Die Andere Wahrheit' in Günter Grass' Romanen Der Butt und Die Rättin
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Universität Gent 2009-2010 ‚Die Andere Wahrheit‘ in Günter Grass’ Romanen Der Butt und Die Rättin Eine erzähltechnische Analyse Promotor: Prof. Dr. Biebuyck Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Vergelijkende Moderne Letterkunde door Saartje Gobyn 1
Die Märchen hören nur zeitweilig auf oder beginnen nach Schluß aufs neue. Das ist die Wahrheit, jedesmal anders erzählt.1 2 1 Grass, Günter: Der Butt, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1977, S. 555. 2 Grass, Günter: Worüber ich schreibe (http://www.kunsthaus-luebeck.de/sites/grass/kuechenzettel/g02.htm) 2
DANKESWORT Es ist eine angenehme Pflicht, mich beim Beendigen dieser Arbeit bei denjenigen Menschen, die mir beim Zustandekommen dieser Magisterarbeit geholfen haben, zu bedanken. Zuerst gebührt meinem Promoter Herrn Professor Biebuyck ein aufrichtiges ‚Danke schön„. An erster Stelle, war er es, der die Interesse für Grass„ Literatur bei mir erweckt hat. Er hat mich während zwei Jahre betreut und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Immer hat er Zeit dafür gemacht, Probleme zu besprechen und nützliche Tipps und Informationen zu verschaffen. Weiter will ich mich auch gern bei allen Mitgliedern der Forschungsgruppe Deutsche Literaturwissenschaft bedanken. Ich hatte die Chance, dieses Jahr ein Praktikum bei der Forschungsgruppe machen zu können und konnte so aus der Nähe erfahren, wie ‚das Leben eines Forschers„ aussieht. Weiter habe ich aus ihrer Expertise lernen können. Das Praktikum erlaubte mir auch, die Literatur von Grass zu vertiefen, was meine Magisterarbeit nur zugute kommen konnte. Zum Schluss will ich auch meine Mutter und Geschwister aufrecht bedanken. Ihre moralische Unterstützung und liebe Worte haben mich oft aufgemuntert. 3
INHALT Einführung 6. 1. Eine literarische Einheit 11. 1.1.Kontinuität inhaltlicher Elemente in Der Butt und Die Rättin 11. 1.2. Kontinuität formaler Elemente in Der Butt und Die Rättin 14. 2. Technische Analyse des Erzählvorgangs 17. 2.1. Autor versus Ich 17. 2.2. Behandlung der Zeit 18. 2.3. Spaltung des Erzählers 21. 2.3.1. Platz des Erzählers: wörtlich und figürlich 24. 2.3.2. Kampf um Anerkennung 25. 2.4. Die Rättin als Widerspieglung von Der Butt 28. 3. Die Parenthese in Der Butt und Die Rättin 30. 3.1. Theoretischer Hintergrund 30. 3.2. Belegstellung 31. 3.3. Funktionen der Parenthese 33. 3.3.1. Gleichzeitiges Universum 33. 3.3.2. Meta-Kommentare 38. 3.3.3. Betonung der Macht 40. 3.3.4. Projektion des Lesers 44. 3.3.5. Die ‚nicht-erzählte„ Geschichte 47. 3.3.6. Verneinung der Zeugenrolle 50. 4. Pragmatik in Der Butt und Die Rättin 54. 4.1.Symbole 54. 4.1.1. Die dritte Brust 54. 4.1.2. Das Dritte Programm 57. 4.2. Besondere Merkmale der Schreibtechnik 59. 4.2.1. Metaliterarische Aussagen 59. 4.2.2. Kreisende Geschichte 62. 4
4.2.3. Betonung der literarischen Konstruktion 63. 4.3. Der Butt und Die Rättin als historische Romane 64. Schlussfolgerungen 66. Bibliografie 69. 5
EINFÜHRUNG Aber Sie und Ich wissen, daß die Geschichten nicht aufhören können, immer wieder anders und anders wirklich zu verlaufen.3 Wenn wir das Oeuvre Grass‟ einer genauen Analyse unterziehen, fällt sofort auf, dass die verschiedenen Romane sich gegenseitig aufeinander beziehen. Die Werke verweisen explizit oder implizit aufeinander und auch die behandelten Themen zeigen, dass die Romane in Beziehung zueinander stehen. So werden verschiedene Motive immer wieder aufgegriffen, bekommen aber in dem einen Roman mehr Aufmerksamkeit als in dem anderen. So hat Hanspeter Brode bemerkt, dass „Grass ein enges Netz von Anspielungen, Verweisen, Vor- und Rückdeutungen knüpft um auf diese Weise Schauplatz und Personenumfeld, historisch- politische Thematik und Chronologie als zusammenschließendes Band um seine Bücher zu [legen]“4 und auch Enzensberger „vermutet, daß Grass an einem größeren Ganzen schreibt.“ 5 Die Versenkung des Schiffes ‚Wilhelm Gustlov‟ zum Beispiel wird zum ersten Mal in Die Blechtrommel erwähnt6 und wird dann 2002 zum Hauptthema von Im Krebsgang, taucht aber zwischendurch zum Beispiel in Die Rättin auf. Die Mutter des Romanerzählers aus Im Krebsgang, Tulla Pokriefke, ist schon in Katz und Maus und Hundejahre anwesend und manchmal wird suggeriert, dass sie ursprünglich als Schwester Oskar Matzeraths konzipiert wurde.7 Aussagen wie: „Richtig“, sagt er [Oskar], „die kleine Pokriefke, ein Luder besonderer Art, wurde Tulla gerufen, war aber auch unter dem Decknamen Luzie Rennwand bekannt. Die hätte ich nicht zur Schwester haben mögen“ 8 muten in diesem Licht besonders ironisch an. Lars Korten hat darauf hingewiesen, dass Katz und Maus und Im Krebsgang auch noch auf eine andere Weise miteinander in Beziehung stehen.9 Am Ende des 10. Kapitels von Katz 3 Grass, Der Butt, S. 172. 4 Brode, Hanspeter:“ Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß“ Zur erzählerischen Kontinuität im Werk von Günter Grass. In: Günter Grass: Auskunft für Leser. Hg. v. Franz Josef Görter. Darrmstadt: Luchterhand, 1984, S. 80. 5 Brode,“ Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß“ Zur erzählerischen Kontinuität im Werk von Günter Grass. S. 82. 6 Grass, Günter: Danziger Trilogie. Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre. Darmstadt: Luchterhand, 1980, S. 45. 7 Wassmann Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur: Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmat, Patrick Süskind und Günter Grass. St. Ingbert: Röhrig Verlag, 2009, S. 345. 8 Grass, Günter: Die Rättin. München: Deutscher Taschenbuchen Verlag, 1998, S. 91. 9 Korten, Lars: Gibt es eine postmoderne Novellistik? Anmerkungen zu Texten von Martin Walser, Christoph Hein, Günter Grass und Uwe Timm. In: Moderne, Postmoderne - und was noch? Hg. v. Sagmo Ivar. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2007, S. 140. 6
