analog Homosexualität) unter Beibehalt der Kassenleistungen
•   Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte: Recht auf körperliche
    Unversehrtheit!
•   Selbstbestimmung über Geschlechtszugehörigkeit ohne rechtliche
    Hindernisse und psychiatrische Diagnose  Argentinien (2014), Malta
    (2015), Norwegen (2016), Irland (2016)

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These 1

In Zukunft müssen die universitären Ausbildungen von (klinischen)
     Psycholog_innen und Mediziner_innen, die Curricula der
        psychotherapeutischen Schulen sowie alle in der
     Gesundheitsversorgung von trans Menschen involvierten
         Fachpersonen in die Pflicht genommen werden.

            Es muss Grundlagenwissen zu Varianten in der
Geschlechtsentwicklung, zu Genderbinarität und Gendervarianz, zur
 Vielfalt an sexuellenOrientierungen und Geschlechtsidentitäten, zu
Klassifikationssystemen, Pathologisierung, Diskriminierung und der
gesellschaftlichen Produktion von sexuellen Minderheiten vermittelt
   werden und es müssen heteronormative, essentialistische und
          biologistische Positionen kritisch reflektiert werden.

  Fachstelle für Aids- und Sexualfragen, Tellstrasse 4, 9000 St. Gallen, Tel. 071 223 68 08 info@ahsga.ch www.ahsga.ch
These 2

      Statt stigmatisierender, abwehrender oder abwertender
            Pathologisierung müssen die medizinischen,
  psychologischen und psychotherapeutischen Werthaltungen und
  Herangehensweisen inklusive Beratungs- und Therapiekonzepte
                          überprüft werden.

         Haltungen zu Heteronormativität und Heterosexismus,
internalisierter Trans- und Homophobie, Genderbinarität, cis-kultureller
     Zweigeschlechtlichkeit, der Vielfalt an Geschlechtsidentitäten,
   individuellen Geschlechtsentwürfen und sexuellen Orientierungen
  müssen thematisiert, problematisiert und bewusst gemacht werden.

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