Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

Die Seite wird erstellt Merlin Kraus
 
WEITER LESEN
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine
transareale Intertextualität
Wenn wir uns mit der kolumbianischen Karibikküste beschäftigen, so dürfen die
arabischen Einwanderer in diesem lateinamerikanischen Mikrokosmos nicht
fehlen, haben sie doch entscheidend zur Entwicklung jenes Landesteiles wie
auch der zirkumkaribischen Region allgemein beigetragen und deren wirtschaft-
liche, soziale, demographische und kulturelle Entfaltung vielfach entscheidend
mitgeprägt. So drängt sich uns der Roman eines großen karibischen Autors gera-
dezu auf, dessen Protagonist einer arabischen Einwandererfamilie entstammt,
die sich auf den ersten Blick ganz wunderbar ‚integrierte‘: Crónica de una muerte
anunciada,1 die Chronik eines angekündigten Todes. Bei vielen Studierenden, aber
selbst bei kolumbianischen Leser*innen habe ich schon oft festgestellt, dass die
kulturelle Integration arabischer Migranten so perfekt vonstattenging, dass sie
die vielen kleineren und kleinsten Zeichen übersahen, mit denen der Autor des
Romans – „Gabo“, wie ihn seine Landsleute und Bewunderer liebevoll bis ehr-
fürchtig nennen – seinen Text gespickt hat. Wir wollen diese arabische Bedeu-
tungsebene oder Isotopie nicht übergehen oder übersehen!
     Der Roman des hochgeschätzten Literaturnobelpreisträgers Gabriel García
Márquez wurde 1981 zugleich in einer ganzen Vielzahl von Ländern zeitgleich
auf Spanisch und in verschiedenen Übersetzungen vorgelegt. Er enthält nicht nur
eine kleine intratextuelle Anspielungen auf Cien años de soledad – ein weiterer
Roman, der gleichsam mit in die Diegese der Chronik eines angekündigten Todes
integriert wird –, sondern avancierte durch seine weltweite Verbreitung, mehrere
Verfilmungen und eine sorgsam medial ausgetüftelte Strategie längst zu einem
Klassiker der lateinamerikanischen Literatur. Ich möchte die arabische Isotopie
dieses Romans dazu nutzen, Ihnen einmal ‚hautnah‘ die Transarealität eines
Schreibens vor Augen zu führen, das es verdiente, in die arabisch-lateinamerika-
nischen Literaturbeziehungen und mehr noch in eine arabamerikanische Biblio-
thek2 aufgenommen zu werden, die uns vieles von der Wirkkraft lateinamerika-
nischer Erzähler im arabischen Raum berichten könnte.
     Sie werden vielleicht nun fragen, was denn ein kolumbianischer, also his-
panisch geprägter Lateinamerikaner mit den arabischen Kulturen zu tun haben

1 Vgl. García Márquez, Gabriel: Crónica de una muerte anunciada. Barcelona: Editorial Bruguera
1981.
2 Vgl. hierzu auch Ette, Ottmar / Pannewick, Friederike (Hg.): ArabAmericas. Literary Entangle-
ments of the American Hemisphere and the Arab World. Frankfurt am Main – Madrid: Vervuert
Verlag – Iberoamericana 2006.

  Open Access. © 2021 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter.         Dieses Werk ist lizensiert
unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0
International Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110703450-035
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität       831

könne? Doch eine derartige Frage würde der – wie wir mit dem ebenfalls der
Karibik zuzurechnenden Kulturtheoretiker Fernando Ortiz sagen dürfen – trans-
kulturellen Ausrichtung, Genese und Bildung lateinamerikanischer und insbeson-
dere karibischer Gesellschaften in keiner Weise gerecht. Die enge Vertrautheit
Gabriel García Márquezʼ mit Lebensformen und Lebenswissen der Nachfahren
arabischer Einwanderer an der Karibikküste steht außer Frage.
    Denn schon in seiner Kindheit und Jugend verkehrte der künftige Journalist
und Romancier in vielen Familien arabischer Herkunft und pflegte diese Kontakte
später in seinem beruflichen wie privaten Leben sehr. Dass es also „Araber in
Macondo“ gibt, ist angesichts der historischen Entwicklung Kolumbiens wie auch
des persönlichen Lebensweges dieses Schriftstellers keineswegs überraschend,
zumal García Márquez mit Mercedes Barcha die Tochter eines ägyptischen Inge-
nieurs geheiratet hat, der von General Rafael Reyes zur Durchführung bestimmter
Projekte ins Land geholt worden war.3

                       Abb. 119: Gabriel García Márquez (Aracataca, Kolumbien, 1927 –
                       Mexiko-Stadt, 2014).

García Márquez beschäftigte sich daher immer wieder mit den Charakteristika
vornehmlich aus dem Nahen und Mittleren Osten, Syrien, Palästina und dem
Libanon stammender Einwanderer, die auch in andere Regionen der Karibik und
Zentralamerikas wie Kuba, Haiti, die Dominikanische Republik oder Trinidad,
aber auch Costa Rica und Honduras gingen. In Kolumbien siedelten sie sich spe-
ziell entlang des Río Magdalena und der Karibikküste an – den Hauptschauplät-
zen der Romane García Márquezʼ. Arabische Einwanderergruppen bilden folglich
einen bedeutsamen Bestandteil ebenso der heute dort lebenden Bevölkerung
wie derjenigen der Erzähltexte von Gabriel García Márquez. Und sie verweisen
zugleich auf eine erfolgreiche Einwanderungsgeschichte, die erst in den vergan-

3 Vgl. García Usta, Jorge: Arabes en Macondo, S. 137. Dort findet sich auch der Hinweis auf Be-
ziehungen des Schriftstellers etwa zu den arabischstämmigen Familien Mattar, Janne, Kusse und
Cassij während seiner Zeit in Sucre.
832       Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