und Maus wird gefragt: „Gibt es Geschichten, die aufhören können?“10, worauf Im Krebsgang mit den Schlusssätzen „Das hört nicht auf. Nie hört das auf“ 11 antwortet. Ein anderes deutliches, thematisches Beispiel dieser Ganzheit ist zweifellos die Figur Oskar Matzerath. Oskar Matzerath, der Erzähler und zugleich die Hauptfigur in Die Blechtrommel, taucht als 60-jähriger Filmmacher aufs Neue in einem der Erzählstränge in Die Rättin auf. Oskar wird aber nicht einfach so aufgeführt, der Erzähler stellt ihn als ‚alter Bekannter‟12 vor und macht deutliche Anspielungen auf seine literarische Vergangenheit: Unser Herr Matzerath hat allerlei und bald auch seinen sechzigsten Geburtstag hinter sich. Selbst wenn wir den Prozeβ und die Verwahrung in einer Anstalt, zudem das Unwägbare der Schuld außer acht lassen, hat sich nach seiner Entlassung viel Mühsal auf Oskars Buckel gehäuft.13 In Pausen, die er sich selten einräumt, wird ihm seine Kindheit gewichtig, der er sich alternd wieder zu näheren wünscht: der Sturz von der Kellertreppe, Besuche beim Arzt, zu viele Krankenschwestern…14 In dem jüngeren Roman wird er aber vom Erzähler zum erzählten Objekt. Auch wenn wir in Der Butt über „jene[n] dreijährige[n] Junge, der wütend auf seine Blechtrommel schlug“ 15 lesen, wird implizit auf die Figur Oskar angespielt. Solche eigenartigen intertextuellen Verweise durchkreuzen das ganze Oeuvre Grass‟. Obwohl dies nur einige Beispiele sind und es noch dutzend andere gibt, werden wir sie dennoch als repräsentativ für das Oeuvre Grass‟ betrachten. Seine Texte bilden ein Knäuel, in dem ständig Elemente wiederkehren und in dem die unterschiedlichen Romane auf einander verweisen. Die Werke, auf die hingewiesen wird, werden entweder als ein fiktives Dokument oder als ein reales Ereignis präsentiert. Diese Arbeit bietet aber weder die Zeit noch den Raum, das ganze literarische Knäuel zu entwirren. Statt dem ganzen Oeuvre Grass‟ Aufmerksamkeit zu schenken, wird dafür optiert, zwei Romane, Der Butt und Die Rättin, genau unter die Lupe zu nehmen. Da auch Die Blechtrommel in enger Beziehung zu diesen Werken steht, wird dieser Roman manchmal mit einbezogen, dennoch wird Die Blechtrommel in dieser Arbeit nicht auf ausführliche Weise analysiert. Der Butt ist 1977 erschienen und behandelt die Geschichte der Menschheit von der Jungsteinzeit bis in die 70er Jahre. Ein zentrales Ich, das als Erzähler auftritt, versetzt sich in jede Epoche und berichtet über die damaligen Geschehnisse. Ausgangspunkt und 10 Grass, Günter: Danziger Trilogie. Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre. Darmstadt: Luchterhand, 1980, S. 599. 11 Grass, Günter: Im Krebsgang, Göttingen: Steidl Verlag, 2002, S. 216. 12 Grass, Günter: Die Rättin. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007, S. 27. 13 Grass, Die Rättin, S. 28. 14 Grass, Die Rättin, S. 60. 15 Grass, Der Butt, S. 457. 7
strukturgebendes Merkmal des Romans ist das Märchen Von dem Fischer und seiner Frau. Besondere Aufmerksamkeit liegt auf dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen über die Jahrhunderte hinweg. Der sprechende Plattfisch aus dem Märchen – der Butt – tritt in der Geschichte als Berater der Männersache auf. Diese thematische Konstante wurde zur Zeit der Erstveröffentlichung stark von Feministinnen angegriffen, welche dem Roman aufgrund dessen ein frauenfeindliches Weltbild unterstellten. In Bezug darauf äußerte Grass selbst die Idee, dass der Roman nach einer Fortsetzung mit einem weiblichen Erzähler verlange. 16 Neun Jahre darauf, 1986, wird Die Rättin veröffentlicht. Der Roman führt zu Anfang ein Erzähler-Ich und eine Ratte ein, die das Ich als Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Rasch entsteht zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Weihnachtsgeschenk ein Erzählkampf. Beide streiten darüber, wer eine Geschichte oder ‚die„ Geschichte erzählen darf. Die Rättin berichtet über den ‚Groβen Knall‟, über das Ende der Welt. Der Ich-Erzähler will dieses Ende bestreiten, seine Welt und seine Rasse retten, indem er ‚Gegengeschichten‟ erzählt. So finden wir im Roman verschiedene Erzählstränge vor. Die Hauptgeschichten behandeln den jetzt 60- jährigen Oskar Matzerath, das Aussterben der Märchen, den Maler-Fälscher Malskat und fünf Frauen an Bord des Schiffes ‚Die Neue Ilsebill‟. Im Laufe des Romans werden die Geschichten auf eine eigenartige Weise miteinander verwoben. Mit seinen Erzählungen versucht der Ich-Erzähler die Ratte im wörtlichen Sinne zu über-reden, um so das Ende der Welt rückgängig zu machen, oder wie er selber sagt: ‚ich [will] durch Wörter das Ende aufschieben.‟17 Die ersten Sätze des Romans verraten aber, dass „das Tier gewann“ 18 und, dass die Menschheit von dem großen Knall zerstört wird. Diese Tatsache lässt sich aber auch bestreiten, denn die Geschichte ermöglicht viele und unterschiedliche Interpretationen. Die Wahl der zwei Werke lässt sich motivieren durch die Tatsache, dass wir beide Texte als eine kleine literarische Ganzheit betrachten können. Zudem wird manchmal behauptet, dass Die Rättin die weibliche Fortsetzung von Der Butt sein könnte. Beide Romane sind thematisch und stilistisch auf eine ähnliche Weise aufgebaut. Weiter tauchen in den zwei Texten auch wiederkehrende Elemente auf, sodass die Werke deutlich aufeinander verweisen und eine gemeinsame Analyse sich aufdrängt. Dieses Projekt ist kein Plädoyer dafür, dass beide Werke nicht mehr separat gelesen werden können, aber da sie viele Bezüge – 16 U.a.: Julian Preece: “The Transparency of the Male Narrative in “Der Butt” by Günter Grass.” In: The Modern Language Review. (Okt. 1995), S. 955-966, S. 960. Julian Preece: The life and work of Günter Grass: literature, history, politics. Groß-Britanien: Palgrave Macmillan, 2004, S. 145. 17 Grass, Die Rättin, S. 16. 18 Grass, Die Rättin, S. 7. 8
