Für das Allgemeinwohl. Gesellschaft, Recht und institutionelle Macht als fördernde und hemmende Faktoren akademischer Freiheit in den Vereinigten ...

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Zeitschrift für Weltgeschichte — Interdisziplinäre Perspektiven
     pen                         Jahrgang 21 - Heft 01 - Frühjahr 2020, Peter Lang, Berlin, S. 137–154

Thomas Clark

Für das Allgemeinwohl. Gesellschaft, Recht und
institutionelle Macht als fördernde und hemmende
Faktoren akademischer Freiheit in den Vereinigten Staaten

Die amerikanische Öffentlichkeit und selbst viele Akademiker scheinen sich
der Natur akademischer Freiheit wenig bewusst zu sein. Das populärste Miss-
verständnis ist wahrscheinlich, dass sie sich direkt aus der Garantie der freien
Rede des ersten Zusatzes der US-Verfassung ableiten lässt. Aber diese und andere
Verschmelzungen der Rede- und der Wissenschaftsfreiheit ignorieren sowohl
die historischen als auch die gegenwärtigen Bedingungen im amerikanischen
Hochschulwesen, durch die akademische Freiheit aktuell wesentlich komplexer
definiert wird.1 Mein Beitrag beschäftigt sich daher mit zwei Punkten: Indem
ich einige der wichtigsten gesellschaftlichen, rechtlichen und institutionellen
Faktoren untersuche, welche die akademische Freiheit in den USA ermöglichen
und welche sie einschränken, werde ich argumentieren, dass sie weit fragiler ist,
als ihre robuste Fassade es scheinen lässt. Als intellektueller Historiker, der sich
mit politischen Ideen beschäftigt, möchte ich die Hypothese erläutern, dass
die Wissenschaftsfreiheit in Amerika von der starken Tradition des klassischen
Republikanismus geprägt wurde, welche die bürgerliche Tugend sowie das All-
gemeinwohl ins Zentrum der Gesellschaft, verstanden als πόλις (polis), stellt.
   Aufgrund seiner wissenschaftlichen Studien, aber nicht weniger aus seiner
gelebten Erfahrung als Neuseeländer in den Vereinigten Staaten, schloss J. G. A.
Pocock bekanntlich, dass die atlantischrepublikanische Tradition des politischen
Denkens, die bis Machiavelli und Aristoteles zurückreichte, im amerikanischen
Diskurs während der Moderne eine wirkungsvolle Kraft geblieben sei. Während
intensive wissenschaftliche Debatten während der 1980er Jahre diese These

1     William E. THRO: Academic Freedom. Constitutional Myths and Practical Realities,
      in: Journal of Personnel Evaluation in Education 19 (3), 2007, S. 135–145, https://doi.
      org/10.1007/s11092-007-9039-2 (Stand 20.10.2020); Richard HIERS: Institutional
      Academic Freedom – A Constitutional Misconception. Did Grutter v. Bollinger Perpe-
      tuate the Confusion? in: UF Law Faculty Publications, 1.1.2004, https://scholarship.
      law.ufl.edu/facultypub/739 (Stand 20.10.2020).

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relativierten, genügt ein nur kurzer Blick auf das Wesen der amerikanischen
„Kulturkriege“, um die anhaltende Macht der Tugend und des Allgemeinwohls
als politische Konzepte in den USA zu bestätigen.2 Innerhalb der ideologischen
Matrix, die ich vorschlage, ist es so, dass die Wissenschaftsfreiheit eine bemer-
kenswert unsichere Angelegenheit bleibt. Deshalb haben alle amerikanischen
Schlüsselideologien, wie die demokratische Tugend des Anti-Intellektualismus,
die angenommene Höherwertigkeit von Personen, welche als weiß bezeichnet
werden, was rassischem Identitarismus entspricht, und Besitz/Kapital, verstanden
als Manifestation der Werte (und als Erweiterung des Kapitalismus als einzig
vernünftige Wirtschaftsordnung), erhebliche Herausforderungen für die Wis-
senschaftsfreiheit dargestellt, die sich ihrerseits selbst als notwendige Tugend im
Dienste des Allgemeinwohls definiert. Untersuchen wir einmal, warum, wie die
Herausgeber eines kürzlich erschienenen Werkes zum Thema es ausdrückten,
„keine Freiheit, selbst in den am besten funktionierenden und am besten ‚geölten‘
Demokratien, als gegeben angenommen werden kann.“3

Der Wert der Wissenschaftsfreiheit
Als Konzept erreichte echte Wissenschaftsfreiheit die USA erst im späten
19. Jahrhundert, als Teil des aus Deutschland importierten Models der For-
schungsuniversität, die eher ein Ort professioneller Wissensproduktion war als
ein erweitertes theologisches Seminar und eine Raffinerie für den EliteNach-
wuchs, wie Harvard, Yale oder Princeton es noch heute sind.4
   Die Vorstellung einer unbelasteten Wissensproduktion kollidierte mit den
Eigentumsstrukturen des amerikanischen Hochschulwesens, wo die Professoren

2   John Greville Agard Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought
    and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 2009 (Originalausgabe 1975), https://
    muse.jhu.edu/book/43289 (Stand 20.10.2020); für eine gute Darstellung der Debatte
    über Republikanismus und Liberalismus siehe Daniel T. Rodgers: Republicanism.
    The Career of a Concept, in: Journal of American History 79 (1), 1992, S. 11–38,
    https://doi.org/10.2307/2078466 (Stand 20.10.2020); Thomas W. Clark: Virtuous
    Democrats, Liberal Aristocrats. Political Discourse and the Pennsylvania Constitution,
    1776-1790, Diss. Frankfurt/Main 2001, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/
    frontdoor/index/index/docId/36477 (Stand 4.6.2020).
3		 Akeel Bilgrami, Jonathan R. Cole (Hg.): Who’s Afraid of Academic Freedom?,
    New York 2016, S. xi.
4		 Vgl. Richard Hofstadter, Walter P. Metzger: The Development of Academic
    Freedom in the United States, New York 1965, S. 367–412.
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nicht, wie in Deutschland, Beamte waren, denen akademische Unabhängigkeit
garantiert wurde, um ihre wissenschaftlichen Pflichten im Interesse des Staates zu
erfüllen, sondern Angestellte, bedroht von Entlassung durch College-Eigentümer,
d.h. Privatpersonen, Kirchen oder Bundesstaaten. Folglich gab es zwei Fälle im
frühen 20. Jahrhundert, die repräsentativ für zahlreiche andere waren. Der Sozio-
logie-Pionier Edward Ross wurde auf Antrag von Jane Stanford aufgrund seines
akademisch geprägten, progressiven Standpunkts gefeuert und die Wharton
School of Business entließ den sozialistischen Professor Scott Nearing, ungeachtet
seiner makellosen akademischen Referenzen.5
   Diese unhaltbaren Zustände führten 1915 zur Gründung der Association of
American University Professors, welche die Declaration of Principles on Academic
Freedom and Academic Tenure verfasste, die 1940 zum Statement of Principles on
Academic Freedom and Tenure überarbeitet wurde. Freiwillig angenommen von
über 180 Bildungsorganisationen und eingearbeitet in die Statuten der meisten
Colleges und Universitäten, definieren diese Dokumente bis zum heutigen Tage
die zwei Hauptprinzipien der Wissenschaftsfreiheit in den Vereinigten Staaten:
Erstens die Trennung des Wissens von der Macht durch den Ausschluss des Ein-
flusses von Regierung, öffentlicher Meinung und Universitätsadministratoren
beim Diskurs der akademischen Gemeinschaft. Zweitens die Verpflichtung der
Gemeinschaftsmitglieder, an akademischen Standards und Protokollen festzu-
halten. „Einmal ernannt“, so stand es in der Deklaration von 1915, „hat der
Wissenschaftler berufliche Funktionen zu erfüllen, für welche die Autoritäten, die
ihn ernannt haben, weder die Kompetenz noch das moralische Recht zu intervenieren
haben. Die Verantwortung des Dozenten besteht primär gegenüber der Öffentlichkeit
selbst sowie gegenüber dem Urteil seines eigenen Berufsstandes.“ 6
   Der grundlegende Unterschied zwischen Rede- und Wissenschaftsfreiheit wird
bereits hier ziemlich offensichtlich: Redefreiheit war zu jener Zeit zu einem durch

