CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 2016 - Zürich, Juni 2016 - ETH Zürich
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CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Zürich, Juni 2016 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich
© 2016 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich Leitung: Oliver Thränert Autoren: Matthias Bieri, Jannicke Fiskvik, Christian Nünlist, Oliver Thränert, Martin Zapfe, Benno Zogg Layout/Infografik: Miriam Dahinden-Ganzoni Center for Security Studies (CSS) ETH Zurich Haldeneggsteig 4, IFW 8092 Zürich Tel.: +41-44-632 40 25 www.css.ethz.ch
Inhaltsverzeichnis Einleitung 4 1. Paradigmenwechsel in Europa – die Rückkehr des Krieges 4 2. Die NATO zwischen Kabul und Krim: Osterweiterung und der Georgienkrieg 6 3. Die NATO zwischen Krim und Wales 7 4. Die NATO zwischen Wales und Warschau 10 5. Annäherung Schwedens und Finnlands an die NATO 20 Ausblick auf Warschau 22
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Einleitung dann untersucht, wie sich die Allianz zwischen «Wales und Warschau», den beiden wohl bedeutendsten Gipfeln Die russische Annexion der Krim hat die NATO gleichsam der jüngeren Geschichte des Bündnisses, militärisch auf über Nacht vor neue, überwunden geglaubte Herausfor- ein zunehmend revanchistisches Russland unter Präsi- derungen gestellt und ihr alten Aufgaben wieder in den dent Wladimir Putin eingestellt hat. Zuletzt wird im fünf- Vordergrund gerückt. Seit 2001 hatte der Einsatz der ISAF- ten Kapitel auf die Rolle der aktiven NATO-Partner Schwe- Mission in Afghanistan, deren Kommando die NATO 2003 den und Finnland eingegangen, die für die NATO in vielen übernahm, die westliche Militärallianz geprägt. Seit März Szenarien von entscheidender Bedeutung wären, aber 2014 gilt die Aufmerksamkeit der NATO nun wieder ver- auch selber direkt von einem immer offensiver auftreten- mehrt ihrer östlichen Bündnisgrenze und der Herausfor- den Russland betroffen sind. derung durch ein zunehmend offen revanchistisches Die NATO steht vor grossen Herausforderungen, Russland und einem möglichen «Krim-Szenario» im Balti- und das nicht nur im Osten. Auch und gerade die südliche kum. Kollektive Verteidigung gemäss Artikel 5 ist für die «Flanke» – die durch die Migrationskrise und den Bürger- NATO wieder zentral geworden. Nach einem Vierteljahr- und Stellvertreterkriegen im Irak und in Syrien sowie die hundert ohne wirklich reale Verteidigungsplanung muss Instabilität in Libyen im Fokus der Allianz steht – beunru- das Bündnis nun wieder Antworten auf Herausforderun- higt die militärischen und politischen Planer in Brüssel gen finden, die ihm aus seiner Geschichte wohl bekannt und in den Mitgliedstaaten. Diesen Hintergrund vollstän- sind – dies aber zu einer Zeit, in der es an sicherheitspoli- dig auszublenden ist nicht möglich und würde auch jede tischen Herausforderungen insgesamt nicht mangelt Analyse verzerren. Gleichwohl wird sich diese Studie le- und in der auch innerhalb des Bündnisses kein Konsens diglich der «Ostflanke» des Bündnisses widmen; denn besteht, ob und wie man sich Russland gegenüber auf- nur hier scheint ein Konflikt zu entstehen, der den Zu- stellen soll. Wenige Wochen vor dem Gipfel von Warschau sammenhalt des Bündnisses, und damit letztlich seine im Juli 2016 steht die NATO somit vor schwierigen Ent- Existenz, ernsthaft zu gefährden vermag. scheidungen. Diese Studie sucht folgende Kernfragen zu beant- worten: Wie hat die NATO seit 2014 ihre Verteidigungs- planung gegenüber Russland auf die veränderte Bedro- hungslage angepasst? Welche Logik liegt diesen 1. Paradigmenwechsel in Schritten zugrunde, und wo ergeben sich politisch-mili- tärische Probleme? Im Zentrum stehen dabei die militäri- Europa – Die Rückkehr schen und institutionellen Reformen seit dem Gipfel von des Krieges Wales im September 2014. Diese werden vor dem Hinter- grund der wahrscheinlichen Bedrohungsszenarien mit Die russische Annexion der ukrainischen Krim-Halbinsel Blick auf Russland eingeordnet und bewertet. Insgesamt im März 2014 sowie die – zunächst offiziell abgestrittene kommt diese Studie zu dem Schluss, dass die militärische – russische Militärintervention in der Ostukraine ab Juli Reaktion der NATO einen Kompromiss darstellt zwischen 2014 markierten eine wichtige Zäsur in der europäischen der Notwendigkeit, militärische Einsatzbereitschaft zu Sicherheitspolitik. Die NATO plant wieder explizit die Ver- demonstrieren, und dem Wunsch, eine Eskalationsspirale teidigung gegenüber Russland und für Szenarien der ter- zu verhindern. Noch greifen die meisten Massnahmen ritorialen Bündnisverteidigung. deutlich zu kurz, um Sicherheit gegen Russland zu ge- Alarmistische Kommentatoren sehen Europa be- währleisten; gleichwohl hat das Ausmass der in Wales reits in einem neuen Grosskonflikt. Doch Europa steht vereinbarten und dann implementierten Massnahmen nicht vor einem «neuen Kalten Krieg». Der Kalte Krieg viele Beobachter überrascht. Ob dies auch für den Gipfel war eine globale Konfrontation zwischen zwei ideolo- in Warschau gelten wird, ist derzeit noch offen. gisch antagonistischen Mächten, nämlich der kommu- Im ersten Kapitel wird eingangs gezeigt, warum nistischen Sowjetunion und dem demokratischen Wes- die geostrategische Zäsur von 2014 in der Tat eine Was- ten. Das heutige autoritäre Russland ist nicht von einem serscheide für die europäische Sicherheit im Allgemeinen globalen Sendungsbewusstsein getrieben. Die marxis- und das Bündnis im Speziellen darstellt. Im zweiten Kapi- tisch-leninistische Ideologie erfährt keine Wiederaufer- tel wird kurz die erste Dekade dieses Jahrhundert be- stehung, wohl aber definiert sich Russland ostentativ als trachtet und die Allianz im Spannungsfeld von Afghanis- anti-westliche Macht, welche die als dekadent angesehe- tankrieg und einem wieder «erwachenden» Russland nen westlichen Werte weitgehend ablehnt. Russland ist dargestellt. Im dritten und vierten Kapitel folgt zuerst bedeutend schwächer als die UdSSR, es ist keine Bündnis- eine Analyse der unmittelbaren Folgen der Krim-Annexi- führungsmacht mehr und kann nicht global handeln. Der on für die Bedrohungsperzeption der NATO, und ihre ers- Personalbestand der russischen Streitkräfte beträgt nur ten Reaktionen auf diese neue Situation. Im Kern wird noch ein Fünftel desjenigen der Sowjetarmee. Das russi- 4
