Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2021) 15:229–238 https://doi.org/10.1007/s11757-021-00673-w ÜBERSICHT Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert Angela Guldimann1 · Reinhard Brunner2 · Elmar Habermeyer1 Eingegangen: 17. Juni 2021 / Angenommen: 21. Juni 2021 / Online publiziert: 21. Juli 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Zusammenfassung In diesem Beitrag wird die Arbeit des Kantonalen Bedrohungsmanagements (KBM) Zürich vorgestellt. Personen, die durch ihre Kommunikation und/oder ihr Verhalten Hinweise auf ein mögliches Gewaltpotenzial zeigen (sog. Gefährder), sollen frühzeitig erkannt, eingeschätzt und so risikobehaftete Entwicklungen entschärft werden. Forensische Fachpersonen der Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management (FFA) der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich unterstützen die polizeilichen Gewaltschützer darin, ein tragfähiges Fallverständnis im Hinblick auf die (psychisch kranken) Gefährder zu erarbeiten. Das Fallverständnis gilt es, im Rahmen von Gefährderansprachen sorgfältig zu überprüfen. In dieser Arbeit wird zudem erläutert, wie das KBM Behörden und Institutionen in der Einschätzung und im Management mit möglichen Gefährdern unterstützt. Hierbei werden potenzielle Fallstricke der Behördenmitglieder im Umgang mit Querulanten reflek- tiert, aber auch die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bzw. der betroffenen Behörden in den Fokus gerückt. Zuletzt werden auch Gefahren des Bedrohungsmanagementansatzes reflektiert, und es wird für höchstmögliche Transparenz gegenüber den potenziellen Gefährdern sowie den Bürgern und Bürgerinnen plädiert. Schlüsselwörter Risikoeinschätzung · Gefährder · Querulant · Forensische Einschätzung · Behörden · Fürsorgepflicht Threat management: de-escalation before something happens Abstract This article presents the work of the Cantonal Threat Management (KBM) Zurich. People who, through their communication and/or behavior, give rise to serious concerns about their potential for violence (so-called person of concern) should be identified and assessed at an early stage. As a result, risky developments can be defused. Forensic specialists from the forensic assessment and risk management (FFA) department at the Psychiatric University Clinic in Zurich support the violence protection police officers in developing a sound case understanding, often in connection with persons who are mentally ill. The understanding of the case must be carefully checked when addressing the person of concern. This paper also explains how the KBM supports authorities and institutions in assessing and managing potential persons of concern. Potential pitfalls of members of authorities in dealing with querulous persons are reflected on but the employer’s duty of care is also brought into focus. Finally, the dangers of the threat management approach are also reflected and the plea is for the greatest possible transparency towards potential persons of concern and citizens in general. Keywords Risk assessment · Person of concern · Querulous person · Forensic assessment · Public authorities · Duty of care Dr. phil. Angela Guldimann angela.guldimann@pukzh.ch 1 Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management (FFA), Klinik für Forensische Psychiatrie, Psychiatrische 2 Universitätsklinik Zürich, Lenggstraße 31, Postfach Präventionsabteilung, Kantonspolizei Zürich, Zürich, 363, 8032 Zürich, Schweiz Schweiz K
230 A. Guldimann et al. Abb. 1 Der Weg zur Gewalt Probe- handlung Tat Planung / Recherche Vorbereitungs- handlung Gewalt als Missstand / Groll Möglichkeit Bedrohungen erkennen, einschätzen und einem befristeten Zeitraum mittels Gutachten in der Regel entschärfen auf die langfristige Kriminalprognose (d. h. auf einen Zeit- raum von einem bis 3 Jahren) abzielende Fragestellungen Die Geschichte des Bedrohungsmanagements, auf Englisch wie beispielsweise die Möglichkeit der Haftentlassung ei- „threat assessment“ oder „threat management“, beginnt in ner beschuldigten oder verurteilten Person ab (Hoffmann den 1980er- und 1990er-Jahren in den USA. Damals wur- und Roshdi 2015; Mokros et al. 2021). Demgegenüber den Attentate auf Personen des öffentlichen Lebens sowie befasst sich das Bedrohungsmanagement mit bedrohlichen der Versuch, solche Angriffe durch Sicherheitsbehörden zu Personen, die in der Regel in Freiheit sind und über die verhindern, unter dem Begriff der schweren zielgerichte- oft (noch) wenige Informationen verfügbar sind. Die Fall- ten Gewalt untersucht (Borum et al. 1999). Zielgerichtete konstellationen sind hier ausgesprochen dynamisch, d. h., Gewalt ist der Endpunkt eines grundsätzlich nachvollzieh- es geht oftmals um Aussagen zum kurzfristigen, d. h. sich baren Weges von Gedanken und Handlungen einer Person. innerhalb von Tagen und Wochen manifestierenden Risiko Sie stellt aus deren subjektiven Sicht gleichsam die Lösung einer Gewalthandlung. Die Fallbearbeitung wird inhaltlich eines Missstands/Grolls oder einer Krise dar (Abb. 1; Her- und zeitlich weitgehend von dieser Dynamik bestimmt, leitung: Calhoun und Weston 2003). d. h., die Situation muss bis zur Entschärfung der Lage Von außen kann ein solcher Weg hin zu einer Gewalttat in enger, interdisziplinärer Zusammenarbeit verschiedener oftmals aufgrund von Warnsignalen erkannt werden (Me- Berufsgruppen (Polizei, Sozialarbeiter usw.) fortwährend loy et al. 2012; Guldimann et al. 2013). Damit eröffnet sich neu beurteilt werden. Risikoeinschätzungen müssen dy- grundsätzlich die Möglichkeit, im Rahmen eines Bedro- namisch und, wenn nötig, innert Stunden erstellt werden, hungsmanagements frühzeitig und präventiv einzugreifen weil für ein präventives Eingreifen u. U. rasche Maßnahmen (Allwinn und Hoffmann 2016). Ein Bedrohungsmanage- notwendig sein können. ment ist dann erfolgreich, wenn durch das rechtzeitige Er- Die Disziplin des Bedrohungsmanagements hat sich in- kennen, Einschätzen und Entschärfen von risikobehafteten zwischen weltweit etabliert (Meloy et al. 2021). Sie umfasst Entwicklungen die tatsächliche Ausübung von Gewalttaten nicht mehr nur den Schutz von Personen des öffentlichen verhindert werden kann (Meloy et al. 2021). Dazu muss die Lebens, sondern auch von Privatpersonen und Mitgliedern Aktivierungsschwelle des Bedrohungsmanagements niedrig von Behörden sowie von Unternehmen, Schulen und Uni- angesetzt werden, damit mögliche Bedrohungen frühzeitig versitäten. Auch inhaltlich wird der Wirkungsbereich des erkannt werden, noch bevor die Schwelle zu einer Straf- Bedrohungsmanagements heute breit gefasst. Es geht, wie tat überschritten ist. Ein Bedrohungsmanagement ist bereits Hoffmann und Roshdi (2015) schreiben, „nicht mehr allei- dann angezeigt, wenn begründeter Anlass zu ernsthaften ne um die Verhinderung von schwersten Gewalttaten, son- Befürchtungen in Bezug auf ein Gewaltpotenzial (Brunner dern auch um den Umgang mit einem breiteren Spektrum 2017) besteht. bedrohlicher Verhaltensweisen, die zu schweren Belastun- Der niederschwellige und präventive Ansatz des Be- gen bei den Betroffenen führen können“ (S. 267). drohungsmanagements unterscheidet dieses teilweise von In diesem Beitrag wird die Arbeit des Bedrohungsmana- der traditionellen kriminalprognostischen Vorgehensweise gements am Beispiel des Kantons Zürich vorgestellt. (Meloy et al. 2021). Diese befasst sich mit Risikoeinschät- zungen im Rahmen von z. B. Strafverfahren und klärt in K
Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert 231 Kantonales Bedrohungsmanagement In Rahmen der Prüfung werden Äußerungen (z. B. „Ich verstehe, warum jemand Amok läuft“) und Verhaltenswei- Der Einführung des Kantonalen Bedrohungsmanagements sen (z. B. Privatadressen ausfindig machen) der gemeldeten (KBM) in Zürich ging ein zweifaches Tötungsdelikt vo- Person im Gesamtkontext (z. B. Kündigung durch Arbeit- raus, das ein breites mediales Echo fand: Im August 2011 geber erhalten) evaluiert. Die Gewaltschützer erheben dazu wurden eine in Trennung lebende Frau und Mutter von 6 in einem standardisierten Verfahren Informationen zum be- Kindern sowie die Leiterin des für die Familie zuständigen sorgten Melder, zu dessen Beweggründen für die Meldung Sozialamtes durch den gewalttätigen und behördlich bereits und zu seiner Beziehung zum möglichen Gefährder. Zu- bekannten Ehemann mit Kopfschüssen auf offener Straße dem werden Informationen über die Gesamtsituation, den getötet. Diese Tat war der Anlass für zahlreiche politische potenziellen Gefährder und evtl. gefährdete Personen er- Vorstöße, um die Gewaltprävention auf mehreren Ebenen zu fragt. Aufgrund dieser Informationen nehmen die Gewalt- verbessern, u. a. durch eine bessere rechtliche Abstützung schützer eine Erstbeurteilung vor und veranlassen, wenn der Zusammenarbeit zwischen Behörden (Brunner 2017). nötig, erste konkrete Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Ei- Bei der Polizei wurde ein Paradigmenwechsel eingelei- ne besondere Herausforderung stellt sich den polizeilichen tet: weg von einer rein repressiven Polizeiarbeit hin zu einer Gewaltschutzstellen, wenn Gefährder schwere psychische präventiven, d. h. vorausschauenden Polizeiarbeit (Brunner Auffälligkeiten aufweisen, da sie selbst nicht über psychia- 2017). Es wurden 3 spezialisierte Gewaltschutzstellen bei trisch/psychologisch-forensisches Fachwissen im Umgang der Kantonspolizei sowie bei den beiden Stadtpolizeien Zü- mit solchen Personen verfügen. rich und Winterthur geschaffen. Bei diesen Fachstellen kann Die in dieser Ausgabe präsentierten Erkenntnisse von nun seit 2012 jeder Bürger und jede Bürgerin des Kantons Lorey und Fegert (2021) unterstreichen die vom Zürcher Zürich als Privatperson oder in der beruflichen Funktion Gewaltschutz angesprochenen Problemfelder im Umgang niederschwellig Unterstützung in bedrohlichen Situationen mit psychisch auffälligen Personen: In einer fragebogenge- und bei der Einschätzung von Gewaltrisiken erhalten. Kri- stützten Untersuchung von über 2000 Polizeibeamten aus tische, noch wenig auffällige Konstellationen (z. B. famili- Baden-Württemberg gab die Mehrheit der Befragten an, äre Differenzen ohne Anzeige) werden oftmals als Erstes dass die größte Herausforderung im Arbeitsalltag der Poli- auch von den polizeilichen Frontkräften in den Regionen zei in der Beurteilung der Gefährlichkeit der psychisch auf- erkannt. Ihnen steht der Gewaltschutz intern für Fallbespre- fälligen Personen sowie in der schwierigen Vorhersagbar- chungen zur Verfügung. In den Gewaltschutzstellen arbei- keit ihrer Verhaltensweisen bestehe. Die Befragten äußer- ten spezialisierte polizeiliche Mitarbeitende, die sich der ten das klare Bedürfnis nach Fortbildung (50 %) sowie nach vielfältigen Gefährdungs- und Bedrohungssituationen ge- einer verbesserten Vernetzung mit professionellen Helfern zielt und, wann immer möglich präventiv, annehmen. Sie (39 %). Die oben genannten Autoren plädieren für multi- befassen sich dabei mit einem breiten Spektrum von Ge- disziplinäre praxisorientierte Fortbildungsangebote und ei- waltsituationen, von Familienstreitigkeiten, häuslicher Ge- ne engere Kooperation u. a. zwischen Polizei und Forensik. walt, Stalking, (Amok-)Drohungen und Querulanz bis hin zu Radikalisierung und terroristischen Aktivitäten. Jede Meldung wird kritisch dahingehend überprüft, ob Fachstelle Forensic Assessment & Risk die gemeldete Person überhaupt als Gefährder eingestuft Management werden kann. Eine national oder international verbindli- che