5   Vgl. Warren J. Samuels: The Firing of E. A. Ross from Stanford University. Injustice
    Compounded by Deception?, in: Journal of Economic Education 22 (2), 1991,
    S. 183–190, https://doi.org/10.2307/1182424 (Stand 20.10.2020); Stephen J.
    Whitfield: Scott Nearing. Apostle of American Radicalism, New York 1974; Joan
    Wallach Scott: Knowledge, Power, and Academic Freedom, New York 2019,
    S. 44 ff. http://ebookcentral.proquest.com/lib/maxweberstiftungebooks/detail.action?
    docID=5552939 (Stand 20.10.2020).
6		 American Association of University Professors: Declaration of Principles on Academic
    Freedom and Academic Tenure, 31.12.1915, http://www.aaup-ui.org/Documents/
    Principles/Gen_Dec_Princ.pdf (Stand 20.10.2020).
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und durch liberal-individualistischen Prinzip geworden, ein persönliches Recht,
eine negative Freiheit, nur minimal beschränkt durch die Rechte anderer (aus
diesem Grunde deckt das Gesetz zur Redefreiheit den unbegründeten Ausruf
„Feuer!“ in einem vollbesetzten Theater nicht). Die Redefreiheit ist radikal-
egalitär, da sie nicht zwischen falscher und richtiger oder guter und schlechter
freier Rede unterscheidet. Sie beinhaltet auch das Recht, nichts zu sagen, d.h.
Äußerungen werden nicht erzwungen. Wissenschaftsfreiheit andererseits ist ein-
gebettet in Begriffe republikanischer bürgerlicher Tugenden als eine positiven
Freiheit, verbunden mit einer gemeinsamen Zielsetzung und Verpflichtung. Man
beachte die Ausdrucksweise der Erklärung von 1940: „Hochschulinstitutionen
werden zum Allgemeinwohl unterhalten und nicht, um die Interessen entweder
einzelner Dozenten oder der Institution als Ganzes zu fördern. Das Allgemeinwohl
hängt von der freien Suche nach der Wahrheit und ihrer freien Darstellung ab. Zu
diesen Zwecken ist Wissenschaftsfreiheit essenziell und sowohl auf Lehre als auch
auf Forschung anzuwenden. […] Sie bringt Pflichten mit sich, die diesen Rechten
entsprechen.“7
   Solche Pflichten schließen die Befolgung des von der AAUP oder anderen
Berufsverbänden entwickelten Moralkodex und natürlich die Einhaltung der
Regeln der eigenen Disziplin, wie sie das akademische Vorgehen bestimmen,
ein. Wissenschaftsfreiheit ist folglich kein negatives Recht, welches verhindert,
dass die freie Rede einer Person zensiert wird, sondern ein positives Recht, das
verpflichtet, an dem Diskurs der Wissenschaftsgemeinschaft teilzunehmen, um
sowohl die Ergebnisse der Studenten als auch der Kollegen zu beurteilen und so
die Wahrheit zur Geltung zu bringen. Wenn auch vorläufig, muss ich innerhalb
des intersubjektiven Netzes der wissenschaftlichen Diskussionsgemeinschaft eine
Theorie der anderen vorziehen, aber auch außerhalb der Universität – z.B. wenn
ich als Experte vom National Public Radio interviewt werde – all das Know-how
berücksichtigen, welches mehr oder weniger zu Erhalt und Weiterentwicklung
der republikanischen Ordnung beitragen wird. Die Betonung des Wertes der
Wissenschaftsfreiheit zielt nicht nur darauf ab, die despotische Macht von
Eigentümern wie Stanford auszuschalten, sondern auch den tief verwurzelten
Anti-Intellektualismus der amerikanischen Gesellschaft. Wie Post und Finken

7    American Association of University Professors, Association of American Colleges:
     Statement of Principles on Academic Freedom and Tenure, 1940, https://www.aaup.
     org/file/1940%20Statement.pdf (Stand 20.10.2020).
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betonen, „identifizierte die Deklaration von 1915 ein strukturelles Paradoxon:
In einer Demokratie müssen alle Institutionen des Hochschulwesens letztendlich
von öffentlicher Unterstützung abhängen, der Lehrkörper jedoch kann nicht nach
neuem Wissen streben oder zur Unabhängigkeit des Geistes erziehen, wenn er durch
Förmlichkeiten der öffentlichen Meinung gebunden ist.“ 8 In Tocqueville’scher
Sprache stellt die Deklaration nachdrücklich fest, dass, während Akademiker
dem öffentlichen Interesse dienen, die Universität eine „unantastbare Zuflucht
vor [der] Tyrannei“ der öffentlichen Meinung sein muss, „ein Ort intellektueller
Experimente, wo neue Ideen aufkommen können und an dem ihre Früchte, obwohl
für den Staat als Ganzes ungenießbar, reifen dürfen.” 9
   In seiner brillanten Studie zum Thema hat Richard Hofstadter aufgezeigt,
dass „der Anti-Intellektualismus in den demokratischen Institutionen und der
egalitären Gesinnung dieses Landes begründet war. Die intellektuelle Klasse, ob sie
nun viele Privilegien einer Elite genießt oder nicht, ist notwendigerweise eine Elite
in ihrer Denk- und Funktionsweise.“ Für Intellektuelle und Akademiker schuf
dies den Spannungsbogen, dass sie „versucht hatten, gute und gläubige Bürger
einer demokratischen Gesellschaft zu sein und gleichzeitig der Herabwürdigung der
Kultur Widerstand zu leisten, welche diese Gesellschaft fortlaufend produziert.“ 10
Die Deklaration, die von progressivem Glauben an Expertise nicht weniger
geformt wurde wie von ihrer Hingabe an die Demokratie und Reform, lehnte
das simple Mantra vox populi, vox dei ebenso ab wie die Erklärung Platons zur
Herrschaft der Elite. Die Spannung zwischen Demokratie und Weisheit wurde
gemildert durch das Konzept einer Sequestration akademischen Denkens vom
populären Diskurs, um sein Ausreifen zu einem Konzept zu erlauben, welches
dann öffentlichen Debatten ausgesetzt und sanft in diese eingeführt werden kann.
   Einer anti-intellektuellen Demokratie diese Art intellektueller Unabhän-
gigkeit schmackhaft zu machen, verpflichtet Akademiker dazu, eine Haltung
leidenschaftsloser Sensibilität in einem Ausmaß anzunehmen, das ihr Recht auf
Redefreiheit als individuelle Bürger potenziell gefährdet. Daher heißt es in der