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 sche Bruttoinlandprodukt (2014: 1,9 Billionen Dollar) ist NATO-Beitritt Polens, Ungarns und Tschechiens sowie kleiner als dasjenige Italiens (2,1 Billionen Dollar).1 Der auch der baltischen Staaten hin. Spätere Vergleiche mit Westen und Russland haben zudem trotz der Ukraine- «Versailles» nach dem Ersten Weltkrieg,3 wonach der Krise viele gemeinsame Interessen und kooperieren bei Westen die momentane Schwäche Russlands in den der Bewältigung von Herausforderungen, wie zum Bei- 1990er-Jahren ausgenutzt habe, entbehren einer gründli- spiel in den E-3/EU+3 Verhandlungen zum iranischen chen Analyse des Prozesses der NATO-Erweiterung. Sol- Atomprogramm. che Propaganda-Narrative sind mehr Mythos als fakten- Dessen ungeachtet bedeuteten die Ereignisse von basierte Interpretation.4 2014 eine Zeitenwende für die europäische Sicherheitspo- Die mit der unilateralen Unabhängigkeitserklä- litik und damit für die militärische und militärpolitische rung 2008 vollzogene Abspaltung des Kosovo von Serbi- Planung des Westens. Für diese Einschätzung ist zualler- en erscheint im Rückblick als Spezialfall einer einseitig erst ein Blick auf die Grundlagen der europäischen Frie- erzwungenen Grenzverschiebung in Europa nach 1990. densordnung zwischen 1990 und 2014 von Bedeutung. Aber «Kosovo 2008» kann nicht als Präzedenzfall für Nach dem Annus mirabilis mit dem Mauerfall 1989 «Krim 2014» dienen. Kosovos Unabhängigkeitserklärung markierte die Charta von Paris im Dezember 1990 den Be- war einerseits eine jahrelange Missachtung fundamen- ginn eines neuen Zeitalters in Europa. Der Kalte Krieg war talster Menschenrechte von Kosovaren vorangegangen. (weitestgehend) friedlich zu Ende gegangen. Die NATO Andererseits wurde zwischen 1999 und 2008 in einem und Russland sahen sich nach 1990 als sicherheitspoliti- Verhandlungsprozess versucht, eine für beide Seiten ak- sche Partner und nicht länger als Feinde. Die NATO ver- zeptable Lösung des Kosovo-Problems zu finden. Beide schob entsprechend in den 1990er-Jahren ihren Schwer- Faktoren, also die Gefahr eines Völkermords an der rus- punkt von der Verteidigung Westeuropas zu einem sischsprachigen Minderheit auf der Krim und ein erfolg- politischen Bündnis. Im Rahmen der NATO-Erweiterung loser langjähriger internationaler Vermittlungsprozess garantierte das Bündnis Stabilität und Frieden in neuen für eine mögliche Sezession der Krim, waren im März Beitrittsländern und baute gleichzeitig kooperative Be- 2014 nicht gegeben. Dennoch intervenierte Russland mi- ziehungen mit Russland und anderen ehemaligen Sow- litärisch und schloss die Krim Hals über Kopf an Russland jetrepubliken auf. Die Charta von Paris von 1990 definier- an, mit einem äusserst fragwürdigen Referendum auf der te einen gesamteuropäischen Friedensraum als Vision Krim kurz nach der Annexion als Pseudo-Legitimation.5 – die Formel «von Vancouver bis Wladiwostok» verwies Die Verteidigung des NATO-Territoriums war für dabei darauf, dass die USA und Kanada darin als Friedens- das Bündnis in den Jahren zwischen 1990 bis 2014 nur und Stabilitätsgarant eingebunden blieben und Russland von untergeordneter Bedeutung gewesen. Die NATO kon- als Sicherheitspartner betrachtet wurde. Frieden in Euro- zentrierte ihre militärischen Planungen in dieser Zeit auf pa, so das Leitmotiv der 1990er-Jahre, war nur mit Russ- «Out-of-area»-Missionen, zunächst in unmittelbarer land möglich und nicht länger gegen Russland.2 Nachbarschaft auf dem Balkan, dann global unter ande- Bereits die KSZE-Schlussakte von 1975 hatte fun- rem in Afghanistan, Libyen und am Horn von Afrika. Die damentale gemeinsame Prinzipien für das europäische USA gingen auch nach dem Georgien-Krieg von 2008 da- Sicherheitssystem definiert, darunter das Verbot, territo- von aus, dass Russland keine militärische Gefahr für den riale Grenzen mit Gewalt zu ändern, sowie das Recht auf Westen darstellte. Die Obama-Regierung sah die ameri- freie Bündniswahl. Diese Prinzipien ermöglichten 1990 kanische Stabilisierungsaufgabe in Europa als erfüllt an sowohl die Wiedervereinigung Deutschlands – eine und verkündete 2011 den geostrategischen Schwenk der Grenzaufhebung auf friedlichem Weg und unter Zustim- amerikanischen Aussen- und Sicherheitspolitik nach Asi- mung der vier Mächte – als auch die NATO-Mitglied- en. Die USA würden ihr Hauptaugenmerk auf die strate- schaft des gesamten Deutschlands, faktisch die erste gische Rivalität mit China und den Krisenherd des Süd- NATO-Osterweiterung durch Einbezug des Territoriums chinesischen Meeres richten. Europa würde künftig der ehemaligen DDR. Dies erfolgte jedoch unter be- stärker in der Verantwortung sein, auf strategische Her- stimmten Bedingungen wie des Verzichts der dauerhaf- ausforderungen an seiner Ost- und Südperipherie zu re- ten Stationierung ausländischer Truppen und Kernwaf- agieren, und die USA damit entlasten. Interessanterweise fen auf diesem Gebiet. Der Westen ging das NATO-Osterweiterungspro- 3 Patrick Nopens, «Beyond Russia’s Versailles Syndrome», in: Egmont Securi- jekt grundsätzlich in einem partnerschaftlichen Geist mit ty Policy Brief, Nr. 58 (2014). Russland an. Moskau nahm, wenn auch widerwillig, den 4 Anne Applebaum, «The Myth of Russian Humiliation», in: Washington Post (17.10.2014). Die Rücksichtnahme des Westens auf russische Befind- lichkeiten in den 1990er-Jahren war eindrücklich: Ein erstes Beitrittsge- such zur NATO von Polen war 1992 abgewiesen worden; Russland wurde 1 Internationaler Währungsfonds, IMF Data, http://www.imf.org/en/Data. der sowjetische UNO-Sicherheitsratssitz zugesprochen und zum exklusi- 2 Vgl. Christian Nünlist / Oliver Thränert, «Putins Russland und Europä- ven Club der G8 eingeladen. Im Gleichtakt mit der NATO-Osterweiterung ische Sicherheit», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 172 (2015); wurde Russland als strategischer Partner der NATO behandelt. Kari Möttölä, «The OSCE at 40: Looking at the Abyss of a Fault-line», in: 5 Christian Weisflog, «Warum die Krim nicht Kosovo ist», in: Neue Zürcher Security and Human Rights 25, Nr. 2 (2014), 161 – 167. Zeitung (18.11.2014). 5
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 hielten die USA an dieser strategischen Stossrichtung Fall der baltischen Staaten von 2004 bis 2008 nicht gege- nach Asien auch in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie ben. Immerhin patrouillierten NATO-Verbündete solida- von 2015 fest – also auch nach der russischen Annexion risch ab 2004 abwechselnd den Luftraum über den balti- der Krim.6 schen Staaten, die selbst über keine Kampfflugzeuge Während des Libyen-Krieges 2011 übernahmen eu- verfügen.8 Solange eine russische Bedrohung nicht akut ropäische Regierungen in der Tat erstmals mehr Verant- war, war diese abnormale Situation aber kein Thema für wortung als bisher. Die USA führten nur noch aus dem die NATO. Die USA und Deutschland sorgten dafür, dass Hintergrund. Allerdings leisteten sie immer noch ent- die NATO keine Analyse einer möglichen militärischen scheidende militärische Beiträge, ohne die der Luftkrieg Bedrohung Russlands erstellte.9 gegen Gaddafi nicht erfolgreich hätte geführt werden Dies änderte sich erst nach den russischen Cyber- können. Die Ambitionen einer eigenständigen europäi- angriffen auf Estland (2007) und dem Georgien-Krieg schen Verteidigungspolitik, die gewisse militärische Auf- (2008). Nun verstärkten sich in Polen sowie im Baltikum gaben an ihrer Peripherie im Sinne einer Lastenteilung die Sorgen um