Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle - SWP-Studie Moritz Pieper

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Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle - SWP-Studie Moritz Pieper
SWP-Studie

  Moritz Pieper

Russland und die Krise der
nuklearen Rüstungskontrolle
         Akteure, Interessen, Perspektiven

                                                Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                            Deutsches Institut für
                                             Internationale Politik und Sicherheit

                                                                    SWP-Studie 12
                                                                  Juni 2020, Berlin
Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle - SWP-Studie Moritz Pieper
Kurzfassung

∎ Die amerikanisch-russische Rüstungskontrollarchitektur durchlebt eine
  schwere Krise. Allerdings hat die Erosion rüstungskontrollpolitischer
  Instrumente schon vor dem Ende des INF-Vertrags am 2. August 2019
  eingesetzt.
∎ New START, das letzte russisch-amerikanische Vertragswerk zur Redu-
  zierung strategischer Kernwaffen, droht am 5. Februar 2021 auszulaufen,
  wenn sich die Vertragspartner bis dahin nicht auf eine Verlängerung
  einigen. Fiele New START weg, stände einer neuen Welle nuklearer Auf-
  rüstung rechtlich nichts mehr im Wege.
∎ Die russische Führung ist bestrebt, den New-START-Vertrag zu verlängern.
  Damit will sie eine strategische Balance zwischen den USA und Russland
  aufrechterhalten. Vor allem geht es ihr darum, den Fortbestand der russi-
  schen Zweitschlagkapazität zu sichern. Zugleich dienen Rüstungskontroll-
  gespräche als implizite Anerkennung eines russischen »Großmachtstatus«.
∎ Die russische Selbstdarstellung als Bewahrer bestehender Rüstungs-
  kontrollverträge wird durch neue nichtstrategische Waffensysteme ver-
  kompliziert. Mit ihnen will Russland demonstrieren, dass es nach wie
  vor eine mögliche erweiterte US-Raketenabwehr überwinden kann.
∎ Die Entfremdung zwischen Russland und westlichen Staaten hat sich seit
  2014 beschleunigt und beeinträchtigt auch die Rüstungskontrolle. Eine
  Folge sind Ansätze rüstungstechnologischer Kooperation Russlands mit
  China.
∎ Deutschland sollte sich weiterhin für die Verlängerung von New START
  und die Wiederaufnahme strategischer Gespräche mit Russland enga-
  gieren. Sie sind Voraussetzung für ein Folgeabkommen, das den Begriff
  »strategische Stabilität« erweitern und dabei sowohl nukleare Drittstaaten
  als auch neue technologische Möglichkeiten einbeziehen müsste.
Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle - SWP-Studie Moritz Pieper
SWP-Studie

Moritz Pieper

Russland und die Krise der
nuklearen Rüstungskontrolle
Akteure, Interessen, Perspektiven

                                       Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                   Deutsches Institut für
                                    Internationale Politik und Sicherheit

                                                           SWP-Studie 12
                                                         Juni 2020, Berlin
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ISSN 1611-6372
doi: 10.18449/2020S12
Inhalt

 5   Problemstellung und Empfehlungen

 7   Die Krise in der US-russischen
     Rüstungskontrollarchitektur als
     globale Herausforderung

13   Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik
13   Bedrohungswahrnehmungen
15   Rüstungstechnologische und institutionelle
     Pfadabhängigkeiten
18   Innenpolitische Determinanten
19   Rüstungs- und ordnungspolitische Konzeptionen

22   Russische Lösungsansätze und ihre Einordnung
22   Kehrtwende bei einer Multilateralisierung des
     INF-Vertrags
23   Moratorium für Mittelstreckenraketen
25   Verlängerungsoptionen für New START
27   Transparenzmaßnahmen bei neuen strategischen
     Waffenkategorien

31   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

33   Abkürzungen
Dr. Moritz Pieper ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe
Osteuropa und Eurasien.
Problemstellung und Empfehlungen

Russland und die Krise der nuklearen
Rüstungskontrolle. Akteure, Interessen,
Perspektiven

Nachdem der Vertrag über das Verbot landgestützter
Mittelstreckenwaffen von 1987 (Intermediate-Range
Nuclear Forces Treaty, INF) am 2. August 2019 endete,
durchlebt die nukleare Rüstungskontrolle eine schwere
Krise. Russland und die USA beschuldigen sich gegen-
seitig des Vertragsbruchs, vermochten aber nicht, die
Vorwürfe durch kooperative Verifikation zu entkräf-
ten. Zudem droht New START, das letzte russisch-
amerikanische Vertragswerk zur Reduzierung strate-
gischer Nuklearwaffen, am 5. Februar 2021 auszulau-
fen, wenn sich die Vertragspartner bis dahin nicht
auf eine Verlängerung einigen. Fiele New START weg,
stände nuklearer Aufrüstung rechtlich nichts mehr
im Wege. Erschwerend kommt hinzu, dass beide
Seiten Sprache und Annahmen außenpolitischer Dis-
kurse verschärft und Schritte unternommen haben,
um Atomwaffen einsetzbarer und zielgenauer zu
machen. Darüber hinaus erfordern neue technologi-
sche Möglichkeiten zeitgemäße Definitionen »strate-
gischer Stabilität« jenseits von Zählregeln für atomare
Sprengköpfe.
   In dieser Gemengelage hat Russland einige Vor-
schläge gemacht, mit denen es Auswege aus der Krise
der nuklearen Rüstungskontrolle aufzeigen will. Das
Ziel der vorliegenden Studie ist es, einen Beitrag zur
besseren Einordnung dieser Vorschläge angesichts
der russischen Rüstungskontrollpolitik zu leisten. Es
lassen sich vier Triebkräfte für diese Politik identifi-
zieren, welche die russischen Diskurse über Nuklear-
waffen und die russischen Definitionen »strategischer
Stabilität« wesentlich bestimmen.
   Erstens möchte die russische Führung eine strate-
gische Balance zwischen den USA und Russland auf-
rechterhalten. Dies offenbart sich nicht zuletzt an
dem seit Jahren schwelenden Streit über US-amerika-
nische Raketenabwehrpläne als angebliche Bedro-
hung für die russische Zweitschlagkapazität. Rüstungs-
kontrollverträge zwischen den beiden größten Atom-
waffenstaaten legen der russischen Führung außer-
dem rechtliche Zwänge und Verpflichtungen auf und
werden deshalb von manchen verteidigungspoliti-
schen Akteuren in Russland kritisch gesehen. Anderer-
seits dienen sie als vertraglich gesicherter Anspruch

                                                 SWP Berlin
      Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                  Juni 2020

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Problemstellung und Empfehlungen

