FRP Working Paper 04/2010 - Armee im Umbruch: Wie und wozu Russ- land seine Streitkräfte reformiert

 
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FRP Working Paper 04/2010

Armee im Umbruch: Wie und wozu Russ-
   land seine Streitkräfte reformiert

           von Margarete Klein

                                  April 2010
Klein, Margarete:
Armee im Umbruch:
Wie und wozu Russland seine Streitkräfte reformiert
Regensburg: 2010
(Working Papers des Forums Regensburger Politikwissenschaftler –
FRP Working Paper 04/2010)

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Herausgeber: Henrik Gast, Oliver Hidalgo, Herbert Maier
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FRP Working Paper 04/2010                                     www.regensburger-politikwissenschaftler.de

    1. Einleitung
Am 14. Oktober 2008 verkündete der russische Verteidigungsminister Anatolij Serdjukov seine
Pläne für eine neue Militärreform (Rossijskaja Gazeta, 15.10.2008). Dass dieses Großprojekt nur
knapp zwei Monate nach dem Ende des Georgienkriegs begonnen wurde, stellte keinen Zufall
dar. Zwar war es den russischen Streitkräften im August 2008 gelungen, die Armee des kleinen
Georgien schnell zu besiegen; der „Fünftagekrieg“ hatte der russischen Öffentlichkeit aber auch
schonungslos die Defizite der eigenen Streitkräfte vor Augen geführt: veraltete und mangelhafte
Ausrüstung, unzureichende Ausbildung der Soldaten und eine Einsatzkonzeption, die mehr den
Erfordernissen des Kalten Krieges als der Abwehr aktueller Sicherheitsbedrohungen entsprach
(vgl. Klein 2008, McDermott 2009, Pallin/Westerlund 2009, Thomas 2009). Vor diesem Hinter-
grund bestand nach dem Georgienkrieg ein „Fenster der Gelegenheiten“, um die seit dem Zerfall
der Sowjetunion in Russland nur halbherzig und unzureichend durchgeführte Transformation der
Streitkräfte neu anzugehen und vor ihren Kritikern zu rechtfertigen. Verteidigungsminister Serd-
jukov griff dabei auf manche Ideen zurück, die bereits in den 1990er und 2000er Jahren entwi-
ckelt worden waren. Seine Pläne sind jedoch umfassender und radikaler als alle bisherigen Re-
formkonzepte. Der russische Generalstabchef Nikolaj Makarov bezeichnete die anstehenden
Veränderungen gar als die „die größte Armeereform seit 200 Jahren“ (RIA Novosti, 14.09.2009).
Worin besteht die neue Armeereform? Wie sehen die Chancen auf ihre Implementation aus? Und
welche Ziele verfolgt Moskau mit seinem militärischen Modernisierungsprogramm?

     2. Von der Mobilisierungs- zur Einsatzarmee1
Die neue Militärreform besteht aus mehreren Kernelementen, die miteinander zusammenhängen
und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind: die schwerfällige, überaltete Mobilisierungsarmee
zu einer modernen Einsatzarmee umzuwandeln. Damit vollzieht Moskau Entwicklungen nach,
die in vielen westlichen Armeen bereits nach dem Ende des Kalten Krieges begonnen worden
waren, als sich deren Sicherheitsumgebung grundlegend geändert hatte. In Russland wurde eine
solche Transformation der Streitkräfte zwar immer wieder diskutiert und geplant; die meisten
Ansätze waren jedoch – aufgrund finanzieller Ressourcenknappheit, der Persistenz traditioneller
Bedrohungsvorstellungen sowie mangelndem politischen Konsens – im Sande verlaufen (Vgl.
Adomeit 2003, Golts/Putnam 2004, Herspring 2005a). In der Folge wiesen Moskaus Streitkräfte
im Jahr 2008 hinsichtlich ihrer Ausrüstung, Ausbildung und Organisationsstruktur noch große
Kontinuitäten mit der Roten Armee auf.
         Hinter der Militärreform steht eine veränderte Bedrohungsperzeption. Anstatt sich wei-
terhin primär auf einen „großmaßstäblichen Krieg“ – eine Chiffre für einen militärischen Kon-
flikt mit der NATO – vorzubereiten, soll Russlands Armee nun vor allem fähig sein, schnell auf
die Eskalation lokaler und regionaler Konfliktlagen zu reagieren sowie Einsätze in asymmetri-
schen Konflikten – wie dem Anti-Terror-Kampf – durchzuführen. Genau dort liegen auch die
wichtigsten realen sicherheitspolitischen Bedrohungen Russlands: in den ungelösten ethno-
territorialen Konflikten in Berg-Karabach, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, der instabilen
Lage im Nordkaukasus und manchen Regionen Zentralasiens sowie Spill-over-Effekten aus Af-
ghanistan.