die Verteidigung im Falle einer russischen auch ohne die USA durchführen könnte, litten zudem an Aggression. Litauen wünschte von den USA Ende 2008 in der existenziellen Krise der EU im Sog der Wirtschaftskri- mehreren «non-papers» eine permanente Stationierung se ab 2008.7 von US-Kampftruppen auf dem Territorium aller drei bal- Nur die exponierten neuen NATO-Mitglieder in tischer Staaten, eine Verstärkung der Luftverteidigung Ost- und Mitteleuropa und im Baltikum warnten bereits und Panzerabwehrlenkwaffen, einen Ausbau der Küsten- früh vor einer revisionistischen russischen Sicherheitspo- verteidigung und das Abhalten von bilateralen Militär- litik und forderten – nach 2008 noch nachdrücklicher – übungen mit den baltischen Staaten. Von der NATO ver- eine Refokussierung der Militärplanung der NATO auf die langte Litauen überdies die Ausarbeitung von Bündnisverteidigung und eine mögliche militärische Be- Eventualplänen zur Erfüllung der Artikel-5-Pflichten ge- drohung durch Russland. genüber den baltischen Staaten.10 Weder Deutschland noch die USA wollten jedoch die Beziehungen zu Russ- land gefährden. Im Gegenteil, die neue Obama-Regie- rung begann im Februar 2009 ihre «Reset»-Politik, mit dem Ziel, die Beziehungen zu Moskau zu verbessern. 2. Die NATO zwischen Polen und die baltischen Staaten blieben besorgt Kabul und Krim: über eine längerfristige Bedrohung durch Russland. Der politische Druck, NATO-Planungen für die Verteidigung Osterweiterung und des Baltikums zu entwickeln, verstärkte sich durch die der Georgienkrieg russische Militärübung «Zapad 2009» (Russisch für «Westen 2009»). Sie simulierte grossangelegte Angriffe auf die baltischen Staaten und präventive Nuklearschlä- Strategische Differenzen über die künftige Ausrichtung ge gegen Polen. Im Oktober 2009 gaben US-Präsident Ba- der NATO hatten das Bündnis bereits seit 2003 im Zuge rack Obama und Aussenministerin Hillary Clinton ihr der Kriege im Irak und in Afghanistan belastet. Die Ost- grünes Licht für einen deutschen Vorschlag, wonach der und Mitteleuropäer und Balten forderten konsequent, Verteidigungsplan für Polen («Eagle Guardian») auf die aber erfolglos, die Allianz dürfe die Verteidigung des baltischen Staaten ausgeweitet werden sollte. Als die Bündnisgebietes nicht vernachlässigen. Die Kleinstaat- NATO dies im Dezember 2009 auf ihrem Ministerrat be- lichkeit der baltischen Staaten und ihre geografische schloss, freute sich der estnische NATO-Botschafter über Nähe zu Russland schufen für die NATO nach dem Beitritt dieses «verfrühte Weihnachtsgeschenk». Die Planungen zur NATO 2004 eine andere Ausgangslage für die Vertei- sollten geheim bleiben, auch weil die NATO seit 1990 be- digungsplanung, als dies zuvor durch den Beitritt des re- ständig betont hatte, dass sie Russland nicht länger als lativ grossen Polen (NATO-Mitglied seit 1999) sowie Un- Bedrohung wahrnehme. Allerdings gerieten Details be- garns und Tschechiens der Fall gewesen war. reits Anfang 2010 an die Öffentlichkeit, und später wur- Das Baltikum würde in jedem Konflikt mit Russ- land äusserst exponiert sein. Bis 2008 hat die NATO die baltischen Staaten explizit nicht in ihrer Verteidigungs- 8 Die einzigen Eventualpläne zur Verteidigung des Baltikums wurden nach planung berücksichtigt, um Russland nicht unnötig zu deren Aufnahme in die NATO von den USA erstellt. Es gab aber dazu provozieren. Der Schutz gemäss Artikel 5 war damit im keine Militärübungen und es wurden auch keine US-Streitkräfte positi- oniert, um die Verteidigung glaubwürdig zu machen. Vgl. dazu Edward Lucas, «The Coming Storm», in: Center for European Policy Analysis Report 6 Christian Nünlist, «Obamas Aussenpolitik: Eine erste Bilanz», in: CSS- (June 2015), 7. Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 188 (2016). 9 Ulrike Demmer / Ralf Neukirch, «NATO Developed Secret Contingency 7 Daniel Keohane, «Libya lessons for Europe», in: Carnegie Europe Blog Plans for Baltic States», in: Spiegel Online (06.12.2010). (2.2.2016). 10 Ebd. 6
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 den zahlreiche relevante US-Regierungsdokumente dazu teidigung Polens und des Baltikums.17 Deutschland war von Wikileaks veröffentlicht.11 darum besorgt, Russland nicht unnötig zu provozieren, Der NATO-Militärausschuss genehmigte den ent- und setzte sich für eine maximale Transparenz zuguns- sprechend revidierten Eventualplan «Eagle Guardian» ten russischer Manöverbeobachter ein. Nur Frankreich am 22. Januar 2010. Der neue Plan sah ein Minimum von und Polen beteiligten sich mit über 1000 Soldaten; die neun NATO-Divisionen (aus den USA, Grossbritannien, USA trugen nur 40 Soldaten bei, Deutschland 55 Solda- Deutschland und Polen) vor, um einen Angriff auf Polen ten.18 oder die baltischen Staaten mit Kampfoperationen zu- Seit 2008 war die Refokussierung auf Europa und rückzuschlagen.12 «Eagle Guardian» markierte eine wich- auf kollektive Verteidigung ein klarer Trend in der Strate- tige Zäsur in der Politik der NATO gegenüber den östli- gieentwicklung der NATO. Die Rückbesinnung auf Artikel chen Mitgliedstaaten. Im Juni 2010 wurde der neue Plan 5 des NATO-Vertrags begann bereits vor der russischen in der Übung «BALTOPS 2010» erstmals geübt: US-Mari- Annexion der Krim im März 2014. Die wieder wichtiger nes führten mit estnischen Streitkräften eine amphibi- erachtete Aufgabe der Bündnisverteidigung ging einher sche Landung an der Hara-Bucht durch.13 mit einer parallelen Abnahme der Intensität der Kampf- Während die NATO also ihre Militärplanung nach handlungen der NATO-Truppen am Hindukusch und dem 2008 revidierte, modifizierten die USA ihre eigenen geplanten Abzug der letzten Kampfverbände aus Afgha- Kriegspläne nach dem Georgien-Krieg vorerst noch nicht. nistan bis Ende 2014. War globales Krisenmanagement Verteidigungsminister Robert Gates lehnte den Vorschlag im Afghanistan-Jahrzehnt die Hauptaufgabe der NATO ab, für die 2010 Quadrennial Defense Review ein Szenario gewesen, so sollten laut NATO-Planern in der Zeit nach zur Verteidigung gegen ein aggressives Russland zu ent- 2014 globale Operationen und kollektive Verteidigung werfen.14 Der NATO-Plan sah zudem den Einsatz eines gleichzeitig zentrale Allianzaufgaben werden.19 Drittels der polnischen Streitkräfte zur Verteidigung der baltischen Staaten vor – ob Warschau im Krisenfall tat- sächlich seine eigenen Truppen ins Baltikum schicken und damit die Verteidigung des eigenen Territoriums entblö- ssen würde, schien jedoch alles andere als sicher.15 3. Die NATO zwischen Auf dem Gipfel von Lissabon 2010 wurden im stra- tegischen Konzept der NATO drei Hauptaufgaben defi- Krim und Wales niert: erstens kollektive Verteidigung, zweitens globales Krisenmanagement, und drittens kooperative Sicherheit durch Partnerschaften. Der NATO-Gipfel in Chicago im 3.1 Die Zeitenwende der Krim Mai 2012 bestätigte diesen Trend zurück von einem glo- balen Weltpolizisten zurück zu einem regionalen Vertei- Sowohl die russische