            auf eine wahrgenommene Ebenbürtigkeit mit den             des INF-Vertrags hat auch eine erneute Debatte über
            USA und somit als implizite Anerkennung eines russi-      europäische Nachrüstung entfacht, desgleichen über
            schen »Großmachtstatus«. Zweitens bewirken rüstungs-      die Notwendigkeit neuer Formate und Ansätze ver-
            technologische und institutionelle Pfadabhängig-          trauensbildender Maßnahmen zwischen Russland
            keiten, dass Nuklearwaffen strategisch aufgewertet        und westlichen Regierungen bei der Rüstungskontrol-
            werden, was sich neben einer umfassenden Moderni-         le. Deutschland hat ein besonderes Interesse an nukle-
            sierung des Nuklearwaffenarsenals in der Entwick-         arer Rüstungskontrolle, da nach wie vor amerikani-
            lung neuer Waffensysteme niederschlägt. Drittens hat      sche nichtstrategische Atomwaffen auf deutschem
            der Kreml zugleich seine Bereitschaft geäußert, Rüs-      Boden gelagert werden, an deren Einsatzplanung
            tungskontrollgespräche zu führen, auch wenn Zweifel       Deutschland im Rahmen der nuklearen Teilhabe in
            an der Ernsthaftigkeit mancher der russischen Forde-      der Nato mitwirkt. Deutschland und andere europäi-
            rungen und Angebote angebracht sind. Ein grund-           sche Staaten sollten sich weiterhin dafür einsetzen,
            sätzlicher Dialog mit den USA dient jedoch nicht nur      dass Russland und die USA den New-START-Vertrag
            der Anerkennung eines politischen Status, sondern         verlängern. Hierdurch würde Zeit gewonnen, um in
            auch dem militärstrategischen Ziel, die russische         den nächsten fünf Jahren eine modifizierte Version
            Zweitschlagkapazität zu sichern. Viertens hat sich seit   oder einen Folgevertrag auszuhandeln. Deutschlands
            2014 die Entfremdung zwischen Russland und west-          Rolle darf sich aber nicht darauf beschränken, die
            lichen Regierungen beschleunigt und zieht auch die        Fortsetzung von Gesprächen im russisch-amerikani-
            Rüstungskontrolle in Mitleidenschaft. Eine Folge          schen »Strategic Dialogue« einzufordern. Flankieren-
            davon war, dass Russland begann, rüstungstechnolo-        de Initiativen wären darüber hinaus wichtig, um dem
            gisch mit China zu kooperieren. Damit will Moskau         Eindruck einer deutschen Sprachlosigkeit angesichts
            negative Auswirkungen einer potentiellen amerikani-       sich verschiebender transatlantischer Beziehungen
            schen Nachrüstung im pazifisch-asiatischen Raum           und des schwierigen Umgangs mit einem ambivalen-
            nach dem Ende des INF-Vertrags einhegen.                  ten Russland entgegenzutreten.
               Festzuhalten ist, dass sich manche dieser Trieb-
            kräfte gegenseitig verstärken, während andere Teil-
            faktoren in Spannung zueinander stehen. Daraus
            erklärt sich die teils ambivalente Interessenlage Russ-
            lands, die hinter russischen Vorschlägen und Positio-
            nen in der derzeitigen Krise der nuklearen Rüstungs-
            kontrolle steht. Russlands Selbstdarstellung als Bewah-
            rer bestehender Rüstungskontrollverträge wird durch
            die Entwicklung neuer Waffensysteme verkompli-
            ziert, die nicht der »strategischen Triade« zugeordnet
            sind. Einerseits positioniert sich Russland hier für
            mögliche russisch-amerikanische Verhandlungen
            über die Einbeziehung neuer Technologien und könn-
            te hierfür einsetzbare Verhandlungsmasse aufbauen.
            Andererseits lässt die Entwicklung solcher Systeme
            bereits ahnen, wie schwierig sich eine Neudefinition
            »strategischer Stabilität« gestalten wird, falls New
            START wegbrechen sollte.
               Auf globaler Ebene birgt ein solches politisches
            Patt in der russisch-amerikanischen Rüstungskontrol-
            le die Gefahr, dass das Vertrauen in globale Rüstungs-
            kontroll- und Nichtverbreitungsregime verloren geht.
            Das wäre dann zu befürchten, wenn die zwei führen-
            den Nuklearmächte die im nuklearen Nichtverbrei-
            tungsvertrag (NVV) angestrebte Abrüstung nach Arti-
            kel VI nicht mehr ernsthaft vorantreiben oder sogar
            Abrüstungsbemühungen aktiv untergraben. Das Ende

            SWP Berlin
            Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
            Juni 2020

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Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

Die Krise in der US-russischen
Rüstungskontrollarchitektur
als globale Herausforderung

Am 2. August 2019 lief die sechsmonatige Frist ab,              systeme, die den INF-Vertrag verletzten. 2 Die Ein-
welche die US-Regierung am 2. Februar 2019 für die              schätzung, dass Russland Raketen erprobt und statio-
Kündigung des Vertrags über das Verbot landgestütz-             niert habe, die nicht INF-konform seien, wurde dann
ter Mittelstreckenwaffen (Intermediate-Range Nuclear            auf dem Nato-Gipfel im Dezember 2018 schließlich
Forces Treaty, INF) ausgerufen hatte. Damit endete              offiziell von allen Mitgliedstaaten des Bündnisses mit-
ein Vertragswerk, das seit 1987 zwischen den USA                getragen. 3
und der Sowjetunion bestanden und den Einsatz                      Russland zeigte sich zunächst wenig geneigt, die
landgestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen mit               im Raum stehenden Vorhaltungen zu widerlegen,
einer Reichweite zwischen 500 und 5 500 Kilometern              und gab die Existenz von 9M729 erst zu, nachdem die
verboten hatte. Seit 2014 hatte die US-Regierung Russ-          USA sie offengelegt hatten. Moskau wehrte sich aber
land beschuldigt, den INF-Vertrag durch die Entwick-            gegen die Behauptung, der Marschflugkörper habe
lung und Testflüge eines nach Vertragsbestimmungen              eine gemäß INF-Vertrag verbotene Reichweite. Die
verbotenen Marschflugkörpers zu brechen. Diese                  Glaubwürdigkeit der Verlautbarungen Russlands litt
Waffe könne sowohl konventionelle als auch nukle-               jedoch an dessen mangelnder Bereitschaft, eine öffent-
are Sprengköpfe tragen und jedes EU-Mitgliedsland               lichkeitswirksame, evidenzbasierte Überprüfung zu
mit Ausnahme Portugals erreichen. Eine Befassung                ermöglichen. Moskau hatte seit 2014 seinerseits Vor-
mit den Vorwürfen in der Special Verification Com-              würfe gegenüber den USA erhoben. Kritisiert wurde,
mission (SVC) im November 2016, der im Vertrag                  der Einsatz früherer ballistischer Mittelstreckenrake-
vorgesehenen Streitschlichtungskommission, brachte              ten zur Erprobung der US-Raketenabwehr sei nicht
keine Einigung. 1 Ende 2017 konkretisierte die US-              vertragskonform, 4 amerikanische Drohnen fielen
Regierung ihren Vorwurf, indem sie den Marschflug-              unter die Definition landgestützter Marschflugkör-
körper (9M729 nach russischer, SSC-8 nach Nato-                 per 5 und die USA hätten den INF-Vertrag gebrochen,
Klassifizierung) und den Hersteller (Novator) nannte
sowie präzisierte, dass die Waffe in Kapustin Jar
                                                                    2 »Statement by the North Atlantic Council on the Inter-
(in der Oblast Astrachan) und in der Nähe von Jekate-
                                                                    mediate-Range Nuclear Forces Treaty«, Pressemitteilung,
rinburg stationiert sei. Auch eine erneute Befassung                Brüssel, 2.8.2019,  (Zugriff am 19.12.2019).
gung zu entkräften. In ihrem Kommuniqué vom Juli                    3 Nato, »Statement on the Intermediate-Range Nuclear
2018 äußerte die Nato Zweifel an der russischen Dar-                Forces (INF) Treaty«, Pressemitteilung, Brüssel, 4.12.2018,
stellung, Moskau entwickle oder teste keine Waffen-                  (Zugriff am 21.4.2020).
                                                                    4 Ob die verwendeten älteren US-Raketen tatsächlich
  1 Die im INF-Vertrag vorgesehene binationale SVC wurde            gemäß INF-Vertrag verboten waren, ist umstritten, da sie
  nach Auflösung der Sowjetunion 1991 multilateralisiert. Ihr       nicht im Memorandum of Understanding vom November
  gehören auch Belarus, Kasachstan und die Ukraine an, ur-          1987 aufgeführt waren.
  sprünglich zudem Turkmenistan und Usbekistan. Die letzten         5 Der Vorwurf greift nicht, weil er nicht mit der Terminolo-
  beiden Staaten nahmen aber – mit dem Einverständnis der          gie des INF-Vertrags konform ist, weist aber auf die Schwie-
  anderen – nicht an SVC-Sitzungen teil.                            rigkeit hin, neue Technologien vertraglich zu erfassen.