1   Im Folgenden wird das Wort „Armee“ wie im Russischen synonym für das Heer als auch die gesamten Streitkräfte
      benutzt.

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         Um die russische Armee von der alten Mobilisierungs- zu einer modernen Einsatzarmee
zu verwandeln, werden einmal organisatorische Veränderungen vorgenommen. Davon ist das
Heer – die Teilstreitkraft, die im Flächenstaat Russland besondere Bedeutung besitzt – am stärks-
ten betroffen. Dort wurden die aus mehr als 10.000 Soldaten bestehenden Divisionen zum De-
zember 2009 durch kleinere Brigaden ersetzt. Während erstere vor allem auf klassische, zwi-
schenstaatliche Schlachten mit langen Frontabschnitten ausgerichtet sind, wie sie im 19. und 20.
Jahrhundert üblich waren, sind letztere mobiler und eignen sich damit besser für Einsätze in loka-
len und asymmetrischen Konflikten (vgl. Konovalov 2009). Um auf mögliche Konflikteskalatio-
nen schnell reagieren zu können, werden die Brigaden in den Zustand „permanenter Einsatzbe-
reitschaft“ versetzt. Das bedeutet, dass sie – anders als die bisherigen Mobilisierungseinheiten –
nicht erst im Einsatzfall mit Reservisten aufgefüllt werden und ihre Ausrüstung aus teils entfernt
liegenden Depots holen müssen, was mehrere Tage bis Wochen dauern konnte; stattdessen wer-
den die Brigaden nun stets vollständig bemannt und ausgerüstet sein (Rossijskaja Gazeta,
24.12.2009).
         Weiterhin finden teils gravierende Änderungen am Führungs- und Ausbildungssystem
statt. Dies betrifft nicht so sehr die Truppenstärke an sich. Diese soll bis 2016 lediglich um ca.
10% von heute 1,13 Millionen Soldaten auf eine Million reduziert werden. Das ist weniger radi-
kal, als Pläne von 2000 vorgesehen hatten, als über eine Verkleinerung der Armee auf 835.000
Soldaten diskutiert worden war (Adomeit 2009: 285). Allerdings soll sich die personelle Zusam-
mensetzung der Streitkräfte massiv ändern. Bislang gibt es 355.000 Offiziersposten, was fast ein
Drittel der gesamten Truppenstärke ausmacht. In einer Mobilisierungsarmee, die darauf ausge-
richtet war, im Ernstfall bis zu 20 Millionen Reservisten einzuberufen, hatte dies noch Sinn; für
eine Einsatzarmee stellt eine so hohe Quote an Offizieren eine Last dar. Das Offizierskorps wird
daher bis 2012 um mehr als die Hälfte auf 150.000 Posten reduziert. Zugleich soll ein professio-
nelles Unteroffizierskorps von 250.000 Mann geschaffen werden. Ein solches gibt es in der russi-
schen Armee bisher nicht, wo Unteroffiziere zumeist aus älteren Wehrpflichtigen oder Vertrags-
soldaten bestehen, die beide für ihre Aufgaben unzureichend ausgebildet wurden. Seit Herbst
2009 absolvieren Unteroffiziere einen 34-monatigen Kurs. Damit würde eine neue Schicht in der
Armee geschaffen, die zum einen für den Umgang mit High-Tech-Waffen besser geschult ist, die
zum anderen aber auch die Ausbildung der Wehrpflichtigen und Disziplin in der Truppe und
damit wiederum die Einsatzbereitschaft verbessern könnte (vgl. Schlykow 2009, Nezavisimoe
Voennoe Obozrenie, 23.12.2009).