Annexion der Krim als auch die Agg digungsbündnis. Die NATO reagierte allerdings mit Aus- ression in der Ostukraine waren strategische Überra- nahme der Aktualisierung von «Eagle Guardian» schungen für den Westen. Zwar war die russische Aus insgesamt ziemlich bedächtig auf den Georgien-Krieg. senpolitik schon zuvor mit Misstrauen beobachtet Im Sog der Wirtschaftskrise wurden die Verteidigungs- worden – nicht zuletzt der Krieg mit Georgien im Jahr budgets der europäischen NATO-Staaten zwischen 2006 2008 war ein Weckruf für viele Beobachter gewesen. und 2013 im Schnitt um rund 15 Prozent reduziert. Das Dennoch ging der Westen weiterhin davon aus, dass britische Verteidigungsbudget sank von 2010 bis 2015 um Russland seine Interessen im Rahmen der bestehenden 8 Prozent, und auch Frankreichs Verteidigungsausgaben europäischen Friedensordnung aufrechterhalten würde, sanken nach 2013 von 1,9 Prozent Anteil am BIP auf 1,76 also im Einklang mit dem KSZE-Prinzip von 1975 der Un- Prozent.16 veräusserlichkeit der bestehenden Grenzen. Fand der Im Herbst 2013 fand erstmals seit dem Ende des Krieg in Georgien noch in einer Grauzone statt, in der es Kalten Krieges wieder eine grosse Militärübung zur kol- vielen Beobachtern schwerfiel, klare Verantwortlichkei- lektiven Verteidigung («Steadfast Jazz») in den östlichen ten zu benennen, ist das Bild hinsichtlich der Vorgänge Mitgliedstaaten statt. Das Szenario beinhaltete die Ver- auf der Krim eindeutig: Die Annexion war ein völkerrecht- lich illegaler, bewaffneter Landraub. Ferner operierten 11 Mark Kramer, «Russia, the Baltic Region, and the Challenge for NATO», in: russische Truppen seit Juli 2014 offen in der Ukraine.20 PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 267 (2013), 5. 12 Kramer, Russia, 6. 13 «Eagle Guardian», in: GlobalSecurity.org, n.d. 17 Judy Dempsey, «What NATO’s Steadfast Jazz Exercises Mean for Europe», 14 Julian Ioffe, «The Pentagon Is Preparing New War Plans for a Baltic Battle in: Carnegie Europe Blog (31.10.2013). Against Russia», in: Foreign Policy (18.09.2015). 18 Lucas, Coming Storm, 8f. 15 Lucas, Coming Storm, 8. 19 Christian Nünlist, «Zurück in die Zukunft», in: Aargauer Zeitung 16 Daniel Keohane, «The Renationalization of European Defense Cooperati- (04.09.2014). on», in: Strategic Trends (2016), 9 – 28. 20 Igor Sutyagin, «Russian Forces in Ukraine», in: RUSI Publications (09.03.2015). 7
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Die strategische Überraschung der militärischen höhten im Rahmen der «Operation Atlantic Resolve» (fi- Einverleibung der Krim-Halbinsel innert weniger Tage nanziert durch ihre European Reassurance Initiative, ERI) durch russische hybride Kriegführung und die entschei- ihre Präsenz in Rumänien und Polen und bauten zudem dende, aber offiziell negierte direkte russische Militärin- eine rund 90-tägige kontinuierliche Rotation von US- tervention in der Ostukraine im Juli/August 2014 stellten Truppen in Zentraleuropa auf. Auch Dänemark, Frank- die NATO-Planer vor heikle Fragen: Wäre die NATO militä- reich und Grossbritannien verstärkten die NATO-Luft- risch auf ein «Krim-Szenario» im Baltikum vorbereitet? raumüberwachung des Ostseeraums mit Kampfjets.23 Was würde geschehen, wenn die geplante NATO-Speer- Im Juni 2014 beschlossen die NATO-Aussenminis- spitze und die schnelle Eingreiftruppe «NATO Response ter den Readiness Action Plan (RAP), einen Plan zur Erhö- Force» (NRF) einen russischen Militärangriff auf NATO- hung der Einsatzbereitschaft, dessen Ziel es ist, die militä- Territorium nicht innert Tagen zurückschlagen konnten? rische Reaktionszeit auf Krisen und Bedrohungen gegen Die NATO-Planer gehen zwar bis heute davon aus, dass einen Mitgliedstaat zu verkürzen. Zudem erwog die Alli- Polen und die baltischen Staaten aufgrund ihrer stabile- anz, durch eine erhöhte Manöverfrequenz im Rahmen ren politischen Verhältnisse resilienter gegenüber russi- der Connected-Forces-Initiative (CFI) an ihrer Ostflanke scher hybrider Kriegführung wären, dennoch machen die eine Art permanente Präsenz zu etablieren, ohne tatsäch- militärischen Realitäten vor Ort den Planern ernsthafte lich ständig Truppen in der Region stationieren zu müs- Sorgen. sen.24 Zudem erhöhte die NATO die Anzahl und Frequenz Trotz der strategischen Überraschung und wohl ihrer Militärübungen. 2014 fanden 162 Manöver statt, entgegen Präsident Putins Erwartungen gelang es der doppelt so viele wie ursprünglich geplant.25 Im Unter- NATO im Frühling und Sommer 2014 erstaunlich gut, mit schied zum Afghanistan-Jahrzehnt, während dem die Al- einer Stimme zu sprechen und auf die Ukraine-Krise zu lianz sich auf die Kriegführung am Boden durch eher klei- reagieren – auch wenn es unter den 28 NATO-Mitgliedern nere Einheiten bis zur Ebene eines Bataillons konzentriert unterschiedliche Haltungen zur Frage gibt, wie die Alli- hatte, waren nun für die alt-neue Hauptaufgabe «kollek- anz auf die neue russische Herausforderung reagieren tive Verteidigung» wieder Übungen auf Stufe der Briga- soll. Unter den NATO-Alliierten herrschte ab März 2014 den und potenziell der Divisionen und Korps gefragt. Zu- die dringliche Einsicht vor, dass sich die geopolitischen dem rückten Luft- und Seestreitkräfte für Operationen Realitäten im Osten der Allianz fundamental geändert hoher Intensität wieder in den Vordergrund. hätten. Die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses soll- Der Russlandfaktor insgesamt und die Bedrohung te entsprechend durch möglichst schnelle und möglichst durch «hybride Kriege» dominierten den NATO-Gipfel in sichtbare Massnahmen untermauert werden. Die NATO Wales im Spätsommer 2014. Gleichzeitig machte das Vor- baute deshalb eine visible Präsenz in Osteuropa auf, mit rücken des sogenannten «Islamischen Staates» bereits neuen Stützpunkten und schnellen Eingreiftruppen. Be- damals klar, dass sich die NATO nicht exklusiv auf ihre reits im April 2014 kündigte die NATO eine Reihe von Mili- Ostflanke würde konzentrieren können, sondern sich tärmassnahmen an, um die kollektive Verteidigung zu weiterhin für eine Doppelaufgabe rüsten musste: Wäh- stärken und Solidarität mit den Balten und Osteuropäern rend die Verteidigung des Bündnisgebiets durch die Uk- zu signalisieren. Das Bündnis vervierfachte die Anzahl der raine-Krise an Relevanz gewonnen hatte, galt es zugleich, Kampfjets, die sich seit 2004 von der Luftwaffenbasis ãi- die Fähigkeit zum globalen Krisenmanagement auch auliai in Litauen an der NATO-Mission zu Luftraumüber- nach dem Ende von der Kampfeinsätze in Afghanistan zu wachung in den baltischen Staaten beteiligen (von 4 auf bewahren. 