8   Zitiert nach Joan Delfattore: Knowledge in the Making. Academic Freedom and
    Free Speech in America’s Schools and Universities, New Haven/CT u. London 2012,
    S. 218.
9		 Declaration (wie Anm. 6).
10 Richard Hofstadter: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1991 (Origi-
    nalausgabe 1963), S. 407.
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Deklaration von 1940: „College- und Universitätsdozenten sind Bürger, Angehörige
eines akademischen Berufsstandes und Angestellte einer Bildungsinstitution. Wenn
sie als Bürger reden oder schreiben, sollten sie frei von institutioneller Zensur oder
Disziplin sein, aber ihre spezielle Position innerhalb der Gemeinschaft legt ihnen
besondere Pflichten auf. Als Wissenschaftler und Angestellte im Bildungswesen sollten
sie sich daran erinnern, dass die Öffentlichkeit ihren Berufsstand und ihre Institution
nach ihren Äußerungen beurteilen könnte. Daher sollten sie jederzeit genau sein,
angemessene Zurückhaltung üben, sie sollten Respekt gegenüber Meinungen Anderer
zeigen und sie sollten jede Anstrengung unternehmen, zu verdeutlichen, dass sie nicht
für die Institution sprechen.“11
   Ebenso sind Akademiker in ihrer Rolle als Lehrer „bei der Diskussion ihres
Fachs zur Freiheit im Klassenraum berechtigt, aber sie sollten vorsichtig damit
sein, kontroverse Themen in ihre Lehre einzuführen, die keinen Bezug zu ihrem
Fach haben.“12 Mit anderen Worten: Meine Freiheit als Bürger, alles zu sagen, was
ich möchte, wird durch meine Identität und meine Aufgabe als Wissenschaftler,
Wortführer meiner Fachrichtung in der Öffentlichkeit sowie Lehrender begrenzt.
Das ist die klassische republikanische Tugend des Verzichts auf persönliche Vor-
teile zugunsten des Allgemeinwohls.

Die Tugenden der amerikanischen Gesellschaft
Wie zahllose Fälle gezeigt haben, bieten weder eine gemäßigte Haltung noch jede
Menge Wahrhaftigkeit eine definitive Garantie für Toleranz gegenüber akade-
mischen Ausdrucksformen, welche von der Öffentlichkeit, Universitätsverwal-
tungen oder Gruppen mit genügend diskursivem Einfluss als „unamerikanisch“,
verräterisch oder dem Allgemeinwohl abträglich beurteilt werden könnten. Aber
wenn die tiefen Strukturen sozialen Einflusses, allenfalls herausgefordert durch
marginalisierte Gegenöffentlichkeiten, festlegen, was sowohl das Allgemein-
wohl als auch legitime Wissenschaft definiert, dann ist Wissenschaftsfreiheit
zwangsläufig massiv eingeschränkt, wenn auch für jeden unsichtbar, der sich in
der ideologischen Seifenblase befindet. Eines der klarsten und bezeichnendsten
amerikanischen Beispiele dessen ist, obwohl es üblicherweise nicht durch die
Linse der Wissenschaftsfreiheit betrachtet wurde, die amerikanische Phantasie
der „Rasse“ und der „rassischen Überlegenheit“, die entscheidend für die Recht-
fertigung der Sklaverei war und die darin resultierte, dass sich die USA selbst

11 Statement (wie Anm. 7).
12 Ebd.
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als „Herrenvolk-Demokratie“ konstituierte.13 Aber die „beinahe“-Hegemonie
rassistischer Ideologie in den USA bis nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete,
dass Afro-Amerikaner und andere „rassisch auffällige“ Gruppen einen äußerst
eingeschränkten und nach „Rassen“ getrennten Zugang zu Hochschulbildung
hatten. Ihre Forschungen, besonders zu Themen, welche mit „Rasse“ assoziiert
waren, wurden sowohl von der „weißen“ Wissenschaftsgemeinde als auch von
Öffentlichkeit und Regierung ignoriert. Deshalb begann die seriöse Erforschung
solcher grundlegender amerikanischer Institutionen wie der Sklaverei durch
Wissenschaftler, die als weiß definiert wurden, erst in den 1940er Jahren.14
Folglich war Wissenschaftsfreiheit für zahlreiche Gruppen von Menschen, wel-
che als „rassisch minderwertig“ betrachtet wurden, genauso wenig Realität wie
Bürger- oder Verfassungsrechte. Gleichzeitig wurde Forschung, die jene Gruppen
betraf und die weiße Vorherrschaft zu unterminieren drohten, selbstverständ-
lich als für die „Gesamtgesellschaft unangenehm“ erachtet. Sie wurde unsicht-
bar gemacht, wo sie überhaupt existierte, oder kam nicht durch die präventive
Selbstzensur. Während unpopuläre Formen wissenschaftlicher Expertise bei der
Marginalisierung des juristischen Gedankengebäudes Jim Crows15 gewiss eine
Rolle spielten, kann man bei der Verteidigung ihres Beitrags zum Allgemein-
wohl kaum argumentieren, die akademische Welt habe sich selbst erfolgreich

