Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle - SWP-Studie Moritz Pieper
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SWP-Studie Moritz Pieper Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Akteure, Interessen, Perspektiven Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 12 Juni 2020, Berlin
Kurzfassung ∎ Die amerikanisch-russische Rüstungskontrollarchitektur durchlebt eine schwere Krise. Allerdings hat die Erosion rüstungskontrollpolitischer Instrumente schon vor dem Ende des INF-Vertrags am 2. August 2019 eingesetzt. ∎ New START, das letzte russisch-amerikanische Vertragswerk zur Redu- zierung strategischer Kernwaffen, droht am 5. Februar 2021 auszulaufen, wenn sich die Vertragspartner bis dahin nicht auf eine Verlängerung einigen. Fiele New START weg, stände einer neuen Welle nuklearer Auf- rüstung rechtlich nichts mehr im Wege. ∎ Die russische Führung ist bestrebt, den New-START-Vertrag zu verlängern. Damit will sie eine strategische Balance zwischen den USA und Russland aufrechterhalten. Vor allem geht es ihr darum, den Fortbestand der russi- schen Zweitschlagkapazität zu sichern. Zugleich dienen Rüstungskontroll- gespräche als implizite Anerkennung eines russischen »Großmachtstatus«. ∎ Die russische Selbstdarstellung als Bewahrer bestehender Rüstungs- kontrollverträge wird durch neue nichtstrategische Waffensysteme ver- kompliziert. Mit ihnen will Russland demonstrieren, dass es nach wie vor eine mögliche erweiterte US-Raketenabwehr überwinden kann. ∎ Die Entfremdung zwischen Russland und westlichen Staaten hat sich seit 2014 beschleunigt und beeinträchtigt auch die Rüstungskontrolle. Eine Folge sind Ansätze rüstungstechnologischer Kooperation Russlands mit China. ∎ Deutschland sollte sich weiterhin für die Verlängerung von New START und die Wiederaufnahme strategischer Gespräche mit Russland enga- gieren. Sie sind Voraussetzung für ein Folgeabkommen, das den Begriff »strategische Stabilität« erweitern und dabei sowohl nukleare Drittstaaten als auch neue technologische Möglichkeiten einbeziehen müsste.
SWP-Studie Moritz Pieper Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Akteure, Interessen, Perspektiven Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 12 Juni 2020, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2020 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372 doi: 10.18449/2020S12
Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung 13 Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik 13 Bedrohungswahrnehmungen 15 Rüstungstechnologische und institutionelle Pfadabhängigkeiten 18 Innenpolitische Determinanten 19 Rüstungs- und ordnungspolitische Konzeptionen 22 Russische Lösungsansätze und ihre Einordnung 22 Kehrtwende bei einer Multilateralisierung des INF-Vertrags 23 Moratorium für Mittelstreckenraketen 25 Verlängerungsoptionen für New START 27 Transparenzmaßnahmen bei neuen strategischen Waffenkategorien 31 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 33 Abkürzungen
Dr. Moritz Pieper ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Problemstellung und Empfehlungen Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle. Akteure, Interessen, Perspektiven Nachdem der Vertrag über das Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen von 1987 (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, INF) am 2. August 2019 endete, durchlebt die nukleare Rüstungskontrolle eine schwere Krise. Russland und die USA beschuldigen sich gegen- seitig des Vertragsbruchs, vermochten aber nicht, die Vorwürfe durch kooperative Verifikation zu entkräf- ten. Zudem droht New START, das letzte russisch- amerikanische Vertragswerk zur Reduzierung strate- gischer Nuklearwaffen, am 5. Februar 2021 auszulau- fen, wenn sich die Vertragspartner bis dahin nicht auf eine Verlängerung einigen. Fiele New START weg, stände nuklearer Aufrüstung rechtlich nichts mehr im Wege. Erschwerend kommt hinzu, dass beide Seiten Sprache und Annahmen außenpolitischer Dis- kurse verschärft und Schritte unternommen haben, um Atomwaffen einsetzbarer und zielgenauer zu machen. Darüber hinaus erfordern neue technologi- sche Möglichkeiten zeitgemäße Definitionen »strate- gischer Stabilität« jenseits von Zählregeln für atomare Sprengköpfe. In dieser Gemengelage hat Russland einige Vor- schläge gemacht, mit denen es Auswege aus der Krise der nuklearen Rüstungskontrolle aufzeigen will. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen Beitrag zur besseren Einordnung dieser Vorschläge angesichts der russischen Rüstungskontrollpolitik zu leisten. Es lassen sich vier Triebkräfte für diese Politik identifi- zieren, welche die russischen Diskurse über Nuklear- waffen und die russischen Definitionen »strategischer Stabilität« wesentlich bestimmen. Erstens möchte die russische Führung eine strate- gische Balance zwischen den USA und Russland auf- rechterhalten. Dies offenbart sich nicht zuletzt an dem seit Jahren schwelenden Streit über US-amerika- nische Raketenabwehrpläne als angebliche Bedro- hung für die russische Zweitschlagkapazität. Rüstungs- kontrollverträge zwischen den beiden größten Atom- waffenstaaten legen der russischen Führung außer- dem rechtliche Zwänge und Verpflichtungen auf und werden deshalb von manchen verteidigungspoliti- schen Akteuren in Russland kritisch gesehen. Anderer- seits dienen sie als vertraglich gesicherter Anspruch SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 5
Problemstellung und Empfehlungen auf eine wahrgenommene Ebenbürtigkeit mit den des INF-Vertrags hat auch eine erneute Debatte über USA und somit als implizite Anerkennung eines russi- europäische Nachrüstung entfacht, desgleichen über schen »Großmachtstatus«. Zweitens bewirken rüstungs- die Notwendigkeit neuer Formate und Ansätze ver- technologische und institutionelle Pfadabhängig- trauensbildender Maßnahmen zwischen Russland keiten, dass Nuklearwaffen strategisch aufgewertet und westlichen Regierungen bei der Rüstungskontrol- werden, was sich neben einer umfassenden Moderni- le. Deutschland hat ein besonderes Interesse an nukle- sierung des Nuklearwaffenarsenals in der Entwick- arer Rüstungskontrolle, da nach wie vor amerikani- lung neuer Waffensysteme niederschlägt. Drittens hat sche nichtstrategische Atomwaffen auf deutschem der Kreml zugleich seine Bereitschaft geäußert, Rüs- Boden gelagert werden, an deren Einsatzplanung tungskontrollgespräche zu führen, auch wenn Zweifel Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe in an der Ernsthaftigkeit mancher der