thematisch und strukturell – aufzeigen, kann eine gemeinsame Lektüre neue, interessante und zusätzliche Informationen liefern. Es fällt auf, dass viele Untersuchungen über ‚Grassliteratur„ um thematische und vor allem politische Aspekte herum kreisen; seine Romane werden auch oft als politische Flugblätter gelesen. Untersuchungen, die die narratologischen Merkmale und den Schreibstil vertiefen, sind schon immer – und vor allem in die letzten Jahrzehnten – in der Unterzahl. Diese Arbeit will versuchen, diese Lücke ein wenig zu füllen und baut daher auf eine erzähltechnische Analyse. Der Fokus liegt auf dem Aufbau der Werke und wie sie ihre Botschaft vermitteln. Auffallend in Bezug auf den Schreibstill ist das vielfältige Auftreten der Parenthese, welche dann auch besondere Aufmerksamkeit bekommt. Die Belegstellung dieser Stilfigur wird in beiden Romanen unter die Lupe genommen und sie wird auf ihre Funktion hin untersucht. In einem ersten Teil wird die Einheit zwischen Der Butt und Die Rättin untersucht. Inhaltliche sowie formale Elemente, die beide Romane gemeinsam haben, werden nacheinander betrachtet. Wie sich zeigen wird, sind die auffallendsten thematischen Elemente in beiden Büchern der Butt und der Feminismus. Auch den Märchen wird eine wichtige Rolle zugewiesen. Auf formaler Ebene springen die Gedichte in beiden Romanen sofort ins Auge. Eine technische Analyse des Erzählvorgangs steht im zweiten Teil an zentraler Stelle. Zuerst wird kurz auf die Ähnlichkeit zwischen dem Autor Grass und seinen Erzählern eingegangen. In der Analyse der Erzählperspektive wird sich herausstellen, dass die Spaltung der beiden Erzählinstanzen eine wichtige Rolle in beiden Romanen einnimmt. Dieser Punkt wird dann auch mit einbezogen und vertieft. Da der Umgang mit der ‚Zeit„ die beiden Werke in besonderem Maße prägt, wird auch die Zeitauffassung in Der Butt und Die Rättin analysiert. Wie sich zeigen wird, lassen sich die beiden Romane auch in dieser Hinsicht gut miteinander vergleichen. Nach einer genauen Lektüre der beiden Romane fällt auf, dass die Stilfigur der Parenthese überdurchschnittlich oft vertreten ist, so dass sich die Frage stellt, ob der Schaltsatz, neben der üblichen Funktion, noch eine weitere, tiefere Bedeutung haben kann. Diese Frage soll daher im dritten Teil an zentraler Stelle stehen. Zuerst wird ein kurzer theoretischer Hintergrund der Parenthese skizziert. Danach wird die Belegstellung der Stilfigur in beiden Romanen erforscht. Die Frage, ob sich eine Systematik in dem Gebrauch der Parenthese entdecken lässt, wird gelöst und schließlich wird die Stilfigur auf ihre Funktion erfragt. Wie sich herausstellen wird, erfüllt die Parenthese in Der Butt sowie in Die Rättin verschiedene Funktionen. Frappant ist, dass die Stilfigur oft, mittels nur eines Wortes 9
eine ‚unerzählte„ Geschichte mit einbezieht. Dadurch gibt die Parenthese oft eine ‚andere Wahrheit„, neben der bereits vorhandenen, wieder. Dieser letzte Punkt bringt uns zu einem der ‚wichtigsten„ Merkmale Grass„, der oft als Autor des ‚dritten Weges„ charakterisiert wird. Aus dem dritten Kapitel lässt sich schließen, dass der Schreibstil in Der Butt und Die Rättin den Inhalt reflektiert. Mittels Stilfiguren wird eine der pragmatischen Aspekte – die Existenz eines ‚dritten Weges„ – der beiden Romane betont. Wichtig ist, dass nicht nur die Parenthese diese Existenz unterstreicht. Zuerst werden zwei Symbolen, die den dritten Weg mitgestalten in Der Butt und Die Rättin, Aufmerksamkeit geschenkt. Weiter werden einige besondere Merkmale der Schreibtechnik analysiert und wird gefragt, ob auch die Merkmale die Existenz alternativer Wahrheiten markieren. Zum Schluss werden Der Butt und Die Rättin als historische Romane betrachtet, und wird erforscht welche Folgen diese Lektüre für den pragmatischen Aspekt von Grass„ Poetik hat. 10
1. EINE LITERARISCHE EINHEIT In der Einführung wurde bereits erwähnt, dass Der Butt und Die Rättin sich, sowohl auf dem Gebiet des Inhalts als auf dem Gebiet des Stils, nah anschließen. Die Absicht ist, dieses Thema im ersten Kapitel zu vertiefen, so dass wir die Frage, ob sich die beiden Romane tatsächlich als eine literarische Einheit lesen lassen, beantworten können. 