genen Jahrzehnten wieder stärker ins Bewusstsein gerückt ist und mittlerweile
wissenschaftlich breit analysiert wird. Sie können auch hieran erkennen, dass
Literatur oftmals ein Seismograph für künftige Entwicklungen ist, welcher durch
die Erforschung von Vergangenheiten wichtige Wegmarken künftiger Entwicklun-
gen zu geben vermag. Wie die Kulturwissenschaften sind auch die Literaturen der
Welt konkrete und praktische Erforschungsweisen unserer Lebensumstände und
Lebensbedingungen auf diesem Planeten. Sie basieren auf und sind Recherche,
stellen dabei aber – anders als es die Wissenschaften zumeist tun – das Leben
und Erleben in all seinen Aspekten in ihren Mittelpunkt.
     Die historische, ökonomische und soziale Situation, welche die aus dem
Nahen und Mittleren Osten stammenden Menschen im zirkumkaribischen Raum
in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorfanden, war die eines ökonomisch
wie sozial rückständigen, peripheren Landesteils, der ihnen harte Lebensbedin-
gungen aufzwang, aber auch bei hohem Engagement und Fleiß soziale Aufstiegs-
möglichkeiten bot. Das wirtschaftliche Standbein der Einwanderergruppen, die
in mehreren Schüben noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ins Land kamen,
war zweifellos der Handel, wie er sich etwa in García Márquezʼ Macondo in der
„Calle de los Turcos“ konzentrierte, der „Türkenstraße“. Die eingewanderten ara-
bischen Migranten besaßen bei ihrer Ankunft ottomanische Pässe, so dass sie
paradoxerweise in Lateinamerika zumeist als „Türken“ bezeichnet wurden und
auch noch werden. Diese „turcos“ machten sich dabei ihre transatlantischen
Beziehungen zunutze, wie dies Einwanderer immer zu tun pflegen: sie handelten
mit Tuchen und Textilien, mit Agrarprodukten und bald auch Kleidern, stellten
das notwendige Geld für Investitionen zur Verfügung, so dass sie bald die Grün-
dung von Banken vorantrieben. Viele der Nachfahren arabischer Einwanderer
sind noch heute in diesen Berufsfeldern tätig.
     All diese Tatsachen und historischen Prozesse dürften García Márquez
wohl bekannt gewesen sein. In Crónica de una muerte anunciada verschob er
die Ankunft erster arabischer Migranten zwar – wohl vorwiegend aus roman-
diegetischen Gründen – in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts; doch ist seine
Gestaltung der sozioökonomischen und kulturellen Einbettung der Bevölkerungs-
gruppen arabischer Herkunft eng an den historischen Realitäten Kolumbiens
ausgerichtet. Dort versiegte im Übrigen der aus arabischen Ländern stammende
Einwandererstrom bald nach Mitte des letzten Jahrhunderts, während er in Rich-
tung Vereinigte Staaten und Kanada weiterhin zunahm. Die arabamerikanischen
Beziehungen sind seit den ersten ‚Entdeckungs‘-Fahrten des Kolumbus bis zum
heutigen Tag eine sich stetig fortsetzende und entwickelnde Geschichte.
     Die Begleitumstände des Erscheinens von Chronik eines angekündigten Todes
sind vielfach dargestellt worden. Mit dem aus fünf Teilen bestehenden Kurzroman
brach Gabriel García Márquez 1981 effektvoll sein jahrelanges schriftstellerisches
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität           833

Schweigen, ein Zeichen gegen das von den USA unterstützte Andauern der Dikta-
tur des an einem anderen 11. September, dem des Jahres 1973, blutig in Chile an
die Macht geputschten Augusto Pinochet. Schreiben und Veröffentlichen waren
folglich politische Stellungnahmen; aber die Art der Veröffentlichung besaß
durchaus Züge einer Werbekampagne, wie sie für einen Roman im Zeichen post-
moderner, weltumspannender Relationen zwar singulär, aber doch keineswegs
untypisch waren. Auf die medialen und verkaufstechnischen Dimensionen post-
modernen Schreibens komme ich zurück.
     Die wohlvorbereitete internationale Marketingstrategie, die durch eine
Zusammenarbeit vier verschiedener Verlage eine weltweite Startauflage von ins-
gesamt bis zu anderthalb Millionen Exemplaren ermöglichte, rückte eine spe-
zifische ‚Lateinamerikanität‘ im Zeichen des „realismo mágico“ ins Zentrum. Sie
sorgte dafür, dass sich die Rezeption des Romans über einen langen Zeitraum
auf bestimmte Aspekte konzentrierte: den zentralen Handlungsstrang des
Mordes wegen verletzter Familienehre,4 die Bluthochzeit einer neutestamenta-
risch semantisierten lateinamerikanischen beziehungsweise kolumbianischen
Familientragödie,5 die genrespezifische Bedeutung von Elementen des Krimi-
nal- und Detektivromans6 oder die komplexe narrative Strukturanlage dieses
überaus spannend zu lesenden Textes.7 Demgegenüber blieben Bedeutungs-
ebenen dieser Chronik, die mit der im Folgenden herauszuarbeitenden arabame-
rikanischen Dimension zusammenhängen, weitgehend im Hintergrund. Es war
aber durchaus beeindruckend mitanzusehen, wie die kluge Werbestrategie einen
wahren Sturm des Interesses auslöste und viele Menschen, die noch nie einen
Roman aus Lateinamerika gelesen hatten, förmlich in die Bauchläden zwang. Ich
erinnere mich noch gerne daran, wie ich selbst bei meiner Arbeit in der stillen
Freiburger Seminarbibliothek von einem späteren Kollegen mit der aufgeregten
Frage überrascht wurde: „Haben Sie schon gelesen?“

4 In neuerer Zeit nahm dieses Thema wieder auf Zimic, Stanislav: Pundonor calderoniano en
Hispanoamérica (con ilustración en „Crónica de una muerte anunciada“ de García Márquez). In:
Acta Neophilologica (Ljubljana) XXXIV, 1–2 (2001), S. 87–103.
5 Vgl. u. a. Pelayo, Rubén: Chronicle of a Death Foretold (1981). In (ders.): Gabriel García Már-
quez. A Critical Companion. Westport, Connecticut – London: Greenwood Press 2001, S. 111–133.
6 Vgl. u. a. Pöppel, Hubert: Elementos del género policíaco en la obra de Gabriel García Márquez.
In: Estudios de Literatura Colombiana (Medellín) 4 (enero – junio 1999), S. 23–46.
7 Verwiesen sei hier lediglich auf die detaillierte und aufschlussreiche narratologische und inter-
mediale Analyse des Romans und seiner Verfilmung bei Schlickers, Sabine: Verfilmtes Erzählen.
Narratologisch-komparative Untersuchung zu „El beso de la mujer araña“ (Manuel Puig / Héctor
Babenco) und „Crónica de una muerte anunciada“ (Gabriel García Márquez / Francesco Rosi).
Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 1997, S. 280–373.
834         Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

     Worum geht es in diesem Roman? Der zentrale Handlungsstrang, den García
Márquez erzähltechnisch in medias res angeht und durch eine kunstvolle Abfolge
von Prolepsen und Analepsen Stück für Stück entfaltet, kreist um die Tatsache,
dass der zugereiste und ungewöhnlich reiche Bayardo San Román die junge
Angela Vicario zu seiner Braut machen will. Er zwingt sie zur Heirat und feiert
mit ihr ein rauschendes Hochzeitsfest, zu dem der ganze Ort eingeladen ist. Die
Braut aber gibt er noch in der Hochzeitsnacht an ihre Familie zurück, da sie keine
Jungfrau mehr sei. Diese im ganzen Ort augenblicklich bekannt gewordene Fami-
lienschande wird am Morgen der ‚Rückgabe‘ der hübschen jungen Frau rasch
von ihren so apostolisch „Pedro“ und „Pablo“ genannten Brüdern mit dem Blut
jenes Mannes abgewaschen, den Angela Vicario als den vermeintlich Schuldigen
benennt: Santiago Nasar.
     Dass die beiden Brüder nach den beiden Jüngern Peter und Paul heißen,
ist eines der vielen von Gabriel García Márquez geschickt eingestreuten Details,
denen man zu Beginn keinerlei Funktion und Rolle beimisst. Dass in diesem
Roman, der dank Bündelung seiner Handlungsstränge eine Tendenz zu novel-
lenhafter Darstellung einer „unerhörten Begebenheit“ nicht verbergen kann, dem
arabamerikanischen Element eine wichtige, den gesamten Text querende und
wesentlich bestimmende Funktion zukommt, blieb in der bisherigen Forschung
ein bestenfalls randständig und eher beiläufig erwähntes Faktum. Allenfalls ein-
geflochtene knappe Verweise auf eine arabische Herkunft mancher Romanfiguren
wurden als völlig ausreichend erachtet, schien die Rätselstruktur dieser Chronik
eines angekündigten Todes doch vorrangig mit den bereits erwähnten – und
sicherlich auch wichtigen – Themenfeldern in Verbindung zu stehen.
     Und doch enthält bereits das mittlerweile längst zu einem der sicherlich
berühmtesten Anfangssätze nicht nur der lateinamerikanischen Literaturen
gewordene Incipit mehrere Hinweise auf die arabamerikanische Bedeutungs-
ebene, die vom kolumbianischen Literaturnobelpreisträger klug von Anfang an
in Story und Plot seiner Erzählprosa eingearbeitet wurde: „An jenem Tage, an
dem sie ihn töten sollten, stand Santiago Nasar morgens um 5 Uhr 30 auf, um auf
das Schiff zu warten, mit dem der Bischof kommen sollte“ – „El día en que lo iban
a matar, Santiago Nasar se levantó a las 5.30 de la mañana para esperar el buque
en que llegaba el obispo.“8
     Das Warten auf den katholischen Bischof lenkt die Aufmerksamkeit der Lese-
rinnen und Leser auf eine religiöse Isotopie. Dabei verweist bereits der Name des
Protagonisten, dessen Ermordung im Mittelpunkt der gesamten Handlungs- und
Zeitstruktur des Romans steht, auf eine arabamerikanische Isotopie insofern, als