russischen Forde- der Nato mitwirkt. Deutschland und andere europäi- rungen und Angebote angebracht sind. Ein grund- sche Staaten sollten sich weiterhin dafür einsetzen, sätzlicher Dialog mit den USA dient jedoch nicht nur dass Russland und die USA den New-START-Vertrag der Anerkennung eines politischen Status, sondern verlängern. Hierdurch würde Zeit gewonnen, um in auch dem militärstrategischen Ziel, die russische den nächsten fünf Jahren eine modifizierte Version Zweitschlagkapazität zu sichern. Viertens hat sich seit oder einen Folgevertrag auszuhandeln. Deutschlands 2014 die Entfremdung zwischen Russland und west- Rolle darf sich aber nicht darauf beschränken, die lichen Regierungen beschleunigt und zieht auch die Fortsetzung von Gesprächen im russisch-amerikani- Rüstungskontrolle in Mitleidenschaft. Eine Folge schen »Strategic Dialogue« einzufordern. Flankieren- davon war, dass Russland begann, rüstungstechnolo- de Initiativen wären darüber hinaus wichtig, um dem gisch mit China zu kooperieren. Damit will Moskau Eindruck einer deutschen Sprachlosigkeit angesichts negative Auswirkungen einer potentiellen amerikani- sich verschiebender transatlantischer Beziehungen schen Nachrüstung im pazifisch-asiatischen Raum und des schwierigen Umgangs mit einem ambivalen- nach dem Ende des INF-Vertrags einhegen. ten Russland entgegenzutreten. Festzuhalten ist, dass sich manche dieser Trieb- kräfte gegenseitig verstärken, während andere Teil- faktoren in Spannung zueinander stehen. Daraus erklärt sich die teils ambivalente Interessenlage Russ- lands, die hinter russischen Vorschlägen und Positio- nen in der derzeitigen Krise der nuklearen Rüstungs- kontrolle steht. Russlands Selbstdarstellung als Bewah- rer bestehender Rüstungskontrollverträge wird durch die Entwicklung neuer Waffensysteme verkompli- ziert, die nicht der »strategischen Triade« zugeordnet sind. Einerseits positioniert sich Russland hier für mögliche russisch-amerikanische Verhandlungen über die Einbeziehung neuer Technologien und könn- te hierfür einsetzbare Verhandlungsmasse aufbauen. Andererseits lässt die Entwicklung solcher Systeme bereits ahnen, wie schwierig sich eine Neudefinition »strategischer Stabilität« gestalten wird, falls New START wegbrechen sollte. Auf globaler Ebene birgt ein solches politisches Patt in der russisch-amerikanischen Rüstungskontrol- le die Gefahr, dass das Vertrauen in globale Rüstungs- kontroll- und Nichtverbreitungsregime verloren geht. Das wäre dann zu befürchten, wenn die zwei führen- den Nuklearmächte die im nuklearen Nichtverbrei- tungsvertrag (NVV) angestrebte Abrüstung nach Arti- kel VI nicht mehr ernsthaft vorantreiben oder sogar Abrüstungsbemühungen aktiv untergraben. Das Ende SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 6
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung Am 2. August 2019 lief die sechsmonatige Frist ab, systeme, die den INF-Vertrag verletzten. 2 Die Ein- welche die US-Regierung am 2. Februar 2019 für die schätzung, dass Russland Raketen erprobt und statio- Kündigung des Vertrags über das Verbot landgestütz- niert habe, die nicht INF-konform seien, wurde dann ter Mittelstreckenwaffen (Intermediate-Range Nuclear auf dem Nato-Gipfel im Dezember 2018 schließlich Forces Treaty, INF) ausgerufen hatte. Damit endete offiziell von allen Mitgliedstaaten des Bündnisses mit- ein Vertragswerk, das seit 1987 zwischen den USA getragen. 3 und der Sowjetunion bestanden und den Einsatz Russland zeigte sich zunächst wenig geneigt, die landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen mit im Raum stehenden Vorhaltungen zu widerlegen, einer Reichweite zwischen 500 und 5 500 Kilometern und gab die Existenz von 9M729 erst zu, nachdem die verboten hatte. Seit 2014 hatte die US-Regierung Russ- USA sie offengelegt hatten. Moskau wehrte sich aber land beschuldigt, den INF-Vertrag durch die Entwick- gegen die Behauptung, der Marschflugkörper habe lung und Testflüge eines nach Vertragsbestimmungen eine gemäß INF-Vertrag verbotene Reichweite. Die verbotenen Marschflugkörpers zu brechen. Diese Glaubwürdigkeit der Verlautbarungen Russlands litt Waffe könne sowohl konventionelle als auch nukle- jedoch an dessen mangelnder Bereitschaft, eine öffent- are Sprengköpfe tragen und jedes EU-Mitgliedsland lichkeitswirksame, evidenzbasierte Überprüfung zu mit Ausnahme Portugals erreichen. Eine Befassung ermöglichen. Moskau hatte seit 2014 seinerseits Vor- mit den Vorwürfen in der Special Verification Com- würfe gegenüber den USA erhoben. Kritisiert wurde, mission (SVC) im November 2016, der im Vertrag der Einsatz früherer ballistischer Mittelstreckenrake- vorgesehenen Streitschlichtungskommission, brachte ten zur Erprobung der US-Raketenabwehr sei nicht keine Einigung. 1 Ende 2017 konkretisierte die US- vertragskonform, 4 amerikanische Drohnen fielen Regierung ihren Vorwurf, indem sie den Marschflug- unter die Definition landgestützter Marschflugkör- körper (9M729 nach russischer, SSC-8 nach Nato- per 5 und die USA hätten den INF-Vertrag gebrochen, Klassifizierung) und den Hersteller (Novator) nannte sowie präzisierte, dass die Waffe in Kapustin Jar 2 »Statement by the North Atlantic Council on the Inter- (in der Oblast Astrachan) und in der Nähe von Jekate- mediate-Range Nuclear Forces Treaty«, Pressemitteilung, rinburg stationiert sei. Auch eine erneute Befassung Brüssel, 2.8.2019, (Zugriff am 19.12.2019). gung zu entkräften. In ihrem Kommuniqué vom Juli 3 Nato, »Statement on the Intermediate-Range Nuclear 2018 äußerte die Nato Zweifel an der russischen Dar- Forces (INF) Treaty«, Pressemitteilung, Brüssel, 4.12.2018, stellung, Moskau entwickle oder teste keine Waffen- (Zugriff am 21.4.2020). 4 Ob die verwendeten älteren US-Raketen tatsächlich 1 Die im INF-Vertrag vorgesehene binationale SVC wurde gemäß INF-Vertrag verboten waren, ist umstritten, da sie nach Auflösung der Sowjetunion 1991 multilateralisiert. Ihr nicht im Memorandum of Understanding vom November gehören auch Belarus, Kasachstan und die Ukraine an, ur- 1987 aufgeführt waren. sprünglich zudem Turkmenistan und Usbekistan. Die letzten 5 Der Vorwurf greift nicht, weil er nicht mit der Terminolo- beiden Staaten nahmen aber – mit dem Einverständnis der gie des INF-Vertrags konform ist, weist aber auf die Schwie- anderen – nicht an SVC-Sitzungen teil. rigkeit hin, neue Technologien vertraglich zu erfassen. SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 7