1.1. Kontinuität inhaltlicher Elemente in Der Butt und Die Rättin Am deutlichsten sehen wir die Kontinuität inhaltlicher Elemente in der Figur des Buttes. Der Butt erzählt die Geschichte der Menschheit aus männlicher Perspektive her. Berater der Männer durch die Jahrhunderte hindurch ist der Butt aus dem Grimmschen Märchen Von dem Fischer und seiner Frau, das die Basis von Der Butt bildet. In Die Rättin taucht der Plattfisch wieder auf, hat aber, genau wie am Ende von Der Butt, das Lager gewechselt und berät jetzt anstatt der Männer die Frauen. Auffallend aber ist, dass der Fisch in Die Rättin nur als passives Objekt eine Rolle bekommt: der Fisch existiert nur in der Rede der Frauen, er hat keinen aktiven Anteil im Roman. Nach dem Lesen von Die Rättin erhebt sich die Frage, inwieweit wir diesen Roman als eine Fortsetzung von Der Butt betrachten sollen. Der Feminismus aus Der Butt bekommt in dem Erzählstrang der fünf Frauen eine deutliche Fortsetzung. Weiter hat Grass, wie oben schon erwähnt, nachdem Der Butt erschienen war, geäußert, dass der Roman eine Fortsetzung bekommen müsste, aber dann von einer Frau erzählt. Auch die Tatsache, dass Grass Die Rättin anfangs Das Meer oder Die Neue Ilsebill nennen wollte, spricht für eine solche Interpretation.19 Auffallend in diesem Bezug ist, dass die fünf Frauen aus Die Rättin auf dem Laufenden sind, über was in Der Butt vorgefallen ist, und auch auf die Ereignisse des älteren Romans hinweisen. Diese Tatsache spricht aus Textstellen wie: Hier [vor der Küste Ostholsteins] etwa haben wir Anfang der siebziger Jahre den Butt gefangen. Zufällig. Mit ner Nagelschere. Hat der das Maul aufgerissen! Lauter Hoffnungen und wunderhübsche Versprechungen. Wurde nichts draus. Alles nur Quallen, die schrumpfen, sobald du sie anguckst. 20 In Der Butt hieß es folgendermaßen: 19 Julian Preece, The life and work of Günter Grass: literature, history, politics. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2004. 20 Grass, die Rättin, S. 63. 11
hatte Siggi ihren Spazierstock – ein ordinär männliches Stück mit metallenem Reiseandenkenbeschlag – ins Boot mitgenommen. Dieser Stock diente als Angel. Ein gewöhnlicher Bindfaden hing ihm an. Der Haken war eine geschlechtslose Nagelschere. […] „Was uns praktisch fehlt“, sagte Fränki beim Schiffchenfalten, „ist ne ideologisch saubere Überichstütze.“ Da biß der Butt an. Glaub mir, Ilsebill! Aufs Stichwort mit Absicht.21 Darüber hinaus erinnert die Beschreibung der fünf Frauen aus Die Rättin manchmal sehr stark an die Darstellungen der Köchinnen. In Der Butt treten „Neun und mehr Köchinnen“22 auf. Wenn wir die Köchinnen im Kopf des Erzählers, „denn nur von Köchinnen kann ich erzählen, die in mir hocken und raus wollen“23, nachzahlen, kommen wir zu einem Schluss von zwölf Frauen.24 Auch in Die Rättin ist am Anfang von einer gleichen Zahl die Rede: „Eigentlich sollten die fünf Frauen an Bord des Schiffes ‚Die Neue Ilsebill„ zwölf Frauen sein. So viele hatten sich für die Forschungsreise auf dem ehemaligen Lastewer angemeldet; und eine gleich übertrieben hohe Zahl versammelte ich anfangs im Kopf.“ 25 Die zwölf Frauen rufen die Köchinnen aus Der Butt in Erinnerung. Übrigens wird auch in diesem Zitat darauf hingewiesen, dass die Seefrauen sich im Kopf des Erzählers versammeln, gerade wie auch die Köchinnen in ihm hockten. An anderen Stellen wird deutlich, dass die Frauen und das Ich schon eine Vorgeschichte haben: „Mehr weiß ich von ihren Träumen nicht, so nah mir alle gewesen sind.“26 und auch folgendes Zitat zeigt eine gemeine Geschichte auf: Unter Deck einzig ich. Ich schnüffle in ihren restlichen Siebensachen, die unter den Matten oder im Bugschrank in Seesäcken und Koffern offen liegen. Alles Schamlos befingern. Ich suche Briefe aus früher, noch früher Zeit – Geständnisse und Beteuerungen – und finde keinen Zettel, der mich auswiese. Ich sehe rasch Fotos durch, auf denen ich fehle. Andenken, Schmuck, Ketten aus geflochtenem Silber, doch kein Stuck darunter, dass ich zum Geschenk gemacht hätte.27 Vor allem die „Geständnisse und Beteuerungen“, können wir als eine deutliche Anspielung auf Der Butt verstehen. Und könnte das Ich vielleicht die Halskette Wiggas, aus Bernstein hergestellt, zwischen den anderen Schmuckstücke suchen? Das ganze Schreibprozess wird im Roman mit einbezogen – was später noch ausführlicher an die Reihe kommt. Dürfen wir dann vielleicht annehmen, dass Grass in seinem Roman auch die Entstehungsgeschichte des Romans mitreflektiert? Wir können stellen, dass Grass tatsächlich eine Folgerung auf Der Butt schreiben wollte, und dies mit seinen Köchinnen. Während des Schreibens hat er zwar 21 Grass, Der Butt, S. 39. 22 Grass, Der Butt, S. 13. 23 Grass, Der Butt, S. 13. 24 Aua, Wigga, Mestwina, Dorothea, Margarete Rush, Agnes, Amanda Woyke, Sophie Rotzoll, Lena Stubbe, Sibylle (Billy), Maria, Ilsebill. 25 Grass, Die Rättin, S. 36. 26 Grass, Der Butt, S. 93. 27 Grass, Die Rättin, S. 94. 12
die Zahl vermindert, aber die Idee, dass auch diese Frauen eine ‚Ilsebill„ sein werden, blieb. Programmatisch in diesem Sinn ist auch der Name des Schiffes, ‚Die Neue Ilsebill„. Die Kenntnisse der Frauen, über dasjenige, was sich in Der Butt gespielt hat, können wir dann als eine übergreifende Allwissenheit verstehen. Ein anderes häufig auftauchendes Element ist das Märchen, welches zwischen der inhaltlichen und der formalen Ebene schwebt. Wie oben schon angegeben, ist das Märchen in Der Butt allgegenwärtig. Ausgangspunkt des Romans ist das Märchen Von dem Fischer und seiner Frau und oft finden wir explizite Hinweise auf dieses Märchen vor – obwohl der Inhalt sich geändert hat – so z.B. ‚Ach Butt! Dein Märchen geht böse aus.‟ 28 Die Märchenverweise sind aber auch implizit im Roman verarbeitet. Nachdem die Brüder Grimm, Bettina Brentano, Arnim von Achim, Philipp Otto Runge, und Clemens Brentano sich darüber gestritten haben, ob Ilsebill im Märchen repräsentativ für die Frau ist, entscheiden sie sich, die Gemüter mit einem Waldspaziergang zu beruhigen: „Also gingen sie in den Wald und sahen ihn auf verschiedene Weise. Jeder ging mit einem Korb. Auf Rufweite wollten sie beieinander bleiben, um sich nicht zu verlaufen.