                                                                                                                   SWP Berlin
                                                                        Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                                                                                    Juni 2020

                                                                                                                                  7
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

              indem sie eine landgestützte vertikale Abschussvor-                   das im Mai 2020 verkündet wurde, befeuert die Krise
              richtung (Mk 41) verwendeten. Die Stationierung                       in der Rüstungskontrollpolitik zusätzlich. Dieser Ver-
              solcher Vorrichtungen in Rumänien und die Pläne für                   trag war 1992 ins Leben gerufen worden, um trans-
              ein ähnliches Raketenabwehrsystem in Polen seien                      parenzschaffende Überflugrechte im Luftraum aller
              vertragswidrig, denn diese Systeme seien auch zum                     34 Vertragsstaaten zu kodifizieren. 9 Zwar haben erst
              Abschuss von Marschflugkörpern geeignet. 6                            russische Einschränkungen der vertraglich zugesi-
                 Diese Ausgangslage verschärfte sich, nachdem                       cherten Überflugrechte eine Debatte über Implemen-
              Donald Trump Anfang 2017 sein Amt als Präsident                       tierungsmängel ausgelöst, aber ein Austritt der USA
              der USA angetreten hatte. So vollzog die Trump-                       aus einem weiteren Rüstungskontrollvertrag passt in
              Administration im Oktober 2018 eine Kehrtwende                        das von Moskau evozierte Bild einer destruktiven US-
              und gab bekannt, dass die USA den INF-Vertrag auf-                    Politik. 10 Washington zerstöre mutwillig die globale
              kündigen würden. Zuvor hatte sie noch erklärt, dass                   Rüstungskontrollarchitektur und ignoriere konstruk-
              die Vertragsverletzungsvorwürfe in der Special Veri-                  tive russische Vorschläge, deren schleichende Erosion
              fication Commission aufgearbeitet werden sollten. 7                   aufzuhalten, so der Tenor in Moskau. 11 Mit fingierten
              Zuletzt war aber keine Seite mehr bereit, nennens-                    Vorwürfen hätten die USA perspektivisch auf das
              wertes politisches Kapital zur Rettung des INF-Ver-                   Ende des INF-Vertrags hingearbeitet und eine Propa-
              trags zu investieren. 8                                               gandakampagne gegen angebliche russische Verlet-
                 Moskau sieht die Schuld für diese Entwicklung bei                  zungen des Vertrags gestartet. 12
              Washington. Der obstruktive Diskurs Trumps und der
              US-amerikanische Rückzug aus anderen internatio-                         Russlands Position als langjähriger
              nalen Vereinbarungen wie dem Atomabkommen mit                           Skeptiker des INF-Vertrags ist nun ins
              Iran (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) vom                             Gegenteil verkehrt.
              Juli 2015 geben dem russischen Narrativ, Moskau tue
              alles zur Rettung der globalen Rüstungskontrollarchi-                    In der Vergangenheit aber war es Russland, das
              tektur, starken Aufwind. Das Ausscheiden der US-                      angesichts des Aufbaus der US-Raketenabwehr in
              Regierung aus dem Vertrag über den Offenen Himmel,                    Europa bereits mit einem Ausstieg aus diesem Vertrag
                                                                                    gedroht und ihn als unzureichend kritisiert hatte
                  6 Dies ist das vergleichsweise stärkste russische Argument,
                                                                                    (siehe Abschnitt »Kehrtwende bei einer Multilaterali-
                  da Abschussvorrichtungen für landgestützte Marschflug-            sierung des INF-Vertrags«, S. 22). Russlands Position
                  körper (Ground-Launched Cruise Missile, GLCM) laut INF-           als langjähriger Skeptiker des INF-Vertrags ist nun ins
                  Vertrag untersagt sind und mit Mk-41-Systemen tatsächlich         Gegenteil verkehrt. Nach dem Rückzug der USA
                  Tomahawk-Marschflugkörper von Schiffen aus verschossen            stellt sich Russland als Verfechter und Verteidiger
                  wurden. Siehe auch Greg Thielmann/Oliver Meier/Victor             bestehender Rüstungskontrollverträge dar. 13 Das ist
                  Mizin, INF Treaty Compliance: Path to Renewal or the End of the
                  Road?, Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicher-
                  heitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Mai 2018            9 The Open Skies Treaty, London: International Institute for
                  (Deep Cuts Issue Brief Nr. 8), S. 4.                                Security Studies, Dezember 2019, 
                  Coats on Russia’s Intermediate-Range Nuclear Forces (INF)           (Zugriff am 20.1.2020).
                  Treaty Violation«, Office of the Director of National Intelli-      10 Alexandra Bell/Wolfgang Richter/Andrei Zagorski, »How
                  gence, Pressemitteilung, Washington, D.C., 30.11.2018,              to Fix, Preserve and Strengthen the Open Skies Treaty«,
                   (Zugriff am 10.3.2020);     tung und Rüstungskontrolle, russisches Außenministerium,
                  Amy F. Woolf, »Russian Compliance with the Intermediate             27.11.2019.
                  Range Nuclear Forces (INF) Treaty: Background and Issues            12 Ebd.
                  for Congress«, Washington, D.C.: Congressional Research             13 »Senior Russian Diplomat Says US Looking for Excuse to
                  Service, 2.8.2019,         Get Rid of New START«, TASS (online), 8.11.2019,  (Zugriff am
                  A Russian Assessment«, in: Ulrich Kühn (Hg.), Trilateral Arms       2.12.2019); Sergey Ryabkov, Russia’s Vision for Arms Control,
                  Control? Perspectives from Washington, Moscow, and Beijing,         Disarmament and Non-proliferation, Moskau: PIR Center, 2020
                  Hamburg: IFSH, März 2020 (Research Report Nr. 002), S. 41.          (Security Index Occasional Paper Series, Nr. 1 [6]),

              SWP Berlin
              Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
              Juni 2020