8 García Márquez, Gabriel: Crónica de una muerte anunciada, S. 9.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität   835

die beiden Namenskomponenten spanischer beziehungsweise christlich-abend-
ländischer und arabischer Provenienz sind. Die Schreibweise des Nachnamens
freilich macht darauf aufmerksam, dass der arabische Name hispanisiert und den
Schreibgewohnheiten spanischsprachiger Länder angeglichen worden war. Der
Vorname Santiago blendet die christliche Zugehörigkeit des Namensträgers ein,
ist die Pilgerschaft nach Santiago de Compostela doch in der christlichen Hie-
rarchie die dritte hinter Jerusalem und Rom. Viele der arabischen Einwanderer
waren Christen oder bekannten sich nach ihrer Ankunft in Lateinamerika zum
Christentum.
     Ganz in diesem Sinne verweist das Warten auf die erhoffte Ankunft des
Bischofs, der in Begleitung seiner ‚Spanier‘ den Hafen und die Stadt zwar vom
Flussdampfer aus segnen, aber entgegen der Hoffnungen ihrer Bewohner nicht
betreten wird, auf die betont katholische Religionszugehörigkeit des wohl aus
einer christlich-arabischen Familie stammenden Protagonisten. Dies entspricht
im Übrigen dem hohen Anteil speziell christlicher Migranten aus dem Nahen und
Mittleren Osten, deutet zugleich aber auf den Anpassungsdruck von Seiten der
ortsansässigen Bevölkerung, welcher am ostentativen Bekenntnis zum katho-
lischen Glauben sicherlich nicht unbeteiligt ist. Die unbedingte Zugehörigkeit
zum christlichen Glauben spielte für die Integration der arabischstämmigen
Bevölkerung in Kolumbien wie in ganz Lateinamerika eine nicht zu unterschät-
zende Rolle. Das religiöse Misstrauen gegenüber Neuankömmlingen arabischer
beziehungsweise ‚ottomanischer‘ Herkunft zwang diese zu einer ostentativ katho-
lischen Glaubenspraxis – und der Vorname Santiago ist ein deutlicher Hinweis
darauf.
     In die einzelnen Handlungsstränge eingestreut finden sich permanent Ele-
mente, welche die Einwanderungsgeschichte nicht nur der Familie, sondern ara-
bischer Migrantengruppen überhaupt in die nur auf den ersten Blick vermeintlich
einfach strukturierte Romandiegese einblenden. Dabei reißt der öffentlich ange-
kündigte Mord, den die Vicario-Brüder an Santiago Nasar verüben werden, weil
ihre Schwester Angela Vicario ihn für ihre abhanden gekommene Jungfernschaft
verantwortlich macht, ethnokulturelle Konfliktlinien wieder auf, die eigentlich
längst geschlossen schienen. Sie sind im dargestellten Alltagsleben der Romanfi-
guren oft nur bei präziser, ‚detektivischer‘ Lektüre auszumachen. Zur Einführung
von Identitätspolitiken jedoch erweisen sich die vor Generationen zugeschütteten
Gräben noch als aktivierbar – eine Tatsache, die sich bei jedem Versuch einer
Integration durch kulturelle Assimilation beobachten lässt.
     Einen wichtigen Hinweis auf diese versteckten, wenn auch keineswegs
unsichtbaren Konfliktzonen und Gruppenzugehörigkeiten bieten die spontanen
Reaktionen auf die angekündigte und auch ausgeführte Bluttat. So hatten Pedro
und Pablo Vicario zwar noch nach Ende der Hochzeitsfeier nicht nur mit dem
836          Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

Erzähler, sondern auch Santiago Nasar unbeschwert und brüderlich weitergefei-
ert; doch nach ihrem Mord an letzterem müssen sie sich, von einer „Gruppe ent-
flammter Araber“9 verfolgt, eiligst in den Schutz der Kirche flüchten. Plötzlich
sind also aus Kolumbianern wieder „Araber“ geworden, welche als durchaus
wehrhafte Meute auftreten.
     Pedro und Pablo werden eingesperrt. Doch noch im für sie fast liebevoll her-
gerichteten Gefängnis ihres Wohnortes, in dem sie sich zunächst „vor den Arabern
sicher“10 fühlen, fürchtet Pablo Vicario, sein ständig urinierender Bruder Pedro
könnte durch die üblen „Machenschaften der Türken“11 vergiftet worden sein.
Coronel Aponte, der Bürgermeister des Ortes, bringt die Brüder daraufhin aus
Angst vor Anschlägen vorübergehend in seinem eigenen Haus unter, bevor sie
vom Untersuchungsrichter ins Gefängnis des benachbarten Riohacha überstellt
werden.12 Die verbreitete Furcht vor gewalttätigen Reaktionen der „Türken“ ver-
weist unübersehbar auf vorhandene multikulturelle Bruchlinien und Frakturen,
die im Schatten der Bluttat wieder aktiv geworden sind.
     Der mit lokalem Lebenswissen ausgestattete homodiegetische Erzähler
weiß wie der Bürgermeister des Ortes sehr wohl, dass die Furcht („terror“) der
Zwillingsbrüder vor Anschlägen ganz dem Empfinden der Straße, also der all-
gemeinen Bevölkerung entspricht, die weiterhin „eine Repressalie seitens der
Araber“13 befürchtet. Dabei denkt man im Ort weniger an Gift als an die Möglich-
keit, dass Kerker und Gefangene nachts von den Arabern mit Benzin übergossen
und angezündet werden könnten.14 Welche Anzeichen gab es hierfür? Woher
rühren die Ängste und Vorstellungen der ortsansässigen Bevölkerung? Zeichnen
sich hier gar die Konturen eines „Kampfes der Kulturen“ ab? Der Erzähler versucht
zu beschwichtigen und seine Leserschaft zu beruhigen:

      Die Araber bildeten eine Gemeinschaft friedliebender Einwanderer, die sich zu Beginn
      des Jahrhunderts in den Dörfern der Karibik – selbst in den entlegensten und ärmsten –
      niederließen, und hier blieben sie und verkauften bunte Tücher und Jahrmarktsplunder.
      Sie waren einig, arbeitsam und katholisch. Sie heirateten untereinander, importierten ihr
      Getreide, zogen in den Innenhöfen Lämmer groß, bauten Oregano und Auberginen an, und
      ihre einzige stürmische Leidenschaft galt dem Kartenspiel. Die Älteren sprachen weiter das
      ländliche Arabisch, das sie aus ihrem Land mitgebracht hatten und das sie bis in die zweite
      Generation in der Familie intakt bewahrten; doch die der dritten Generation, sieht man von

9 Ebda., S. 79.
10 Ebda., S. 127.
11 Ebda., S. 129.
12 Ebda.
13 Ebda., S. 130.
14 Ebda.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität          837

     Santiago Nasar einmal ab, hörten dem Arabischen ihrer Eltern zu und antworteten ihnen
     auf Spanisch. Es war folglich nicht vorstellbar, dass sie urplötzlich ihren Schäfergeist ver-
     ändern sollten, um einen Tod zu rächen, an dem wir doch alle schuld sein konnten.15

Oft sind diese kurzen, aber informativen Erzählereinschübe überlesen worden,
weil sie scheinbar marginale Informationen beisteuern. Doch sind sie in Wirk-
lichkeit für die Handlungsstränge des Romans von ungeheurer Bedeutung. Die
hier auf wenigen Zeilen entworfene Geschichte arabischer Einwanderung in den
karibischen Raum projiziert das Bild einer durch sprachliche, onomastische,
kulturelle, ökonomische und matrimoniale Bindungen eng liierten Minderheit.
Deren kulturelle Ausrichtung und sozioökonomische Integration lässt es in den
Augen des Erzählers als nicht wahrscheinlich erscheinen, dass sie als Gruppe
Rache für einen Mord an einem der Ihren nehmen könnte, für den – wie der
Erzähler hier einräumt – in gewisser Weise nicht nur die Brüder Vicario, sondern
letztlich alle Bewohner des Ortes verantwortlich oder zumindest mitverantwort-
lich seien.
     Selbst die misstrauischen Befürchtungen des kampferprobten Coronel
Aponte, in seinem Städtchen könnte ein blutiger ‚Kulturkrieg‘ vor dem Ausbruch
stehen, lösen sich endgültig auf, als er eine nach der anderen die arabischen
Familien seines Ortes besucht und feststellen kann, dass diese zwar Trauer tragen,
aber keinerlei Rachepläne schmieden.16 Ja mehr noch: Jene, die inmitten einer
dem Mord tatenlos beiwohnenden Bevölkerung als einzige unmittelbar nach der
Bluttat die Mörder verfolgt hatten, bestreiten nachträglich, es jemals auf deren
Leben abgesehen zu haben; und die hundertjährige Suseme Abdala schickt den
Vicario-Brüdern einen speziellen Heil-Tee, der Pedro Vicario in seinem Leiden tat-
sächlich hilft. So bewahrheiten sich die Befürchtungen der beiden Brüder nicht;
vielmehr steuert die arabischstämmige Bevölkerung mit ihrem Wissen über hei-
lende Kräuter noch Wichtiges zur Beruhigung der Situation wie auch der Körper
bei. Die arabische beziehungsweise arabamerikanische Gemeinschaft ist darum
bemüht, Zeichen der Versöhnung auszusenden und zu einem friedlichen Zusam-
menleben zurückzukehren, als hätte nie etwas diesen Frieden gestört.
     An erster Stelle steht somit die Aufrechterhaltung friedlicher transkultureller
Beziehungen. Damit aber ist in García Márquezʼ karibischem Mikrokosmos die
Gefahr eines von den Ortsansässigen nicht-arabischer Herkunft befürchteten
„Clash of Civilizations“ gebannt – zumindest von Seiten der „turcos“. In den
Ereignissen um die Ermordung Santiago Nasars werden ‚die Araber‘ oder ‚die

15 Ebda., 130 f.
16 Ebda., S. 131.
838         Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

Türken‘ zwar als potentiell gefährliche Gruppe ausgemacht und von der Staats-
gewalt überwacht, doch geht von ihnen offenkundig keine Gefahr für das friedli-
che Zusammenleben aus. Ein auf Frieden und Konvivenz bedachtes Zusammen-
LebensWissen hat die Oberhand behalten.
     Natürlich stellen arabische Einwanderer nur einen Teil der heterogenen
Bevölkerung dar: Crónica de una muerte anunciada enthält geradezu selbstver-
ständlich auch Hinweise auf Spanier, Katalanen, Freibeuter, andere europäische
Einwanderergruppen und vor allem ehemalige Sklaven, die aus Afrika herbeige-
schafft worden waren. Vom Haus der Frischvermählten aus zeigt Santiago Nasar
noch wenige Stunden vor seinem Tod dem Erzähler wie auch den Vicario-Brüdern
jenes unstet blinkende Licht, das unweit von Cartagena de Indias jene Stelle in
der Karibischen See bezeichnen soll, wo sich die unerlösten Seelen jener Sklaven
aus dem Senegal einfinden, die einst der Untergang ihres Sklavenschiffs in den
Tod gerissen hat.17 Gerade auch die Sklaven sind in dieser ehedem auf Sklaverei
beruhenden Ökonomie des karibischen und zirkumkaribischen Raumes gegen-
wärtig. Die Karibik als jahrhundertelange migratorische Drehscheibe ist omni-
präsent – mit all ihren Schrecken und all ihrem transkulturellen Reichtum.
     Der Erzähler entwirft immer wieder in Einschüben ein realistisches Bild der
karibischen Gesellschaften. Die ethnokulturelle Heterogenität der Bevölkerung
an der Karibikküste nicht nur Kolumbiens ist Bestandteil des karibischen Univer-
sums, wie es sich in dieser Chronik eines angekündigten Todes präsentiert. Gleich-
zeitig ist in diesem hintergründigen Roman des kolumbianischen Schriftstellers
aber auch deutlich markiert, dass die arabischen Einwandererfamilien auch noch
in der dritten Generation als eigenständige Gruppe erkennbar sind und als solche
‚von außen‘ auch wahrgenommen werden. Es lohnt sich daher, der literarischen
Repräsentation dieser Kolumbianer arabischer Herkunft im Roman genauer nach-
zuspüren. Sollte die Zugehörigkeit Santiago Nasars zu dieser Gruppe – wie dies in
der Forschung bislang weitgehend unterstellt wird – tatsächlich von bestenfalls
marginaler Bedeutung sein?
     Innerhalb einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft, wie sie das Kolum-
bien der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifel-
los darstellte, bilden die arabischen Einwanderer sicherlich nur eine, wenn auch
in der Karibik relativ deutlich hervortretende Migrantengruppe. Insbesondere
ihre Heiratspolitik stellt ein unverkennbar multikulturelles, als Merkmal einer
Parallelgesellschaft deutbares Verhaltensmuster dar, insofern es ein ‚Nebenei-
nander‘ der Kulturen beziehungsweise ethnokulturellen Gruppen bekräftigt und
die eigene Zukunft in einer arabamerikanischen Genealogie verankert. Gerade