13 Die beste Einführung zum amerikanischen Rassismus bietet Karen E. Fields, Barbara
   J. Fields: Racecraft. The Soul of Inequality in American, Life, London 2016.;
   zum Konzept der „HerrenvolkDemokratie“ vgl. Kenneth P. Vickery: ‘Herrenvolk’
   Democracy and Egalitarianism in South Africa and the U.S. South, in: Comparative
   Studies in Society and History 16 (3), 1974, S. 309–328, https://doi.org/10.1017/
   S0010417500012469 (Stand 20.10.2020).
14 Für einem Überblick, weitere Referenzen und einen Bericht zur gegenwärtigen Situation
   vgl. Lori Latrice Martin, Biko Mandela Gray, Stephen C. Finley: Endangered and
   Vulnerable. The Black Professoriate, Bullying, and the Limits of Academic Freedom, in:
   Journal of Academic Freedom 10, 2019, https://www.aaup.org/JAF10/endangered-and-
   vulnerable-black-professoriate-bullying-and-limitsacademic-freedom (Stand
   20.10.2020).
15 Dies schloss bahnbrechende Forschungen, wie die soziologischen Studien von W. E. B.
   DuBois, ebenso wie die juristische Forschung ein, welche die Bürgerrechtsfälle der
   NAACP vor Gericht untermauerten, oder den berühmten Puppen-Test der Psychologen
   Kenneth und Mamie Clark, der im Fall Brown gegen den Board of Education in Topeka
   entscheidende Beweise für die Schädlichkeit der Rassentrennung in der Grundschule
   lieferte und 1954 vor dem Supreme Court verhandelt wurde.
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von dominanten rassistischen Paradigmen und ihren verheerenden Wirkungen
isoliert, wie es sich die Autoren der Erklärung von 1915 vorstellten. In der Tat
waren sie ausschlaggebend bei ihrer Schaffung und Verbreitung.16
   Das Schöne an einer quasi-hegemonialen „Tyrannei der Mehrheit“ liegt in
der Tatsache begründet, dass es für gewöhnlich keiner offizielle Zensur oder
physische Gewalt bedarf, um Wissenschaftsfreiheit zu beschneiden (obwohl
rassistische Regime selbstverständlich immer in hohem Maße auf Gewalt der
Bürger und der Verwaltungsinstitutionen zurückgegriffen haben, um Bevölke-
rungsteile zu disziplinieren, die zu ihnen in Opposition standen). Sie scheint
nicht mit republikanischen Werten zu kollidieren, sondern sich selbst tatsächlich
als Ausdruck und Schutz von Republikanismus und Freiheit gegen Korruption
und Sittenlosigkeit akademischer Staatsfeinde zu begreifen.
   Nicht überraschend sind akademische Kritiker und Kritiken oft Ziel von
Zensur und Repression gewesen, von den Tagen Scott Nearings bis zu den anti-
kommunistischen Hexenjagden, die von den 1930er bis zu den frühen 1960er
Jahren anhielten. Der Kapitalismus ist zweifellos die am tiefsten verwurzelte
Kraft im Leben Amerikas und jede kritische Untersuchung dessen kann als ein
Angriff auf Amerika selbst verstanden werden.
   Als Progressive, die zu einer gegensätzlichen ökonomischen Interpretation
amerikanischer Geschichte und Gesellschaft neigten, waren sich die Akademi-
ker, welche die Deklaration von 1915 verfassten, noch immer ihres Kampfes
für Wissenschaftsfreiheit bewusst, nämlich als eines Kampfes zwischen „Unter-
nehmensmacht und intellektuellem Untersuchungsauftrag, zwischen instrumenteller
Wissensproduktion und ergebnisoffener Untersuchung. Das Big Business war ein
bedeutender Mitspieler bei der Etablierung von Zielen moderner Forschungsuni-
versitäten im 19. und 20. Jahrhundert und sein Einfluss war nicht nur zu spüren,
sondern einer der Hauptpunkte in der Debatte zwischen Wissenschaftlern.“17 Faktisch
war der eigentliche Zweck der Institutionalisierung der Wissenschaftsfreiheit, der

16 Vgl. Rutledge M. Dennis: Social Darwinism, Scientific Racism, and the Metaphy-
   sics of Race, in: Journal of Negro Education 64 (3), 1995, S. 243–252, https://doi.
   org/10.2307/2967206 (Stand 20.10.2020); Hamilton Cravens: Scientific Racism
   in Modern America, 1870s–1990s, in: Prospects 21, 1996, https://doi.org/10.1017/
   S0361233300006633 (Stand 20.10.2020); Louis Menand: Morton, Agassiz, and the
   Origins of Scientific Racism in the United States, in: Journal of Blacks in Higher Edu-
   cation 34, 2001, S. 110–113, https://doi.org/10.2307/3134139 (Stand 20.10.2020).
17 Vgl. Hofstadter, Metzger: Development (wie Anm. 4), S. 413–467.
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von der AAUP unternommen wurde, wie Joan Wallach Scott betont, „diejenigen
vor der Macht des Kapitals“ zu schützen, die als die Radikalsten betrachtet wurden,
diejenigen, die in den vordersten Reihen von Bewegungen standen, die Sozial-
kritik übten und Reformen verlangten.18 Gesicherte akademische Stellung,
ethische Kodexe, reguläre Berichte zum Zustand der Wissenschaftsfreiheit und
gründliche Überprüfung nachweislicher Verstöße sollten die Autonomie der
Wissenschaftler gegen Übergriffe und Bestechung durch handfeste Interessen
schützen. Als aber eine Welle antikommunistischer Paranoia das Land über-
schwemmte, wurden diese Bollwerke akademischer Freiheit weggeschwemmt
wie marode Strandhütten.
   Der McCarthyismus (bei dem man ungeachtet der Bezeichnung niemals den
Fehler begehen sollte, ihn auf die Person Joseph McCarthy zu reduzieren) spielte
sich ab als virtuoser republikanischer Kreuzzug einer tyrannischen Mehrheit, ge-
waltlos und innerhalb legaler Grenzen, aber mit ernsten und lang andauernden
Konsequenzen. Er funktionierte als Zwei-Phasen-Prozess, in dem die Regierung
verdächtige Personen und Unternehmen verhörte; Schulen und Universitäten
feuerten sie schnell, gewöhnlich skrupellos dem offiziellen Protokoll folgend.19
Verwalter, Administratoren und Fachbereiche gewöhnten sich mit wenig Wider-
stand an die Repression und den Ausschluss gebrandmarkter Kollegen, „wobei die
moralische Integrität der Akademien erodierte“. Aber, wie Ellen Schrecker betont,
„die meisten der Männer und Frauen, die sich an der Entlassung ihrer umstrittenen
Kollegen beteiligten oder diese duldeten, taten dies, weil sie aufrichtig glaubten, dass
dieses Verhalten im Interesse der Nation lag. Patriotismus, nicht Zweckmäßigkeit, hielt
den Willen der akademischen Gemeinschaft aufrecht, mit dem McCarthyismus zu kol-
laborieren. Die intellektuelle Unabhängigkeit, die von amerikanischen Akademikern so
gepriesen wird, erstreckte sich schlicht nicht auf die Regierung der Vereinigten Staaten.“20
   Mit anderen Worten wurde die Wissenschaftsfreiheit zerstört, um sie vor der
imaginären Bedrohung durch eine totalitäre, kommunistische Übernahme zu
schützen, einer paradoxen Logik folgend, welche die amerikanische Repression