     3. Von der Armee des Industrie- zu der des Informationszeitalters
Ein weiteres zentrales Ziel der Militärreform besteht darin, die Ausrüstung der Streitkräfte grund-
legend zu modernisieren. Als Erbe aus Sowjetzeiten verfügt Russland zwar weiterhin über das
größte konventionelle Arsenal in Europa. Allerdings sind nach offiziellen Angaben nur zehn Pro-
zent der Waffensysteme modern. Dies kommt daher, dass während des dramatischen wirtschaft-
lichen Verfalls der 1990er Jahre praktisch keine neue Ausrüstung gekauft werden konnte. Erst
mit den gestiegenen Staatseinnahmen durch hohe Öl- und Gaspreise nach 2000 wurden einge-
stellte Rüstungsvorhaben wieder aufgenommen oder neue gestartet. Diese reichen bislang aber
nicht, um den Verfallsprozess der 1990er Jahre wett zu machen und die Streitkräfte in der Masse
zu modernisieren. Trotz mancher Einzelerfolge hinken Moskaus Streitkräfte daher technologisch
den Armeen vieler NATO-Staaten, allen voran den USA, teils weit hinterher. Dies gilt insbeson-

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dere für die Ausstattung mit High-Tech-Waffen sowie Informations- und Kommunikationssys-
temen (vgl. Klein 2009: 9-14, International Institute for Strategic Studies 2010: 211-216). In der
Folge ist Russlands Armee kaum fähig, neue Einsatzkonzepte – wie das der netzwerbbasierten
Operationsführung (vgl. Lange 2004) – umzusetzen. Im Rahmen der Militärreform soll nun bis
2020 der Anteil moderner Waffen von zehn auf 70% erhöht werden.

     4. Aussichten der Reform
Die neue Militärreform stellt ein ambitioniertes Programm dar. Manche Bereiche wurden bereits
erfolgreich umgesetzt. So meldete die russische Führung, dass fristgerecht zum 1. Dezember
2009 die Divisionen aufgelöst und durch „permanent einsatzbereite“ Brigaden ersetzt worden
sind. Auch wird man die Reduzierung der Streitkräfte auf eine Million Soldaten ohne große Prob-
leme umsetzen können.
         Weitaus schwieriger werden diejenigen Bereiche der Reform umzusetzen sein, die großer
finanzieller Investitionen bedürfen: die Modernisierung der Ausrüstung und die Schaffung eines
professionellen Unteroffizierskorps. Bei ersterem ist zu bedenken, dass nicht nur das konventio-
nelle, sondern auch das nukleare Arsenal Russlands veraltet ist. Beispielsweise haben 84% der
landbasierten Interkontinentalraketen ihre ursprüngliche Haltbarkeitsdauer bereits überschritten
(Klein 2009: 22). Das Nukleararsenal zu modernisieren, verschlingt wiederum enorme Kosten,
die dann für die Erneuerung des konventionellen Arsenals fehlen. Auf ein Atomarsenal, das
Moskau eine Position auf Augenhöhe mit den USA und Überlegenheit gegenüber den übrigen
Nuklearwaffenstaaten garantiert, wird Moskau aber auch in Zukunft nicht verzichten.2 Zum ei-
nen bildet dies – neben dem Sitz im UN-Sicherheitsrat – das letzte verbliebene Großmachtattri-
but des Landes. Zum anderen gewinnt die Fähigkeit zur atomaren Abschreckung vor dem Hin-
tergrund der konventionellen Schwäche aber auch an realer sicherheitspolitischer Bedeutung.
Dies gilt sowohl im Verhältnis zu den USA und dem militärisch aufstrebenden China als auch
gegenüber den potentiellen Nuklearwaffenstaaten im Süden Russlands, Iran und Nordkorea.
         Hohe Kosten werden auch die geplanten Veränderungen in der Personalstruktur erfor-
dern. Zwar wird die Zahl der Offiziere halbiert; die übrigen werden aber ab 2012 deutlich mehr
Sold erhalten. Anstelle der bisher gezahlten ca. 310 Euro werden beispielsweise Zugführer künf-
tig ca. 1780 Euro pro Monat erhalten, der Sold von Divisionskommandeuren wird von heute 715
Euro auf dann 4760 Euro steigen (Nezavisimaja Gazeta, 23.12.2009, Herspring/McDermott
2010: 289). Dazu kommen die Ausbildungskosten und Soldzahlungen für die geplanten 250.000
Unteroffiziere. Eine Verbesserung der sozioökonomischen Lage der Soldaten ist aber unumgäng-
lich. Ohne eine solche wird es Russland nicht gelingen, quantitativ und qualitativ den benötigten
Nachwuchs für Offiziers- und Unteroffiziersposten zu rekrutieren. Bislang war der Sold im Ver-
gleich zu den Gehältern, die in der freien Wirtschaft gezahlt wurden, gering. Gerade die Ein-
kommen junger Offiziere und „Kontraktniki“ lagen oftmals unter dem Durchschnittsverdienst,
der 2008 426 Euro betrug. Dies hatte zur Folge, dass sich nur wenige junge Männer mit guter
Schul- und Berufsausbildung für eine Karriere als Zeitsoldat entschieden. Selbst das Verteidi-
gungsministerium gestand ein, dass die Mehrheit der „Kontraktniki“ Personen seien, die es „aus