17 Ebda., S. 108.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität   839

das Heiratsverhalten ist stets ein wichtiger Indikator gelungener oder nicht gelin-
gender soziokultureller Integration.
     Santiago Nasar hält sich an die innerhalb dieser Gruppe weitgehend, wenn
auch nicht durchgängig beachteten Spielregeln. Er hält zwar stets – ganz so,
wie es sein Vater mit sozial ‚unterlegenen‘ Mädchen wie etwa Victoria Guzmán
tat – nach sexuellen Abenteuern mit anderen Frauen Ausschau, nachdem er in
jungen Jahren von der verführerischen Bordellbesitzerin in die Künste der Liebe
eingeweiht worden war. Doch für seine eigene Hochzeit kommt nur eine Frau von
arabischer Herkunft in Frage: Man heiratet also innerhalb der Gruppe und nicht
transkulturell! Daher respektiert er widerspruchslos die Vereinbarung, die seine
Eltern mit den Eltern seiner künftigen – und von ihm keineswegs geliebten –
Ehefrau Flora Miguel lange Jahre zuvor getroffen hatten.18
     Gerade Geschlechterbeziehungen sind peinlich genau geregelt. Die inner-
halb der arabamerikanischen Gemeinschaft unangefochten vorherrschenden
patriarchalischen Züge sind unübersehbar und regeln nicht zuletzt auch das
Verhalten der Männer untereinander. Seitensprünge männlicher Mitglieder der
Gemeinschaft werden selbstverständlich toleriert. Nahir Miguel, der als Vater
der Braut unumstritten in seinem Haus regiert, begreift als erster die Gefahr, die
seinem angehenden Schwiegersohn droht, und bietet ihm auf Arabisch an, ihn
entweder in seinem Haus zu verstecken oder mit seinem Gewehr auszurüsten,
um den Vicario-Brüdern nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Ganz anders als
seine Tochter stellt der herrisch wirkende Mann, der sich in seinem Hause, aber
nie auf der Straße, in seine „Beduinenkleider“ hüllt,19 zu keinem Zeitpunkt die
vereinbarte Verheiratung der beiden arabischstämmigen Brautleute in Frage.
Die patriarchalische Dominanz stellt einen weitgehend stabilen, ungefährdeten
und abgeschotteten Bereich dar, der die Heiratsregeln bestimmt, denen sich die
Frauen zu unterwerfen haben – auch wenn Flora Miguel nach der Ermordung
Santiago Nasars sich aus Verzweiflung an die Brust eines „teniente de fronteras“
wirft, der sie später als Prostituierte für sich anschaffen lässt.20 Die sexuelle wie
ökonomische Ausbeutung der Frauen ist im Roman offensichtlich.
     Auch Santiagos Vater Ibrahim Nasar verkörpert innerhalb seiner Familie
den Typus „Patriarch“. Er war – wie der Erzähler zu berichten weiß – mit den
letzten Arabern am Ende der Bürgerkriege in den Ort gekommen21 und hatte
das Speicherhaus am Hauptplatz umgebaut, das nutzlos geworden war, weil die

18   Ebda., S. 178.
19   Ebda., S. 181.
20   Ebda., S. 156.
21   Ebda., S. 21.
840          Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

großen Schiffe den im Binnenland liegenden und versandenden Flusshafen nicht
mehr anlaufen konnten. Er war mit dem notwendigen wirtschaftlichen Riecher
ausgestattet und vermochte es, wie nicht wenige aus der arabischen Einwan-
derergemeinschaft sozial und wirtschaftlich rasch zu reüssieren. Gabriel García
Márquez erzählt mit Blick auf seine Gestalt mithin eine durchaus repräsentative
Geschichte.
     Diese sich in der Geschichte des Speicherhauses andeutenden grundlegen-
den wirtschaftlichen Veränderungen vermochte Santiago Nasars Vater für sich zu
nutzen, um eine Vieh-Hazienda aufzubauen und zur Führungsschicht des Ortes
aufzusteigen. Binnen weniger Jahre scheint die gesellschaftliche Integration
gelungen: Die Nasars sind innerhalb der arabamerikanischen Gemeinschaft wie
auch innerhalb der gesamten Dorfstruktur geachtet und verfügen über Macht und
Einfluss. Santiago selbst gilt – neben dem wenige Monate vor seiner Hochzeit
mit Angela Vicario aus unbekannten Gründen zugereisten Bayardo San Román –
unbestritten als beste Partie der Stadt. Haben wir es hier folglich nicht mit einer
Geschichte perfekter Integration zu tun?
     Mit seinem Sohn, mit dem ihn eine enge Beziehung verbindet, unterhält sich
Ibrahim Nasar auf Arabisch; ist Santiagos Mutter anwesend, wechselt man ins
Spanische, um sie nicht auszuschließen.22 Santiago fühlt sich zu beiden Eltern-
teilen hingezogen, ist in seinem Phänotyp aber deutlich väterlicherseits, ara-
bisch ‚markiert‘: Denn der schlanke, bleiche, gerade einundzwanzig Jahre alt
gewordene Mann besitzt „die arabischen Augenlider und die gelockten Haare
seines Vaters“.23 Zahlreiche Orientalismen, die patrilinear stets auf den Vater ver-
weisen, sind in den Text gleichsam als Identitätsmarkierungen eingestreut. Denn
sein Vater brachte ihm nicht nur den Umgang mit Schusswaffen, sondern auch
die Jagd mit Falken, die Liebe zu Pferden sowie Tapferkeit und Vorsicht bei. Im
Roman heißt es: „Von seinem Vater erlernte er schon sehr früh die Beherrschung
der Feuerwaffen, die Liebe zu Pferden und die Abrichtung von Greifvögeln; doch
von ihm lernte er auch die guten Künste der Tapferkeit wie der Vorsicht.“24 In
diesem Sinne ist Santiago ganz das Bild seines Vaters.
     Angesichts dieses Vorbildcharakters verwundert es nicht, dass Victoria
Guzmán ihrer Tochter Divina Flor jenes Schicksal ersparen will, das ihr einst
Ibrahim Nasar angetan hatte: als Sexualobjekt benutzt, dann aber zum Dienst-
mädchen degradiert zu werden, während eine andere zur offiziellen (wenn auch
ungeliebten) Ehefrau avancierte. Als Santiago Nasar am Morgen seines Todes