“29 Der Wald, der Korb und das Sich Verlaufen sind übliche Elemente eines Märchens30 und auch in dem darauffolgenden Abschnitt werden Verweise auf andere Märchen hineingearbeitet.31 Die Gesellschaft schreibt hier also, im kurzen, ein eigenes Märchen. Durch die vielen Elemente, die außerhalb der fiktionalen Welt nie stattfinden könnten, die wir aber während des Lesens ohne Probleme für wahr halten, präsentiert der ganze Roman sich auch selber wie ein modernes Märchen, zwar ein Kunstmärchen. In Die Rättin dann taucht in einem der fünf Erzählstränge eine Mischung von Märchenfiguren auf.32 Diese Figuren behalten alle Eigenschaften, die sie in ihrem Märchen haben, benutzen die aber jetzt um ihren Wald retten zu können. Dazu kommt, dass auch das Märchen Der Rattenfänger von Hameln gänzlich, aber aufs Neue deformiert, in Die Rättin aufgenommen worden ist. Auch Die Rättin können wir als ein modernes, apokalyptisches Kunstmärchen verstehen. Beide Romane teilen also eine märchenhafte Verfremdung ihres Stoffes. Grass selber hat zu dem Gebrauch der Märchen Folgendes geäußert: 28 Grass, Der Butt, S. 552. 29 Grass, Der Butt, S. 358. 30 Lüthi, Max: Volksmärchen und Volkssage. Zwei Grundformen Erzählender Dichtung. Bern: Francke Verlag, 1966, S. 11. 31 So treffen sich Arnim und Bettina „am Rand einer Lichtung, die sich um ein dunkles Wasserloch ergab‟ (Grass, Der Butt, S. 358) , was auf die Geschichte der zwei Königskinder hinweisen kann. Am Ende verlieren die Figuren sich dennoch im Wald aber werden plötzlich auf märchenhafte Weise von einem Forstmeister gerettet. (Grass, Der Butt, S. 360). 32 Figuren aus den Märchen von den Brüdern Grimm, Perrault, Andersen und sogar Musäus sind anwesend. 13
Allenfalls spricht noch aus Märchen Wahrheit, während uns die so vernünftig geknüpften Sachzwänge unserer Tage um jede Erkenntnis bringen. […] Könnten nicht sie, die Literaten, ihr, der Vernunft, die immerhin vernünftige Einsicht beibringen, daß Märchen, Mythen und Sagen nicht außerhalb unserer Wirklichkeit entstanden sind, also nicht irreal am Rande hausen und reaktionäre Finsternisse beschwören müssen, sondern Teil unserer Realität und kräftig genug geblieben sind, um uns klarer, wenn auch mit gesteigertem Ausdruck in unserer existentiellen Not und Wirrnis darzustellen, als es die überdies wortarm gewordene, nur noch im Fachjargon nuschelnde Vernunft vermag? 33 Im Licht dieses Zitats wird deutlich, dass die Märchen eine Gegenkraft darstellen, mit der das Ich aus Die Rättin sogar die Welt zu retten versucht. Auch Zhang weist darauf hin, dass die Märchen – nicht nur in Die Rättin – eine „Gegenposition zu der kapitalistischen Industriegesellschaft, in der Technik, Fortschrittsglaube und Vernunft herrschen“ 34 vertreten. Um die Verarbeitung von Volksmärchen bei Grass genauer analysieren zu können, sollte diesem Thema aber eine eigenständige Forschung gewidmet werden. 1.2. Kontinuität formaler Elemente in Der Butt und Die Rättin Wie angekündigt, lenkt das Märchen auch auf eine formale Ebene Die Rättin und Der Butt. Auch wenn von Märchenfiguren nicht die Rede ist, tauchen märchenhafte Floskeln auf, so zum Beispiel in Die Rättin: „Es war einmal ein Land, das hieß Deutsch…“35 Dieser Satz wird nicht vollendet, und man könnte vermuten, dass der Leser die Geschichte einfach selber auf ‚märchenhafte‟ Weise ausfüllen muss. Die Aussage aber verweist auf ein früheres Gedicht, das alles andere als märchenhaft ist, wie u.a. folgende Zeile zeigen: „Nun gab es sich eine Idee, die Stiefel trug, / gestiefelt als Krieg ausging, um die Welt zu sehen / […] / Doch rückläufig gelesen, konnte die gestiefelte Idee / als Verbrechen erkannt werden: so viele Tote.“36 Mit märchenhaften Aussagen wird eine schreckliche Geschichte erzählt, und dies wirkt, wie oben schon erwähnt, verfremdend für den Leser. Die Märchenfloskeln werden in diesem Kontext mit dem Inhalt von dem, was sie einleiten, kontrastiert. Auf diese Weise wird der Gräuel, über den erzählt wird, extra betont. Folgender Satz, der einen Abschnitt über Malskat einleitet, wirkt auf dieselbe Weise: ‚Es war einmal ein Maler, der sollte als Fälscher 33 Zhang, Xinyi: Formen und Funktionen der Intertextualität in Erzählwerken von Günter Grass. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2009, S. 147. 34 Zhang, Formen und Funktionen der Intertextualität in Erzählwerken von Günter Grass, S. 147. 35 Grass, Die Rättin, S. 111. 36 Grass, Die Rättin, S. 104-105. 14
berühmt werden.