wissenschaftliche oder rechtliche Definition des Be- Der Ansatz der engen und interdisziplinären Kooperation griffs Gefährder existiert gegenwärtig nicht (Greuter 2017). wird im Rahmen des KBM seit 2014 in Zürich gelebt. Die Präventionsabteilung des Gewaltschutzes der Kantons- Mit der Implementierung der Fachstelle Forensic Assess- polizei Zürich (2020)1 definiert Gefährder wie folgt: „Als ment & Risk Management (FFA) der Psychiatrischen Uni- Gefährder/in gelten Personen, die durch ihr Verhalten und/ versitätsklinik Zürich wurde im KBM der niederschwelli- oder ihre Äusserungen (Warnsignale) begründet Anlass zu ge Zugriff auf forensisches Fachwissen sichergestellt (Ha- ernsthaften Befürchtungen geben, dass sie in absehbarer bermeyer und Guldimann 2019; Beyli-Helmy et al. 2020). Zeit eine Gewalttat gegen die physische, psychische und/ Die FFA unterstützt die polizeilichen Gewaltschutzfachstel- oder sexuelle Integrität zum Nachteil von Dritten begehen len, die Staatsanwaltschaften und die akutpsychiatrischen könnten und diese dadurch in ihrer Handlungsfreiheit be- Versorgungsklinken im Kanton mit kurzfristigen Risikoein- einträchtigen (Gefährdungssituation).“ schätzungen und forensischem Fachwissen im Risikoma- nagement (Schmidt et al. 2021). Der vorliegende Beitrag 1 Definition gemäß Auszug aus Dienstanweisung für Gefährderan- fokussiert auf die Zusammenarbeit mit dem polizeilichen sprachen, Kantonspolizei Zürich, Präventionsabteilung (2020). Mit Gewaltschutz. freundlicher Genehmigung durch R. Brunner. K
232 A. Guldimann et al. In der FFA arbeiten (Rechts-)Psychologen und foren- am Arbeitsplatz oder an einem öffentlichen Ort. Dies erfolgt sische Psychiater. Einige Mitarbeiter ergänzen die FFA- immer unter der Prämisse, dass aus polizeilicher Sicht keine Kompetenzen mit ihrer kriminologischen und juristischen Sicherheitsbedenken hinsichtlich der gewählten Örtlichkeit Ausbildung. Die Einschätzung von unter 18-jährigen Ge- bestehen. Gefährderansprachen können als einmalige Inter- fährdern ist dank des Einbezugs des hiesigen Zentrums für vention oder mehrfach erfolgen (Greuter 2017). Die Ge- Kinder- und Jugendforensik möglich. Um Lern- und Syn- waltschützer führen die Gefährderansprachen in der Regel ergieeffekte zu fördern, hat die FFA Arbeitsplätze bei al- in zivil und zu zweit durch. Das Vier-Augen-Prinzip ermög- len 3 Gewaltschutzstellen im Kanton Zürich bezogen. Im licht einerseits einen umfassenderen Blick auf den Gefähr- Arbeitsalltag finden regelmäßig Fallbesprechungen mit den der. Andererseits muss auch der Gesundheit und Sicherheit Gewaltschützern, Fallkonferenzen mit beteiligten Behörden aller Beteiligten Rechnung getragen werden. Die forensi- und insbesondere auch die Planung und Durchführung von schen Fachpersonen der FFA begleiten die Gewaltschützer Gefährderansprachen sowie von Gesprächen mit gefährde- jeweils bei Hochrisikofällen, bei unklarem Gefährdungs- ten Personen und Angehörigen von Gefährdern statt. Im potenzial, chronifizierten Fallverläufen und dem Verdacht Weiteren nimmt die FFA eine Brückenfunktion zwischen auf eine psychische Erkrankung. Die beteiligten Berufs- den therapeutischen Behandlern der Gefährder und den po- gruppen machen vor der Gefährderansprache ihre jeweilige lizeilichen Gewaltschützern ein. Hier ist es die Aufgabe der Funktion gegenüber den Gefährdern transparent. Die Spezi- FFA, die verschiedenen Berufsgruppen mit ihren berufsbe- fika der jeweiligen Berufsgruppe können zum Beziehungs- zogenen Fachsprachen, Sichtweisen, Erwartungen und Zu- aufbau mit den Gefährdern genutzt werden: So kann der ständigkeitsbereichen zu verbinden. Dabei „übersetzt“ die polizeiliche Gewaltschützer bei einem waffenaffinen Ge- FFA beispielsweise psychiatrische Diagnosen und berät die fährder mit seiner Schusswaffenexpertise ein gegenseitiges Gewaltschützer, wie sie damit z. B. im Rahmen einer Ge- Verständnis aufbauen, während die forensische Fachperson fährderansprache auf Polizeiebene umgehen können. in Bezug auf Probleme in der psychotherapeutischen Be- handlung oder mit Medikamentennebenwirkungen an die Erlebenswelt der Gefährder anknüpfen kann. Gefährderansprachen Unter einer Gefährderansprache wird die in der Regel zeit- Fallverständnis gemeinsam erarbeiten und nahe Kontaktaufnahme durch den Gewaltschutz mit den kritisch überprüfen als Gefährdern eingeschätzten Personen nach einer Mel- dung verstanden. Mit Gefährderansprachen werden mehre- Vor einer Gefährderansprache wird in einem ersten Schritt re Ziele verfolgt (Greuel et al. 2010; Beyli-Helmy et al. gemeinsam mit den Gewaltschützern ein Fallverständnis er- 2020): 1) Informationsgewinn zur zuverlässigeren Beurtei- arbeitet, welches während der Gefährderansprachen kritisch lung des Gewaltrisikos und für die Umsetzung von risikore- überprüft werden muss (Beyli-Helmy et al. 2020). Ein be- duzierenden Interventionen; 2) Aufzeigen, Vermittlung und/ lastbares Fallverständnis bildet gemäß Cook et al. (2014) oder Umsetzung von risikoreduzierenden Unterstützungs- die Grundlage einer fundierten Risikoeinschätzung. In die maßnahmen; dazu gehört auch die Klärung der Vorausset- Erarbeitung des Fallverständnisses fließen Wissensvermitt- zungen für die weitere Zusammenarbeit mit dem Gewalt- lung (z. B. Erläuterung psychiatrischer Störungen), das Zu- schutz; 3) Grenzziehung und Verdeutlichung der rechtlichen sammentragen und die Bewertung der zu dem Zeitpunkt und gesellschaftlichen Verhaltensnormen. bekannten Risikofaktoren und der Verweis auf aus forensi- Die Gefährderansprache hat also einerseits das Ziel, In- scher Sicht fehlende wichtige Informationen ein. Basierend formationen für eine breiter abgestützte Risikoeinschätzung auf dem Fallverständnis werden Gesprächstechniken ver- zu generieren. Sie kann bestenfalls