18 Wallach Scott: Knowledge (wie Anm. 5), S. 42, 48.
19 Ellen W. Schrecker: No Ivory Tower. McCarthyism and the Universities, New York
   1986, bleibt die beste Studie zur Reaktion der akademischen Welt auf den McCar-
   thyismus und basiert auf den zahlreichen Protokollen von Anhörungen und anderen
   Papieren, die im Verlauf der Massenentlassungen kompromittierter Wissenschaftler
   produziert worden waren.
20 Ebd., S. 340.
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bürgerlicher Freiheiten von den frühesten Tagen der Republik bis hin zum
11. September 2001 definierte.21
   Obwohl es unmöglich ist, die Wirkungen der Säuberungen von hunderten
Akademikern und das angespannte Klima, welches deshalb in der akademischen
Welt entstand, zu quantifizieren, gibt es keinen Zweifel daran, dass es das Antlitz
des amerikanischen Hochschulwesens radikal veränderte und die „stille Gene-
ration“ der Universitätsabsolventen der 1950er Jahre schuf. Schrecker folgert
daraus: „Die Durchsetzung des McCarthyismus innerhalb der akademischen Welt
hatte eine ganze Generation radikaler Intellektueller zum Schweigen gebracht und
löschte jede bedeutende Opposition gegen die offizielle Version des Kalten Krieges aus.
Als Ende der 50er Jahre die Anhörungen und Entlassungen abnahmen, geschah dies
nicht, weil sie auf Widerstand gestoßen waren, sondern weil sie nicht länger nötig
waren. An der Akademiker-Front nichts Neues.“22
   Diese Katastrophe für die Wissenschaftsfreiheit brachte jedoch auch bedeuten-
de Reaktionen mit ebenso gewaltigen Konsequenzen für das akademische Leben
hervor. Die Erste war die systematische Demontage der legislativen Grundlagen
der McCarthy’schen Repression durch den Supreme Court, die im expliziten
verfassungsmäßigen Schutz der Wissenschaftsfreiheit gipfelte. Die Zweite war
die transformative Ära der 1960er Jahre mit den Studenten-, Bürgerrechts- und
Friedensbewegungen sowie blühenden Gegenkulturen, die alle massive Aus-
wirkungen auf die akademische Welt haben sollten.
   Wie wir sehen werden, scheiterte sowohl die konstitutionelle als auch die
gegenkulturelle Denkrichtung daran, das zu verhindern, was zur größten Heraus-
forderung für die Wissenschaftsfreiheit in der jüngsten Vergangenheit werden
sollte: die neoliberal-administrative Übernahme der Universitäten.
   Entstanden aus dem kulturellen und politischen Ferment der 1960er Jahre,
brodelnd unter ihrer bleiernen, durch den Kalten Krieg bedingten Konformität
und Furcht, tauchten – neben den Beat-Poeten, dem Cool Jazz und der Bürger-
rechts- und Friedensbewegung – studentische Aktivisten als Rebellen gegen die
entmenschlichende Technokratie auf, welche die kapitalistische nicht weniger
als die kommunistische Sphäre drangsalierte. 1960 behaupteten Mitglieder der
Students for a Democratic Society in der Erklärung von Port Huron:

21 Vgl. Thomas Clark: Repression and Exclusion as Keys to Liberty and Democracy.
   The Political Thought of James Fenimore Cooper, in: Cornelis A. van Minnen, Sylvia
   L. Hilton (Hg.): Political Repression in US History, Amsterdam 2009, S. 41–55.
22 Schrecker: No Ivory Tower (wie Anm. 19), S. 341.
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   „Menschen haben ein ungenutztes Potenzial zur Selbstkultivierung, Selbstaus-
   richtung, Selbstverständnis und Kreativität. Es ist dieses Potenzial, das wir als
   entscheidend erachten und an das wir appellieren, nicht an die Möglichkeit des
   Menschen zu Gewalt, Unvernunft und Unterordnung unter die Autoritäten. […].
   Wir würden Macht, gründend auf Besitz, Privileg oder Umstände, ersetzen durch
   eine Macht und Eindeutigkeit, gründend auf Liebe, Nachdenklichkeit, Vernunft
   und Kreativität.
   Als soziales System suchen wir eine Demokratie mit individueller Partizipation zu
   etablieren, die von zwei zentralen Zielen bestimmt wird: dass der Einzelne Anteil
   an jenen sozialen Entscheidungen nimmt, welche Qualität und Ausrichtung seines
   Lebens bestimmen, und dass die Gesellschaft so organisiert wird, dass sie Menschen
   zur Unabhängigkeit ermutigt und die Mittel für ihre allgemeine Teilhabe bietet.“23

Wie Theodore Roszak in The Making of a Counter Culture, sowohl einer der ers-
ten wissenschaftlichen Analysen als auch Manifest der Bewegung, erklärt, wurde
die Universität zur Brutstätte der Gegenkultur, nicht weil sie bereits zuvor ein
Ort kritischen und unabhängigen Denkens war, sondern weil sie Vertreter der
jungen Generation zusammenbrachte, die von ihren Mittelklasse-Nachkriegs-
leben in materiellem Überfluss derart verwöhnt waren, dass sie die Forderungen
nach Konformität und Anpassung instinktiv ablehnten, welche die korporativ
und technokratisch organisierte Universität von ihnen verlangte.24
   Die Studenten, die 1968 die Columbia University besetzten und 1964 in
Berkeley die Free-SpeechBewegung gründeten, glaubten, dass der Kampf um die
Wissenschaftsfreiheit lange verloren und vom Lehrkörper aufgegeben worden
war, da die Universitäten zu einem integralen Bestandteil des kapitalistischen
militärisch-industriellen Komplexes geworden waren, der die amerikanische
Gesellschaft kontrollierte, Wissensfabriken, die konformistische Drohnen aus-
spien, trainiert darauf, die Arbeitsplätze der Technokratie zu bemannen, welche
die akademische Welt selbst perfekt verkörperte. Nach dieser Lesart war die
angeblich existierende Wissenschaftsfreiheit eine bourgeoise Illusion, die bloß-
gestellt und durch eine wahrhaft menschliche Befreiung ersetzt werden muss.
Wie sagte Mario Savio, Wortführer der Berkeley Free-Speech-Bewegung, 1964
in seiner berühmten Rede auf den Stufen der Sproul Hall: „Wir haben eine Auto-
kratie, welche diese Universität beherrscht. Sie wird gemanaged […]. Wenn dies