‟37 Gerade durch die Märchenfloskeln wird die Kluft zwischen dem, was mit derartigen Floskeln versprochen wird, und dem wirklichen Inhalt betont. Auf rein formaler Ebene sind die Gedichte, die in den Volltext eingearbeitet sind, am auffallendsten. Die Lyrik ist in Die Rättin zahlreicher vertreten als in Der Butt, aber ihre Funktion hat sich nicht geändert. Die Gedichte können wir entweder als Zusammenfassungen von demjenigen, was schon geschrieben ist, oder als Anspielungen auf dasjenige, was kommen wird, verstehen. Vor allem die Prolepse sollen wir erkennen, denn oft wird schon sehr früh, zwar auf ambigue Weise, angekündigt, was passieren wird. So können wir folgenden Strophen schon viele Ereignisse aus Die Rättin entnehmen. Es könnte, was ich erzählen will, weil ich durch Wörter das Ende aufschieben möchte, mit Quallen beginnen, die mehr, immer mehr, unabsehbar mehr werden, bis die See, meine See eine einzige Qualle. […] Doch als die See den Frauen Vineta zeigte, war es zu spät. Damroka verging, und Anna Koljaiczek sagte: Nu isses aus. Ach, was soll werden, wenn nichts mehr wird! Da träumte die Rättin mir, und ich schrieb: Die Neue Ilsebill geht als Ratte an Land.38 Die erste Strophe des Eröffnungsgedichtes verweist auf Ereignisse, die im gleichen Kapitel spielen, während die letzte Strophe schon auf das Ende anspielt. Viele Hinweise und Verweise sind aber beim Anfang des Lesens schwer zu verstehen und werden erst spät im Text deutlich. Auch in Der Butt haben die Gedichte eine ähnliche Wirkung. Ein Gedicht versucht sogar das ganze Buch zusammenzufassen: Alle Mit Sophie, so fängt mein Gedicht an, gingen wir in die Pilze. Als Aua mir ihre dritte Brust gab, lernte ich zählen. Wenn Amanda Kartoffeln schälte, las ich dem Fluß ihrer Schalen den Fortgang meiner Geschichte ab. Weil Sybille Miehlau Vatertag feiern wollte, nahm sie ein schlimmes Ende. Eigentlich wollte Mestwina den heiligen Adalbert nur liebhaben, immerzu liebhaben. 37 Grass, Die Rättin, S. 15. 38 Grass, Die Rättin, S. 16-18. 15
Während die Nonne Rusch polnische Gänse rupfte, habe ich nichtsnutz flaumige Federn geblasen. Agnes, die keine Tür ins Schloß fallen ließ, war sanftmütig immer nur halb da. Die Witwe Lena zog Kummer an, weshalb es bei ihr nach Wruck und Kohl roch. Wigga, die Zuflucht, der ich entlief. Schön wie ein Eiszapfen ist Dorothea gewesen. Maria lebt noch und wird immer härter. Aber – sagte der Butt – eine fehlt. Ja – sagte ich – neben mir träumt sich Ilsebill weg.39 ‚Alle„ führt tatsächlich ‚alle„ wichtigen Köchinnen auf. Weil die Frauen des ‚Feminals„ fast alle ein Echo der Köchinnen sind, werden auch sie im Gedicht mit einbezogen. Das Gedicht befreit Der Butt von aller Franse und entblößt, in Bezug auf die Frauen, die ‚nackte„ Wahrheit. Ironischerweise werden gerade die Männer, deren Standpunkt in Der Butt vertreten wird, in einem Gedicht mit dem Titel ‚Alle„ nicht erwähnt. Im Gedicht finden wir Prolepse vor: so wird das schlimme Ende von Sibylle erwähnt, während das Kapitel ‚Vatertag„ erst später folgt. Auch die letzten zwei Verszeilen symbolisieren die Distanz zwischen dem Ich und Ilsebill, die erst in den Schlusssätzen des Romans deutlich ausformuliert wird: „Ilsebill kam. Sie übersah, überging mich. Schon war sie an mir vorbei. Ich lief ihr nach.“40 Genau wie in Die Rättin bekommt das Gedicht erst, nachdem der Roman endet, Bedeutung. Die Funktion und Wirkung der Gedichte hier völlig analysieren, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen aber ich möchte hier auf Dittberner41 und Brady42 verweisen. 39 Grass, Der Butt, S. 422. 40 Grass, Der Butt, S. 556. 41 Dittberner, Hugo: Das Gedicht als Werkstück. Ein Essay zur Lyrik des Günter Grass. In: Günter Grass, München: Verl. Ed. Text + Kritik, 1988. 42 Brady, Philip: ‚Aus einer Kürbishhütte gesehen„: The Poems. In: Günter Grass‟s ‚Der Butt„. Sexual Politics and the Male Myth of History. Hg. v. Philip Brady, McFarland Timothy, John J. White. Oxford: Clarendon Press, 1990, S. 203-225. 16
2. TECHNISCHE ANALYSE DES ERZÄHLVORGANGS Nach einer genauen Lektüre fiel auf, dass Der Butt und Die Rättin eine ähnliche Struktur zugrunde liegt. Beide Romane zeigen auch in Bezug auf den Erzähler gemeinsame, eigenartige Merkmale auf. Die Struktur und die Eigenschaften werden in diesem Kapitel untersucht, in beiden Romanen miteinander verglichen, und auf ihre Funktionen erfragt. 2.1. Autor versus Ich Das narratologische Merkmal, das Der Butt und Die Rättin am meisten prägt, ist die Ähnlichkeit zwischen beiden Erzählerfiguren, die von verschiedenen thematischen Angaben konstituiert wird. So liegen dem Ich-Erzähler aus Die Rättin seine kaschubische Familie und sein Danzig sehr am Herzen. Auch der Ich-Erzähler aus Der Butt kann seinen Hintergrund nicht leugnen. Unter anderem in dem neunten Monat verweist er auf seinen kaschubischen Ursprung: Mit der Aussage „Schlieβlich sind wir Kaschuben alle über paar Feldwege miteinander verwandt“43 werden die Ich-Erzähler der beiden Romane, obwohl Die Rättin später erschien, in eine deutliche Beziehung zueinander gesetzt. Auch die Allwissenheit beider Erzähler prägt den Erzählvorgang. Genau wie z.B. die Frauen auf ‚Die Neue Ilsebill‟ auf dem Laufenden sind über dasjenige, was in früheren Romanen vorgefallen ist, weiß auch der Ich-Erzähler aus Die Rättin, was sich schon alles ereignet hat. So stellt der Ich-Erzähler Oskar als einen alten Bekannten44 vor und spricht, nachdem die Frauen den Butt verflucht haben, über „dieses lange nicht mehr lautgewordene Geschrei nach dem sprechenden Plattfisch.“45 Die Einheit und die Kontinuität zwischen den verschiedenen Erzählern wird vor allem durch die Ähnlichkeit mit dem Autor Günter Grass konstituiert. Grass spielt ständig mit der Grenze zwischen autobiographischem und fiktionalem Schreiben, so dass die Erzähler scheinbar sehr oft Grass widerspiegeln. In Der Butt und Die Rättin ähnelt der Hintergrund des Erzählers, der aus einer deutlichen Ich-Perspektive schreibt und keinen Namen bekommt, dem des Autors Grass in großem Maße. Historische Ereignisse und persönliche Geschehnisse, die wir im Leben des Autors lokalisieren können, laufen durcheinander aber nie wird die ‚Wirklichkeit„, historisch oder persönlich, völlig ‚richtig„ auf den Text projiziert. Auffallend 43 Grass, Der Butt, S. 509. 44 Grass, Die Rättin, S. 27. 45 Grass, Die Rättin, S. 63. 17