              8
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

insofern als taktische Neupositionierung zu werten,                     Zurückgewiesen wird in Russland allerdings die
als Moskaus außenpolitische Doktrin aus dem Jahr                     Lesart, dass Moskau als Kompensationsmechanismus
2016 schon keine Referenzen zum INF-Vertrag mehr                     und aufgrund des eigenen quantitativen Vorteils bei
enthielt. In der Version aus dem Jahre 2013 hatte                    »nichtstrategischen« Nuklearwaffen einen potentiel-
Russland in Absatz 32 c) noch seinen Willen bekräf-                  len Nuklearwaffeneinsatz in seinen Sicherheitskon-
tigt, die Verpflichtungen aus dem zwischen den USA                   zepten aufwerte. Im Ausland ließ noch die Formulie-
und der UdSSR geschlossenen INF-Vertrag zu univer-                   rung in der russischen Militärdoktrin aus dem Jahre
salisieren. Nun fordern die USA eine Multilateralisie-               2000 aufhorchen, Russland behalte sich grundsätzlich
rung amerikanisch-russischer Rüstungskontrollver-                    den Einsatz von Nuklearwaffen vor, wenn die Situa-
träge (gemeint ist vor allem die Einbeziehung Chinas),               tion »kritisch« für die nationale Sicherheit der Russi-
was Russland aber als vorerst nicht realistisch ablehnt.             schen Föderation würde. 17 Diese Formulierung wurde
   Diese Kehrtwende wird im zweiten Teil der Studie                  im Jahre 2010 dahingehend geändert, dass der Einsatz
näher beleuchtet. Die Krise der nuklearen Rüstungs-                  von Kernwaffen nur eine Option angesichts einer
kontrolle beschränkt sich aber nicht auf gegenseitige                »bedrohlichen« Situation sei. 18 In der überarbeiteten
Vorwürfe, Rüstungskontrollverträge zu unterminie-                    Militärdoktrin aus dem Jahre 2014 hingegen ist von
ren. Sie wird verschärft durch unterschiedliche Les-                 »nichtnuklearer Abschreckung« die Rede, und der
arten offiziell deklarierter Nukleareinsatzpolitiken.                Einsatz von Nuklearwaffen wird nur noch in Betracht
Besonders taktische Nuklearwaffen stehen im Fokus                    gezogen, wenn die Existenz des Staates als bedroht
der russischen Abschreckungsstrategie. 14 Zugleich                   erachtet würde. 19 Diese Sprache spiegelt auch ein
offenbart dieser Terminus ein definitorisches Problem:               erstarkendes Vertrauen in den konventionellen Rüs-
Nato-Mitgliedstaaten und Russland haben sich nicht                   tungsbereich wider, der vor 2014 als reformbedürftig
darauf festgelegt, dass Nuklearwaffen, die nicht auf                 galt. 20 Russland verfolgt, ebenso wie die USA, eine
Interkontinentalraketen, seegestützte Raketen (Sub-                  Politik des Verzichts auf den nuklearen Erstschlag,
marine-Launched Ballistic Missile, SLBM) oder schwere
Bomber montiert werden, als taktische Nuklearwaffen
                                                                         Überlebensinteressen zu wahren. In den Nato-Gipfel-Kommu-
zu werten sind. 15 Eine Reduzierung solcher Systeme
                                                                         niqués von 2016 und 2018 hat die Nato auf die wahrgenom-
dürfte für Russland angesichts der überlegenen ame-
                                                                         mene Betonung der Relevanz von Kernwaffen in russischen
rikanischen konventionellen Kapazitäten nur dann                         Militärdoktrinen reagiert und darauf hingewiesen, dass der
eine Option sein, wenn gleichzeitig auch die Verrin-                     Einsatz von Nuklearwaffen den Charakter eines Konfliktes
gerung konventioneller Rüstung vertraglich geregelt                      grundlegend verändere. Siehe Nato, »Warsaw Summit Com-
wird. Russland hält Nuklearsprengköpfe nicht nur                         muniqué«, Pressemitteilung, Brüssel, 9.7.2016, Absatz 54,
zur Bestückung bodengestützter Kurzstreckenraketen                        (Zugriff am 22.3.2020).
Kampfflugzeuge (Dual Use Combat Aircraft, DCA)                           17 »Voennaja doktrina Rossijskoj Federacii« [Militärdoktrin
bereit, sondern ebenso zur Luft- und Seeverteidigung.                    der Russischen Föderation], Moskau, 21.4.2000, Absatz 9,
Dies war für Russland eine Form, seine Unterlegen-                        (Zugriff am 11.12.2019).
heit bei den konventionellen Streitkräften zu kom-
                                                                         18 »Voennaja doktrina Rossijskoj Federacii« [Militärdoktrin
pensieren. 16
                                                                         der Russischen Föderation], Moskau, 5.2.2010, Absatz 22,
                                                                          (Zugriff am 11.12.2019).
   (Zugriff am 20.1.2020).                           der Russischen Föderation], Moskau, 26.12.2014, S. 4,
  14 Katarzyna Zysk, »Nonstrategic Nuclear Weapons in                     (Zugriff
  Scientists, 73 (2017), 5, S. 322–327.                                  am 11.12.2019); siehe auch Anya Loukianova Fink, »The
  15 Erst ab Mitte der 1990er Jahre bürgerte sich der Begriff            Evolving Russian Concept of Strategic Deterrence: Risks and
  »substrategische« Waffen ein. Der Wesenskern dieser Waffen             Responses«, in: Arms Control Today, 47 (2017) 6, S. 14–20.
  ist nach wie vor der (sub-) regionale Einsatz gegen militäri-          20 Margarete Klein, Militärische Implikationen des Georgien-
  sche Ziele auf »kurze« Entfernung. Dies gilt für die Nato wie          krieges. Zustand und Reformbedarf der russischen Streitkräfte,
  für Russland.                                                          Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2008
  16 Erst seit dem Scheitern des KSE-Anpassungsabkommens                 (SWP-Aktuell 74/2008),  (Zugriff
  Unterlegenheit taktische Nuklearwaffen als Option, »vitale«            am 15.11.2019).

                                                                                                                         SWP Berlin
                                                                              Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                                                                                          Juni 2020

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Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

              denn beide Seiten besitzen überlebensfähige Nuklear-                   Regierung verfolge Russland einen solchen Ansatz,
              waffen (Triade), so dass sie auf einen Erstschlag mit                  mit dem es den möglichen Einsatz kleiner Nuklear-
              einem ebenfalls vernichtenden Gegenschlag (Zweit-                      sprengköpfe zur Abschreckung erwäge, um eine
              schlag) antworten können. 21 Anfang Juni 2020 machte                   Eskalationsdominanz in regionalen Konflikten mit
              der Kreml mit seinem »Dekret Nr. 355« zum ersten                       der Nato zu erzwingen. 24 Die Schlussfolgerung, die
              Mal die Grundlagen seiner nuklearen Abschreckungs-                     Washington in der US Nuclear Posture Review aus dem
              politik öffentlich. 22 Darin unternimmt Moskau den                     Jahre 2018 zieht, lautet, dass die durch Moskaus
              Versuch, Transparenz zur nuklearen Einsatzplanung                      Ansatz gefährdete Eskalationsdominanz wiederherzu-
              Russlands zu schaffen. In Absatz 17 unterstreicht die                  stellen sei: Die Trump-Administration beabsichtigt,
              russische Führung die oben genannten Bedingungen                       das nukleare Dispositiv zu flexibilisieren, und erzeugt
              für den Einsatz von Kernwaffen. In Absatz 19 wird                      die Illusion, eine militärische Auseinandersetzung
              eine Auflistung von Ereignissen hinzugefügt, die letz-                 mit treffsicheren Nukleargefechtsköpfen geringer
              teren rechtfertigen würden. Dazu zählen der Angriff                    Sprengkraft (mini nukes) sei führbar. 25 Allerdings
              auf russisches Territorium mit ballistischen Raketen                   erschwert es eine solche Annahme, zwischen strategi-
              oder auf Russlands nukleare Infrastruktur sowie                        schen und substrategischen Systemen zu unterschei-
              nichtnukleare militärische Objekte und kritische                       den, und könnte die »Nuklearschwelle« senken. Sie
              (zivile) Infrastruktur. Der Einsatz strategischer Kern-                könnte also genau das bewirken, wessen die russische
              waffen (taktische Nuklearwaffen werden nicht er-                       Führung bezichtigt wird. 26
              wähnt) wird grundsätzlich nicht nur als Reaktion auf
              einen nuklearen Erstschlag, sondern auch als Antwort                     Posture Review and Russian ›De-Escalation‹: A Dangerous
              auf konventionelle Angriffe erwogen.                                     Solution to a Nonexistent Problem«, War on the Rocks (online),
                 Ein »escalate to de-escalate«-Ansatz lässt sich jedoch                20.2.2018,  (Zugriff am 9.3.2020).
                                                                                       24 Kristin Ven Bruusgaard, »The Myth of Russia’s Lowered
                                                                                       Nuclear Threshold«, War on the Rocks (online), 22.9.2017,
                   21 Dem im letzteren Kontext in den USA verwendeten                   (Zugriff am 3.2.2020); Stephen
                   nus »otvetno-vstrechnyj udar« gegenüber (etwa: antworten-           Blank, »Reflections on Russia’s Nuclear Strategy«, in: Roger
                   der Begegnungsschlag). Siehe Vladimir Dvorkin, »Jadernoe            E. Kanet (Hg.), Routledge Handbook of Russian Security, London/
                   sderživanie: koncepcii i riski« [Atomare Abschreckung:              New York 2019, S. 154–168 (157).
                   Konzepte und Risiken], IMEMO, 63 (2019) 12, S. 50–55. Im            25 Anfang Februar 2020 bestätigte das US-Verteidigungs-
                   Grunde handelt es sich hierbei um ein qualifiziertes »launch        ministerium, dass U-Boote der Ohio-Klasse mit neuen
                   on warning«-Konzept: Damit reagiert Russland zwar auf               Langstreckenraketen (W76-2) bestückt wurden, die kleine
                   den Abschuss strategischer Waffen des Gegners, wartet aber          Nuklearsprengköpfe tragen können. Diese Entscheidung, so
                   nicht den Einschlag und die Zerstörung strategischer Ziele          das Pentagon, sei als Antwort auf russische Tests ähnlicher
                   ab. Die Entscheidung, den Gegenschlag auszulösen, wird              Waffensysteme zu verstehen. U.S. Department of Defense,
                   gefällt, sobald ein strategischer Angriff eindeutig feststeht.      »Statement on the Fielding of the W76-2 Low-yield Subma-
                   Dieses Konzept könnte allerdings durch Hyperschallwaffen            rine Launched Ballistic Missile Warhead«, Pressemitteilung,
                   (auch konventionell) ausgehebelt werden. Zu letzteren siehe         Washington, D.C., 4.2.2020,  (Zugriff am 5.2.2020); siehe auch Elbridge Colby,
                   Rossijskoj Federacii v oblasti jadernogo sderživanija‹« [Dekret     »Against the Great Powers: Reflections on Balancing Nuclear
                   Nr. 355 »Über die Grundlagen der Staatspolitik der Russi-           and Conventional Power«, in: Texas National Security Review,
                   schen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung«],           2 (2018) 1, S. 144–153,  (Zugriff am 20.4.2020).
                   am 4.6.2020)>.                                                      26 Wolfgang Richter, Erneuerung der nuklearen Abschreckung.
                   23 Nikolai Sokov, The Elusive Russian Nuclear Threshold,            Die USA wollen nukleare Einsatzoptionen und globale Eskalationsdo-
                   Washington, D.C.: PONARS Eurasia (Policy Memo Nr. 625),             minanz stärken, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik,
                   November 2019; Bruno Tertrais, »Russia’s Nuclear Policy.            März 2018 (SWP-Aktuell 15/2018), 
                   S. 33–44; Olga Oliker/Andrey Baklitskiy, »The Nuclear               (Zugriff am 10.12.2019).