aber auch bereits eine mittelt, die im Einzelfall einen erfolgreichen Erstkontakt er- risikoreduzierende Intervention darstellen. Die Risikoein- möglichen sollen. Als konkrete Hilfestellung wird u. a. das schätzung und das Risikomanagement lassen sich somit Konzept der komplementären Beziehungsgestaltung nach nicht klar voneinander trennen. Im Kanton Zürich basieren Sachse (2020) herangezogen. Sachse (2020) nennt 6 Bezie- die Gefährderansprachen auf Freiwilligkeit. Sofern aller- hungsmotive, die den Menschen in Beziehungen wichtig dings ein Gefährder bereits in ein Strafverfahren involviert sind und mit ihrer Persönlichkeit im Zusammenhang ste- ist, kann die Staatsanwaltschaft eine Auflage zur Zusam- hen: menarbeit mit dem Gewaltschutz als Ersatzmaßnahme ver- Anerkennung (das Bedürfnis, über die eigene Person po- fügen. sitive Rückmeldungen zu erhalten), Wichtigkeit (das Be- Zeigen sich die Gefährder im freiwilligen Setting ge- dürfnis, im Leben einer anderen Person eine wichtige und sprächsbereit, besuchen die Gewaltschützer die Gefährder bereichernde Rolle zu spielen), Verlässlichkeit (das Bedürf- nach vorgängiger meist telefonischer Absprache zu Hause, nis, nach einer Beziehung, die berechenbar, beständig und K
Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert 233 belastbar ist), Solidarität (das Bedürfnis, Hilfe und Unter- Informationen und Benennung von Unsicherheiten in der stützung zu bekommen, wenn es nötig ist), Autonomie (das Einschätzung. Die FFA formuliert risikosenkende Maßnah- Bedürfnis, eigene Entscheidungen zu treffen, eigene Le- men und gibt Hinweise auf Anzeichen für risikoerhöhen- bensbereiche zu haben und als autonome Person bestehen des Verhalten im Risikomanagement. Idealerweise werden zu dürfen) und Grenzen (das Bedürfnis, sein eigenes Ter- dabei standardisierte Instrumente für die Risikobeurteilung ritorium zu definieren, über seine Grenzen zu bestimmen beigezogen. Dabei sind Instrumente, die auf dem Modell und darüber zu entscheiden, wer hinter die Grenzen treten der strukturierten professionellen Risikobeurteilung basie- darf). ren, z. B. HCR-20, Version 3 (Douglas et al. 2013) oder das Durch die Beachtung der Beziehungsmotive kann ein Stalking Assessment and Management (SAM; Kropp et al. sog. Beziehungskredit aufgebaut werden. Das Gegenüber 2008), für die Bedürfnisse des Bedrohungsmanagements fühlt sich wahrgenommen und verstanden, was zu einem besonders gut geeignet, denn sie fördern bzw. erzwingen tragfähigen Arbeitsbündnis mit den Gefährdern beiträgt, eine Szenarienbildung, die mit Interventionsstrategien ver- das in der Folge auch Kritik oder Konfrontation besser bunden werden kann. Auf diese Weise kann auch festgelegt aushält. Bei Gefährdern mit einem hohen Bedürfnis nach werden, wie bei einer möglichen Eskalation reagiert werden Autonomie und Wahrung der Grenzen, wie z. B. bei Per- kann und soll. Demgegenüber sind aktuarische Instrumente sonen mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, werden im Rahmen des Bedrohungsmanagements nur begrenzt hilf- im Rahmen einer Gefährderansprache so viel Transparenz reich, da sie die dynamischen Risiko- und Schutzfaktoren („Ich möchte Ihnen genau darlegen, worum es geht. Bit- des Gefährders sowie die Entwicklung verschiedener Risi- te haken Sie nach, wenn Fragen auftauchen“) und Ent- koszenarien nicht berücksichtigen (Habermeyer und Guldi- scheidungs- bzw. Kontrollmöglichkeiten zugestanden, wie mann 2019). es verantwortbar und unter den gegebenen Umständen rea- Die Anwendung spezifischer Instrumente ersetzt jedoch listisch ist („Ich zeige Ihnen Optionen auf, Ihnen aber ob- keinesfalls die individuelle Fall- und Risikoanalyse unter liegt es zu entscheiden“). Berücksichtigung von Verhaltensmustern des Gefährders. Neben dem Versuch, die Beziehungsmotive zu ergründen Hierbei werden 8 empirisch untersuchte Warnverhalten be- und daran anzuknüpfen, sind das Erkennen und Nutzen von rücksichtigt, die auf risikoerhöhende Verhaltensmuster der Ressourcen und protektiven Faktoren bei Gefährdern im Gefährder auf dem Weg zur Gewalt hindeuten können (Gul- weiteren Risikomanagement wichtig. Die forensische Psy- dimann und Meloy 2020): 1. Anzeichen der Fixierung (z. B. chiatrie hat seit einigen Jahren ihren zuvor besonders auf Fixierung auf eine Person/Thema), 2. neu auftretende For- Risikofaktoren fokussierten Blickwinkel um einen ressour- men der Gewalt (z. B. noch nie zuvor gezeigte Aggressi- cenorientierten Blickwinkel erweitert (Good Lives Model; onshandlungen), 3. Identifizierung (z. B. Glorifizierung von Franqué und Briken 2013; SAPROF; de Vogel et al. 2009). Waffen, Gewaltverbrechern, Ideologien), 4. Energieschub Ressourcenorientierung bietet sich gerade im Setting des (z. B. Intensivierung des Verhaltens), 5. „leakage“ (z. B. Bedrohungsmanagements an, da ein einseitiger Fokus auf Kommunikation einer Tatabsicht gegenüber Dritten), 6. di- Defizite nicht geeignet ist, eine tragfähige Arbeitsbezie- rekte Drohung (z. B. direkte Ankündigung der Tatabsicht), hung zu entwickeln, umso mehr, als die Zusammenarbeit 7. letzter Ausweg (z. B. zunehmende Verzweiflung), 8. der mit Gefährdern oft auf freiwilliger Basis etabliert werden Weg zur Gewalt (z. B. konkrete Vorbereitungshandlungen). muss. Andererseits eröffnet die Sicht auf die funktionieren- Falls in der Risikoeinschätzung ein Gewaltpotenzial er- den Lebensbereiche oder auf grundsätzlich positive Fähig- kannt wird und ein Bedrohungsmanagement (weiter) in- keiten, die im Rahmen des Problemverhaltens jedoch „de- diziert erscheint, ist aus lerntheoretischen Überlegungen struktiv“ eingesetzt werden (z. B. Durchhaltevermögen als Folgendes zu beachten: Gefährder erhalten aufgrund ihres Stärke, aber im Rahmen von Querulanz destruktiv einge- negativen