ist auch, dass die zwei Erzähler Schriftsteller sind – was wieder eine Anspielung auf Grass ist – und oft auf das Schreiben verweisen. So wird der ganze Schreibprozess der beiden Erzähler/Schriftsteller in die Romane mit einbezogen. Die Neigung, den Ich-Erzähler mit dem Autor zu identifizieren, ist groß, aber sieht man etwas genauer hin, wird deutlich, dass nicht alle Daten sich richtig einordnen lassen. Auch Braun hat, mit Recht, auf die Gefahren der Gleichstellung von Grass mit seinen Erzählern hingewiesen: „Grass invokes the autobiographical mode precisely in order to complicate public understanding of his authorial persona and draw attention to its constructed, textual nature.“46 Demnach sind die Erzähler in den Romanen Grass„ zwar bewusst nach dem Vorbild des Autors Grass kreiert worden, jedoch nicht um den Werken einen autobiographischen Charakter zu geben. Eher wird auf diese Weise versucht, das öffentliche Bild des Autors zu verwirren. Obwohl die Beziehung zwischen Grass und seinen Erzählern also evident ist, wird diese Arbeit den autobiographischen Bezug dennoch nicht tiefer ausarbeiten. Die Untersuchung fokussiert auf die technischen Aspekte des Erzählvorgangs und auf ihre Wirkung, was impliziert, dass, wenn über die Erzählperspektive und Erzählweise gesprochen wird, nur auf den Erzähler und nicht auf den Autor Günter Grass hingewiesen wird. Wir können schließen, dass der Autor Grass dafür sorgt, dass eine Einheit zwischen den Erzählern entsteht, welche jedoch nicht nur auf biographischen Elementen basiert. 2.2. Behandlung der Zeit Wie Der Butt und Die Rättin mit dem Begriff ‚Zeit„ umgehen, lässt sich nur schwer eindeutig benennen. Die Behandlung der Zeit ist aber so eigenartig und beeinflusst die Struktur beider Romane derartig, dass eine Analyse notwendig ist. Der Butt erzählt eine chronologische Geschichte, die aber durch die Rahmenerzählung, die der Erzähler aus den 70er Jahren aufführt, unterbrochen wird. Die Geschichte fängt in der Steinzeit an und schreitet bis in die Gegenwart weiter. Zwischendurch aber mischt der Erzähler sich oft ein und berichtet über zeitgenössische Ereignisse. Das ‚Jetzt‟ und das ‚Damals‟ können wir dennoch sehr einfach voneinander unterscheiden. Die Zeitauffassung ist in diesem Sinn linear. Diese lineare Auffassung wird aber nicht nur von den Kommentaren des Erzählers unterbrochen. Immer wieder wird, auch innerhalb kleinerer Erzählstränge, auf einstige Geschehnisse zurückgegriffen. Die Geschichte schreitet zwar fort, 46 Braun, Rebecca: Mich in Variationen erzählen: Günter Grass and the ethics of Autobiography. In: Modern Language Review 103: (2008), S. 1059. 18
aber im Sinne der ‚echternachischen Prozession„, denn ständig tauchen frühere Gegenstände wieder auf. Auffallend dabei ist, dass manche Erzählfäden dann von Neuem angesetzt werden und sich auch leicht ändern. Exemplarisch für die Erzählweise von Der Butt ist folgende Textstelle: Sie schossen Jan in den Bauch. Am 18. Dezember 1970 schossen sie Jan in den Bauch voller Schweinekohl. Die Miliz der Volksrepublik Polen schoß, neben anderen Arbeitern, dem Schiffsbauingenieur und Mitarbeiter der Werbeabteilung, dem Gewerkschaftsmitglied und Mitglied des Kommunistischen Bundes, Jan Ludkowski, vierunddreißig Jahre alt, in den Bauch voller gekümmeltem Schweinekohl, der mittags in der Kantine der Leninwerft an über zweitausend streikende Arbeiter ausgeteilt worden war.47 Dieser Abschnitt ist zwar ein komprimiertes Beispiel aber zeigt dennoch wie die Geschichte Der Butt aufgebaut ist: Ereignisse werden ständig wiederholt und mit neuen Details ergänzt. Zwischen den Wiederholungen aber – und das ist im vorangehenden Beispiel nicht der Fall – wird oft auf andere Gegenstände eingegangen. Die Technik erwirkt, dass die Geschichte manchmal auf der Stelle tritt. Gerade durch dieses kreisende ‚Sichfortbewegen„ der Geschichte stellt sich auch die Frage nach der Zuverlässigkeit des Erzählers, welcher immer wieder schon erwähnte Details ändert. Was Gerstenberg also in Bezug auf Die Blechtrommel bemerkte, gilt auch für Der Butt: „Es handelt sich um eine Simultantechnik, die jedem Einfall offen ist und, da sie stets andere Möglichkeiten als die gerade gewählten impliziert, das Ambivalente der Aussage fördert.“48 Die lineare Zeitauffassung hebt auf diese Weise sich selbst auf. Die Linearität wird auch untergraben, indem der Erzähler, der sich nicht als auktorial vorstellt, sich dennoch in jeder Periode auskennt und einmischt, so dass die Geschichte eher aus parallelen Universen besteht. Die letzte These wird in Die Rättin vertieft. Während wir in Der Butt Gegenwart und Vergangenheit noch deutlich voneinander trennen können, läuft in Die Rättin alles durcheinander und entsteht eine „Vergegenkunft“.49 Der Roman enthält verschiedene Aussagen, die implizieren, dass der Zeitverlauf in Die Rättin nicht mit dem Unsrigen übereinstimmt: „selbst heute noch – und es verging viel Zeit seitdem – fürchten wir die Mitbringsel dieser Stürme.“50 Eine mögliche Erklärung für diese Zeitauffassung finden wir in der Traumstruktur, von der Die Rättin durchdrungen ist. Der Text selber äußert auch eine 47 Grass, Der Butt, S. 500. 48 Gerstenberg, Renate, Zur Erzähtlechnik von Günter Grass, Heidelberg: Carl Winter-Universitätsverlag, 1980, S. 38. 49 Grass selbst beschreibt die ‚Vergegenkunft„ als eine Wirklichkeit, „in der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukunftiges simultan präsent sind.“: Brunssen, Frank: Das Absurde in Günter Grass‟ Literatur der achtziger Jahre. Würzburg, Königshausen und Neumann, 1997, S. 110. 50 Grass, Die Rättin, S. 198. 19