22 Ebda., S. 16.
23 Ebda., S. 15.
24 Ebda., S. 16.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität    841

wie immer geradezu gewohnheitsmäßig nach ihrer schönen Tochter greift, droht
Victoria, die längst weiß, dass die Brüder Angela Vicarios mit ihren Messern auf
Santiago warten, dem „Weißen“ („blanco“)25 mit dem scharfen Küchenmesser.
Victorias Tochter weiß, dass sie schon bald – wenn auch nur vorübergehend – für
Santiago Nasars Bett bestimmt ist.26
     Mit demselben Messer schlitzt ihre Mutter kurze Zeit später einen Hasen auf,
dessen Eingeweide sie den Hunden zum Fraß vorwirft. Wenige Stunden später
wird Santiago Nasar in eben dieser Küche mit aufgeschlitztem Bauch und heraus-
quellenden Eingeweiden zusammenbrechen: Die Parallelität der Ereignisse ist
bewusst konstruiert. Diese Mise en abyme der gesamten Romanhandlung macht
deutlich: Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Santiago Nasars gewaltsamem
Tod und der Präsenz seines verstorbenen arabischen Vaters ebenso in seiner
äußeren Erscheinung wie in den von ihm praktizierten Geschlechterbeziehungen,
kurz: in seiner Rolle als Frauenheld, der sich ‚seine‘ Frauen auch mit Gewalt holt.
Bilden die Geschlechterbeziehungen in dieser Tragödie, deren scheinbar unab-
wendbarer Ablauf von den hierarchischen Beziehungen zwischen Mann und Frau
ausgelöst wird, damit jene Vermittlungsebene, an der die kulturellen Konflikt-
linien aufbrechen und ein friedliches Zusammenleben gefährden? Sind es folg-
lich die Geschlechterbeziehungen, welche folglich die Konvivenz zwischen den
verschiedenen ethnokulturellen Gruppen gefährden?
     Zunächst gilt es festzuhalten, dass wir uns auf Ebene der Geschlechterbezie-
hungen nicht in einem multikulturellen Nebeneinander bewegen. Spätestens die
Bezeichnung Santiago Nasars als „blanco“ macht uns darauf aufmerksam, dass
wir es hier jenseits eines für die arabamerikanische Gemeinschaft charakteris-
tischen Heiratsverhaltens mit geschlechterspezifischen Verhaltensmustern und
Lebensformen zu tun haben, die Santiago Nasar im Zeichen des „machismo“ mit
der überwiegenden Mehrzahl der männlichen Bevölkerung seines Geburtslandes
Kolumbien teilt. In der Bezeichnung als „Weißer“ schwingt überdies unverkenn-
bar die soziale Differenz mit, also die Zugehörigkeit zu einer weißen Herrenschicht
und Führungskaste. Denn „weiß“ ist keine ethnische, sondern eine soziale Kate-
gorie, die freilich auf dem amerikanischen Kontinent sehr unterschiedlich ver-
wendet wird.27
     Mag Santiago Nasars kultureller Hintergrund auch vielschichtiger sein als der
anderer Bewohner der Ortschaft, so ist er doch verstrickt in jene patriarchalische

25 Ebda., S. 19.
26 Ebda.
27 Vgl. zur Verwendung der Kategorie „weiß“ in den Vereinigten Staaten von Amerika die span-
nende Studie von Painter, Nell Irvin: A History of White People (2009).
842          Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

Wertewelt, die er mit Bayardo San Román, mit den Vicario-Brüdern oder dem
Erzähler ganz selbstverständlich teilt. Die arabamerikanische Prägung durch den
patriarchalischen Vater quert gleichsam die machistischen Verhaltensmuster,
die von der gesamten Bevölkerung dieses kleinen Städtchens an der kolumbia-
nischen Karibikküste akzeptiert werden. Nein, es sind nicht die Geschlechterbe-
ziehungen und Geschlechterverhältnisse, die Santiago von den anderen Machos
vor Ort trennen!
    Diese Bevölkerung deckt freilich in ihrer überwiegenden Mehrheit die unge-
zählte Male angekündigte und ungezählte Male nicht verhinderte Ermordung
Santiago Nasars, die sich – gleichsam in Form einer Umkehrung oder Parodie des
„Locked-Room-Rätsels“28 – vor aller Augen und bei Tageslicht einer Hinrichtung
gleich auf dem Hauptplatz vollzieht.29 Santiago Nasar war bereits vom ersten
Satz des Romans an ein dem Tode Geweihter, ein Lebendig-Toter, hingerichtet im
Lichte breitester Öffentlichkeit.
    Täter- und Opferrollen scheinen auf den ersten Blick klar voneinander
getrennt zu sein. Doch so einfach macht es Gabriel García Márquez seinen
Leserinnen und Lesern nicht! Denn auf Ebene der Geschlechterbeziehungen
partizipiert Santiago Nasar in der Querung verschiedener (Geschlechter-) Kul-
turen gleichsam transkulturell an jenen Verhältnissen, die Bayardo San Román,
Santiago Nasar und die Zwillingsbrüder Vicario in Protagonisten einer Tragödie
verwandeln, in der sie Täter und Opfer zugleich sind. Santiago Nasar, der Sohn
eines arabischen Migrantensohns und einer spanischsprachigen Mutter, reprä-
sentiert keine abtrennbare Alterität, sondern ein Anderes im Eigenen, das weder
dem Eigenen noch dem Anderen noch einem Zwischenraum allein zugeordnet
werden kann. Hier erweisen sich Julia Kristevas Überlegungen aus Etrangers à
nous-mêmes als hilfreich, insoweit sich in jenem Band – wie wir sahen – eine erste
Abkehr vom Alteritätsgedanken andeutete. Mag es Santiago auch selbst bis in

28 Vgl. die Anwendung dieses Begriffes auf Leonardo Sciascias Roman Il giorno della civetta,
wo sich der Mord nicht etwa an einem versteckten Ort, sondern wie in Crónica de una muerte
anunciada gleich zu Beginn des Textes auf dem Hauptplatz und im Morgenlicht vollzieht, bei
Buschmann, Albrecht: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und
Manuel Vázquez Montalbán. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 57. Trotz aller diegeti-
schen und handlungsspezifischen Unterschiede sind die Parallelen zwischen den Romanen von
Sciascia und García Márquez offensichtlich.
29 Die Verlobte eines der beiden Mörder gibt später zu Protokoll, sie hätte Pablo Vicario niemals
geheiratet, wenn dieser nicht so gehandelt und die Familienehre gerettet hätte. So aber wartete
sie drei Jahre lang geduldig auf die Entlassung des Mörders Santiago Nasars, um wohlgemut
mit ihm den Bund fürs Leben zu schließen (García Márquez, Gabriel: Crónica de una muerte
anunciada, S. 102).
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität   843

den Moment seines Todes hinein nicht bewusst gewesen sein: Er verkörpert eine
räumlich nicht lokalisierbare Zwischenwelt, die durch feststellbare, aber nicht
fixierbare Bewegungen zwischen verschiedenen Polen konstituiert wird. Santiago
Nasar verkörpert das Fremde, den Fremden, der längst zu einem Teil des „Wir“
aller Bewohner des Ortes geworden ist.
     In diesem Sinne wäre der Begriff „Fremdsein“ in der Aussage eines jener
Erzähler zu korrigieren, in welcher sich der libanesische Schriftsteller Elias
Khoury mit dem Tod Santiago Nasars beschäftige: „Das Fremdsein erfuhr er im
Augenblick des Todes, in jener Einsamkeit, die ihn in Sphären führte, deren Exis-
tenz er nicht für möglich gehalten hätte.“30 Im Spiel von Identität und Differenz,
von lateinamerikanischen und arabischen Welten steht Santiago Nasar für die
komplexen Verschränkungen und Vernetzungen des Arabamerikanischen ein, in
dessen Zwischenwelt Fremdheit und Vertrautheit in eins gesetzt sind. Das Fremde
ist das Eigene, das Eigene erweist sich als das Fremde.
     Komplettieren wir vor diesem Hintergrund unsere Untersuchung der
Geschlechterbeziehungen! Die geschlechterspezifischen Verstrickungen der
Männer gelten spiegelsymmetrisch in umgekehrter Hierarchie auch für die
Frauen, die ihre kulturell bedingte Rolle innerhalb des in Chronik eines ange-
kündigten Todes deutlich sich abzeichnenden Kampfes der Geschlechter spielen.
Angela Vicario ist die jüngste Tochter einer in bescheidenen Verhältnissen leben-
den Familie, die für diesen Befund geradezu stellvertretend ist. Insofern wäre
die Familie Vicario ganz im Sinne ihres Namens – nomen est omen – in diesem
umfassenden soziokulturellen und genderspezifischen Sinne eine Familie von
Vikaren, von puren „Stellvertretern“.
     Angelas Vater Poncio Vicario hat bei seiner Arbeit als „Goldschmied für
Arme“31 das Augenlicht verloren; und so ist es die wirtschaftlich prekäre Fami-
liensituation, die es Bayardo San Román erlaubt, sich die eines Tages zufällig
erblickte und sogleich lustvoll begehrte Braut mit seinem Geld regelrecht zu
kaufen. Die von der Mutter Purísima del Carmen verantwortete Erziehung war
stets geschlechtsspezifisch geteilt und beinhaltete zur Wahrung der Familienehre
eine strikte sexuelle Überwachung der Töchter, denn: „Die Brüder wurden auf-
gezogen, um Männer zu werden. Die Töchter wurden erzogen, um zu heiraten.“32
Man darf sagen, dass diese Geschlechtererziehung ihre Früchte trug und ihren
Teil zur Tragödie beisteuerte.