16 Flugzeuge) und flog regelmässig AWACS-Aufklärungs- missionen und Luftbetankungsflüge über Polen und Ru- mänien.21 Die NATO erhöhte auch ihre maritime Präsenz 3.2 «Hybrider Krieg» im Schwarzen Meer und in der Ostsee. Im April 2014 be- schlossen die NATO-Aussenminister, sämtliche zivile und In der Bedrohungsanalyse der NATO und in der Berichter- militärische Zusammenarbeit mit Russland, das Mitglied stattung über ihre militärischen Planungen ist der Begriff des NATO-Programms «Partnerschaft für den Frieden» der «hybriden Kriegführung» zentral. Dieses Konzept ist, zu sistieren. Zuvor hatte die Allianz erklärt, die Zusam- richtig zu verstehen, ist für eine Analyse der gegenwärti- menarbeit mit der Ukraine zu verstärken, vornehmlich im gen Entwicklungen notwendig. Bereich von Ausbildung und gemeinsamer Übungen.22 Die USA und Kanada stationierten kurzfristig zu- sätzliche Kampfjets in Polen und Rumänien. Die USA er- 23 «On a Wing and a Prayer», in: The Economist (03.05.2014); The White House, Bilateral Reassurance Measures in Romania, 21.05.2014, http:// iipdigital.usembassy.gov/st/english/texttrans/2014/05/20140521299505. 21 Christian Nünlist / Martin Zapfe, «Die NATO nach Wales: Wie weiter mit html#axzz433ia7eSh. Russland?», in: CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 161 (2014), 2. 24 Nünlist/Zapfe, NATO nach Wales, 2. 22 NATO, Statement of the NATO-Ukraine Commission, http://www.NATO.int/ 25 Lukasz Kulesa, «Towards a New Equilibrium», in: ELN Policy Brief (Febru- cps/en/NATOlive/news_108499.htm. ar 2016), 13. 8
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Der Begriff der «Hybridität» hielt nach 2006 in die definieren. «Hybride» Kriegführung dagegen verwirft sicherheitspolitische Debatte Einzug. Damals behandelte diese Unterscheidung: Politische Entwicklungen, und po- er, verwendet von Frank Hoffmann,26 vor allem die immer litische Revolutionen erst recht, werden als militärische unklarere Abgrenzung von staatlichem und nicht-staatli- Bedrohungen wahrgenommen. So betrachtet Präsident chem Handeln. Anhand des Krieges zwischen Israel und Putin die Farbrevolutionen der letzten Jahrzehnte nicht der libanesischen Hisbollah im Sommer 2006 stellte als demokratische Akte, sondern als ausländisch gesteu- Hoffmann dar, dass ein nicht-staatlicher Akteur mittler- erte Subversion seines eigenen Machtbereiches.29 Das weile über ein derart effektives und umfangreiches An- vorherrschende russische Narrativ sieht entsprechend gebot an konventionellen militärischen Fähigkeiten ver- auch die Osterweiterung der NATO nicht als eine Aufnah- fügen könne – man denke an weit reichende Raketen, me von Demokratien in ein normativ begründetes Mili- moderne Panzerabwehrlenkwaffen und gehärtete, ver- tärbündnis, sondern gleichsam als eine «demokratische netzte und hervorragend getarnte Kommando- und Ge- Subversion» ehemals russischer Einflussgebiete, die fechtsstände – dass sie unter bestimmten Umständen durch russische Machtlosigkeit ermöglicht wurde. Politi- die modernen Streitkräfte eines anderen Staats militä- scher, diplomatischer Verkehr im Frieden und militärische risch herausfordern können. Gleichzeitig sind sie aber Auseinandersetzung im Krieg – diese (idealtypische) Dif- eben nicht die Streitkräfte eines Staates und unterliegen ferenzierung teilt die neue russische Militärdoktrin nicht. damit nicht deren vom humanitären Völkerrecht vorge- Im heutigen Verständnis Russlands gibt es ein gebenen Beschränkungen,. breites Kontinuum an Mitteln, um politische Ziele zu er- Im Zuge der Krim-Annexion und des Krieges in der reichen: die Förderung von russlandfreundlichen und EU- Ostukraine hat sich der Begriff der Hybridität nun ge- feindlichen Parteien in Staaten Europas, die gezielte Be- wandelt. Wurde er vorher mit nicht-staatlichen, aber einflussung von innenpolitischen Debatten durch staatsähnlichen Akteuren in Verbindung gebracht, be- Propaganda und Desinformation, die Nutzung von Erd- zeichnet er nun zumeist das genaue Gegenteil: Staatliche gaslieferungen als politischem Druckmittel, und die Un- Akteure, die bewusst jede Identifikation mit ihrem Staat terstützung von Sezessionsbewegungen durch Waffen- vermeiden, und zugleich durch die Verbindung von mili- lieferung und eigene Soldaten. Letzteres geschah in tärischen, nachrichtendienstlichen, wirtschaftlichen und Georgien, Moldau und der Ukraine. All dies sind Teile informationstechnologischen Mitteln versuchen, einen «nicht-linearer», «hybrider», jedenfalls: politisierter Krieg- Gegner zur Erfüllung ihres Willens zu zwingen. Um es mit führung. Auch wenn das politische Fernziel Moskaus – so Clausewitz zu formulieren: mithin Krieg führen. es eines gibt – unklar ist, scheint kurz- und mittelfristig Auf russischer Seite ist der Begriff der Hybridität im Mittelpunkt zu stehen, einen Keil zwischen die westli- weniger geläufig, hier ist vor allem der Begriff der «nicht- chen Bündnispartner zu treiben, indem Russland struktu- linearen Kriegführung» relevant, wie er im Februar 2013 relle Unsicherheit schürt und Bündnisgarantien untermi- vom russischen Generalstabschef, General Valery Geras- niert.30 Und hier liegt schliesslich auch der problematische simow, eingeführt wurde. Gerassimow sprach damals Kern hybrider Kriegführung, wie sie heute verstanden von veränderten Spielregeln des Krieges im 21. Jahrhun- wird: Letztlich besteht mit einem solchen Vorgehen die dert, da die Trennlinien von Frieden und Krieg verschwim- Gefahr, dass die Trennlinie zwischen Friedens- und Kriegs- men.27 Zwar ist der Begriff nicht offiziell Teil der russi- zustand bewusst und nachhaltig verwischt wird.31 schen Militärdoktrin,28 doch scheint es, als wenn das russische Vorgehen und die «Gerassimow-Doktrin» in der Tradition steht einer Politisierung des Militärischen, und 3.3 Herausforderungen an der einer damit einhergehenden Militarisierung des Politi- östlichen Flanke schen, wie es bereits in der Sowjetunion der Fall war. Schon damals waren so genannte «Operative Manöver- Die heutige Bedrohung des Baltikums ist – nicht in allen gruppen» für Spezialaufgaben hinter den feindlichen Li- Details, aber im Grundkonzept – eine Fortschreibung der nien vorgesehen. Westliche Doktrin geht dagegen zu- NATO-Flankenbedrohung seit den 1960er-Jahren. Folglich meist von klar trennbaren Zuständen des Friedens und fügen sich die bisherigen Antworten der NATO ebenfalls des Krieges aus, und versucht auf der Grundlage dieser in aus dem Kalten Krieg bekannte Konzepte ein. binären Unterscheidung, das Verhältnis von Politik und Während der vierzig Jahre, in denen sich an der in- politischer Führung zum Militär und zur Kriegführung zu nerdeutschen Grenze die Streitkräfte des Warschauer 29 Nicolas Bouchet, «Russia’s «Militarization» of Colour Revolutions», in: CSS 26 Frank G. Hoffmann, Conflict in the 21st Century: The Rise of Hybrid Wars, De- Policy Perspectives 4, Nr. 2 (2016). zember 2007, www.potomacinstitute.org/images/stories/publications/ 30 Jonas Grätz, «Russia as a Challenger of the West», in: Strategic Trends potomac_hybridwar_0108.pdf, 35 – 41. 2014, 11 – 30. 27 Vgl. Margarete Klein, «Russlands neue Militärdoktrin. NATO, USA und 31 Rainer L. Glatz / Martin Zapfe, «NATO-Verteidigungsplanung zwischen farbige Revolutionen im Fokus», in: SWP-Aktuell Nr. 12 (2015), 3. Wales und Warschau: Verteidigungspolitische Herausforderungen der 28 Ebd. Rückversicherung gegen Russland», in: SWP-Aktuell Nr. 95 (2015), 2. 9