Verhaltens (u. a. Drohungen aussprechen, Unzu- setzt), Raum für risikomindernde Überlegungen. Es ist zu- verlässigkeit) von Behörden und Fachpersonen, inkl. Ge- dem anzunehmen, dass Gefährder (noch) ohne strafrechtli- waltschutz und Forensik, intensive Aufmerksamkeit. Dies che Vorbelastung über mehr psychosoziale Ressourcen ver- ist zwar richtig, um zur Deeskalation und Kriseninterventi- fügen als solche, die eine jahrelange strafrechtliche Vorge- on beizutragen. Das Reaktionsmuster darf aber nicht dazu schichte aufweisen. Diese Ressourcen gilt es, zu erhalten führen, dass Gefährder lernen, dass v. a. negatives Verhal- und möglichst auch präventiv zu nutzen. ten zu Aufmerksamkeit oder gar Zuwendung führt. Un- Nach erfolgter Gefährderansprache und ggf. unter Ein- ter lerntheoretischen Aspekten ist es wichtig, positives und bezug weiterer Informationen (z. B. Fremdanamnese durch lösungsorientiertes Verhalten der Gefährder (u. a. Abspra- die Behandler nach Entbindung von der Schweigepflicht) chen einhalten, um Rat fragen) zeitnah mit Aufmerksamkeit nimmt die FFA in der Regel schriftlich im Vier-Augen- zu verstärken, um die Auftretenswahrscheinlichkeit dieses Prinzip Stellung zum kurzfristigen Gewaltrisiko zuhanden Verhaltens zu erhöhen (Michael et al. 2018). des Gewaltschutzes. Dies erfolgt unter Nennung fehlender K
234 A. Guldimann et al. Vom Individuum zum Gesamtsystem: (Lindemann 2014). Die Abgrenzung von (schwierigen) Unterstützung von Behörden und Beschwerdeführern zu (gewalttätigen) Querulanten erfolgt Institutionen im KBM entlang einem Kontinuum. Einerseits sind die Merkmale „Ungerechtigkeitserleben“ und „Persistenz beim Beschwer- An die vorstehend genannten, lerntheoretisch-interaktionel- deführer“ nicht ausreichend, um bereits von querulatori- len Gedanken anknüpfend sind auch systemische Überle- schem Verhalten zu sprechen (NSW Ombudsman 2021), gungen relevant: Ein Gefährder ist als Individuum auf viel- andererseits steht Querulanz nicht automatisch mit einem fältige Weise in verschiedene Systeme eingebettet, in denen Gewaltrisiko im Zusammenhang (Rossegger et al. 2012). das bedrohliche Verhalten unterschiedlich stark zutage tre- Aus diesem Grund muss im konkreten Fall stets reflektiert ten kann. Diese unterschiedlichen Systeme gilt es, mitein- werden, ob es sich um einen kritischen Bürger oder eine ander abzustimmen bzw. die dort gemachten Erfahrungen kritische Bürgerin handelt, der/die sein/ihr Recht auf freie in ein Fallkonzept zu überführen. Letztlich geht es, bild- Meinungsäußerung wahrnimmt und wahrnehmen darf, oder lich gesprochen, um kommunizierende Röhren, die nicht ob es sich um querulatorisches Verhalten, evtl. vor dem getrennt voneinander betrachtet werden können. Hintergrund einer schweren psychiatrischen Erkrankung Im Kanton Zürich wurde zur Unterstützung der Behör- mit erhöhtem Gewaltpotenzial, handelt (Sass 2010). den und Institutionen in den letzten Jahren ein Netz mit Ein Blick auf die aktuellen Zahlen der polizeilichen Kri- Ansprechpersonen implementiert (von Rohr et al. 2013; minalstatistik PKS Schweiz 2020 zeigt die Relevanz des Brunner 2017). Diese Ansprechpersonen sind Mitarbeiten- Themas auf: So erreichte der Tatbestand „Gewalt und Dro- de von Behörden oder Institutionen (u. a. Gemeinden, Spi- hung gegen Behörden und Beamte“ 2020 einen Höchst- täler, Opferhilfestellen, Kindes- und Erwachsenenschutzbe- stand. Mit 3514 Straftaten resp. einer Zunahme von 8,1 % hörden, Gerichte, Schulen, Universitäten etc.). Sie fungie- gegenüber dem Vorjahr, wurden so viele Verzeigungen wie ren intern als Ansprechperson für als bedrohlich wahrge- noch nie in den letzten 10 Jahren verzeichnet (Bundesamt nommene Kunden/Klienten und (Ex-)Mitarbeitende. für Statistik 2020). Es ist anzunehmen, dass die durch die Die Ansprechpersonen stellen im Alltag das Bindeglied COVID-19-Pandemie bedingten rechtsstaatlichen Eingriffe zu den polizeilichen Gewaltschutzstellen dar, um im kon- in das Leben der Bürger und Bürgerinnen einen Beitrag kreten Einzelfall einen behördenübergreifenden strukturier- beim Anstieg von Gewalt und Drohungen gegen Behörden ten und harmonisierten Informationsfluss zu gewährleisten. und Beamte geleistet haben. Die Ansprechpersonen sind in der Lage, eine erste Bewer- Für Behördenmitglieder stellt der Umgang mit Drohern tung vorzunehmen. Sie können den Fall jederzeit und be- und Querulanten eine besondere Herausforderung dar; dies sonders beim Vorliegen einer möglichen Risikokonstellati- deshalb, weil eine Behörde nicht nur mit Fällen von Queru- on anonymisiert mit dem zuständigen Gewaltschutzdienst lanz umgehen muss, sondern selbst Partei in der konkreten besprechen. Besonders schützenwerte Personendaten wer- Fallkonstellation ist oder sein kann. Dazu schreibt Linde- den basierend auf den entsprechenden Datenschutzgrund- mann (2014), dass „der berechtigte Hinweis der Soziologie lagen erst dann übermittelt, wenn die Schilderungen eine auf den nicht unerheblichen Eigenanteil des Justizsystems vertiefte Abklärung der gemeldeten Person bzw. Situati- am Zustandekommen von Querulanz nichts daran ändert, on notwendig erscheinen lassen, um notwendige risikosen- dass es sich bei der intensiven Beanspruchung der Gerichte kende Maßnahmen treffen zu können (Brunner 2017). Die durch einige wenige Rechtssuchende um ein reales Phä- Ansprechpersonen werden in der Regel jährlich von den nomen handelt (S. 145)“. Letztlich bleibt es, unabhängig Gewaltschützern, dem polizeilichen Rechtsdienst, den Mit- von der Vorgeschichte dabei, dass die betroffenen Behör- arbeitenden der FFA sowie weiteren Experten geschult. Die den sowohl die Beschwerdeflut professionell handhaben als Weiterbildung umfasst u. a. die Erkennung von Risikokon- auch weiterhin einen geregelten