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung indem sie eine landgestützte vertikale Abschussvor- das im Mai 2020 verkündet wurde, befeuert die Krise richtung (Mk 41) verwendeten. Die Stationierung in der Rüstungskontrollpolitik zusätzlich. Dieser Ver- solcher Vorrichtungen in Rumänien und die Pläne für trag war 1992 ins Leben gerufen worden, um trans- ein ähnliches Raketenabwehrsystem in Polen seien parenzschaffende Überflugrechte im Luftraum aller vertragswidrig, denn diese Systeme seien auch zum 34 Vertragsstaaten zu kodifizieren. 9 Zwar haben erst Abschuss von Marschflugkörpern geeignet. 6 russische Einschränkungen der vertraglich zugesi- Diese Ausgangslage verschärfte sich, nachdem cherten Überflugrechte eine Debatte über Implemen- Donald Trump Anfang 2017 sein Amt als Präsident tierungsmängel ausgelöst, aber ein Austritt der USA der USA angetreten hatte. So vollzog die Trump- aus einem weiteren Rüstungskontrollvertrag passt in Administration im Oktober 2018 eine Kehrtwende das von Moskau evozierte Bild einer destruktiven US- und gab bekannt, dass die USA den INF-Vertrag auf- Politik. 10 Washington zerstöre mutwillig die globale kündigen würden. Zuvor hatte sie noch erklärt, dass Rüstungskontrollarchitektur und ignoriere konstruk- die Vertragsverletzungsvorwürfe in der Special Veri- tive russische Vorschläge, deren schleichende Erosion fication Commission aufgearbeitet werden sollten. 7 aufzuhalten, so der Tenor in Moskau. 11 Mit fingierten Zuletzt war aber keine Seite mehr bereit, nennens- Vorwürfen hätten die USA perspektivisch auf das wertes politisches Kapital zur Rettung des INF-Ver- Ende des INF-Vertrags hingearbeitet und eine Propa- trags zu investieren. 8 gandakampagne gegen angebliche russische Verlet- Moskau sieht die Schuld für diese Entwicklung bei zungen des Vertrags gestartet. 12 Washington. Der obstruktive Diskurs Trumps und der US-amerikanische Rückzug aus anderen internatio- Russlands Position als langjähriger nalen Vereinbarungen wie dem Atomabkommen mit Skeptiker des INF-Vertrags ist nun ins Iran (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) vom Gegenteil verkehrt. Juli 2015 geben dem russischen Narrativ, Moskau tue alles zur Rettung der globalen Rüstungskontrollarchi- In der Vergangenheit aber war es Russland, das tektur, starken Aufwind. Das Ausscheiden der US- angesichts des Aufbaus der US-Raketenabwehr in Regierung aus dem Vertrag über den Offenen Himmel, Europa bereits mit einem Ausstieg aus diesem Vertrag gedroht und ihn als unzureichend kritisiert hatte 6 Dies ist das vergleichsweise stärkste russische Argument, (siehe Abschnitt »Kehrtwende bei einer Multilaterali- da Abschussvorrichtungen für landgestützte Marschflug- sierung des INF-Vertrags«, S. 22). Russlands Position körper (Ground-Launched Cruise Missile, GLCM) laut INF- als langjähriger Skeptiker des INF-Vertrags ist nun ins Vertrag untersagt sind und mit Mk-41-Systemen tatsächlich Gegenteil verkehrt. Nach dem Rückzug der USA Tomahawk-Marschflugkörper von Schiffen aus verschossen stellt sich Russland als Verfechter und Verteidiger wurden. Siehe auch Greg Thielmann/Oliver Meier/Victor bestehender Rüstungskontrollverträge dar. 13 Das ist Mizin, INF Treaty Compliance: Path to Renewal or the End of the Road?, Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicher- heitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Mai 2018 9 The Open Skies Treaty, London: International Institute for (Deep Cuts Issue Brief Nr. 8), S. 4. Security Studies, Dezember 2019, Coats on Russia’s Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) (Zugriff am 20.1.2020). Treaty Violation«, Office of the Director of National Intelli- 10 Alexandra Bell/Wolfgang Richter/Andrei Zagorski, »How gence, Pressemitteilung, Washington, D.C., 30.11.2018, to Fix, Preserve and Strengthen the Open Skies Treaty«, (Zugriff am 10.3.2020); tung und Rüstungskontrolle, russisches Außenministerium, Amy F. Woolf, »Russian Compliance with the Intermediate 27.11.2019. Range Nuclear Forces (INF) Treaty: Background and Issues 12 Ebd. for Congress«, Washington, D.C.: Congressional Research 13 »Senior Russian Diplomat Says US Looking for Excuse to Service, 2.8.2019, Get Rid of New START«, TASS (online), 8.11.2019, (Zugriff am A Russian Assessment«, in: Ulrich Kühn (Hg.), Trilateral Arms 2.12.2019); Sergey Ryabkov, Russia’s Vision for Arms Control, Control? Perspectives from Washington, Moscow, and Beijing, Disarmament and Non-proliferation, Moskau: PIR Center, 2020 Hamburg: IFSH, März 2020 (Research Report Nr. 002), S. 41. (Security Index Occasional Paper Series, Nr. 1 [6]), SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 8
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung insofern als taktische Neupositionierung zu werten, Zurückgewiesen wird in Russland allerdings die als Moskaus außenpolitische Doktrin aus dem Jahr Lesart, dass Moskau als Kompensationsmechanismus 2016 schon keine Referenzen zum INF-Vertrag mehr und aufgrund des eigenen quantitativen Vorteils bei enthielt. In der Version aus dem Jahre 2013 hatte »nichtstrategischen« Nuklearwaffen einen potentiel- Russland in Absatz 32 c) noch seinen Willen bekräf- len Nuklearwaffeneinsatz in seinen Sicherheitskon- tigt, die Verpflichtungen aus dem zwischen den USA zepten aufwerte. Im Ausland ließ noch die Formulie- und der UdSSR geschlossenen INF-Vertrag zu univer- rung in der russischen Militärdoktrin aus dem Jahre salisieren. Nun fordern die USA eine Multilateralisie- 2000 aufhorchen, Russland behalte sich grundsätzlich rung amerikanisch-russischer Rüstungskontrollver- den Einsatz von Nuklearwaffen vor, wenn die Situa- träge (gemeint ist vor allem die Einbeziehung Chinas), tion »kritisch« für die nationale Sicherheit der Russi- was Russland aber als vorerst nicht realistisch ablehnt. schen Föderation würde. 17 Diese Formulierung wurde Diese Kehrtwende wird im zweiten Teil der Studie im Jahre 2010 dahingehend geändert, dass der Einsatz näher beleuchtet. Die Krise der nuklearen Rüstungs- von Kernwaffen nur eine Option angesichts einer kontrolle beschränkt sich aber nicht auf gegenseitige »bedrohlichen« Situation sei. 18 In der überarbeiteten Vorwürfe, Rüstungskontrollverträge zu unterminie- Militärdoktrin aus dem Jahre 2014 hingegen ist von ren. Sie wird verschärft durch unterschiedliche Les- »nichtnuklearer Abschreckung« die Rede, und der arten offiziell deklarierter Nukleareinsatzpolitiken. Einsatz von Nuklearwaffen wird nur noch in Betracht Besonders taktische Nuklearwaffen stehen im Fokus gezogen, wenn die Existenz des Staates als bedroht der russischen Abschreckungsstrategie. 