2   Daran ändert auch der neue START-Vertrag nichts, der Anfang April 2010 in Prag unterzeichnet wurde. Darin
     verpflichten sich beide Seiten zwar, ihre Zahl an nuklearen Sprengköpfen auf strategischen Trägermitteln auf
     1550 zu reduzieren. Damit spielen Russland und die USA aber auch weiterhin in einer anderen „nuklearen Liga“
     als die übrigen Atomwaffenstaaten.

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verschiedenen Gründen nicht geschafft haben, sich im zivilen Leben durchzusetzen“ (Russian
Federation, Ministry of Denfense o.J.). Dies schwächt nicht nur die Disziplin in der Truppe, son-
dern auch deren Einsatzbereitschaft.
        Ob es Russland gelingt, die nötigen Finanzmittel aufzubringen, um die Streitkräfte als Ar-
beitgeber attraktiver zu machen und zugleich grundlegend besser auszurüsten, ist fraglich. Denn
dazu müssten die Verteidigungsausgaben deutlich über das bisherige Niveau – 2,9% des BIP –
steigen. Mit 41 Milliarden US-Dollar betrug das russische Verteidigungsbudget 2009 nur ca. 6%
der amerikanischen Militärausgaben (IISS 2010). Eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsaus-
gaben würde aber unweigerlich Einschränkungen in anderen Bereichen – wie der Gesundheits-,
Bildungs- oder Sozialpolitik – zur Folge haben. Da die Legitimität des autoritären Systems aber
zu einem nicht geringen Teil auf dem Versprechen beruht, die soziale und wirtschaftliche Lage
der Bevölkerung zu verbessern, werden Putin und Medvedev diesen Weg kaum gehen. Eher ist
davon auszugehen, dass Überkapazitäten aus Sowjetzeiten abgebaut werden, weitere Einsparpo-
tentiale genutzt werden und die Umsetzung mancher Programme nach hinten verschoben wird.
Beispielsweise kündigte Moskau bereits an, die Zahl seiner Kampfpanzer um drei Viertel zu re-
duzieren, wodurch das selbst gesteckte Ziel – 70% neue Waffen – leichter erreicht werden kann
(RIA Novosti 3.7.2009). Einsparpotentiale wiederum bestehen in den Bereichen Logistik und
Versorgung, wo immer mehr Aufträge an zivile Unternehmen ausgelagert werden. Auch wird die
Umsetzung mancher Programme nach hinten verschoben. So soll die Ausrüstung der Streitkräfte
mit modernen Waffen überhaupt erst ab 2011 beginnen.
    Für den Erfolg der Militärreform bedarf es neben finanzieller Mittel aber auch Veränderun-
gen an der institutionellen Kultur des russischen Militärs. So entsteht mit den professionellen Un-
teroffizieren eine völlig neue Dienstgruppe. In der Folge wird sich das Aufgabenspektrum der
Offiziere verändern, die insbesondere lernen müssen, Aufgaben zu delegieren. Um das Rekrutie-
rungsproblem zu lösen, kommt es wiederum darauf an, entschlossen gegen das Problem der
„Dedovschtschina“ vorzugehen. Unter diesem als „Herrschaft der Großväter“ bezeichneten
Phänomen wird ein System der Gängelung und des Missbrauchs junger Rekruten durch ältere
Wehrpflichtige und Vorgesetzte verstanden (Herspring 2005b). Nach offiziellen Angaben starben
2008 23 Soldaten in Folge der Misshandlungen. Es wird geschätzt, dass der Großteil der Selbst-
morde – im Jahr 2008 offiziell 215 – sowie die Mehrzahl der Fälle, in denen junge Männer sich il-
legal vom Wehrdienst „freikaufen“ – pro Jahr geschätzt über 100.000 – auf die „Dedovschtschi-
na“ zurückzuführen ist (RIA Novosti, 22.12.2008).