23 Alexander Bloom, Wini Breines (Hg.): “Takin’ It to the Streets”. A Sixties Reader,
   New York 2015, S. 66, 67.
24 Theodore Roszak: The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic
   Society and Its Youthful Opposition, Garden City/NJ 1969, S. 1–41.
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eine Firma ist, und wenn der Aufsichtsrat das Direktorium ist und wenn Präsident
Kerr wirklich der Manager ist, dann sage ich Ihnen etwas – der Lehrkörper ist ein
Haufen Angestellter und wir sind das Rohmaterial! Aber wir sind ein Haufen Roh-
material, das nicht vorhat, das mit sich machen zu lassen. Wir lassen uns nicht zu
irgendwelchen Waren machen! Wir wollen nicht damit enden, von einigen Klienten
der Universität verkauft zu werden, sei es die Regierung, die Industrie, seien es ge-
werkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, seien es die Gewerkschaften, sei es irgend-
jemand anderes! Wir sind Menschen!“25
   Während die Fundamentalkritik der Studenten weder zum Ende des Kapi-
talismus oder der Technokratie führte, veränderte die Studentenbewegung, das
Engagement der Bürgerrechtsbewegung und der Feminismus die akademische
Landschaft grundlegend und erweiterte den Begriff Wissenschaftsfreiheit auf
verschiedene Ebenen: Freie Meinungsäußerung und die ausdrücklich nicht-
akademische politische Kontroverse, welche sie begleiteten, wurden zu einem
bleibenden Gegenstand von Kongressen. Das Statement of Academic Freedom
von 1940 wurde 1969 durch interpretierende Fußnoten signifikant revidiert,
um es auf den neusten Stand zu bringen, und die Wissenschaft selbst, die sich
nun wesentlich diversifizierte, problematisierte aggressiv ihre eigene Verstrickung
in Ideologie und Macht über Fachrichtungen hinweg, da die Universitäten sich
mit Wissenschaftsaktivisten und der Politisierung der Forschung auseinander-
setzten.26
   Während diese Transformationen sich zu entfalten begannen, beschäftigte
sich der Supreme Court als Folge des Angriffs des McCarthyismus zunehmend
mit der Wissenschaftsfreiheit. Spätestens seit 1952 begann der Gerichtshof die
McCarthy’schen Loyalitätsschwüre, die von öffentlich Bediensteten verlangt
wurden, als nicht verfassungsgemäß niederzuschlagen, und er versuchte in
diesem Prozess das Verhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und erstem Zu-
satzartikel der Verfassung zu klären.27 Im Fall Keyishian gegen den Verwaltungs-
rat der University of the State of New York (1967) bestätigte der Gerichtshof

25 Mario Savio: The Essential Mario Savio. Speeches and Writings That Changed Ame-
   rica (Hg.: Robert Cohen), Oakland/CAL 2014, S. 187 f., http://www.questia.com/
   read/124971926/the-essentialmario-savio-speeches-and-writings (Stand 20.10.2020).
26 Für eine Fallstudie siehe Fabio Rojas: From Black Power to Black Studies. How a Radical
   Social Movement Became an Academic Discipline, Baltimore 2010.
27 Vgl. Marjorie Heins: Priests of Our Democracy. The Supreme Court, Academic Free-
   dom, and the Anti-Communist Purge, New York 2013, S. 177–222.
ZWG-01-2020                                      Thomas Clark: Für das Allgemeinwohl | 149

schließlich: „Unsere Nation ist dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit zutiefst
verpflichtet, die für alle von uns und nicht nur für die betroffenen Lehrkräfte von
überragendem Wert ist. Die Freiheit ist deshalb ein spezielles Anliegen des ersten
Zusatzartikels der Verfassung, der keinerlei Gesetze duldet, die den Klassenraum
orthodox überschatten.“ 28
   Selbstverständlich spiegelte diese Entscheidung in keiner Weise einen natio-
nalen Konsens wieder. Es gab eine Gegenreaktion konservativer Medien und
Politiker und die Drohungen und Beschwerden gegen Richter Brennan zeich-
nen sich durch exakt jene Sprache aus, die aus heutiger Zeit von Trump’schen
Internet-Trollen bekannt ist.29 Nichtsdestoweniger gab der Fall Keyishian den
Ton für zahlreiche nachfolgende Entscheidungen des Supreme Court an, welche
die Notwendigkeit der Anerkennung der akademischen Welt als eigenständige
Sphäre der Freiheit und professionellen Expertise betonten. Folglich stellte der
Supreme Court, als er die „rassenbewusste“ Aufnahmepolitik der Rechtswissen-
schaftlichen Fakultät der Universität Michigan im Fall Grutter gegen Bollinger
bestätigte, fest: „Wir haben seit langem anerkannt, dass, angesichts der wichtigen
Aufgabe öffentlicher Bildung und der umfassenden Rede- und Gedankenfreiheit,
die mit der universitären Umgebung assoziiert werden, Universitäten eine spezielle
Nische in unserer Verfassungstradition einnehmen. […]. Unsere Schlussfolgerung,
dass die Rechtswissenschaftliche Fakultät ein zwingendes Interesse an einer vielfälti-
gen Studentenschaft hat, ist geprägt von unserer Sichtweise, dass der Gewinn einer
vielfältigen Studentenschaft im Mittelpunkt des eigentlichen, verfassungsmäßigen
Auftrags der Rechtswissenschaftlichen Fakultät steht und dass ‚Gutwilligkeit‘ seitens
der Universität ‚vermutlich‘ fehlt, was das Gegenteil zeigt.“ 30
   Wie Philip Lee argumentiert, werden die Dinge in Fällen komplizierter, in denen
die Interessen der Fakultät und der Universität etwa im Zusammenhang mit staat-
lichen Eingriffen nicht übereinstimmen, z.B. wenn Gerichte feststellen müssen, ob
Reden von Dozenten, die zu ihrer Entlassung führten, von den Rahmenbedingun-
gen der Wissenschaftsfreiheit gedeckt waren oder ein Fehlverhalten darstellten.31