14 Zugleich erachtet würde. 19 Diese Sprache spiegelt auch ein offenbart dieser Terminus ein definitorisches Problem: erstarkendes Vertrauen in den konventionellen Rüs- Nato-Mitgliedstaaten und Russland haben sich nicht tungsbereich wider, der vor 2014 als reformbedürftig darauf festgelegt, dass Nuklearwaffen, die nicht auf galt. 20 Russland verfolgt, ebenso wie die USA, eine Interkontinentalraketen, seegestützte Raketen (Sub- Politik des Verzichts auf den nuklearen Erstschlag, marine-Launched Ballistic Missile, SLBM) oder schwere Bomber montiert werden, als taktische Nuklearwaffen Überlebensinteressen zu wahren. In den Nato-Gipfel-Kommu- zu werten sind. 15 Eine Reduzierung solcher Systeme niqués von 2016 und 2018 hat die Nato auf die wahrgenom- dürfte für Russland angesichts der überlegenen ame- mene Betonung der Relevanz von Kernwaffen in russischen rikanischen konventionellen Kapazitäten nur dann Militärdoktrinen reagiert und darauf hingewiesen, dass der eine Option sein, wenn gleichzeitig auch die Verrin- Einsatz von Nuklearwaffen den Charakter eines Konfliktes gerung konventioneller Rüstung vertraglich geregelt grundlegend verändere. Siehe Nato, »Warsaw Summit Com- wird. Russland hält Nuklearsprengköpfe nicht nur muniqué«, Pressemitteilung, Brüssel, 9.7.2016, Absatz 54, zur Bestückung bodengestützter Kurzstreckenraketen (Zugriff am 22.3.2020). Kampfflugzeuge (Dual Use Combat Aircraft, DCA) 17 »Voennaja doktrina Rossijskoj Federacii« [Militärdoktrin bereit, sondern ebenso zur Luft- und Seeverteidigung. der Russischen Föderation], Moskau, 21.4.2000, Absatz 9, Dies war für Russland eine Form, seine Unterlegen- (Zugriff am 11.12.2019). heit bei den konventionellen Streitkräften zu kom- 18 »Voennaja doktrina Rossijskoj Federacii« [Militärdoktrin pensieren. 16 der Russischen Föderation], Moskau, 5.2.2010, Absatz 22, (Zugriff am 11.12.2019). (Zugriff am 20.1.2020). der Russischen Föderation], Moskau, 26.12.2014, S. 4, 14 Katarzyna Zysk, »Nonstrategic Nuclear Weapons in (Zugriff Scientists, 73 (2017), 5, S. 322–327. am 11.12.2019); siehe auch Anya Loukianova Fink, »The 15 Erst ab Mitte der 1990er Jahre bürgerte sich der Begriff Evolving Russian Concept of Strategic Deterrence: Risks and »substrategische« Waffen ein. Der Wesenskern dieser Waffen Responses«, in: Arms Control Today, 47 (2017) 6, S. 14–20. ist nach wie vor der (sub-) regionale Einsatz gegen militäri- 20 Margarete Klein, Militärische Implikationen des Georgien- sche Ziele auf »kurze« Entfernung. Dies gilt für die Nato wie krieges. Zustand und Reformbedarf der russischen Streitkräfte, für Russland. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2008 16 Erst seit dem Scheitern des KSE-Anpassungsabkommens (SWP-Aktuell 74/2008), (Zugriff Unterlegenheit taktische Nuklearwaffen als Option, »vitale« am 15.11.2019). SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 9
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung denn beide Seiten besitzen überlebensfähige Nuklear- Regierung verfolge Russland einen solchen Ansatz, waffen (Triade), so dass sie auf einen Erstschlag mit mit dem es den möglichen Einsatz kleiner Nuklear- einem ebenfalls vernichtenden Gegenschlag (Zweit- sprengköpfe zur Abschreckung erwäge, um eine schlag) antworten können. 21 Anfang Juni 2020 machte Eskalationsdominanz in regionalen Konflikten mit der Kreml mit seinem »Dekret Nr. 355« zum ersten der Nato zu erzwingen. 24 Die Schlussfolgerung, die Mal die Grundlagen seiner nuklearen Abschreckungs- Washington in der US Nuclear Posture Review aus dem politik öffentlich. 22 Darin unternimmt Moskau den Jahre 2018 zieht, lautet, dass die durch Moskaus Versuch, Transparenz zur nuklearen Einsatzplanung Ansatz gefährdete Eskalationsdominanz wiederherzu- Russlands zu schaffen. In Absatz 17 unterstreicht die stellen sei: Die Trump-Administration beabsichtigt, russische Führung die oben genannten Bedingungen das nukleare Dispositiv zu flexibilisieren, und erzeugt für den Einsatz von Kernwaffen. In Absatz 19 wird die Illusion, eine militärische Auseinandersetzung eine Auflistung von Ereignissen hinzugefügt, die letz- mit treffsicheren Nukleargefechtsköpfen geringer teren rechtfertigen würden. Dazu zählen der Angriff Sprengkraft (mini nukes) sei führbar. 25 Allerdings auf russisches Territorium mit ballistischen Raketen erschwert es eine solche Annahme, zwischen strategi- oder auf Russlands nukleare Infrastruktur sowie schen und substrategischen Systemen zu unterschei- nichtnukleare militärische Objekte und kritische den, und könnte die »Nuklearschwelle« senken. Sie (zivile) Infrastruktur. Der Einsatz strategischer Kern- könnte also genau das bewirken, wessen die russische waffen (taktische Nuklearwaffen werden nicht er- Führung bezichtigt wird. 26 wähnt) wird grundsätzlich nicht nur als Reaktion auf einen nuklearen Erstschlag, sondern auch als Antwort Posture Review and Russian ›De-Escalation‹: A Dangerous auf konventionelle Angriffe erwogen. Solution to a Nonexistent Problem«, War on the Rocks (online), Ein »escalate to de-escalate«-Ansatz lässt sich jedoch 20.2.2018, (Zugriff am 9.3.2020). 24 Kristin Ven Bruusgaard, »The Myth of Russia’s Lowered Nuclear Threshold«, War on the Rocks (online), 22.9.2017, 21 Dem im letzteren Kontext in den USA verwendeten (Zugriff am 3.2.2020); Stephen nus »otvetno-vstrechnyj udar« gegenüber (etwa: antworten- Blank, »Reflections on Russia’s Nuclear Strategy«, in: Roger der Begegnungsschlag). Siehe Vladimir Dvorkin, »Jadernoe E. Kanet (Hg.), Routledge Handbook of Russian Security, London/ sderživanie: koncepcii i riski« [Atomare Abschreckung: New York 2019, S. 154–168 (157). Konzepte und Risiken], IMEMO, 63 (2019) 12, S. 50–55. Im 25 Anfang Februar 2020 bestätigte das US-Verteidigungs- Grunde handelt es sich hierbei um ein qualifiziertes »launch ministerium, dass U-Boote der Ohio-Klasse mit neuen on warning«-Konzept: Damit reagiert Russland zwar auf Langstreckenraketen (W76-2) bestückt wurden, die kleine den Abschuss strategischer Waffen des Gegners, wartet aber Nuklearsprengköpfe tragen können. Diese Entscheidung, so nicht den Einschlag und die Zerstörung strategischer Ziele das Pentagon, sei als Antwort auf russische Tests ähnlicher ab. Die Entscheidung, den Gegenschlag auszulösen, wird Waffensysteme zu verstehen. U.S. Department of Defense, gefällt, sobald ein strategischer Angriff eindeutig feststeht. »Statement on the Fielding of the W76-2 Low-yield Subma- Dieses Konzept könnte allerdings durch Hyperschallwaffen rine Launched Ballistic Missile Warhead«, Pressemitteilung, (auch konventionell) ausgehebelt werden. Zu letzteren siehe Washington, D.C., 4.2.2020, (Zugriff am 5.2.2020); siehe auch Elbridge Colby, Rossijskoj Federacii v oblasti jadernogo sderživanija‹« [Dekret »Against the Great Powers: Reflections on Balancing Nuclear Nr. 355 »Über die Grundlagen der Staatspolitik der Russi- and Conventional Power«, in: Texas National Security Review, schen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung«], 2 (2018) 1, S. 144–153, (Zugriff am 20.4.2020). am 4.6.2020)>. 