30 Khoury, Elias: Der geheimnisvolle Brief. Roman. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa.
München: C.H. Beck 2000, S. 45.
31 García Márquez, Gabriel: Crónica de una muerte anunciada, S. 50.
32 Ebda., S. 51.
844          Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

     Kein Wunder also, wenn die Mutter des Erzählers davon überzeugt ist, dass
diese Frauen ihre Männer glücklich machen würden, seien sie doch von Anfang
an zum Leiden erzogen.33 Die Eheschließung Angelas mit Bayardo beruht folglich
auf einer doppelten, ebenso die Geschlechterverhältnisse wie die sozioökonomi-
sche Situation berücksichtigenden Hierarchie, die sich auf allen Ebenen durch-
paust. Der Wille der wie eine Ware begehrten Braut spielt dabei keine Rolle, denn:
„Auch die Liebe kann man lernen.“34 Dies ist ein Satz, der geradezu unserer
Vorlesung über LiebeLesen entnommen sein könnte, lernen wir alle doch Liebe
gemäß unserer kulturellen, sozialen und geschlechterspezifischen Erziehung und
den Lernvorgaben, die wir fleißig erfüllen – oder bisweilen, eher seltener, auch
durchkreuzen und dann bewusst missachten.
     Nichts im Roman lässt vermuten, dass Santiago Nasar tatsächlich für Angelas
verlorene Jungfernschaft verantwortlich sein könnte: Die mütterliche Überwa-
chung des Mädchens außerhalb des Hauses war perfekt, und auch in Santiagos
Leben konnte der mit dem Fall beschäftigte Untersuchungsrichter keinerlei Indi-
zien dafür finden, dass es gewisse außereheliche Unregelmäßigkeiten gegeben
haben könnte. Der Erzähler selbst führt nicht nur an, Santiago sei viel zu hoch-
näsig gewesen, um sich mit dem Mädchen abzugeben; er macht vor allem hin-
tergründig darauf aufmerksam, sie hätten „zwei divergierenden Welten“ („dos
mundos divergentes“) angehört.35 Dieser Hinweis ist wichtig, provoziert er doch
gleichsam die Frage, von welchen divergierenden Welten in dieser Wendung die
Rede ist.
     Nicht nur die Bewohner des Ortes im Roman, sondern auch die Vertre-
ter*innen der Forschung wurden nicht müde, unterschiedlichste Hypothesen
zum Verlust der Jungfernschaft der schönen Angela zu entwickeln. Könnte viel-
leicht nicht sogar der Erzähler selbst dafür verantwortlich sein,36 so dass die Ent-
faltung seiner Detektivgeschichte letztlich nichts anderes wäre als eine perfekte
Täuschung, um jeden Verdacht von sich auf andere zu lenken? Warum sollte er
aber dann – so ließe sich dieser These entgegenhalten – gerade auf die „Diver-
genz“ der Welten Angelas und Santiagos verweisen? Denn wäre er der Schuldige,
dann müsste ihm daran gelegen sein, sich selbst zu entlasten und Santiago in ein

33 Ebda., S. 52.
34 Ebda., S. 56.
35 Ebda., S. 144.
36 Diese These scheint auf eine Überlegung Angel Ramas zurückzugehen; vgl. hierzu Silva,
Armando: Encuadre y punto de vista: saber y goce en „Crónica de una muerte anunciada“. In:
Universidad Nacional de Colombia / Instituto Caro y Cuervo (Hg.): XX Congreso nacional de Li-
teratura, Lingüística y Semiótica. Memorias. „Cien años de Soledad“, treinta años después. Bogotá:
Universidad Nacional de Colombia 1998, S. 23.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität        845

schiefes Licht zu rücken. Manches wiederum spräche im Kontext der evidenten
patriarchalischen Geschlechterherrschaft auch dafür, dass Angela das Opfer einer
innerhalb der Familie selbst stattgefundenen sexuellen Nötigung oder Vergewalti-
gung geworden sein könnte, zumal die Blindheit ihres Vaters Poncio mit Blick auf
Ödipus zumindest mythen- und literaturgeschichtlich eine Nähe zur Verletzung
des Inzesttabus suggeriert. Dafür spräche auch der Kommentar Angelas zum Tod
ihres Vaters Poncio kurze Zeit nach der Ermordung Santiago Nasars: „Ihn hat der
moralische Schmerz hinweggerafft.“37
    Doch auch Angela Vicario ist Opfer und Täterin zugleich. Kaum hat sie San-
tiago Nasar als den Schuldigen benannt, greifen ihre Brüder – die sich beruflich
als Schweineschlächter betätigen – zu ihren Messern, um den vermeintlichen
‚Entjungferer‘ abzuschlachten. Warum gibt Angela den Namen des Sohnes von
Ibrahim Nasar an? Weil sie, wie im Roman spekuliert wird, nicht damit rechnen
konnte, dass sich ihre Brüder an einem Reichen vergreifen würden, der über weit-
läufige Besitztümer und großen Einfluss vor Ort verfügt? Gehören Angela und
Santiago in diesem ökonomischen Sinne zwei divergierenden Welten an? Oder
sind die „mundos divergentes“ nicht auch kulturell markiert?
    Als die von ihrer wütenden Mutter Misshandelte von ihrem Bruder Pedro
am Ende des zweiten von fünf Kapiteln oder Akten dieser Tragödie befragt wird,
kommt ihre Antwort verblüffend schnell:

    Sie brauchte dafür kaum die Zeit, die man benötigt, um den Namen auszusprechen. Sie
    suchte ihn in der Finsternis, sie fand ihn auf den ersten Blick unter den so zahlreichen,
    verwechselbaren Namen dieser und der anderen Welt, und sie spießte ihn an der Wand
    zielsicher mit ihrem Pfeil auf, als wäre er ein willenloser Schmetterling, dessen Urteil von
    allem Anfang an geschrieben stand.
    Santiago Nasar, sagte sie.38

Die Szene ist bezeichnend und legt binnen einer Millisekunde das spätere Gesche-
hen quasi fest. Das Todesurteil für Santiago Nasar kommt so prompt wie uner-
wartet, und doch war es bereits geschrieben, stand schon immer fest. Sind es die
Listen des Unbewussten oder jene des „Fatum“ – wie der Untersuchungsrichter