28 Zitiert nach Rachel Levinson: Academic Freedom and the First Amendment, AAUP
   Summer Institute, 2007, https://www.aaup.org/our-work/protecting-academic-freedom/
   academic-freedom-andfirst-amendment-2007 (Stand 6.6.2020).
29 Heins: Priests (wie Anm. 27), S. 217–219.
30 Zitiert nach Philip Lee: Academic Freedom at American Universities. Constitutional
   Rights, Professional Norms, and Contractual Duties, Lanham/MD 2015, S. 72.
31 Ebd., S. 76–80.
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Abgesehen von den konstitutionellen Fragen, die in die gerichtliche Entschei-
dung involviert sind, sind solche Fälle unvermeidlich eingebettet in öffentliche
Debatten über Politik, Rasse, Geschlecht und andere höchst kontroverse An-
gelegenheiten, die, wie folgendes Beispiel zeigt, klare Lösungen ausschließen:
2009 mailte Soziologieprofessor William Robinson von der Universität Santa
Barbara Studenten Bilder, die suggerierten, die israelische Politik in Gaza sei
mit dem Holocaust vergleichbar. Zwei der Studierenden reichten, unterstützt
von der Anti-Defamation League, Beschwerden ein und es tauchten zahlreiche
Fragen auf: War die Mail eine Erweiterung oder lag sie außerhalb des Raumes,
der von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt wurde? Erzeugte sie eine „makelbe-
haftete Pädagogik“, die konstitutionelle Zensur erforderte? War dies sowohl eine
private als auch eine antisemitische Meinung oder eine Meinungsäußerung, die
aufgrund und im Rahmen der wissenschaftlichen Praxis Robinsons zu vertreten
war? Nach zahlreichen Befragungen, Protesten und Verteidigungen hielt sich
die Universität aus Sorge um den Schutz der Wissenschaftsfreiheit mit der Ver-
hängung von Disziplinarmaßnahmen zurück, jedoch gab es nachweislich keinen
Konsens in dieser Angelegenheit, weder unter den Lehrenden noch unter den
Studenten oder der Öffentlichkeit.32
   Dies deutet auf eine der größten Herausforderungen für die Wissenschaftsfrei-
heit in den gegenwärtigen Vereinigten Staaten hin, die nicht von der Tyrannei
der öffentlichen Meinung oder der zunehmenden Konformität ausgeht, sondern
eher von ihrem Gegenteil, der Heterogenität und Fragmentierung der ameri-
kanischen Gesellschaft und der zunehmenden Schwierigkeit, eine gemeinsame
Diskussionsbasis zu finden. Ebenso wie Ellen Schrecker gezeigt hat, dass die
Universitäten während des McCarthyismus keine Elfenbeintürme waren, argu-
mentiert Carey Nelson in No University is an Island, dass die Bereiche, welche
die amerikanische Gesellschaft spalten, in der Wissenschaftscommunity in einem
Maße repliziert werden, welches die Wissenschaftsfreiheit unterminiert. Um
ein Beispiel zu nennen, das im Zusammenhang mit dem Fall Robinson steht:
Der tiefe Graben im Israelisch-Palästinensischen Konflikt, der häufig die völlige
moralische Delegitimierung der Gegenseite als antisemitisch bzw. dem Geno-
zid gegenüber positiv eingestellt einschließt, hat in vielen Mittelost-Instituten
zu Bedingungen geführt, in denen die Position des Einzelnen in dieser Ange-
legenheit die Beschäftigungsfähigkeit definiert, ungeachtet wissenschaftlicher

32 Robert M. O’Neil: New Challenges to Academic Freedom in the United States, in:
   International Higher Education 57, 2009, S. 3–5.
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Verdienste.33 Was wir hier wieder einmal sehen, ist die nach wie vor anhaltende
Wirkung eines republikanischen Tugenddiskurses, in dem die jeweils eigene
Gruppierung als Verfechter des Gemeinwohls, der unbestreitbaren Wahrheit und
moralischen Überlegenheit dargestellt wird, während oppositionelle Stimmen
als eigennützig, korrupt und unmoralisch entwertet werden und daher anfällig
dafür sind, vom Diskurs ausgeschlossen zu werden, wie es im aktuellen Jargon
heißt. „Wenn Selbstgerechtigkeit und ein Sinn für eine einzigartige Opferrolle […]
die Wahrnehmung der Akteure auf dem Campus vollkommen dominieren“, warnt
Nelson, „dann werden die Bedrohungen für die Wissenschaftsfreiheit nur noch größer
werden“, während „Gruppeninteressenpolitik und ihre Effekte über professionelle
Entscheidungen herrschen.“ 34
   Die besondere Fragilität der Wissenschaftsfreiheit im amerikanischen Hoch-
schulwesen des 21. Jahrhunderts resultiert aus einer Verschmelzung dieser Art
ideologischer Querelen, der Neoliberalisierung der Universitäten sowie dem
Fehlen konstitutioneller Grenzen der Möglichkeit des Administrators, Wis-
senschaftsfreiheit effektiv einzuschränken. Wie oben beschrieben, „stärkten
Gerichtsentscheidungen die Rechte öffentlicher Universitäten und ihrer Fachberei-
che, frei zu sein von äußeren Einflüssen, aber genau genommen sprachen sie nicht
die Machtbalance zwischen den Fachbereichen und der Verwaltung an.“ 35 Wie in
einer Reihe von Gerichtsentscheiden klar geworden ist, die im Fall Garcetti gegen
Ceballos 2006 gipfelten, nahm das Gericht Akademiker nicht von dem Prinzip
aus, dass die Rechte, welche sich aus dem ersten Zusatzartikel der Verfassung
ergeben, nicht durch Vorgesetzte verletzt werden, die ihre Reden im beruflichen
Kontext regeln. Somit ignoriert es den Grundsatz wissenschaftlicher Souveräni-
tät über Forschungs-, Lehr- und Graduierungsangelegenheiten gegenüber der
Verwaltung, die auf beruflicher Kompetenz beruhen, wie in der Erklärung vom
1940 dargelegt. Mario Savio hatte nach Ansicht des Supreme Court Recht, die
von der akademischen Fakultät abhängigen Beschäftigten zu berücksichtigen. Die
AAUP musste in einer Erklärung mit dem Titel Protecting an Independent Faculty
Voice. Academic Freedom After Garcetti v. Ceballos nochmals bestätigen: „im Lichte
von Garcetti und seiner Nachfolger ist es dringender denn je, dass klar wird, dass
das Plädoyer für die Wissenschaftsfreiheit nicht nur auf juristischem Lackmuspapier

33 Cary Nelson: No University Is an Island. Saving Academic Freedom, New York 2010,
   S. 115– 119.
34 Ebd., S. 115.
35 Delfattore: Knowledge (wie Anm. 8), S. 226.
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steht und stand, sondern in der Geschichte des Berufsstandes, der eine Universität
anerkennt, die diesen Namen verdient.“ 36 Die Frage ist, bis zu welchem Grade die
gegenwärtige Universität, gemessen an den Standards der Erklärung von 1915
und der revidierten Erklärung von 1940, dies erfüllt.
   Wenn wir die heutige akademische Landschaft betrachten, ist es wichtig,
im Gedächtnis zu behalten, dass private Bildungsinstitutionen in den USA
den Spielraum der akademischen Freiheit ihrer Fakultäten vertraglich regeln
können37 (ein fundamentalistisches Bible College hat jedes Recht, einen Professor
zu feuern, der in einer wissenschaftlichen Arbeit die Evolutionstheorie vertei-
digt), dass die Autonomie der Fakultäten auf der freiwilligen Anpassung der
Bildungsinstitutionen an die Standards der AAUP beruht und dass der Schutz
der Redefreiheit nach dem ersten Zusatzartikel der Verfassung diese Einrichtung
vor Einmischung von außen abschirmt, aber nicht die Freiheit der Fakultät vor
einer Verwaltung schützt, die im Zuge der neoliberalen Wende die Macht von
dieser Fakultät übernommen hat.
   Die Literatur zu den globalen Auswirkungen des Neoliberalismus auf das
Hochschulwesen ist enorm. Liberale, konservative und selbst libertäre Wissen-
schaftler haben ihn aus verschiedenen Blickwinkeln studiert und kritisiert. Der
erklärtermaßen linke Professor Henry Giroux nimmt kein Blatt vor den Mund
und bekundet:
   „Ein Generalangriff [...] auf die Hochschulbildung in Nordamerika, dem Vereinigten
   Königreich und verschiedenen anderen europäischen Ländern ist im Gange. Uni-
   versitäten wird die Finanzierung entzogen, Studiengebühren schießen in die Höhe,
   die Bezüge der Lehrenden schrumpfen während die Arbeitsbelastung steigt und
   Fakultäten werden zu einer subalternen Klasse von Wanderarbeitern degradiert. Es
   werden Unternehmensmanagementsysteme eingeführt, die von marktähnlichen
   Prinzipien gestützt werden und auf Messgrößen, Kontrolle und Leistungsdarstel-
   lung basieren. Letzteres stärkt eine Prüfungskultur, die die Organisationsstrukturen
   einer Marktwirtschaft nachahmt. [...]