26 Wolfgang Richter, Erneuerung der nuklearen Abschreckung. 23 Nikolai Sokov, The Elusive Russian Nuclear Threshold, Die USA wollen nukleare Einsatzoptionen und globale Eskalationsdo- Washington, D.C.: PONARS Eurasia (Policy Memo Nr. 625), minanz stärken, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2019; Bruno Tertrais, »Russia’s Nuclear Policy. März 2018 (SWP-Aktuell 15/2018), S. 33–44; Olga Oliker/Andrey Baklitskiy, »The Nuclear (Zugriff am 10.12.2019). SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 10
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung Wird New START nicht verlängert, Vertrags stellt sich daher die Frage, ob die USA und bricht das letzte Vertragswerk Russland in der Lage sind, angesichts aus ihrer Per- zur Limitierung strategischer spektive gewachsener Bedrohungen politisches Kapi- Kernwaffen weg. tal in die Verlängerung des noch bestehenden Ver- trags zur Begrenzung strategischer Nuklearwaffen Eine derartige Gefahrenwahrnehmung, die in (New START) zu investieren.28 Dieser Vertrag begrenzt Strategiepapieren festgeschrieben ist, engt politische die Anzahl der auf strategischen Trägersystemen sta- Optionen ein und beeinträchtigt auch den rüstungs- tionierten Sprengköpfe sowie diejenige aktiver Inter- kontrollpolitischen Dialog.27 Nach dem Ende des INF- kontinentalraketen und strategischer Bomber. Die US- Administration hat erkennen lassen, dass sie den Vertrag auslaufen lassen werde, sollte er sich nicht 27 Alexej Arbatov, Čem opasen dlja Rossii vychod SŠA iz Dogovo- um weitere nukleare Besitzstaaten, allen voran China, ra o raketach srednej i men’šej dal’nosti [Warum der Rückzug der USA vom INF-Vertrag gefährlich für Russland ist], Moskau: Carnegie Moscow Center, 22.10.2018, (Zugriff am 5.12.2019). SORT-Vertrag aus dem Jahr 2002 als START 3 bezeichnet. SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 11
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung erweitern lassen. 29 Wird New START nicht verlängert, bricht das letzte Vertragswerk zur Limitierung strate- gischer Nuklearwaffen weg. Weitreichender noch als denkbare militärische sind jedoch die politischen Implikationen. Die schlei- chende Erosion der globalen rüstungskontrollpoliti- schen Architektur stellt die zehnte Konferenz zur Überprüfung des Nuklearen Nichtverbreitungsver- trags (NVV), die aufgrund der Corona-Pandemie auf das Jahr 2021 verschoben wurde, unter schwierige Vorzeichen. Der Vorwurf seitens vieler Nichtkern- waffenstaaten, Kernwaffenstaaten kämen ihrer Ver- pflichtung zur nuklearen Abrüstung nach Artikel VI des NVV nicht mehr nach, führte bereits 2005 und zuletzt 2015 zum Misserfolg der Überprüfungskonfe- renz. Liefe New START noch vor der nächsten NVV- Überprüfungskonferenz aus, wäre diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. Hinzu kommt, dass neue technologische Möglichkeiten entwickelt wurden, etwa in den Bereichen letale autonome Waffensysteme, Cyberkriegsführung und Militarisierung des Weltalls, und dass einige Systeme rechtlich bisher nicht erfasst wurden. Bei diesen handelt es sich um substrategische Nuklearwaffen, konventionelle Waffen mit strategischer Wirkung sowie see- und luftgestützte Mittelstreckenraketen. Aus diesen Gründen sind neue Ansätze in der Rüs- tungskontrolle dringlicher denn je, um zukünftige qualitative Rüstungswettläufe zu verhindern. 29 U.S. Department of State, »Briefing with Senior State Department Official on the New START«, Special Briefing, Washington, D.C., 9.3.2020, (Zugriff am 12.3.2020). SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 12
Bedrohungswahrnehmungen Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik Inwiefern außenpolitische Konzepte und Militär- zuloten. 32 Diese Absicht wurde aber von der politi- doktrinen tatsächlich als Richtschnur für nuklear- schen Realität eingeholt, nachdem die US-Regierung politische Planung fungieren, muss im Kontext der unter George W. Bush mit Planungen begonnen hatte, strukturellen Triebkräfte der jeweiligen Rüstungs- Raketenabwehrsysteme auf Grundlage bilateraler kontrollpolitik bewertet werden. Das ist umso wich- Absprachen in Polen und Tschechien zu stationie- tiger, als der Zugang zum Analysegegenstand durch ren. 33 Im Jahr 2002 hatte Russland noch zurück- militärpolitische Geheimhaltungsgrade und oft haltend auf den amerikanischen Ausstieg aus dem intransparente Entscheidungsfindungsprozesse er- ABM-Vertrag reagiert, der eine umfassende territo- schwert wird. Vor dem Hintergrund eines solchen riale Raketenabwehr verboten hatte. Nun jedoch Informationsmangels muss letztlich politisch bewertet begann Moskau, deutlich seinen Unmut über die werden, inwieweit sich verschiedene technische amerikanischen Stationierungspläne zu äußern. 34 Vorschläge in der Rüstungskontrolle verwirklichen Eine »strategische« Raketenverteidigung war durch lassen. Hier wird daher der Versuch unternommen, den ABM-Vertrag eng begrenzt worden, um die Zweit- mit Hilfe einer Darstellung des Kontextes russischer schlagfähigkeit Russlands nicht zu unterminieren. Diskurse zur Rüstungskontrolle die Handlungslogiken Diese sah Moskau durch den geplanten Aufbau einer russischer Akteure nachvollziehbarer zu machen. US-amerikanischen Raketenabwehr in Europa nun Hierfür werden zunächst wesentliche Triebkräfte bedroht. 35 Russland befürchtete, die USA könnten russischer Außenpolitik identifiziert. Sie bilden den ihre strategische Erstschlagoption stärken, da der stra- Rahmen, der politische Gestaltungsräume kondi- tegische Gegenschlag durch eine erweiterte Raketen- tioniert. 30 verteidigung möglicherweise abgewehrt werden könnte. Statt eines solchen Systems, so Putins Vor- schlag, könne das Radarsystem in Gabala in Aserbaid- Bedrohungswahrnehmungen schan modernisiert und mit einem weiteren, geo- grafisch näher zu bestimmenden Radarsystem unter Im Jahr 2007 hatte Präsident Putin vorgeschlagen, die Kontrolle des Nato-Russland-Rates gestellt und mit Russland solle gemeinsam mit der Nato ein Raketen- abwehrsystem errichten. 31 Damit stützte er sich auf 32 Nato, Public Diplomacy Division, »Missile Defence Fact Versuche der Nato seit 2002, ein Interoperabilitäts- Sheet«, Brüssel, 21.6.2011, (Zugriff am 13.3.2020). 33 Vladimir Dvorkin, »Threats Posed by the U.S. Missile 30 Ein solcher analytischer Ansatz teilt Grundannahmen Shield«, in: Russia in Global Affairs, 13.5.2007, (Zugriff am 19.11.2019). Siehe Gearóid Ó Tuathail (Gerard Toal), Critical Geopolitics. 34 Katarzyna Kubiak, Raketenabwehr: Potentiale einer Koopera- The Politics of Writing Global Space, Minneapolis: University of tion mit Russland, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Minnesota Press, 1996. Juli 2017 (SWP-Studie 13/2017), S. 3, (Zugriff am 15.11.2019). (online), 2.7.2007, (Zugriff am Silos unter Umgehung von START I bzw. New START für 13.3.2020). Angriffsraketen nutzen. SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 13
Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik Frühwarnzentren in Moskau und Brüssel verbunden Russland drohte gar mit einem Ausstieg aus dem werden. So solle die Stationierung amerikanischer INF-Abkommen. 39 Dieser Streit konnte erst beigelegt Raketenabwehrsysteme in Europa obsolet werden. 36 werden, nachdem der amerikanische Verzicht auf die Präsident Medwedew schlug hierauf aufbauend Pläne einer Stationierung von Raketenabwehrsyste- vor, ein integriertes europäisches Abwehrsystem mit men in Polen und Tschechien mit einem Entgegen- einer gemeinsamen Kommandostruktur einzuführen. kommen Russlands in der Frage von Iransanktionen Außerdem könne, so eine weitere Idee, der euro- im VN-Sicherheitsrat verbunden wurde. Präsident atlantische Raum in zwei Sektoren aufgeteilt werden, Obama verwarf 2009 schließlich diesen Plan der Statio- für den dann jeweils die Nato und Russland zuständig nierung auf Basis bilateraler Abkommen und machte seien. Das hätte bedeutet, zwei nebeneinander ope- sich dafür stark, ein mehrstufiges see- und land- rierende Raketenabwehrsysteme unter einer gemein- gestütztes Raketenabwehrsystem für Europa zu ent- samen Koordination zu schaffen. Innerhalb der Nato wickeln. Dieser European Phased Adaptive Approach stieß dies auf keine Gegenliebe. 37 Die Ablehnung vor (EPAA) wurde auf dem Nato-Gipfel 2010 in Lissabon allem durch die osteuropäischen Nato-Partner rührte offiziell angenommen. 40 Auf dem Gipfel betonte die daher, dass nach Moskaus Vorstellung Osteuropas Allianz ihre Bereitschaft, gemeinsam mit Russland Territorium durch die russische Raketenabwehr ge- auszuloten, ob und inwieweit sich existierende und schützt werden sollte. geplante Raketenabwehrsysteme der Nato mit denen Diese Vorschläge waren ein Versuch, die wahr- Russlands verknüpfen ließen. 41 Auch diese Entwick- genommene Bedrohung mit Angeboten einer Ko- lung aber konnte die russischen Befürchtungen nicht operation bei der Raketenabwehr zu reduzieren. Die entkräften, ein gegen russische Sicherheitsinteressen Glaubwürdigkeit solcher russischer Ansinnen litt gerichtetes Offensivprogramm könne künftig unter aber nicht zuletzt deshalb, weil Moskau Gegenmaß- dem Deckmantel eines Nato-Raketenabwehrsystems nahmen für den Fall in den Raum stellte, dass die US- vorangetrieben werden. Die Stationierung von Mk-41- Regierung die öffentlich geäußerten Bedenken nicht Startsystemen (Aegis ashore) in Rumänien (und geplant beachteten: So kündigte Präsident Dmitri Medwedew ab 2021 in Polen) stieß in Moskau daher auf deut- an, Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander in der lichen Widerspruch. Oblast Kaliningrad zu stationieren. Dies war möglich, Nach dem Ende des INF-Vertrags gibt es keine da Nuklearwaffen substrategischer Reichweite (also rechtliche Beschränkung mehr, welche die Stationie- unter 500 Kilometer) im INF-Vertrag nicht berücksich- rung von bodengestützten ballistischen Raketen und tigt waren. 38 Marschflugkörpern mit Reichweiten zwischen 500 und 5 500 Kilometern unterbinden könnte. Dass der Vertrag ausgelaufen ist, birgt damit Konfliktpotential über die US-russischen Rüstungskontrollkanäle hin- aus, denn es hat die Frage neu aufgeworfen, ob der Nato-Doppelbeschluss von 1979 reversibel ist. Eine 36 Einige russische Experten allerdings bezweifeln die offi- massive Stationierung russischer Mittelstreckensyste- zielle Darstellung, dass US-amerikanische Raketenabwehr- me in Europa hätte Auswirkungen auf den Nato- pläne in Osteuropa die größte Gefährdung für die russische Zweitschlagkapazität darstellen. Siehe Alexey Arbatov/Vladi- mir Dvorkin, The Great Strategic Triangle, Moskau: Carnegie 39 Michael Paul/Oliver Thränert, Nukleare Abrüstung und Moscow Center, 1.4.2013 (The Carnegie Papers), lungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2009 (Zugriff am 3.2.2020). (SWP-Studie 9/2009), S. 8; . Perspektiven, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 40 Nato, »Gipfelerklärung von Lissabon«, Brüssel: Ständige 2012, S. 44. Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nato, 38 Die Iskander ist sowohl konventionell als auch nuklear 1.12.2010, Absatz 37, (Zugriff am Über die Presidential Nuclear Initiatives einigten Russland und 13.12.2019). die USA sich dennoch darauf, zwischen 1991 und 1994 die 41 Ebd. In Absatz 38 der Gipfelerklärung wurde die Ergän- Zahl taktischer Nuklearwaffen ohne formalen Vertrag zu zung »zum geeigneten Zeitpunkt und zum beiderseitigen reduzieren. Nutzen« hinzugefügt. SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 14
Rüstungstechnologische und institutionelle Pfadabhängigkeiten Konsens, keine neuen landgestützten nuklearen Mittel- sache, dass den Nuklearwaffen in Russlands Verteidi- streckenraketen in Europa dislozieren zu wollen. 42 gungsplanung bis 2025, dem auf zehn Jahre angeleg- Damit ist nun eine neue Situation der Unsicherheit ten staatlichen Rüstungsprogramm (Gosprogramm geschaffen, denn einer Abschreckungslogik folgend wooruschenii, GPV), weiterhin hohe Priorität ein- dienen russische taktische Nuklearwaffen nun erst geräumt wird und Russland sein Kernwaffenarsenal recht als Instrument, um strategische Stabilität in aus Sowjetzeiten derzeit umfassend modernisiert. 46 einer Welt nach dem INF-Vertrag herzustellen. Dies erfasst die gesamte nukleare Triade, aber vor Russische Offizielle rechtfertigen die Entwicklung allem die strategischen Raketenkräfte (RVSN) und neuer substrategischer Nuklearwaffen darüber hinaus nukleare Marinefähigkeiten: Neben einer umfassen- mit dem US-amerikanischen Prompt-Global-Strike- den Modernisierung konventioneller technischer System, da es mit seiner Fähigkeit zu schnellen kon- Ausrüstung werden die strategischen Raketentruppen ventionellen Schlägen globaler Reichweite die russi- mit dem neuen Awangard- und dem Yars-System aus- sche Zweitschlagfähigkeit in Frage stelle. 