              SWP Berlin
              Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
              Juni 2020

              10
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

     Wird New START nicht verlängert,                                Vertrags stellt sich daher die Frage, ob die USA und
      bricht das letzte Vertragswerk                                 Russland in der Lage sind, angesichts aus ihrer Per-
      zur Limitierung strategischer                                  spektive gewachsener Bedrohungen politisches Kapi-
             Kernwaffen weg.                                         tal in die Verlängerung des noch bestehenden Ver-
                                                                     trags zur Begrenzung strategischer Nuklearwaffen
   Eine derartige Gefahrenwahrnehmung, die in                        (New START) zu investieren.28 Dieser Vertrag begrenzt
Strategiepapieren festgeschrieben ist, engt politische               die Anzahl der auf strategischen Trägersystemen sta-
Optionen ein und beeinträchtigt auch den rüstungs-                   tionierten Sprengköpfe sowie diejenige aktiver Inter-
kontrollpolitischen Dialog.27 Nach dem Ende des INF-                 kontinentalraketen und strategischer Bomber. Die US-
                                                                     Administration hat erkennen lassen, dass sie den
                                                                     Vertrag auslaufen lassen werde, sollte er sich nicht
  27 Alexej Arbatov, Čem opasen dlja Rossii vychod SŠA iz Dogovo-    um weitere nukleare Besitzstaaten, allen voran China,
  ra o raketach srednej i men’šej dal’nosti [Warum der Rückzug der
  USA vom INF-Vertrag gefährlich für Russland ist], Moskau:
  Carnegie Moscow Center, 22.10.2018,  (Zugriff am 5.12.2019).                             SORT-Vertrag aus dem Jahr 2002 als START 3 bezeichnet.

                                                                                                                       SWP Berlin
                                                                            Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                                                                                        Juni 2020

                                                                                                                                 11
Die Krise in der US-russischen Rüstungskontrollarchitektur als globale Herausforderung

              erweitern lassen. 29 Wird New START nicht verlängert,
              bricht das letzte Vertragswerk zur Limitierung strate-
              gischer Nuklearwaffen weg.
                 Weitreichender noch als denkbare militärische
              sind jedoch die politischen Implikationen. Die schlei-
              chende Erosion der globalen rüstungskontrollpoliti-
              schen Architektur stellt die zehnte Konferenz zur
              Überprüfung des Nuklearen Nichtverbreitungsver-
              trags (NVV), die aufgrund der Corona-Pandemie auf
              das Jahr 2021 verschoben wurde, unter schwierige
              Vorzeichen. Der Vorwurf seitens vieler Nichtkern-
              waffenstaaten, Kernwaffenstaaten kämen ihrer Ver-
              pflichtung zur nuklearen Abrüstung nach Artikel VI
              des NVV nicht mehr nach, führte bereits 2005 und
              zuletzt 2015 zum Misserfolg der Überprüfungskonfe-
              renz. Liefe New START noch vor der nächsten NVV-
              Überprüfungskonferenz aus, wäre diese mit großer
              Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt. Hinzu
              kommt, dass neue technologische Möglichkeiten
              entwickelt wurden, etwa in den Bereichen letale
              autonome Waffensysteme, Cyberkriegsführung und
              Militarisierung des Weltalls, und dass einige Systeme
              rechtlich bisher nicht erfasst wurden. Bei diesen
              handelt es sich um substrategische Nuklearwaffen,
              konventionelle Waffen mit strategischer Wirkung
              sowie see- und luftgestützte Mittelstreckenraketen.
              Aus diesen Gründen sind neue Ansätze in der Rüs-
              tungskontrolle dringlicher denn je, um zukünftige
              qualitative Rüstungswettläufe zu verhindern.

                   29 U.S. Department of State, »Briefing with Senior State
                   Department Official on the New START«, Special Briefing,
                   Washington, D.C., 9.3.2020, 
                   (Zugriff am 12.3.2020).

              SWP Berlin
              Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
              Juni 2020

              12
Bedrohungswahrnehmungen

Triebkräfte der russischen
Rüstungskontrollpolitik

Inwiefern außenpolitische Konzepte und Militär-                      zuloten. 32 Diese Absicht wurde aber von der politi-
doktrinen tatsächlich als Richtschnur für nuklear-                   schen Realität eingeholt, nachdem die US-Regierung
politische Planung fungieren, muss im Kontext der                    unter George W. Bush mit Planungen begonnen hatte,
strukturellen Triebkräfte der jeweiligen Rüstungs-                   Raketenabwehrsysteme auf Grundlage bilateraler
kontrollpolitik bewertet werden. Das ist umso wich-                  Absprachen in Polen und Tschechien zu stationie-
tiger, als der Zugang zum Analysegegenstand durch                    ren. 33 Im Jahr 2002 hatte Russland noch zurück-
militärpolitische Geheimhaltungsgrade und oft                        haltend auf den amerikanischen Ausstieg aus dem
intransparente Entscheidungsfindungsprozesse er-                     ABM-Vertrag reagiert, der eine umfassende territo-
schwert wird. Vor dem Hintergrund eines solchen                      riale Raketenabwehr verboten hatte. Nun jedoch
Informationsmangels muss letztlich politisch bewertet                begann Moskau, deutlich seinen Unmut über die
werden, inwieweit sich verschiedene technische                       amerikanischen Stationierungspläne zu äußern. 34
Vorschläge in der Rüstungskontrolle verwirklichen                    Eine »strategische« Raketenverteidigung war durch
lassen. Hier wird daher der Versuch unternommen,                     den ABM-Vertrag eng begrenzt worden, um die Zweit-
mit Hilfe einer Darstellung des Kontextes russischer                 schlagfähigkeit Russlands nicht zu unterminieren.
Diskurse zur Rüstungskontrolle die Handlungslogiken                  Diese sah Moskau durch den geplanten Aufbau einer
russischer Akteure nachvollziehbarer zu machen.                      US-amerikanischen Raketenabwehr in Europa nun
Hierfür werden zunächst wesentliche Triebkräfte                      bedroht. 35 Russland befürchtete, die USA könnten
russischer Außenpolitik identifiziert. Sie bilden den                ihre strategische Erstschlagoption stärken, da der stra-
Rahmen, der politische Gestaltungsräume kondi-                       tegische Gegenschlag durch eine erweiterte Raketen-
tioniert. 30                                                         verteidigung möglicherweise abgewehrt werden
                                                                     könnte. Statt eines solchen Systems, so Putins Vor-
                                                                     schlag, könne das Radarsystem in Gabala in Aserbaid-
Bedrohungswahrnehmungen                                              schan modernisiert und mit einem weiteren, geo-
                                                                     grafisch näher zu bestimmenden Radarsystem unter
Im Jahr 2007 hatte Präsident Putin vorgeschlagen,                    die Kontrolle des Nato-Russland-Rates gestellt und mit
Russland solle gemeinsam mit der Nato ein Raketen-
abwehrsystem errichten. 31 Damit stützte er sich auf
                                                                       32 Nato, Public Diplomacy Division, »Missile Defence Fact
Versuche der Nato seit 2002, ein Interoperabilitäts-
                                                                       Sheet«, Brüssel, 21.6.2011,  (Zugriff am 13.3.2020).
                                                                       33 Vladimir Dvorkin, »Threats Posed by the U.S. Missile
  30 Ein solcher analytischer Ansatz teilt Grundannahmen               Shield«, in: Russia in Global Affairs, 13.5.2007,  (Zugriff am 19.11.2019).
  Siehe Gearóid Ó Tuathail (Gerard Toal), Critical Geopolitics.        34 Katarzyna Kubiak, Raketenabwehr: Potentiale einer Koopera-
  The Politics of Writing Global Space, Minneapolis: University of     tion mit Russland, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik,
  Minnesota Press, 1996.                                               Juli 2017 (SWP-Studie 13/2017), S. 3,  (Zugriff am 15.11.2019).
  (online), 2.7.2007,  (Zugriff am                 Silos unter Umgehung von START I bzw. New START für
  13.3.2020).                                                          Angriffsraketen nutzen.