Ablauf des Betriebs si- stellationen, datenschutzrechtliche Fragen und den konkre- cherstellen müssen. Die involvierten Mitarbeiter treffen in ten Umgang mit psychisch auffälligen Personen. Aktuell den Beschwerdeführern teils auf psychisch auffällige, z. T. nehmen im Kanton Zürich knapp 600 Personen eine Funk- sogar schwer erkrankte Personen mit intensivem (tatsäch- tion als behördeninterne Ansprechperson wahr. lichem oder infolge ihrer Psychopathologie auftretendem) Ungerechtigkeitserleben, hoher Beratungsresistenz und we- nig Spielraum für Lösungsansätze. Die Behördenmitglieder Praxisbeispiel „Querulanz“ befürchten oft eine gewalttätige Eskalation sowie einen me- dialen Reputationsschaden, insbesondere wenn im Vorfeld Der Begriff „Querulant“ hat lateinische Wurzeln (que- tatsächlich Fehler in der Fallbehandlung erfolgt sind. Diese ri = vor Gericht klagen), ist kein medizinischer Fachbegriff, Faktoren tragen dazu bei, dass querulatorisches Verhalten sondern wurde anfänglich von Juristen zur Identifikati- die Behördenmitglieder auch emotional stark belasten kann on von „Streitsuchenden“ und „Prozesskrämern“ geprägt (Lester 2017). K
Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert 235 Im Einzelfall ist es deshalb wichtig, einen genauen Blick zu erwarten, wenn ein Versäumnis unterlaufen ist oder auf die Fallkonstellation zu werfen und auch die behörden- ein Fehler begangen wurde? internen Prozesse, die Kommunikation sowie die Reaktion der Behördenmitglieder zu analysieren, um ein umfassen- Unterstützung im konkreten Einzelfall: des Fallverständnis zu bekommen. Eine Eskalationsspirale Sind genügende Ressourcen für die Fallbearbeitung vor- aus Aktion und Reaktion zwischen Behörde und Queru- handen bzw. werden diese bereitgestellt? lant sollte rasch unterbrochen bzw. soweit möglich reduziert Werden die mit dem Fall befassten Behördenmitglieder werden. von ihren Vorgesetzten und Arbeitskollegen unterstützt, oder wird die „heiße Kartoffel“ intern weitergereicht? Werden Antwortschreiben von Kollegen kritisch gegen- Selbstreflexionsfragen gelesen, oder werden die betroffenen Mitarbeiter allein gelassen („Mach einfach“)? Um einer ungünstigen Dynamik vorzubeugen, muss das Wurden seitens der Behörden Fehler begangen? Liegen eigene Handeln kritisch reflektiert werden. Die folgenden berechtige Gründe vor, vom normalen Prozedere in der Selbstreflexionsfragen dienen in der Praxis als Hilfestel- Behörde abzuweichen? Ist die Behörde willens, sich auf lung beim Erkennen von Konstellationen, die nicht zuletzt pragmatische Lösungen einzulassen, oder besteht die die emotionale Belastung der Mitarbeitenden vergrößern Befürchtung von Reputations- und Haftungsschäden? Ist können. Sie sind teilweise auch von Lester (2017) und der die Behörde bereit, unkonventionelle und pragmatische NSW Ombudsman Stellen (2021) als mögliche Fehlerquel- Wege zu gehen? len im Umgang mit unangemessenem Verhalten von Be- schwerdeführern und Querulanten beschrieben und aus den Selbstreflexionsfragen für Behördenmitglieder: praktischen Erfahrungen der FFA ergänzt worden. Die Re- Habe ich als Behördenmitglied verstanden, worum es flexionsfragen werden im Rahmen von Schulungen vermit- dem Beschwerdeführer/Querulanten wirklich geht? Ach- telt. Dem Coaching von Führungspersonen kommt gemäß tung: Die Anliegen von psychisch schwer kranken Per- Schulze (2010) im Bedrohungsmanagement auch deswegen sonen sind teils nicht (mehr) nachvollziehbar. eine hohe Bedeutung zu, damit diese in der Lage sind, ihre Welche Gefühle lösen der Beschwerderführer/Querulant Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitenden wahrzuneh- oder seine Schreiben bei mir aus? (Verärgert, mitfühlend, men. ängstlich ...)? Die Selbstreflexion soll auf 3 Ebenen erfolgen: Bin ich persönlich im Fokus des Beschwerdeführers/ Behördeninterne Strukturen, Prozesse und Werthaltun- Querulanten? Lasse ich mich bei meinen Arbeitsschrit- gen: ten von (zu vielen) Emotionen leiten? Wird der Umgang mit „Beschwerden/Querulanz“ als Stimme ich in meiner persönlichen Haltung mit der Be- Führungsaufgabe verstanden oder an Mitarbeiter dele- schwerde/dem Anliegen des Beschwerdeführers/Queru- giert? lanten überein (z. B. Kritik an staatlichen Anticoro- Ist das Konzept der prozeduralen Gerechtigkeit bekannt? namaßnahmen)? Beeinflusst meine persönliche Haltung Werden Beschwerdeführer grundsätzlich ernst genom- meine Arbeitsschritte als Behördenmitglied? men und ihre Beschwerden anhand eines nachvollzieh- Was würde ich einem Beschwerdeführer ohne querulato- baren und behördenintern etablierten Prozesses bearbei- rische Aktivitäten auf seine Beschwerde antworten? Wel- tet? che Gründe gibt es, hier evtl. anders zu antworten? In welchem Zeitrahmen kann mit einer Antwort auf eine Schiebe ich Antwortschreiben aus Frust oder Angst auf, Beschwerde gerechnet werden? Erhält ein Beschwerde- was zu langen Antwortreaktionen beiträgt? Oder bin ich führer eine Eingangsbestätigung? überbemüht, zeitnah evtl. (zu) rechtfertigende oder (zu) Wird dem Beschwerdeführer auch aktiv Rückmeldung detaillierte Antworten zu verfassen, um die Anspruchs- über den Stand der Bearbeitung gegeben? haltung des Beschwerdeführers/Querulanten zu erfüllen? Ist die Behörde bereit, komplizierte Prozesse oder schwie- Zu welchem Zeitpunkt delegiere ich als Behördenmit- rige Sachverhalte zu vereinfachen, sodass weniger Miss- glied den Beschwerdeführer/Querulanten an meine vor- verständnisse entstehen? gesetzte Stelle für eine Stellungnahme? Folge ich dabei Nutzt die Behörde das Konzept der „leichten Sprache“, einem definierten Prozess oder reagiere ich auf Druck des um schwierige Sachverhalte allgemeinverständlich zu Beschwerdeführers/Querulanten, weil dieser eine Über- formulieren? prüfung wünscht? Welche Botschaft sende ich mit die- Wie steht es um die Fehlerkultur in der Behörde? Wel- ser Handlung? Wird er so in seinem Anliegen ernst ge- che Reaktion haben Mitarbeiter, aber auch Vorgesetzte nommen? Oder wird v. a. sein druckausübendes Verhal- K