36 Robert M. O’Neil u.a.: Protecting an Independent Faculty Voice. Academic Freedom
   after Garcetti v. Ceballos, in: Academe 95 (6), 2009, S. 67–88, hier S. 84, https://www.
   aaup.org/report/protectingindependent-faculty-voice-academic-freedom-after-garcetti-
   v-ceballos (Stand 20.10.2020).
37 Benjamin Ginsberg: The Fall of the Faculty. The Rise of the All-Administrative
   University and Why It Matters, New York 2011, S. 133, http://www.questia.com/
   read/121480755/the-fall-of-the-facultythe-rise-of-the-all-administrative (Stand
   20.10.2020).
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   Das neoliberale Paradigma, das diesen Angriffen auf die öffentliche Bildung und
   das Hochschulwesen zugrunde liegt, verabscheut die Demokratie und betrachtet
   die öffentliche und höhere Bildung als eine giftige bürgerliche Sphäre, die eine Be-
   drohung für Unternehmenswerte, Macht und Ideologie darstellt. Als demokratische
   öffentliche Sphären sind Colleges und Universitäten angeblich dazu da, Studen-
   ten kritisches Denken beizubringen, phantasievolle Risiken einzugehen, zu lernen,
   moralische Zeugen zu sein und sich die Fähigkeiten anzueignen, die es einem er-
   möglichen, sich mit anderen auf eine Weise zu verbinden, die das demokratische
   Gemeinwesen stärkt, und genau aus diesem Grund werden sie von den konzentrier-
   ten Kräften des Neoliberalismus angegriffen.“ 38

Auch wenn Terminologie und Terrain sich geändert haben mögen, würden die
progressiven Autoren der Erklärung von 1915 nicht weniger als jene des State-
ments von Port Huron 1960 in Giroux’ Bericht wahrscheinlich die fundamenta-
len Konflikte zwischen Kapital und humanistischer Wissenschaft erkennen, die
sie so tief beunruhigt hatten. Es steht außer Frage, dass die Abhängigkeiten, die
durch die systematische Prekarisierung, Bürokratisierung und Rationalisierung
der akademischen Arbeit geschaffen werden, sowie der korporative Rahmen, in
dem Wissenschaft stattfindet, einen tiefgreifenden Einfluss auf die akademische
Freiheit haben.
   Darüber hinaus haben, wie der libertäre Gelehrte Benjamin Ginsberg argu-
mentiert, die Verwaltungen die moralischen und aktivistischen Haltungen der
Studenten und Dozenten zu ihrem Vorteil verändert: „Auf vielen Campus sind
die politischen Verpflichtungen der Fakultät von den Verwaltungen übernommen
und pervertiert worden. Themen, die für viele Professoren moralische Gebote dar-
stellten, sind mächtige Instrumente der administrativen Vernetzung geworden. [...]
Vereinfacht ausgedrückt, präsentieren Universitätsverwaltungen oft Vorschläge, die
eher und vor allem darauf abzielen, ihre eigene Macht auf dem Campus zu stärken,
als altruistische und öffentlichkeitswirksame Bemühungen zur Förderung sozialer
und politischer Ziele wie Gleichheit und Vielfalt zu unterstützen, denen sich die
Fakultät nicht widersetzen kann.“ 39
   Auf Leistung und einem Belohnungssystem basierende Forschungsfinan-
zierung, Ersetzung unbefristeter Stellen durch Lehrbeauftragte in prekären
Arbeitsverhältnissen, administrative Lehrplanverwaltung in Form von Fernlern-
formaten, Evaluations- und Überwachungsmechanismen, Regelung der Rede-
freiheit durch Verwaltungsbeamte, Ernennung von Fakultätsmitgliedern eher

38 Henry A. Giroux: Neoliberalism’s War on Higher Education, Chicago 2014, S. 1.
39 Ginsberg: Fall (wie Anm. 37), S. 97, 101.
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als Markenrepräsentanten denn Wissenschaftler sowie viele andere neoliberale
Praktiken an heutigen Universitäten summieren sich zu massiven Eingriffen in
die Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre, wie sie traditionell ver-
standen wurde. Trotz aller messerscharfen akademischen Sezierungen war der
tatsächliche Widerstand gegen diese systematischen Transformationen im Namen
der unangreifbar perfekten Tugend des Marktes nur flüchtig.
   Von der Entlassung von Edward Ross über die Massenproteste von Studenten
bis hin zur vermarkteten Universität der Gegenwart war das Land der Freien der
akademischen Freiheit nicht annähernd so gastfreundlich, wie man es erwarten
könnte. In den Vereinigten Staaten ist nicht gewaltsame Unterdrückung und
autoritäre Herrschaft seine Nemesis, sondern die Unterdrückung von Dissens im
Namen der Tugend, sei es die überlegene Weisheit des Marktes und des Kapitals,
die vermeintliche Vormachtstellung der als weiß bezeichneten Menschen oder
die bigotte Rechtschaffenheit gespaltener Öffentlichkeiten, die akademische
Schiedsrichtertätigkeit ablehnen. Ein kurzer Blick auf den Stand der Wissen-
schaftsfreiheit in China, Russland, Indien und Brasilien lässt vermuten, dass
die Dinge viel schlimmer sein könnten.40 Aber es könnte auch viel besser sein.

                                                   Übersetzung: Michael Bertram

40 Katrin Kinzelbach u.a.: Free Universities. Putting the Academic Freedom Index into
   Action, Global Public Policy Institute, March 2020, https://www.gppi.net/media/
   KinzelbachEtAl_2020_Free_Universities.pdf (Stand 20.10.2020).
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