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Paktes und der NATO gegenüberstanden, bestand kein operative Zugriff auf eine bestimmte Region erschwert Zweifel, dass die Entscheidung in jedem Konflikt im Zent- werden soll – zudem die Verteidigung von handstreichar- rum Europas gefunden werden würde. Zugleich bestand tig erobertem Gebiet und erhöhen den Preis, solche fait eine hohe Sicherheit, dass auch unter wandelnden Stra- accompli rückgängig zu machen. tegien des Bündnisses jede substanzielle Grenzverlet- Im Gegensatz zum Kalten Krieg stehen sich in Zen- zung in Zentraleuropa durch den Warschauer Pakt zu ei- traleuropa zudem nicht mehr zwei Militärblöcke gegen- ner womöglich nuklearen Eskalation geführt hätte. Dafür über. Vormals wäre jede Eskalation auch an den Flanken sorgte zuvorderst die grenznahe Präsenz von alliierten über die starke Bündniskohäsion und den tiefgreifenden Streitkräften auf deutschem Territorium, aber auch die Antagonismus zwischen den Blöcken ins Zentrum getra- glaubhafte nukleare Abschreckung der NATO gegenüber gen worden, wo mit einer entsprechend weitreichenden einer konventionellen sowjetischen Übermacht. Somit Eskalation zu rechnen gewesen wäre. Heute überträgt war zumindest klar, dass die Sowjetunion nur geringe sich diese vormals sekundäre Flankenbedrohung der Aussicht haben konnte, durch begrenzte Massnahmen in NATO nicht mehr im gleichen Masse ins Zentrum des Zentraleuropa erfolgreich zu sein, ohne einen ausge- Bündnisses, und die Bedrohung an der Flanke wird da- wachsenen Krieg zu riskieren. durch zur heutigen Hauptbedrohung der Allianz. Und Dies galt jedoch nicht für die Bedrohung der Flan- dies gilt besonders für die heutige NATO-Flanke im Osten, ken des Bündnisses. Insbesondere im Norden, an den lan- das exponierte Baltikum.32 gen Küsten Norwegens, und im Süden, in Griechenland und der Türkei, war die Abschreckung des Bündnisses deutlich schwächer. Weder standen multinationale Hee- resgruppen an der Grenze, noch war glaubhaft, dass die NATO mit nuklearen Waffen auf eine Grenzverletzung im 4. Die NATO zwischen Polarmeer reagieren würde. Die Bedrohungsanalysen der NATO machten dies seit den Sechzigerjahren deutlich. Wales und Warschau Die NATO befürchtete, vereinfacht gesagt, zwei Szenari- en: Erstens könnte die Sowjetunion durch eine Untermi- Der Gipfel von Wales im September 2014 markiert ohne nierung der Bündnispartner oder gesellschaftliche Sub- Frage einen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte der version, gepaart mit ihrer beeindruckenden militärischen NATO. Nach der Wasserscheide von 2014 sieht sich die Al- Drohkulisse, einen Mitgliedstaat schleichend destabili- lianz nun erstmals in ihrer Geschichte einer zweifachen sieren, ohne dass dies ein Eingreifen der NATO herbeifüh- Bedrohung ausgesetzt: der Herausforderung eines agg ren könnte. Oder, zweitens, Moskau könnte geneigt sein, ressiven russischen Revisionismus im Osten und der In- sich eines Gebietes – beispielsweise einer vorgelagerten stabilität in weiten Teilen der südlichen Nachbarschaft, Insel – nachgerade im Handstreich zu bemächtigen, um im Zentrum die Katastrophe der Kriege in Syrien und dem die Allianz vor einen fait accompli zu stellen. Die Allianz Irak. Letztlich ist es jedoch die russische Herausforderung, hätte dann ihrerseits vor der Wahl zwischen offenem und die Bedrohung von Teilen des Bündnisgebietes, die Krieg zur Rückeroberung des Territoriums oder aber ei- für die NATO zum Fokus ihrer militärpolitischen Planung nem Arrangement mit einem neuen Status quo gestan- geworden ist. den. Auf ihrem Gipfel von Wales hatte das Bündnis mit Es fällt nicht schwer, Elemente von beiden Szenari- einer Reorientierung auf die Priorität der Verteidigung en im heutigen Vorgehen Moskaus in der Ukraine zu er- des Bündnisgebietes einen stabilen Konsens gefunden. kennen. Wenn heute von «hybrider Bedrohung» gespro- Doch es zeigten und zeigen sich deutlich Interessenun- chen wird, beruht diese im Kern auf den beiden bereits terschiede in der Frage, wie gegenüber den exponierten 1967 identifizierten Bedrohungsszenarien, der Subversi- östlichen Mitgliedstaaten – insbesondere den baltischen on und des begrenzten Krieges. Natürlich hat sich die Be- Staaten Estland, Lettland und Litauen, aber auch Rumäni- drohung weiterentwickelt. Von neuer Qualität ist zum en, Tschechien und Polen – und gegenüber einem offen Beispiel die wohl strategische Medienarbeit des Kremls revanchistischen Moskau die Unteilbarkeit von Sicher- in Europa zur systematischen Desinformation und die heit innerhalb der Allianz glaubhaft gemacht werden Unterstützung populistischer, russlandfreundlicher Par- könnte.33 teien. Neu ist auch die Konzentration auf russischsprachi- Im Kern ist die militärische Reaktion der NATO ein ge Minoritäten, was unter der «Putin-Doktrin» des Schut- Kompromiss zwischen der Notwendigkeit, militärische zes russischer «Bürger» im Ausland bereits in Georgien Einsatzbereitschaft zu demonstrieren, und dem Wunsch, 2008 und nun 2014 in der Ukraine zu russischer Interven- tion geführt hat. In heutigen Eskalationsszenarios er- 32 Martin Zapfe, «Die Speerspitze der NATO», in: CSS-Analysen zur Sicher- leichtern russische Anti-Access/Area Denial-Fähigkeiten heitspolitik Nr. 174 (2015). – also Systeme, mit denen der NATO der strategische und 33 Zapfe, Speerspitze. 10
eine Eskalationsspirale zu verhindern. Eine dauerhafte deutlich intensiviert. Wichtiger als die blosse Zunahme Stationierung von NATO-Truppen im Baltikum – immer- der Übungstätigkeit ist jedoch ihre Ausgestaltung: Ent- hin ehemals von der Sowjetunion annektiertes Territori- gegen der letzten 25 Jahre, in denen vor allem die Vorbe- um – würde ein deutliches Signal an Moskau senden, das reitung auf gemeinsame Einsätze ausserhalb von Europa von vielen Beobachtern als Konfrontation gewertet wer- geübt wurde, haben zahlreiche NATO-Manöver nun dezi- den würde. So erklärt sich die Fokussierung des Bündnis- diert konventionelle Übungsanlagen – sie üben also die ses auf einen intensiven Übungskalender gerade in östli- Sicherung, Verteidigung oder Rückeroberung von Territo- chen Mitgliedstaaten, eine auf Rotation beruhende rium. Hinzu kommt in vielen Fällen die symbolträchtige Entsendung von kleineren nationalen Kontingenten (so Ortswahl: Grosse NATO-Manöver in Polen sowie zahlrei- beispielsweise die Entsendung einer Kompanie der Bun- che kleinere Übungen von NATO-Staaten im Baltikum sel- deswehr nach Polen) sowie die «schnelle Eingreiftruppe» ber sind ein bündnispolitisches Signal weit über ihren di- der NATO. rekten militärischen Mehrwert hinaus. Die Übungen der NATO sind somit der Eckpfeiler ihrer Kommunikation, eig- nen sich Manöver doch hervorragend für eine intensive 4.1 Die militärischen Massnahmen Berichterstattung und die Untermauerung politischer nach Wales Botschaften durch Bilder, Videos und Berichte. Im Zentrum der militärischen Massnahmen im Zweijah- resraum zwischen den Gipfeln von Wales und Warschau steht der «NATO Readiness Action Plan» (RAP). Er beruht auf dem Nebeneinander von Rückversicherungsmass- nahmen («Assurance Measures») zur Verdeutlichung der Bündnissolidarität, und Anpassungsmassnahmen («Ad- aptation Measures»), die der Reform der Allianz dienen. Mit den Rückversicherungsmassnahmen will die Allianz die Solidarität gegenüber den exponierten östlichen Mit- gliedstaaten unterstreichen. Die auf lange Sicht weitaus bedeutenderen Anpassungsmassnahmen sollen parallel die militärischen Führungsfähigkeiten der NATO stärken und somit deren institutionelle Reaktions- und Hand- lungsfähigkeit erhöhen.34 Neben diesen im NATO-Rahmen stattfindenden Massnahmen tritt noch bilaterale Kooperation ausser- halb des NATO-Rahmens. Da diese Kooperation insbeson- dere Schritte der USA betreffen, sind sie von Bedeutung und werden hier dargestellt. 