236 A. Guldimann et al. ten mit Aufmerksamkeit durch die nächsthöhere Stelle hindert werden, stellt jedoch wie auch in anderen Bereichen „belohnt“? der Gewaltprävention eine besondere Herausforderung dar. In den letzten Jahren wurde zunehmend versucht, die Prä- Die kritische Selbstreflexion hilft den Behörden, ihr Han- ventionswirkung des Bedrohungsmanagements empirisch deln gegenüber außen wie auch innerhalb der Organisation fassbar zu machen. James und Farnham (2016) konnten zei- zu objektivieren und ggf. zu verbessern. Es wirkt auf ei- gen, dass bei 100 mehrheitlich psychisch kranken Gefähr- nige Behördenmitglieder entlastend, wenn ihnen aus psy- dern durch u. a. freiwillige und unfreiwillige Klinikeintritte chologischer Sicht erläutert wird, dass ihre Reaktion auf im weiteren Verlauf die Anzahl der Kommunikations- und die schwierige Situation (z. B. sich nicht mehr mit den Ein- Annäherungsversuche gegenüber der britischen Königsfa- gaben/Beschwerden befassen zu wollen) normalpsycholo- milie und Politikern sowie die Anzahl der Polizeieinsätze gisch nachvollziehbar ist oder auch der Hinweis aus Sicht reduziert werden konnte. Beyli-Helmy et al. (2020) schlu- der FFA/Gewaltschutz erfolgt, dass der Fall bisher gut ge- gen für die Evaluation eines erfolgreichen Bedrohungsma- managt wurde. nagement vor, folgende Kriterien zu analysieren, die nicht nur die empirisch schwer zu erfassende Verhinderung von schweren Gewaltstraftaten abbilden: Was ist ein erfolgreiches Der Informationsfluss ist gewährleistet (Bewegung ins Bedrohungsmanagement? Hellfeld). Kontakt mit den Betroffenen wurde hergestellt (z. B. Ge- Wie andere Behörden muss auch das Bedrohungsmana- fährder, Gefährdete, Behörden). gement seine eigene Arbeitsweise reflektieren. Der vorab Ein stringentes Fallverständnis wurde erarbeitet. beschriebene präventive Ansatz steht grundsätzlich und be- Gefährder erscheinen zu Terminen und sprechen ihre sonders im Rahmen von besonderen gesellschaftlichen Ent- Probleme an. wicklungen wie einer Pandemie mit rechtstaatlichen Ein- Die besprochenen (Notfall-)Strategien funktionieren griffen in die Autonomie der Bürger in der Pflicht, kriti- (z. B. Situation verlassen; anrufen, bevor man in Ver- schen, impulsiven, hartnäckigen Menschen nicht leichtfer- suchung kommt, beispielsweise ein Kontakt- und Ray- tig das Label „Gefährder“ anzuheften (Simmler und Brun- onverbot zu missachten). ner 2021). Die Bedrohungsmanager müssen sich der Unsi- Relevante Fachpersonen wurden eingebunden oder der cherheiten und Grenzen von Verhaltensvorhersagen zudem Kontakt hergestellt (z. B. Fachstellen, Therapie). bewusst sein und ausdrücklich darauf hinweisen. Betroffene Personen/Teams/Behörden werden entlastet Ein weiteres grundlegendes Prinzip ist das der Transpa- (z. B. durch Verantwortungsteilung oder Akzeptanz der renz: Im Gegensatz zur kriminalpolizeilichen Ermittlung, Unveränderbarkeit einer Situation). die zur Beweissammlung und -sicherung größtenteils im Die Vorfallsfrequenz nimmt qualitativ (Schwere) und „Verborgenen“ erfolgt, sieht das Bedrohungsmanagement quantitativ (Häufigkeit) ab. eine offene Herangehensweise vor. Diese wird zunächst Grenzen des Machbaren werden akzeptiert. über eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit sichergestellt. Um adäquat über die Funktion und die Zielsetzungen des Das Unterfangen, die Präventionsarbeit des KBM em- Bedrohungsmanagements zu informieren, hat z. B. die Kan- pirisch sichtbar zu machen, wird im Kanton Zürich weiter tonspolizei Zürich eine Webseite zum KBM aufgeschaltet vorangetrieben. So hat eine extern in Auftrag gegebene Un- (www.kbm.zh.ch). Die Transparenz gilt jedoch auch für Be- tersuchung ergeben, dass die Arbeitspartner im KBM Zü- troffene, denn die Person, von welcher mutmaßlich eine rich mit den Strukturen und Prozessen sehr zufrieden sind. Gefahr ausgeht, soll bzw. muss wissen, dass ihr proble- Verbesserungspotenzial wird z. B. an den Schnittstellen zum matisches Verhalten erkannt worden ist, und dass dagegen Gesundheitssystem verortet (Biberstein et al. 2020). Auch etwas unternommen wird. Insofern wird das Vorgehen im von den betroffenen Gefährdern werden die Tätigkeiten des Bedrohungsmanagement, was im Rahmen der Gefährderan- Gewaltschutzes und der FFA angenommen: Die im Kontext sprachen besonders deutlich wird, auch gegenüber mögli- des Gewaltschutzes kontaktierten Gefährder lassen sich in chen Gefährdern offengelegt. Die praktischen Erfahrungen mehr als 80 % der Fälle auf ein oder mehrere Gespräche zeigen, dass dieses Vorgehen präventive Wirkung entfaltet. mit dem Gewaltschutz und der FFA ein (persönliche Rück- Nicht zuletzt Gefährder, die mit Behörden im Konflikt ste- meldung der Gewaltschutzdienste, basierend auf interner hen, schätzen es, wenn ihnen Gehör gewährt wird. Nicht Statistik 2020; Beyli-Helmy et al. 2020). Dieser persönli- selten ist die Aussage zu hören: „Endlich hört mir mal je- che Kontakt ist von hoher Bedeutung, um eine differenzier- mand richtig zu“. te Risikoeinschätzung zu erhalten und konkrete Unterstüt- Die Messung der Quantität und Qualität der Gewaltdelik- zungsmöglichkeiten mit den Gefährdern zu besprechen. te, die durch ein erfolgreiches Bedrohungsmanagement ver- K