                                                                                                                       SWP Berlin
                                                                            Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                                                                                        Juni 2020

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Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik

              Frühwarnzentren in Moskau und Brüssel verbunden                               Russland drohte gar mit einem Ausstieg aus dem
              werden. So solle die Stationierung amerikanischer                          INF-Abkommen. 39 Dieser Streit konnte erst beigelegt
              Raketenabwehrsysteme in Europa obsolet werden. 36                          werden, nachdem der amerikanische Verzicht auf die
                 Präsident Medwedew schlug hierauf aufbauend                             Pläne einer Stationierung von Raketenabwehrsyste-
              vor, ein integriertes europäisches Abwehrsystem mit                        men in Polen und Tschechien mit einem Entgegen-
              einer gemeinsamen Kommandostruktur einzuführen.                            kommen Russlands in der Frage von Iransanktionen
              Außerdem könne, so eine weitere Idee, der euro-                            im VN-Sicherheitsrat verbunden wurde. Präsident
              atlantische Raum in zwei Sektoren aufgeteilt werden,                       Obama verwarf 2009 schließlich diesen Plan der Statio-
              für den dann jeweils die Nato und Russland zuständig                       nierung auf Basis bilateraler Abkommen und machte
              seien. Das hätte bedeutet, zwei nebeneinander ope-                         sich dafür stark, ein mehrstufiges see- und land-
              rierende Raketenabwehrsysteme unter einer gemein-                          gestütztes Raketenabwehrsystem für Europa zu ent-
              samen Koordination zu schaffen. Innerhalb der Nato                         wickeln. Dieser European Phased Adaptive Approach
              stieß dies auf keine Gegenliebe. 37 Die Ablehnung vor                      (EPAA) wurde auf dem Nato-Gipfel 2010 in Lissabon
              allem durch die osteuropäischen Nato-Partner rührte                        offiziell angenommen. 40 Auf dem Gipfel betonte die
              daher, dass nach Moskaus Vorstellung Osteuropas                            Allianz ihre Bereitschaft, gemeinsam mit Russland
              Territorium durch die russische Raketenabwehr ge-                          auszuloten, ob und inwieweit sich existierende und
              schützt werden sollte.                                                     geplante Raketenabwehrsysteme der Nato mit denen
                 Diese Vorschläge waren ein Versuch, die wahr-                           Russlands verknüpfen ließen. 41 Auch diese Entwick-
              genommene Bedrohung mit Angeboten einer Ko-                                lung aber konnte die russischen Befürchtungen nicht
              operation bei der Raketenabwehr zu reduzieren. Die                         entkräften, ein gegen russische Sicherheitsinteressen
              Glaubwürdigkeit solcher russischer Ansinnen litt                           gerichtetes Offensivprogramm könne künftig unter
              aber nicht zuletzt deshalb, weil Moskau Gegenmaß-                          dem Deckmantel eines Nato-Raketenabwehrsystems
              nahmen für den Fall in den Raum stellte, dass die US-                      vorangetrieben werden. Die Stationierung von Mk-41-
              Regierung die öffentlich geäußerten Bedenken nicht                         Startsystemen (Aegis ashore) in Rumänien (und geplant
              beachteten: So kündigte Präsident Dmitri Medwedew                          ab 2021 in Polen) stieß in Moskau daher auf deut-
              an, Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander in der                            lichen Widerspruch.
              Oblast Kaliningrad zu stationieren. Dies war möglich,                         Nach dem Ende des INF-Vertrags gibt es keine
              da Nuklearwaffen substrategischer Reichweite (also                         rechtliche Beschränkung mehr, welche die Stationie-
              unter 500 Kilometer) im INF-Vertrag nicht berücksich-                      rung von bodengestützten ballistischen Raketen und
              tigt waren. 38                                                             Marschflugkörpern mit Reichweiten zwischen 500
                                                                                         und 5 500 Kilometern unterbinden könnte. Dass der
                                                                                         Vertrag ausgelaufen ist, birgt damit Konfliktpotential
                                                                                         über die US-russischen Rüstungskontrollkanäle hin-
                                                                                         aus, denn es hat die Frage neu aufgeworfen, ob der
                                                                                         Nato-Doppelbeschluss von 1979 reversibel ist. Eine
                   36 Einige russische Experten allerdings bezweifeln die offi-          massive Stationierung russischer Mittelstreckensyste-
                   zielle Darstellung, dass US-amerikanische Raketenabwehr-
                                                                                         me in Europa hätte Auswirkungen auf den Nato-
                   pläne in Osteuropa die größte Gefährdung für die russische
                   Zweitschlagkapazität darstellen. Siehe Alexey Arbatov/Vladi-
                   mir Dvorkin, The Great Strategic Triangle, Moskau: Carnegie             39 Michael Paul/Oliver Thränert, Nukleare Abrüstung und
                   Moscow Center, 1.4.2013 (The Carnegie Papers),               lungen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2009
                   (Zugriff am 3.2.2020).                                                  (SWP-Studie 9/2009), S. 8; .
                   Perspektiven, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung,              40 Nato, »Gipfelerklärung von Lissabon«, Brüssel: Ständige
                   2012, S. 44.                                                            Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nato,
                   38 Die Iskander ist sowohl konventionell als auch nuklear               1.12.2010, Absatz 37,  (Zugriff am
                   Über die Presidential Nuclear Initiatives einigten Russland und         13.12.2019).
                   die USA sich dennoch darauf, zwischen 1991 und 1994 die                 41 Ebd. In Absatz 38 der Gipfelerklärung wurde die Ergän-
                   Zahl taktischer Nuklearwaffen ohne formalen Vertrag zu                  zung »zum geeigneten Zeitpunkt und zum beiderseitigen
                   reduzieren.                                                             Nutzen« hinzugefügt.

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              14
Rüstungstechnologische und institutionelle Pfadabhängigkeiten