4.1.1 Rückversicherungsmassnahmen Was die Rückversicherungsmassnahmen betrifft, lag der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zunächst auf der Ausweitung und Intensivierung militärischer Übungen auf dem Gebiet der östlichen Mitgliedstaaten und dem symbolreichen, zeitlich befristeten Einsatz militärischer Mittel. So fliegen AWACS-Flugzeuge des Bündnisses nun vermehrt Aufklärungsflüge über dem Osten des NATO- Gebiets, und Marineeinheiten zeigen temporär in der Ostsee und im Schwarzen Meer Präsenz. Teil des Mass- nahmenpakets war und ist auch die zeitlich begrenzte Aufstockung der Kampfflugzeuge zur Überwachung des Luftraums über den baltischen Staaten. Einen wesentlichen Teil der Rückversicherungs- massnahmen der Allianz stellen die militärischen Manö- ver dar. Die NATO hat nach 2014 ihre Übungstätigkeit 34 Glatz/Zapfe, NATO-Verteidigungsplanung, 2.
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CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 Strategische Asymmetrie und Dies beginnt mit dem einfachen Grundsatz, dass die NATO destabilisierende Übungen ihre Übungen ankündigt – teils Monate im Voraus, eben weil Der vermehrten und intensivierten Übungstätigkeit der die Rückversicherung öffentlicher Kommunikation bedarf. NATO-Mitgliedstaaten stehen russische Aktivitäten gegen- Russland hingegen setzt auf überraschend angesetzte Ma- über, die vom Westen als strukturell bedrohlich eingestuft növer und Alarmübungen, die nicht angekündigt werden. werden. Russland wirft der NATO wiederum destablisieren- Diese werden zur Untermauerung einer russischen Position des Verhalten vor. Externe Beobachter wie das «European Lea- der Stärke verwendet; mit Signalwirkung nach innen wie dership Network»35 in London weisen seit 2014 wiederholt nach aussen. Eine Reihe von «Snap Exercises», die jeweils von auf die sich zuspitzende Eskalationsgefahr zwischen beiden Präsident Putin höchstens 24 Stunden vorher angekündigt Seiten hin. Zwar stimmt dies im Grundsatz, und beide Seiten werden, soll in Verbindung mit dem Überraschungsmoment hätten ein vitales Interesse, das Risiko von Missverständnis- die russische Fähigkeit zu schneller, grossangelegter Hand- sen und ungewollter Eskalation zu verringern. Dennoch sind lungsfähigkeit dokumentieren. Drei russische Militärübun- die russischen und westlichen Massnahmen nur schwer gen in den vergangenen zwei Jahren umfassten mehr als gleichzusetzen. Der Unterschied zwischen den russischen 100’000 Soldaten. Eine davon fand im März 2014 statt, dem und den westlichen Übungen und militärischen Schritten Monat der Krim-Invasion, mit Aktivitäten gleichzeitig im liegt erstens in der strategischen Asymmetrie mit Blick auf Schwarzen Meer, der Barentssee und der Region um St. Pe- das Baltikum, und zweitens in der aggressiven Symbolik und tersburg – und damit jeweils in unmittelbarer Nähe von inhärenten Unberechenbarkeit, die den russischen Massnah- Brennpunkten und NATO-Flanken.37 men innewohnt. Solche Übungstätigkeit ist legitim und Russland Erstens ist der qualitative, und in Kernfähigkeiten nicht verboten – während Alarmübungen ohne Frage ein auch quantitative militärische Vorsprung der NATO gegen- taugliches Mittel zum Beüben der eigenen Streitkräfte sind, über den russischen Streitkräften unbestritten. Daher sind wie dies von Moskau auch vertreten wird, werden die Übun- alarmistische Meldungen über russische Rüstungsprogram- gen jedoch genau dadurch zu einer Bedrohung für die Stabi- me mit Vorsicht zu geniessen; auch im besten Falle wird Russ- lität zwischen NATO und Russland. Zudem sind die russi- land auf absehbare Zeit nicht annähernd die konventionelle schen Übungen im Umfang und Inhalt sensibel. Während Bedrohung für Westeuropa darstellen, die vom Warschauer eine angekündigte Übung der NATO mit einigen tausend Sol- Pakt ausging. Dies ändert sich jedoch, wenn man den Blick daten in Polen oder im Baltikum nicht glaubhaft als erster auf das exponierte Baltikum lenkt. Hier ist primär die geogra- Schritt einer Invasion russischen Staatsgebietes gelten kann, fische Lage entscheidend, zudem wurden die russischen so ist dies bei nicht angekündigten Übungen mit einigen Streitkräfte ganz gezielt in dieser Region modernisiert und zehntausend Soldaten in Grenznähe anders. sind den NATO-Staaten in einigen Szenarien zumindest eben- Hinzu kommen Berichte über die Integration von rus- bürtig. Diese militärische Rüstung ist im Grundsatz legitim sischen Nuklearwaffen auf taktischer und operativer Ebe- und angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Ostsee ne.38 Dies wäre im Einklang mit bekannter russischer Nukle- und der Kaliningrad Oblast, welche geografisch noch stärker ardoktrin, stellte in Verbindung mit bewusst den russischen isoliert und verwundbar ist als das Baltikum, für Russland Nuklearstatus unterstreichenden Stellungnahmen aus Mos- auch verständlich. Dies gilt jedoch nicht für die nun wieder- kau jedoch eine besorgniserregende Entwicklung dar. holt geäusserte – und in militärische Invasionen gemündete Schliesslich, und das ist zentral, beübt die russische Seite Be- – russische Überzeugung, als Schutzmacht für russischspra- richten zufolge genau jene Einheiten, die auch in einem für chige Minderheiten im Ausland auftreten zu wollen.36 die NATO bedrohlichen Szenario eingesetzt würden – im Un- Die militärische Rüstung im Baltikum erhält eine an- terschied zur NATO, in der der grösste Teil der Übungen auf dere Qualität in Verbindung mit Stimmen, welche die Eigen- der Grundlage von nur für diese Manöver entsandten, rotie- staatlichkeit einiger sowjetischer Nachfolgerepubliken an- renden Truppen durchgeführt wird.39 zweifeln und ohnehin eine Hegemonialrolle in Russlands Ohne diese Differenzierung zwischen der russischen unmittelbarer Nachbarschaft («near abroad») beanspruchen und westlichen Seite ist keine angemessene Analyse der mi- – wo diese endet, ist unklar. Kurz: Dort, wo