43 Hinzu gestattet, die Marine mit nukleargetriebenen U-Booten kommt die quantitative Überlegenheit US-amerikani- der Borei-A-Klasse sowie Bulava-Interkontinental- scher Flugzeugträger und Marschflugkörper sowie raketen. 47 Nicht nur werden veraltete Systeme moder- die Entwicklung letaler autonomer Waffensysteme nisiert, die russische Rüstungsindustrie entwickelt und von Raketenabwehrsystemen im Weltall. 44 Die auch neue wie die Sarmat-Interkontinentalrakete, entstehende Asymmetrie wird als Ungleichgewicht die ab 2021 das ältere SS-18-Modell ersetzen soll, 48 interpretiert und erklärt Russlands Streben, eine und den Hyperschall-Gleitflugkörper Awangard, der »strategische Balance« zwischen den beiden Ländern sowohl konventionelle als auch nukleare Spreng- aufrechtzuerhalten. Es durchdringt den russischen köpfe tragen kann. außenpolitischen Diskurs und ist eine wesentliche Awangard wie auch Sarmat wurden von Präsident Triebkraft der Nuklearwaffenpolitik Russlands, die Putin am 1. März 2018 bei seiner Rede vor der Föderal- als Garant für dessen Ebenbürtigkeit mit den USA versammlung vorgestellt und als »Garant für die gesehen wird. Sicherheit Russlands auf mehrere Jahrzehnte hinaus« gepriesen. 49 Im Dezember 2019 verkündete Verteidi- gungsminister Sergei Schoigu, dass die Awangard in Rüstungstechnologische und der Oblast Orenburg in Betrieb genommen worden institutionelle Pfadabhängigkeiten sei. Awangard und Sarmat sowie das neue nuklear- getriebene U-Boot der Borei-A-Klasse und eine Neu- Es ist davon auszugehen, dass die für 2020 erwartete neue russische Militärdoktrin ein verändertes Streit- doctrine-in-2020-what-it-might-contain-and-why-it-matters/> kräftedispositiv berücksichtigen, dass aber die Rolle (Zugriff am 19.12.2019). von Nuklearwaffen sich konzeptionell nicht wesent- 46 Dmitry Gorenburg, Russia’s Military Modernization Plans: lich wandeln wird. 45 Dafür spricht schon die Tat- 2018–2027, Washington, D.C.: PONARS Eurasia (Policy Memo Nr. 495), November 2017, 42 Andrej Zagorskij, »Le roi est mort, vive le roi? (Zugriff am 3.2.2020); Pavel Baev, »The Russian Military: Die Zukunft der Rüstungskontrolle nach dem INF-Aus«, in: Under-reformed and Over-stretched Instrument of Choice«, Osteuropa, 69 (2019) 1–2, S. 79–87; Claudia Major, Die Rolle in: Stefan Meister (Hg.), Between Old and New World Order: der Nato für Europas Verteidigung. Stand und Optionen zur Weiter- Russia’s Foreign and Security Policy Rationale, Berlin: Deutsche entwicklung aus deutscher Perspektive, Berlin: Stiftung Wissen- Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), September 2018 schaft und Politik, November 2019 (SWP-Studie 25/2019), (DGAP Kompakt Nr. 19), S. 14–16. S. 13f, . 47 »Kakuju techniku polučit armija Rossii v 2020 godu« 43 Autorengespräche, Moskau, November 2019, Februar [Welche Technik die russische Armee 2020 erhält], TASS 2020. (online), 14.1.2020, 44 Siehe hierzu »Dekret 355«, Absatz 12 [wie Fn. 22] für (Zugriff am 4.2.2020). eine offizielle Auflistung von »Gefahren«, gegen die sich 48 Hans M. Kristensen/Matt Korda, »Russian Nuclear Forces, Russlands nukleare Abschreckung richtet. 2019«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 75 (2019) 2, S. 73–84 45 Dara Massicot, »Anticipating a New Russian Military (77). Doctrine in 2020: What It Might Contain and Why It Mat- 49 President of Russia, »Presidental Address to the Federal ters«, War on the Rocks (online), 9.9.2019,
Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik auflage des Tu-160M2-Schwerbombers könnten 2021 und den Sicherheitsorganen, was die Einfluss- in die Massenproduktion gehen und anschließend möglichkeiten militärisch-industrieller Partikular- den Streitkräften zur Verfügung gestellt werden. Über interessen steigert. 55 diese strategischen Waffen hinaus entwickelt das russische Militär substrategische Kernwaffen wie den nukleargetriebenen Marschflugkörper Burewestnik Russlands neue Nuklearwaffen, und den ebenfalls nukleargetriebenen Langstrecken- vorgestellt im März 2018a torpedo Poseidon. 50 Awangard: Hyperschallgleitflugkörper, der auf eine SS- In Teilen mag sich diese Tendenz mit einer gewis- 19-Interkontinentalrakete montiert werden kann, selbst sen Pfadabhängigkeit der Verteidigungs- und Rüs- aber keiner ballistischen Flugbahn nach Wiedereintritt in tungsbeschaffungsindustrie erklären lassen. Dort mag die Atmosphäre folgt und dadurch vermutlich Raketen- die Produktion eher auf der Grundlage materieller abwehrsysteme umgehen kann. Fällt laut russischen An- Fähigkeiten gerechtfertigt statt mit strategischen Ziel- gaben unter New-START-Klassifizierung als strategisches setzungen begründet werden. 51 2018 belief sich der Offensivsystem. Wurde im Dezember 2019 in Dienst russische Verteidigungshaushalt laut Angaben des gestellt. Sarmat (SS-29, RS-28): Interkontinentalrakete, welche die Stockholm International Peace Research Institute SS-18 ersetzen und 2021 in Dienst gestellt werden soll. (SIPRI) auf 61,4 Milliarden US-Dollar. 52 Allerdings Flugtests sollen 2020 beginnen. Fällt laut russischen ergeben sich aus Rechenmethoden auf der Basis von Angaben unter New-START-Klassifizierung als strategi- Kaufkraftparität weitaus höhere Schätzungen von sches Offensivsystem. etwa 150 Milliarden US-Dollar. 53 Operative Aspekte Burewestnik (SSC-X-9 Skyfall, 9M730): Nukleargetriebe- der Instandhaltung und Modernisierung nuklearer ner Marschflugkörper, der seit 2016 getestet wird, mit bis- Sprengköpfe obliegen dem 12. Hauptdirektorat des her mangelhaften Ergebnissen. Ein gescheiterter Test im russischen Verteidigungsministeriums, das mit August 2019 führte vermutlich zu einer Explosion und Betreiberfirmen kooperiert und für die Planung der dem Tod von fünf Wissenschaftlern und zwei Soldaten Bedarfe verantwortlich zeichnet. 54 Hier mögen kom- bei Nenoksa in Nordwestrussland. merzielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Zudem Kinshal (Kh-47M2): Luftgestützte Langstreckenrakete mit bestehen Überschneidungen zwischen Vorständen einer angegebenen Reichweite von 2 000 bis 3 000 Kilo- metern. Vermutlich im südlichen Militärdistrikt seit von Rüstungskonzernen, der Präsidialadministration Dezember 2017 getestet, während einer Flugschau im August 2019 das erste Mal öffentlich zur Schau gestellt. 