Konsens, keine neuen landgestützten nuklearen Mittel-                 sache, dass den Nuklearwaffen in Russlands Verteidi-
streckenraketen in Europa dislozieren zu wollen. 42                   gungsplanung bis 2025, dem auf zehn Jahre angeleg-
Damit ist nun eine neue Situation der Unsicherheit                    ten staatlichen Rüstungsprogramm (Gosprogramm
geschaffen, denn einer Abschreckungslogik folgend                     wooruschenii, GPV), weiterhin hohe Priorität ein-
dienen russische taktische Nuklearwaffen nun erst                     geräumt wird und Russland sein Kernwaffenarsenal
recht als Instrument, um strategische Stabilität in                   aus Sowjetzeiten derzeit umfassend modernisiert. 46
einer Welt nach dem INF-Vertrag herzustellen.                         Dies erfasst die gesamte nukleare Triade, aber vor
   Russische Offizielle rechtfertigen die Entwicklung                 allem die strategischen Raketenkräfte (RVSN) und
neuer substrategischer Nuklearwaffen darüber hinaus                   nukleare Marinefähigkeiten: Neben einer umfassen-
mit dem US-amerikanischen Prompt-Global-Strike-                       den Modernisierung konventioneller technischer
System, da es mit seiner Fähigkeit zu schnellen kon-                  Ausrüstung werden die strategischen Raketentruppen
ventionellen Schlägen globaler Reichweite die russi-                  mit dem neuen Awangard- und dem Yars-System aus-
sche Zweitschlagfähigkeit in Frage stelle. 43 Hinzu                   gestattet, die Marine mit nukleargetriebenen U-Booten
kommt die quantitative Überlegenheit US-amerikani-                    der Borei-A-Klasse sowie Bulava-Interkontinental-
scher Flugzeugträger und Marschflugkörper sowie                       raketen. 47 Nicht nur werden veraltete Systeme moder-
die Entwicklung letaler autonomer Waffensysteme                       nisiert, die russische Rüstungsindustrie entwickelt
und von Raketenabwehrsystemen im Weltall. 44 Die                      auch neue wie die Sarmat-Interkontinentalrakete,
entstehende Asymmetrie wird als Ungleichgewicht                       die ab 2021 das ältere SS-18-Modell ersetzen soll, 48
interpretiert und erklärt Russlands Streben, eine                     und den Hyperschall-Gleitflugkörper Awangard, der
»strategische Balance« zwischen den beiden Ländern                    sowohl konventionelle als auch nukleare Spreng-
aufrechtzuerhalten. Es durchdringt den russischen                     köpfe tragen kann.
außenpolitischen Diskurs und ist eine wesentliche                        Awangard wie auch Sarmat wurden von Präsident
Triebkraft der Nuklearwaffenpolitik Russlands, die                    Putin am 1. März 2018 bei seiner Rede vor der Föderal-
als Garant für dessen Ebenbürtigkeit mit den USA                      versammlung vorgestellt und als »Garant für die
gesehen wird.                                                         Sicherheit Russlands auf mehrere Jahrzehnte hinaus«
                                                                      gepriesen. 49 Im Dezember 2019 verkündete Verteidi-
                                                                      gungsminister Sergei Schoigu, dass die Awangard in
Rüstungstechnologische und                                            der Oblast Orenburg in Betrieb genommen worden
institutionelle Pfadabhängigkeiten                                    sei. Awangard und Sarmat sowie das neue nuklear-
                                                                      getriebene U-Boot der Borei-A-Klasse und eine Neu-
Es ist davon auszugehen, dass die für 2020 erwartete
neue russische Militärdoktrin ein verändertes Streit-                   doctrine-in-2020-what-it-might-contain-and-why-it-matters/>
kräftedispositiv berücksichtigen, dass aber die Rolle                   (Zugriff am 19.12.2019).
von Nuklearwaffen sich konzeptionell nicht wesent-                      46 Dmitry Gorenburg, Russia’s Military Modernization Plans:
lich wandeln wird. 45 Dafür spricht schon die Tat-                      2018–2027, Washington, D.C.: PONARS Eurasia (Policy Memo
                                                                        Nr. 495), November 2017, 
  42 Andrej Zagorskij, »Le roi est mort, vive le roi?                   (Zugriff am 3.2.2020); Pavel Baev, »The Russian Military:
  Die Zukunft der Rüstungskontrolle nach dem INF-Aus«, in:              Under-reformed and Over-stretched Instrument of Choice«,
  Osteuropa, 69 (2019) 1–2, S. 79–87; Claudia Major, Die Rolle          in: Stefan Meister (Hg.), Between Old and New World Order:
  der Nato für Europas Verteidigung. Stand und Optionen zur Weiter-     Russia’s Foreign and Security Policy Rationale, Berlin: Deutsche
  entwicklung aus deutscher Perspektive, Berlin: Stiftung Wissen-       Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), September 2018
  schaft und Politik, November 2019 (SWP-Studie 25/2019),               (DGAP Kompakt Nr. 19), S. 14–16.
  S. 13f, .                            47 »Kakuju techniku polučit armija Rossii v 2020 godu«
  43 Autorengespräche, Moskau, November 2019, Februar                   [Welche Technik die russische Armee 2020 erhält], TASS
  2020.                                                                 (online), 14.1.2020, 
  44 Siehe hierzu »Dekret 355«, Absatz 12 [wie Fn. 22] für              (Zugriff am 4.2.2020).
  eine offizielle Auflistung von »Gefahren«, gegen die sich             48 Hans M. Kristensen/Matt Korda, »Russian Nuclear Forces,
  Russlands nukleare Abschreckung richtet.                              2019«, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 75 (2019) 2, S. 73–84
  45 Dara Massicot, »Anticipating a New Russian Military                (77).
  Doctrine in 2020: What It Might Contain and Why It Mat-               49 President of Russia, »Presidental Address to the Federal
  ters«, War on the Rocks (online), 9.9.2019,
Triebkräfte der russischen Rüstungskontrollpolitik

              auflage des Tu-160M2-Schwerbombers könnten 2021                       und den Sicherheitsorganen, was die Einfluss-
              in die Massenproduktion gehen und anschließend                        möglichkeiten militärisch-industrieller Partikular-
              den Streitkräften zur Verfügung gestellt werden. Über                 interessen steigert. 55
              diese strategischen Waffen hinaus entwickelt das
              russische Militär substrategische Kernwaffen wie den
              nukleargetriebenen Marschflugkörper Burewestnik                         Russlands neue Nuklearwaffen,
              und den ebenfalls nukleargetriebenen Langstrecken-                      vorgestellt im März 2018a
              torpedo Poseidon. 50                                                    Awangard: Hyperschallgleitflugkörper, der auf eine SS-
                 In Teilen mag sich diese Tendenz mit einer gewis-                    19-Interkontinentalrakete montiert werden kann, selbst
              sen Pfadabhängigkeit der Verteidigungs- und Rüs-                        aber keiner ballistischen Flugbahn nach Wiedereintritt in
              tungsbeschaffungsindustrie erklären lassen. Dort mag                    die Atmosphäre folgt und dadurch vermutlich Raketen-
              die Produktion eher auf der Grundlage materieller                       abwehrsysteme umgehen kann. Fällt laut russischen An-
              Fähigkeiten gerechtfertigt statt mit strategischen Ziel-                gaben unter New-START-Klassifizierung als strategisches
              setzungen begründet werden. 51 2018 belief sich der                     Offensivsystem. Wurde im Dezember 2019 in Dienst
              russische Verteidigungshaushalt laut Angaben des                        gestellt.
                                                                                      Sarmat (SS-29, RS-28): Interkontinentalrakete, welche die
              Stockholm International Peace Research Institute
                                                                                      SS-18 ersetzen und 2021 in Dienst gestellt werden soll.
              (SIPRI) auf 61,4 Milliarden US-Dollar. 52 Allerdings
                                                                                      Flugtests sollen 2020 beginnen. Fällt laut russischen
              ergeben sich aus Rechenmethoden auf der Basis von
                                                                                      Angaben unter New-START-Klassifizierung als strategi-
              Kaufkraftparität weitaus höhere Schätzungen von                         sches Offensivsystem.
              etwa 150 Milliarden US-Dollar. 53 Operative Aspekte                     Burewestnik (SSC-X-9 Skyfall, 9M730): Nukleargetriebe-
              der Instandhaltung und Modernisierung nuklearer                         ner Marschflugkörper, der seit 2016 getestet wird, mit bis-
              Sprengköpfe obliegen dem 12. Hauptdirektorat des                        her mangelhaften Ergebnissen. Ein gescheiterter Test im
              russischen Verteidigungsministeriums, das mit                           August 2019 führte vermutlich zu einer Explosion und
              Betreiberfirmen kooperiert und für die Planung der                      dem Tod von fünf Wissenschaftlern und zwei Soldaten
              Bedarfe verantwortlich zeichnet. 54 Hier mögen kom-                     bei Nenoksa in Nordwestrussland.
              merzielle Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Zudem                      Kinshal (Kh-47M2): Luftgestützte Langstreckenrakete mit
              bestehen Überschneidungen zwischen Vorständen                           einer angegebenen Reichweite von 2 000 bis 3 000 Kilo-
                                                                                      metern. Vermutlich im südlichen Militärdistrikt seit
              von Rüstungskonzernen, der Präsidialadministration
                                                                                      Dezember 2017 getestet, während einer Flugschau im
                                                                                      August 2019 das erste Mal öffentlich zur Schau gestellt.
                   50 Würde Burewestnik von schweren Bombern aus gestar-              Poseidon (Status-6): Nukleargetriebener Langstrecken-
                   tet, fiele er unter die New-START-Zählregeln, die allerdings       torpedo, der aus großer Tiefe (1 000 Meter) zum Angriff
                   nur einen Sprengkörper pro Bomber anrechnen.                       auf Hafenstädte und Küstengebiete eingesetzt werden
                   51 Pavel Podvig/Nikolai Sokov, »Russian Nuclear Strategy«,         könnte. Noch in der Entwicklungsphase, Testphase könn-
                   Vortrag beim Center for Strategic and International Studies,       te 2020 beginnen, Mehrwert und Produktionszweck
                   Washington, D.C., 27.6.2016,  (Zugriff am 3.2.2020); Kristensen/
                   Korda, »Russian Nuclear Forces, 2019« [wie Fn. 48], S. 75.            a Kristensen/Korda, »Russian Nuclear Forces, 2019«
                   52 Stockholm International Peace Research Institute,                  [wie Fn. 48].
                   »World Military Expenditure Grows to $1.8 Trillion in 2018«,
                   Stockholm, 29.4.2019,  (Zugriff am 26.2.2020).
                                                                                    des Präsidenten und der ihm zur Verfügung stehen-
                   53 Michael Kofman/Richard Connolly, »Why Russian Mili-
                   tary Expenditure Is Much Higher than Commonly Under-
                                                                                    den Präsidialadministration. Die Vorstellung, Außen-
                   stood (As Is China’s)«, War on the Rocks (online), 16.12.2019,   politik sei das Ergebnis von Aushandlungsprozessen
                    (Zugriff am 26.2.2020).
                   54 Franz-Stefan Gady, »Interview: Dmitry Stefanovich               55 Una Hakvåg, »Russian Defense Spending after 2010.
                   on Russia’s Nuclear Forces and Doctrine«, in: The Diplomat         The Interplay of Personal, Domestic, and Foreign Policy
                   (online), 6.11.2019,  (Zugriff am 11.3.2020).                                 zational Process Model”, in: Oxford Research Encyclopedia of