     5. Militärreform als Kooperationschance für NATO und EU?
Die neue Militärreform bietet in zweierlei Hinsicht Kooperationschancen für NATO und EU.
Die erste ergibt sich daraus, dass Russland mit seiner Reform in Vielem Entwicklungen nachvoll-
zieht, die von Ländern der Atlantischen Allianz bereits umgesetzt wurden. Moskaus Militärs sind
daher durchaus an einem Erfahrungsaustausch zu bestimmten Themen wie der Rekrutierung und
Ausbildung von (Unter-)Offizieren, dem Outsourcen bestimmter Dienstleistungen an zivile Fir-
men oder der Wiedereingliederung ehemaliger Militärs in das normale Wirtschaftsleben interes-
siert. Dieser Erfahrungsaustausch kann in Form bilateraler Formate wie beispielsweise den
deutsch-russischen Generalsseminaren oder multilateral im Rahmen des NATO-Russland-Rates
geschehen. Darüber hinaus können bestehende Projekte ausgeweitet werden. Beispielsweise fi-
nanziert die Atlantische Allianz seit 2002 in Moskau ein Zentrum zur Wiedereingliederung ehe-

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maliger Zeit- und Berufssoldaten in das zivile Wirtschaftsleben. Dort wurden bislang über 2000
ehemalige Militärs umgeschult (NATO-Russian Council o.J.). Der Bedarf für dieses Angebot
dürfte durch die radikale Reduzierung des Offizierskorps in den nächsten Jahren durchaus stei-
gen.
    Kooperationschancen ergeben sich zweitens daraus, dass eine reformierte russische Armee
ein interessanterer Partner für EU- und NATO-Einsätze werden kann. Ob es dazu kommen
wird, hängt primär davon ab, wie sich die Beziehungen Moskaus zum Westen entwickeln. Bislang
sind diese von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Versuche, im Rahmen des NATO-Russland-
Rats die Voraussetzungen für gemeinsame multinationale Einsätze zu stärken, kamen kaum vor-
an. So wurden zwar 2002 politische Leitlinien für künftige gemeinsame Peackeeping-Einsätze an-
genommen und Russland stellte in Samara eine eigene Brigade für multinationale Peacekeeping-
Einsätze auf (Bruusgaard 2007). Beides wurde bislang aber noch nicht genutzt.3