37 Ebda., S. 133; vgl. zu dieser These insbesondere Rahona, Elena / Sieburth, Stephanie: Kee-
ping Crime Unsolved: Charactersʼ and Criticsʼ Responses to Incest in García Márquezʼ „Crónica
de una muerte anunciada“. In: Revista de Estudios Hispánicos (St. Louis) 30 (1996), S. 433–459;
sowie Pöppel, Hubert: Elementos del género policíaco en la obra de Gabriel García Márquez,
S. 36 f, und Silva, Armando: Encuadre y punto de vista: saber y goce en „Crónica de una muerte
anunciada“, S. 21 f.
38 García Márquez, Gabriel: Crónica de una muerte anunciada, S. 78.
846          Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität

meint39 – beziehungsweise des vom Menschen nicht bestimmbaren, sondern nur
im Sinne eines göttlichen Willens deutbaren „Kismet“? Angelas Antwort stellt
sich jedenfalls mit derselben Unvermitteltheit und Unmittelbarkeit ein wie die
Befürchtungen ihrer Brüder, von den Arabern vergiftet zu werden, oder die Ängste
der Bewohner, die Araber könnten die Vicario-Brüder bei lebendigem Leibe ver-
brennen. Nicht umsonst hatte der Untersuchungsrichter mit roter Tinte notiert:
„Die Fatalität macht uns unsichtbar.“40 Namen und Personen tauchen wie aus
dem Nichts auf und werden plötzlich wieder unsichtbar, als gehorchten sie einem
vorbestimmten Schicksal, das sie erfüllen und das sich erfüllt.
     Nicht weniger ansatzlos jagt der arabische Ladenbesitzer Yamil Shaium, mit
dem Santiago Nasar wenige Minuten vor seinem Tod noch über ein arabisches
Wortspiel lachte, mit seiner Tigermörderflinte und unterstützt von anderen,
freilich unbewaffneten Arabern den beiden Mördern hinterher, die sich in den
sicheren Schutzraum der Kirche flüchten.41 Pedro und Pablo Vicario folgen damit
jener Diagonale des Todes, die eine Revolverkugel in die Geometrie des Ortes ein-
schrieb, als sich Jahre zuvor versehentlich aus Ibrahim Nasars Pistole ein Schuss
löste, der den Hauptplatz, auf dem sein Sohn später erstochen werden sollte,
querte und auf dem Hochaltar der gegenüberliegenden katholischen Kirche eine
lebensgroße Heiligenfigur in Staub verwandelte.42 Alles scheint im Voraus durch
das Fatum bestimmt gewesen zu sein, alles gehorcht einer Choreographie des
Todes, die bis zum bitteren Ende getanzt werden muss.
     Noch Sekunden vor dem mörderischen Angriff der beiden Brüder ruft ein
unbeteiligter Zuschauer dem unbewaffneten Santiago Nasar zu, der „Türke“ solle
einen anderen Weg einschlagen.43 Auch dieser letzte Zuruf ändert nichts mehr
an der Fatalität, wohl aber an der Semantik, legt Gabriel García Márquez doch
noch einmal ein Zeichen aus, welches die arabamerikanische Isotopie in Erin-
nerung ruft. So wird der Sohn arabischer Einwanderer unmittelbar vor seinem
Tod wieder vom „blanco“ zum „turco“, vom weißen Großgrundbesitzer zum ori-
entalischen Migranten, zum „Türken“ mit ottomanischem Pass. Als wäre es seine
Antwort auf all dies, erscheint Santiago Nasar im Angesicht des Todes schöner
denn je, mit seinem „Antlitz eines Sarazenen mit dem Durcheinander seiner
Locken“.44 Die öffentliche Hinrichtung und der Tod vor aller Augen verwandeln

39 Vgl. hierzu ebda., S. 180.
40 Ebda.
41 Ebda., S. 190.
42 Ebda. S. 13; diese Lektion, so fügt der Erzähler hinzu, sollte Santiago Nasar sein ganzes Leben
lang nicht mehr vergessen, trennte er doch fortan die Waffen von der Munition.
43 Ebda., S. 184.
44 Ebda., S. 192.
Gabriel García Márquez, Elias Khoury oder eine transareale Intertextualität   847

den oft für seine geradezu magischen Verwandlungskünste45 bewunderten San-
tiago in einen Orientalen, einen Araber: Der Körper des Mannes gibt ein letztes
Mal, kurz vor seiner Ermordung, die zu Grunde liegende und zugleich projizierte
‚Identität‘ preis.
     In Sekundenbruchteilen, so scheint es, werden soziokulturelle Grenzziehun-
gen und mit ihnen zusammenhängende Exklusions- und Inklusionsmechanismen
aktiviert, an denen alle Versuche arabischer Einwanderer, sich der ortsansässigen
Bevölkerung anzupassen, noch in der dritten Generation nichts Entscheidendes
geändert haben. Einmal „turco“, immer „turco“: Der Nachname bleibt gegenwär-
tig! Wie ostentativ auch immer Ibrahim Nasar seiner Vieh-Hazienda den Namen
„Göttliches Antlitz“ („Divino Rostro“) geben, wieviel auch immer Santiago Nasar
zugunsten des Bischofs – dessen Ring er küssen wollte – spenden mochte: Sie
blieben in den Augen der nicht aus dem Nahen und Mittleren Osten stammen-
den Mitbürger doch der Gruppe der „Araber“, der „Türken“ zugehörig. Letzteren
waren schon ihre aus dem Nahen Osten eingewanderten Vorfahren zugeschla-
gen worden. Trotz anderslautender Versicherungen des nicht immer glaubwür-
digen, vielleicht auch manchmal unzuverlässigen Erzählers könnte der Name
der Hazienda aber auch ein Hinweis darauf sein, dass Divina Flor, die Tochter
Victoria Guzmáns, auch die Tochter Ibrahim Nasars ist. Dann freilich wäre eine
Verbindung Santiagos mit ihr ein unbewusster Bruch des Inzesttabus. Sie sehen,
die Geschichte dieser Chronik eines angekündigten Todes beinhaltet viele Erzähl-
fäden und -stränge, die offen gelassen worden waren und von keinem Erzähler
aufgenommen wurden.
     Auch wenn diese „Araber“ – die noch immer in der Gemeinschaft des
Ortes als solche identifizierbar sind – nicht daran denken, jene Gräueltaten zu
begehen, deren man sie für fähig hält, so verbergen sich unterhalb des scheinbar
problemlosen Zusammenlebens doch Konflikt- und Bruchlinien, die zwischen
denen, die nur des Spanischen mächtig sind, und jenen, die Spanisch und Ara-
bisch sprechen, jederzeit aufbrechen können. War der Apostel Santiago, der
„wahre Jakob“ aller Pilgerlegenden, auf einer noch arabisch geprägten Iberi-
schen Halbinsel nicht der Schutzpatron der Spanier im Kampf der Reconquista
gegen die Sarazenen? Rief man ihn nicht um Hilfe an im Kampf gegen die Macht
der Mauren?
     Ab Mitte des Romans lässt sich eine eigentümliche Disseminierung von Ori-
entalismen – also Textelementen, die einer spezifisch ‚arabischen‘ Isotopie zuge-
ordnet werden können – an Stellen auffinden, wo man sie nicht vermuten würde.
Alles erfolgt fast geräuschlos. Zwei Beispiele hierfür mögen genügen: So entdeckt

45 Ebda., S. 106.
Sie können auch lesen