Russland will, kann litärischen Planung der NATO möglich, und nur vor diesem es dem Westen wohl militärisch ebenbürtig oder punktuell Hintergrund können die so genannten Anpassungsmass- sogar überlegen sein – zumindest für eine gewisse Zeit. nahmen des Bündnisses richtig eingeordnet werden. Zweitens sind die russischen Übungen und militäri- schen Schritte inhärent destabilisierender als jene der NATO. 37 Stratfor, Russia Targets NATO with Military Exercises, 19.03.2015, https://www.stratfor.com/analysis/russia-targets-NATO-military- 35 Thomas Frear / Lukasz Kulesa/ Ian Kearns, «Dangerous Brinkmanship: exercises. Close Military Encounters Between Russia and the West in 2014», in: 38 Oliver Thränert, «A nuclear world (out of) arms control», in: Strategic ELN Policy Brief, November 2014, http://www.europeanleadership- Trends 2016, 65 – 82, 70f. network.org/dangerous-brinkmanship-close-military-encounters- 39 Liudas Zdanavicius / Matthew Czekaj (Hrsg.), Russia’s Zapad 2013 Military between-russia-and-the-west-in-2014_2101.html. Exercise: Lessons for Baltic Regional Security (Washington, DC: Jamestown 36 Grätz, Russia as a challenger, 21. Foundation, 2015), 5ff. 13
CSS STUDIE Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016 4.1.2 Anpassungsmassnahmen Der in den Medien weniger sichtbare, aber weit bedeu- NATO-Russland-Akte tendere Teil der Beschlüsse von Wales richtet sich auf die Noch immer sind die militärischen Planungen der NATO Anpassung der NATO-Strukturen und -Instrumente. Ziel begrenzt durch Abkommen mit Russland aus der Annähe- des Readiness Action Plan der NATO ist eine beträchtliche rungsphase der 1990er-Jahre. Vor allem will die Allianz Verbesserung der Reaktionsfähigkeit der schnellen Ein- vermeiden, gegen Prinzipien der «Grundakte über Gegen- greiftruppe NRF. Ihr Umfang soll auf der Grundlage einer seitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit Entscheidung des NATO-Verteidigungsministertreffens zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der im Juni 2015 von 19’000 Soldaten auf 40’000 erhöht wer- Russischen Föderation» (NATO-Russland-Akte) zu versto- den. Zusätzlich wird ab 2016 die VJTF als multinationale ssen. Als politisches Dokument nicht rechtlich bindend, und streitkräftegemeinsame NRF-Einheit höchster Be- vereinbarten beide Seiten, sich nicht länger als Gegner zu reitschaft in Stärke von rund 5000 Soldaten aufgestellt. betrachten und, aufbauend auf geteilten normativen Der Aufbau einer bis dahin einzusetzenden Interim-VJTF, Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte, der auch der teilweisen Erprobung des Konzepts dienen einen Raum ungeteilter Sicherheit zu schaffen. Die Allianz soll, wurde unter Führung des Deutsch/Niederländischen sieht diese Prinzipien bereits durch den Völkerrechtsbruch Korps erfolgreich abgeschlossen. 2016 ist Spanien die Russlands auf der Krim und in der Ost-Ukraine verletzt, Führungsnation für die VJTF.40 bemüht sich jedoch weiterhin, ihrerseits im Rahmen der Diese Truppe, oft «Speerspitze» genannt, soll in- Akte zu handeln. nerhalb weniger Tage verlegt werden können, um rasch Für die heutige NATO-Militärplanung einschlägig auf sicherheitspolitische Herausforderungen zu reagie- sind zwei Zusicherungen der Allianz. Zum einen, «dass ren und damit die Abschreckungswirkung des NATO-Kräf- das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren tedispositivs zu erhöhen. Um dies zu gewährleisten, ge- Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und an- hört zum Readiness Action Plan auch die bereits dere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die er- begonnene Einrichtung von acht ständigen, multinatio- forderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur nal besetzten Aufnahmestützpunkten (NATO Force Integ- Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substan- ration Units) in den baltischen Staaten sowie in Polen, Ru- tielle Kampftruppen dauerhaft stationiert»; zum anderen, mänien, Bulgarien, Ungarn und der Slowakei. Über die dass die Verbündeten «nicht die Absicht, keine Pläne und personelle Verstärkung des Stabes des deutsch-dänisch- auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheits- polnischen Multinationalen Korps in Szczecin (Polen) hin- gebiet neuer Mitglieder zu stationieren.» aus bemüht sich die NATO auch, vor Ort kontinuierlich Somit steht heute die Frage im Zentrum, welche Präsenz zu zeigen. Die NATO fand hierfür die Formel der Schritte der Allianz eine «dauerhafte Stationierung subs- «beständigen Präsenz» (persistent presence). Gemeint ist tantieller Kampftruppen» darstellen würden. Die Allianz die durchgehende Anwesenheit von NATO-Einheiten für umgeht dies eben durch die ostentative Abstützung auf gemeinsame Übungen und Ausbildung, jedoch auf rotie- Rotationen in die Region, und durch die Entsendung klei- render Basis und nicht als geschlossene Kampfeinheiten. nerer Verbände. Damit befindet sie sich jedoch bereits in Die beschriebenen Massnahmen der NATO, aber einer Grauzone. Zumindest öffentlich umgeht die NATO auch einzelner Mitgliedstaaten bedeuten insgesamt kei- zudem Fragen nach der nuklearen Dimension der Militär- nen endgültigen Bruch der NATO-Russland-Grundakte planung nach Osten. Fest scheint letztlich zu stehen, dass von 1997. Denn sie sehen davon ab, «substantielle Kampf- weitergehende, letztlich glaubhafte Pläne zur Verteidi- truppen dauerhaft» zu stationieren. Diese verständliche gungsplanung gegen Russland auf dem Boden der NATO- Priorisierung einer politischen Zielsetzung führt auf mili- Russland-Akte nicht möglich sein werden. tärischer Ebene zu erheblichen Problemen bei der Imple- mentierung der Beschlüsse von Wales.41 den, die Bestandteil der im Juni 2014 von Präsident Barack 4.1.3 Bilaterale Massnahmen ausserhalb der NATO Obama verkündeten European Reassurance Initiative (ERI) Zu diesen Beschlüssen und Aktionen der NATO treten sind. Die für die ERI bereitgestellten Mittel haben es den noch bilaterale Vereinbarungen. Den einzelnen Mitglied- USA erlaubt, eine kontinuierliche Präsenz von Einheiten staaten ist es unbenommen, über die Massnahmen der auf Rotationsbasis vor allem in Polen und den baltischen Allianz hinauszugehen, um so ihre noch festere Ent- Staaten aufrechtzuerhalten und die Zahl der bilateralen schlossenheit zu verdeutlichen. Dementsprechend ha- Übungen zu erhöhen. Grosse Aufmerksamkeit in den Me- ben sich die USA für weiterreichende Schritte entschie- dien erregte zum Beispiel im März 2015 die Marschübung «Dragoon Ride», bei der Einheiten eines US-Kavallerie-Re- giments mit gepanzerten Gefechtsfahrzeugen durch die 40 NATO Supreme Headquarters Allied Powers Europe, Fact Sheet: NATO Res- ponse Force, Januar 2016, https://www.shape.NATO.int/page349011837. östlichen Mitgliedstaaten zogen. Darüber hinaus wurden 41 Glatz/Zapfe, NATO-Verteidigungsplanung, 3f. unter anderem Kampfflugzeuge auf Rotationsbasis in die 14
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