Bedrohungsmanagement: deeskalieren, bevor etwas passiert 237 Fazit der Kantonspolizei Zürich. Kriminologisches Institut der Univer- sität Zürich, Zürich Borum R, Fein R, Vossekuil B, Berglund J (1999) Threat assessment: Das Zusammenspiel von polizeilichem und forensischem defining an approach for evaluating risk of targeted violence. Be- Fachwissen im frühen Fallstadium hat sich in der Praxis hav Sci Law 17:323–337 Brunner R (2017) Bedrohungsmanagement im Kanton Zürich – Praxis- gerade auch im Hinblick auf die Entwicklung eines gemein- bericht zum Stand der Projekte und Entwicklungen. In: Schwar- samen Fallverständnisses und bei Gefährderansprachen be- zenegger C, Brunner R (Hrsg) Bedrohungsmanagement – Gewalt- währt. Die Beratung und der konkrete Einbezug von am prävention, 1. Aufl. Schulthess, Zürich, S 15–50 Fall beteiligten Fachpersonen und Institutionen sind wich- Bundesamt für Statistik (2020) Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) – Jahresbericht 2020 der polizeilich registrierten Straftaten tig. Das Bedrohungsmanagement muss seine Arbeitsweise Bundesamt für Statistik. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/ transparent darlegen und seine Vorgehensweise stets kri- statistiken/kataloge-datenbanken/publikationen.assetdetail. tisch hinterfragen. Letztlich ist aber zu akzeptieren und 16464401.html. Zugegriffen: 1. Juni 2021 aktiv zu kommunizieren, dass auch bestmögliche gewalt- Calhoun T, Weston S (2003) Contemporary threat management. Spe- cialized Training Services, San Diego präventive Bedingungen nicht alle Gewalttaten verhindern Cook AN, Murray AA, Amat G, Hart SD (2014) Using structured pro- können. Durch ein professionelles Bedrohungsmanagement fessional judgment guidelines in threat assessment and manage- wird ein Beitrag geleistet, um menschliches Leid zu redu- ment: Presentation, analysis, and formulation of a case of serial intimate partner violence. J Threat Assess Manag 1:67–86 zieren. Dieser Beitrag kann u. a. darin bestehen, Menschen, Douglas KS, Hart SD, Webster CD, Belfrage H (2013) HCR20 V3: die sich im Gefolge von Konflikten mit Behörden oder in- Assessing risk for violence—User guide. Mental Health, Law, and nerhalb von Beziehungen in eine destruktive Dynamik ver- Policy Institute, Simon Fraser University, Burnaby Franqué F, Briken P (2013) Das „Good Lives Model“ (GLM). Forens strickt haben, wieder zu konstruktiverem Verhalten zu er- Psychiatr Psychol Kriminol 7:22–27. https://doi.org/10.1007/ mutigen und sie auf diesem Weg auf eine niederschwellig- s11757-012-0196-x pragmatische Art zu unterstützen. Greuel L, Giese J, Leiding K, Jeck D, Kestermann C (2010) Evaluati- on von Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalteskalationen in Funding Open access funding provided by University of Zurich Paarbeziehungen bis hin zu Tötungsdelikten und vergleichbaren Bedrohungsdelikten. Abschlussbericht, Institut für Polizei und Si- Interessenkonflikt A. Guldimann leitet die Fachstelle Forensic As- cherheitsforschung [IPoS] https://doi.org/10.15496/publikation- sessment & Risk Management (FFA). Alle drei Autoren (A. Gul- 21195 dimann, R. Brunner und E. Habermeyer) haben mit Vertretern der Greuter K (2017) Erfahrungen mit dem Instrument der Gefährderan- Gesundheits-, Justiz- und Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich das sprache. Befragung und Analyse am Beispiel der Kantonspolizei Konzept der Fachstelle erarbeitet. Zürich. Krim 71:470–476 Guldimann A, Meloy JR (2020) Assessing the threat of lone-actor Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na- terrorism: the reliability and validity of the TRAP-18. Forens mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nut- Psychiatr Psychol Kriminol 14:158–166. https://doi.org/10.1007/ zung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in s11757-020-00596-y jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprüng- Guldimann A, Hoffmann J, Meloy JR (2013) Eine Einführung in die lichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link Warnverhalten Typologie. In: Hoffmann J, Roshdi K, von Rohr H zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen (Hrsg) Bedrohungsmanagement. Projekte und Erfahrungen aus vorgenommen wurden. der Schweiz. Verlag für Polizeiwissenschaften, Frankfurt a.M., Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial S 115–130 Habermeyer E, Guldimann A (2019) Forensisch-psychiatrische Ex- unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern pertise als Unterstützung im Bedrohungsmanagement. In: Euster- sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be- schulte B, Eucker S, Born P (Hrsg) Forensische Psychiatrie zwi- treffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz schen Wissenschaft und Praxis: Festschrift für Rüdiger Müller- steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschrif- Isberner. MWV, Berlin, S 41–58 ten erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Hoffmann J, Roshdi K (2015) Bedrohungsmanagement – eine präven- Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. tive Disziplin im Aufschwung. In: Hoffmann J, Roshdi K (Hrsg) Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Amok und andere Formen schwerer Gewalt, 1. Aufl. Schattauer, auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. Stuttgart, S 266–229 James DV, Farnham FR (2016) Outcome and efficacy of interventions by a public figure threat assessment and management unit: a mir- Literatur rored study of concerning behaviors and police contacts before and after intervention. Behav Sci Law 34:660–680. https://doi. org/10.1002/bsl.2255 Allwinn M, Hoffmann J (2016) Amokläufe an Schulen durch Au- Kantonspolizei Zürich (2020) Präventionsabteilung. Dienstanweisung ßenstehende – Psychiatrische Auffälligkeiten und Risikomarker. für Gefährderansprachen. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother 44:189–197. https://doi. Kropp PR, Hart SD, Lyon DR (2008) Stalking Assessment and Ma- org/10.1024/1422-4917/a000421 nagement (SAM). 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