              SWP Berlin
              Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
              Juni 2020

              16
Rüstungstechnologische und institutionelle Pfadabhängigkeiten

Neue Varianz im innerrussischen Diskurs

Über die Zukunft nuklearer Rüstungskontrolle ist neben den             auch Andrei Kortunow, Direktor des Russian International
Positionierungen der höchsten politischen Ebene ein Richtungs-         Affairs Council. Die Welt stehe an der Schwelle eines sehr
streit in der innerrussischen Expertencommunity entbrannt.             langen Prozesses der Entwicklung neuer Ansätze in der Rüs-
   »Traditionalisten« wie die langjährigen Rüstungskontroll-           tungskontrolle, die nichtnukleare strategische Offensivwaffen
                                                                                          f
experten Alexei Arbatow und Sergei Rogow befürworten es,               mitdenken müsse.
bestehende Rüstungskontrollverträge zu bewahren. Sie argu-                Skeptiker gegenüber der Rüstungskontrolle finden sich
mentieren, aus Gründen der strategischen Stabilität müsse              vor allem im russischen Verteidigungsministerium. Doch auch
Russland alles daransetzen, den New-START-Vertrag zu ver-              einige staatsnahe Akademiker vertreten die Auffassung, nukle-
                          a
längern und zu erhalten.                                               are Rüstungskontrolle mit intrusiven Vor-Ort-Inspektionen,
   Arbatow, ehemaliger Delegationsteilnehmer bei den START-            Verifikationsregimen und vertraglichen Abrüstungsbestimmun-
Verhandlungen, hält es für möglich, China in zukünftige tri-           gen gefährde die russische Sicherheit eher, statt sie zu fördern.
laterale Rüstungskontrollverträge einzubeziehen. Allerdings
                                                                          a Sergey Rogov, »Can the U.S. and Russia Find a Path
müsse die russisch-amerikanische Rüstungskontrolle als Grund-
                                                                          Forward on Arms Control?«, in: Foreign Affairs (online),
lage fortgeschrieben werden. Erst dann sei ein neues Vertrags-
                                                                          22.5.2018,  (Zugriff am 24.2.2020); Alexey Arbatov,
systemen erlaube (»integrierter INF-START-Vertrag«). Rogow
                                                                          A New Era of Arms Control: Myths, Realities and Options, Moskau:
schlägt vor, China könne neben der US-russischen Rüstungs-
                                                                          Carnegie Moscow Center, 24.10.2019.
kontrollebene parallele nukleare Rüstungskontrollverträge
mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich aushandeln.                 b Arbatov, »Trilateral Nuclear Arms Control« [wie Fn. 8],
Dies soll bestehende Asymmetrien in den Nukleardispositiven               S. 58–61.
                 c
widerspiegeln.
                                                                          c Sergei Rogov im Interview mit Jurij Solomonov, »›Holod-
   Sergei Karaganow und Dmitri Suslow vertreten dem gegen-
                                                                          naja vojna 2.0‹ uzhe idet« [Der Kalte Krieg 2.0 ist bereits im
über eine »revisionistische« Sichtweise: Die bestehende Rüs-
                                                                          Gange], in: Nesavissimaja Gaseta (online), 21.10.2019, 
hingen einer überholten Rüstungskontrolllogik der 1960er
         d                                                                (Zugriff am 10.3.2020).
Jahre an. In ihrem Bericht vom September 2019 fordern Kara-
ganow und Suslow daher einen neuen Ansatz, eine »multi-                   d Autoreninterview mit Dmitri Suslow, Moskau, 13.2.2020.
laterale strategische Stabilität«. Diese schlösse neue techno-
                                                                          e Sergei Karaganov/Dmitrii Suslov, »Novoe ponimanie i
logische Fähigkeiten in nichtnuklearen Bereichen der Kriegs-
                                                                          puti ukreplenija mnogostoronnej strategičeskoj stabil’nosti«
führung ein, besonders kosmische Raketenabwehr, Laser-
                                                                          [Neues Verständnis und Möglichkeiten zur Stärkung der
und Cyberwaffen, und berücksichtige nukleare Drittstaaten,
                                                                          multilateralen strategischen Stabilität], Moskau: Council for
vor allem China. Weiter argumentieren sie, die Inbetriebnahme
                                                                          Foreign and Defence Policy (SVOP), September 2019, 
rüsten nicht teilnehmen und keine Mittel zum Erhalt einer
                                                                          (Zugriff am 26.2.2020); siehe auch die Kurzversion »Sderži-
quantitativen Parität mit den USA mehr bereitstellen zu
        e                                                                 vanie v novuju epochu« [Abschreckung in einer neuen
müssen. Der Bericht stieß auf ein breites internationales Echo,
                                                                          Epoche], in: Russia in Global Affairs (online), 12.9.2019,
auch da er mit Unterstützung des russischen Außenministe-
                                                                           (Zugriff am 5.12.2019).
der russischen Staatsduma veröffentlicht wurde.
   Die wirklich wichtigen Fragen seien nicht mehr jene der                f Autoreninterview mit Andrei Kortunow, Moskau,
Raketenträgertechnologie und der numerischen Parität, betont              12.2.2020.

Kontext durch stark zentralisierte und personalisierte                 kann dabei nicht über die Tatsache hinwegtäuschen,
Entscheidungsprozesse relativiert. 57 Das formelle                     dass strategische Entscheidungen von einer kleinen
institutionelle Gefüge der Russischen Föderation                       Elite in der Präsidialadministration getroffen werden,
                                                                       nicht im Außenministerium. Leitende Konzepte und
                                                                       Strategien, welche die nationale Sicherheit betreffen,
   International Studies (2010), .
                                                                       auch Außenminister Lawrow und Verteidigungs-
   57 Alexander Graef, »Wer macht Außenpolitik in Russ-
                                                                       minister Schoigu sitzen, dessen Apparat aber den
   land? Akteure, Diskurse, Entscheidungen«, in: Zeitschrift für
   Außen- und Sicherheitspolitik, 10 (2017) 1, S. 1–11.
                                                                       Status eines Direktorats in der Präsidialadministration

                                                                                                                          SWP Berlin
                                                                               Russland und die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle
                                                                                                                           Juni 2020

                                                                                                                                         17
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