     6. Die Militärreform und der postsowjetische Raum: Russland als Hegemon?
Gemeinsame Peacekeeping-Einsätze von NATO und Russland wären beispielsweise im postsow-
jetischen Raum denkbar. Daran hat Russland jedoch bislang kein Interesse. Schließlich dominiert
es bislang die dortigen Peackeeping-Formate und kann diese als Einflussinstrument nutzen. Wird
die Militärreform erfolgreich umgesetzt, kann sich das militärische Übergewicht Russlands in der
Region weiter steigern. Schließlich würden dadurch seine Fähigkeiten zur regionalen Machtpro-
jektion erhöht. Versuche, die eigene Position in der „Zone privilegierter Interessen“ – wie Präsi-
dent Medvedev den postsowjetischen Raum im August 2008 bezeichnete – auch militärisch zu
untermauern, lassen sich seit längerem beobachten. So baut Moskau seine militärischen Basen im
postsowjetischen Raum aus und bemüht sich, die Organisation des Vertrags für kollektive Si-
cherheit (OVKS) unter seiner Führung zu einer effektiven regionalen Sicherheitsorganisation
auszubauen.4 Beispielsweise wurde im Frühjahr 2009 beschlossen, schnelle kollektive Eingreif-
kräfte zu schaffen, von denen Moskau den Großteil stellen wird. Diese Entwicklungen sind aus
westlicher Sicht ambivalent einzuschätzen. Zum einen kann es von Vorteil sein, wenn Moskau
bzw. die OVKS in der Lage sind, lokale Konflikte einzudämmen und die regionale Sicherheit zu
gewährleisten. Zum anderen besteht die Gefahr, dass Moskau seine Streitkräfte benutzt, um eine
exklusive Einflusszone im postsowjetischen Raum zu etablieren. Dies wiederum könnte indirekt
zu Konfrontationen mit NATO und EU führen. Der Georgienkrieg demonstrierte deutlich, wie
schnell lokale Konflikte zu internationalen Krisen eskalieren können.

   1. Literatur:
Adomeit, Hannes (2003): Putins Militärpolitik. Berlin (=SWP-Studie 16/2003).
Adomeit, Hannes (2009): Russlands Militär- und Sicherheitspolitik unter Putin und Medwedjew,
   in: Österreichische Militärische Zeitschrift, 162/3, S. 283-292.
Bruusgaard, Kirsten Ven (2007): The Future of Russian Peacekeeping. Moskau (= Briefing des
   Moscow Carnegie Centre, 9/2).

3 Damit stellt die Beteiligung russischer Soldaten an SFOR und KFOR (1996-2003) im ehemaligen Jugoslawien den
   bislang einzigen gemeinsamen Peacekeeping-Einsatz von Moskau und NATO dar.
4 Die Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit wurde 2002 gegründet. Neben Russland gehören ihr Arme-

   nien, Belarus, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und Tadschikistan an.

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Golts, Alexander M./ Putnam, Tonya L. (2004): Why Military Reform Has Failed in Russia, in:
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    Away, in: Journal of Slavic Military Studies, 18/4, S. 607-629.
Herspring, Dale /McDermott, Roger (2010): Serdyukov Promotes Systemic Military Reform, in:
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International Institute for Strategic Studies (ed.) (2010): Military Balance. The annual assessment
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    bedarf der russischen Streitkräfte. Berlin (= SWP-Aktuell 74/2008).
Klein, Margarete (2009): Russlands Militärpotential zwischen Großmachtanspruch und Wirklich-
    keit. Zustand, Reformbedarf und Entwicklungsperspektiven der russischen Streitkräfte. Ber-
    lin (= SWP-Studie 24/2009).
Konovalov, Ivan (2009): The “New Look” Russian Army, in: Moscow Defense Brief, 18/4, S.
    12-18.
Lange, Sascha (2004): Netzwerk-basierte Operationsführung (NBO). Streitkräfte-Transformation
    im Industriezeitalter. Berlin (= SWP-Studie 22/2004).
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    http://www.mil.ru/eng/1862/12069/index.shtml (Zugriff 30.3.2010)
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                                   Dr. Margarete Klein, geboren 1973, ist Wissenschaftli-
                                   che Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Russland/GUS
                                   der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

                                   Forschungsschwerpunkte: Russische Außen- und Sicher-
                                   heitspolitik: Interessen, Strategien, Instrumente; Russ-
                                   lands Rüstungs- und Rüstungskontrollpolitik; Beziehun-
                                   gen zwischen Russland und der NATO

                                   Kontakt:
                                   E-Mail: margarete.klein@swp-berlin.org

Empfohlene Zitation: Klein, Margarete (2010): Armee im Umbruch: Wie und wozu Russland
seine Streitkräfte reformiert, FRP Working Paper 04/2010, Regensburg,
abrufbar unter: www.regensburger-politikwissenschaftler.de/frp_working_paper_04_2010.pdf

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