50 Würde Burewestnik von schweren Bombern aus gestar- Poseidon (Status-6): Nukleargetriebener Langstrecken- tet, fiele er unter die New-START-Zählregeln, die allerdings torpedo, der aus großer Tiefe (1 000 Meter) zum Angriff nur einen Sprengkörper pro Bomber anrechnen. auf Hafenstädte und Küstengebiete eingesetzt werden 51 Pavel Podvig/Nikolai Sokov, »Russian Nuclear Strategy«, könnte. Noch in der Entwicklungsphase, Testphase könn- Vortrag beim Center for Strategic and International Studies, te 2020 beginnen, Mehrwert und Produktionszweck Washington, D.C., 27.6.2016, (Zugriff am 3.2.2020); Kristensen/ Korda, »Russian Nuclear Forces, 2019« [wie Fn. 48], S. 75. a Kristensen/Korda, »Russian Nuclear Forces, 2019« 52 Stockholm International Peace Research Institute, [wie Fn. 48]. »World Military Expenditure Grows to $1.8 Trillion in 2018«, Stockholm, 29.4.2019, (Zugriff am 26.2.2020). des Präsidenten und der ihm zur Verfügung stehen- 53 Michael Kofman/Richard Connolly, »Why Russian Mili- tary Expenditure Is Much Higher than Commonly Under- den Präsidialadministration. Die Vorstellung, Außen- stood (As Is China’s)«, War on the Rocks (online), 16.12.2019, politik sei das Ergebnis von Aushandlungsprozessen (Zugriff am 26.2.2020). 54 Franz-Stefan Gady, »Interview: Dmitry Stefanovich 55 Una Hakvåg, »Russian Defense Spending after 2010. on Russia’s Nuclear Forces and Doctrine«, in: The Diplomat The Interplay of Personal, Domestic, and Foreign Policy (online), 6.11.2019, (Zugriff am 11.3.2020). zational Process Model”, in: Oxford Research Encyclopedia of SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 16
Rüstungstechnologische und institutionelle Pfadabhängigkeiten Neue Varianz im innerrussischen Diskurs Über die Zukunft nuklearer Rüstungskontrolle ist neben den auch Andrei Kortunow, Direktor des Russian International Positionierungen der höchsten politischen Ebene ein Richtungs- Affairs Council. Die Welt stehe an der Schwelle eines sehr streit in der innerrussischen Expertencommunity entbrannt. langen Prozesses der Entwicklung neuer Ansätze in der Rüs- »Traditionalisten« wie die langjährigen Rüstungskontroll- tungskontrolle, die nichtnukleare strategische Offensivwaffen f experten Alexei Arbatow und Sergei Rogow befürworten es, mitdenken müsse. bestehende Rüstungskontrollverträge zu bewahren. Sie argu- Skeptiker gegenüber der Rüstungskontrolle finden sich mentieren, aus Gründen der strategischen Stabilität müsse vor allem im russischen Verteidigungsministerium. Doch auch Russland alles daransetzen, den New-START-Vertrag zu ver- einige staatsnahe Akademiker vertreten die Auffassung, nukle- a längern und zu erhalten. are Rüstungskontrolle mit intrusiven Vor-Ort-Inspektionen, Arbatow, ehemaliger Delegationsteilnehmer bei den START- Verifikationsregimen und vertraglichen Abrüstungsbestimmun- Verhandlungen, hält es für möglich, China in zukünftige tri- gen gefährde die russische Sicherheit eher, statt sie zu fördern. laterale Rüstungskontrollverträge einzubeziehen. Allerdings a Sergey Rogov, »Can the U.S. and Russia Find a Path müsse die russisch-amerikanische Rüstungskontrolle als Grund- Forward on Arms Control?«, in: Foreign Affairs (online), lage fortgeschrieben werden. Erst dann sei ein neues Vertrags- 22.5.2018, (Zugriff am 24.2.2020); Alexey Arbatov, systemen erlaube (»integrierter INF-START-Vertrag«). Rogow A New Era of Arms Control: Myths, Realities and Options, Moskau: schlägt vor, China könne neben der US-russischen Rüstungs- Carnegie Moscow Center, 24.10.2019. kontrollebene parallele nukleare Rüstungskontrollverträge mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich aushandeln. b Arbatov, »Trilateral Nuclear Arms Control« [wie Fn. 8], Dies soll bestehende Asymmetrien in den Nukleardispositiven S. 58–61. c widerspiegeln. c Sergei Rogov im Interview mit Jurij Solomonov, »›Holod- Sergei Karaganow und Dmitri Suslow vertreten dem gegen- naja vojna 2.0‹ uzhe idet« [Der Kalte Krieg 2.0 ist bereits im über eine »revisionistische« Sichtweise: Die bestehende Rüs- Gange], in: Nesavissimaja Gaseta (online), 21.10.2019, hingen einer überholten Rüstungskontrolllogik der 1960er d (Zugriff am 10.3.2020). Jahre an. In ihrem Bericht vom September 2019 fordern Kara- ganow und Suslow daher einen neuen Ansatz, eine »multi- d Autoreninterview mit Dmitri Suslow, Moskau, 13.2.2020. laterale strategische Stabilität«. Diese schlösse neue techno- e Sergei Karaganov/Dmitrii Suslov, »Novoe ponimanie i logische Fähigkeiten in nichtnuklearen Bereichen der Kriegs- puti ukreplenija mnogostoronnej strategičeskoj stabil’nosti« führung ein, besonders kosmische Raketenabwehr, Laser- [Neues Verständnis und Möglichkeiten zur Stärkung der und Cyberwaffen, und berücksichtige nukleare Drittstaaten, multilateralen strategischen Stabilität], Moskau: Council for vor allem China. Weiter argumentieren sie, die Inbetriebnahme Foreign and Defence Policy (SVOP), September 2019, rüsten nicht teilnehmen und keine Mittel zum Erhalt einer (Zugriff am 26.2.2020); siehe auch die Kurzversion »Sderži- quantitativen Parität mit den USA mehr bereitstellen zu e vanie v novuju epochu« [Abschreckung in einer neuen müssen. Der Bericht stieß auf ein breites internationales Echo, Epoche], in: Russia in Global Affairs (online), 12.9.2019, auch da er mit Unterstützung des russischen Außenministe- (Zugriff am 5.12.2019). der russischen Staatsduma veröffentlicht wurde. Die wirklich wichtigen Fragen seien nicht mehr jene der f Autoreninterview mit Andrei Kortunow, Moskau, Raketenträgertechnologie und der numerischen Parität, betont 12.2.2020. Kontext durch stark zentralisierte und personalisierte kann dabei nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, Entscheidungsprozesse relativiert. 57 Das formelle dass strategische Entscheidungen von einer kleinen institutionelle Gefüge der Russischen Föderation Elite in der Präsidialadministration getroffen werden, nicht im Außenministerium. Leitende Konzepte und Strategien, welche die nationale Sicherheit betreffen, International Studies (2010), . auch Außenminister Lawrow und Verteidigungs- 57 Alexander Graef, »Wer macht Außenpolitik in Russ- minister Schoigu sitzen, dessen Apparat aber den land? Akteure, Diskurse, Entscheidungen«, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 10 (2017) 1, S. 1–11. Status eines Direktorats in der Präsidialadministration SWP Berlin Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle Juni 2020 17
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