derartige Vermutung: „Nach einiger Zeit – sofern man dem Traum mit der Elle Zeit beikommen kann – sagte sie“.51 Auch die verschiedenen Erzählfäden folgen nicht aufeinander, im Gegenteil, alles findet gleichzeitig statt: „und läßt mich stehen mit meinen zu vielen Geschichten, die alle gleichzeitig aus ihren Anfängen drängen.“ 52 Ein Universum wird geschaffen, in dem alles parallel vorfällt, bis zum Moment des ‚großen Knalls‟. Dieser Knall erinnert an die Big-Bang-Theorie, in der das Universum mit einem großen Knall entsteht. Sehr ironisch übernimmt Grass die Angabe des Knalls, ändert aber die Funktion, denn in Die Rättin deutet der Knall das Ende an. In dem Anfangssatz „Auf Weihnachten wünschte ich eine Ratte mir, hoffte ich doch auf Reizwörter für ein Gedicht, das von der Erziehung des Menschengeschlechts handelt.“53 finden wir eine ähnliche Technik vor: der Ich-Erzähler verweist mit seinem Gedicht über die Erziehung des Menschengeschlechts auf Lessing, bekommt aber keine Inspiration für ein solches Gedicht, sondern eine Ratte – die dennoch als eine Muse wirkt – die über den Untergang der Menschheit berichtet. Das Gedicht über die Erziehung verweist schon auf den Untergang der Menschheit, genau wie Beginn und Ende des Universums in dem Knall zusammen kommen54, was aufs Neue auf eine gleichzeitige Zeitauffassung hinweisen kann. Eine solche temporale Bestimmung hat unter anderem Helge Jordheim mit dem Begriff „Gleichzeitigkeit“ angedeutet: In dieser Zeitkonzeption, die ein Nebeneinander historisch und chronologisch aufeinander folgender Bedeutungen und Erfahrungen voraussetzt, findet eine Abrechnung mit der modernen Konzeption einer bewegten, fortschreitenden und deshalb fundamental ungleichzeitigen Geschichte statt, die nicht zuletzt in den Schlüsselbegriffen der Moderne wie „Fortschritt“, „Modernisierung“ und „Avantgarde“ zum Ausdruck kam.55 Die Gleichzeitigkeit verknüpft bestimmte Elemente, die nichts miteinander zu tun haben. So wird zum Beispiel am Anfang von Die Rättin die Vorgeschichte ‚Der Neuen Ilsebill„ mit jener der ‚Gustloff„ verknüpft. Auf diese Weise entsteht eine „Mehrschichtigkeit von chronologisch aus verschiedenen Zeiten herrührenden Bedeutungen.“56 Die Mehrschichtigkeit unterstützt die Hypothese eines parallelen Universums. Dennoch wird auch die Gleichzeitigkeit in Die Rättin wieder unterminiert und zwar durch den Inhalt. Die Rättin 51 Grass, Die Rättin, S. 87. 52 Grass, Die Rättin, S. 61. 53 Grass, Die Rättin, S. 7. 54 In diesem Sinn ist es auch vielbedeutend, dass das Ende der Menschheit zugleich der Beginn des Rattenzeitalters ist. 55 Jordheim, Helge: „Versuche zu einer Zeithermeneutik der Moderne und der Postmoderne: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Grass‟ Im Krebsgang und Wolfs Leibhaftig‟, In: Sagmo, Ivar (Hrsg.), Moderne, Postmoderne- und was noch?, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2007, S. 111-143. 56 Helge: „Versuche zu einer Zeithermeneutik der Moderne und der Postmoderne: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Grass‟ Im Krebsgang und Wolfs Leibhaftig‟, S.116. 20
erzählt die Geschichte der Vernichtung der Menschheit, daher sollen wir sie als ‚apokalyptisch„ betrachten, was dann aber eine lineare, bis zum Ende fortschreitende Zeitauffassung impliziert. Weiter unterstreichen beide Romane, ungeachtet ihre Zeitbehandlung, die zyklische Struktur der Geschichte, denn in Der Butt sowie in Die Rättin finden wir zahlreiche Verweise darauf, dass alles sich immer wiederholt. So heißt es zum Beispiel in Die Rättin: „Alles was stattfindet, findet wiederholt statt, geringe Veränderungen und modische Neuigkeiten einbegriffen.“57 In Der Butt betont das Ich am deutlichsten die zyklische Geschichte, denn „Ich, das bin ich Jederzeit“. Auch wenn über Vasco da Gama die Rede ist, wird deutlich, dass die Geschichte sich immer wiederholt: „Wieder- und wiedergeboren ist Vasco jetzt Schriftsteller. Er schreibt ein Buch, in dem es ihn zu jeder Zeit gegeben hat: steinzeitlich, frühchristlich, hochgotisch, reformiert, barock, aufgeklärt und so weiter.“58 Jedes Ereignis wiederholt sich, so dass sogar das Ich und Vasco da Gama zu einer Person werden. Es mag wohl deutlich sein, dass die Zeitbehandlung in beiden Romanen nicht eindeutig zu benennen ist. Der Butt zeigt eine lineare Struktur, welche jedoch immerzu unterbrochen wird, während Die Rättin eine Gleichzeitigkeit schafft, die an sich auch untergraben wird. Dazu betonen beide Romane die Idee einer zyklischen Geschichte. Der Butt und Die Rättin verkörpern also wohl sehr überzeugend die Idee Grass„ „mit einer Vergegenkunft zu arbeiten.“59 Die komplizierte Zeitbehandlung trägt dazu bei, die Geschichte, wie es in Der Butt heißt, immer wieder anders zu erzählen.60 Weiter denke ich, dass die offene, zerbröckelte Form, die vor allem in Die Rättin überspitzt wird, an erster Stelle einen Versuch darstellt, die ‚zeitgenössische„ Gesellschaft wiederzugeben. Unsere Gesellschaft ist dermaßen kompliziert und zersplittert, dass es nur einer solchen offenen Erzählstruktur gelingen kann, die Fragmentierung der Wirklichkeit zu fassen. 2.3. Spaltung des Erzählers Der Butt und Die Rättin werden beide aus einer Ich-Perspektive her erzählt, oder wie Stanzel es beschreibt, aus einem quasi-autobiographischen Ich. 61 Alle Geschehnisse, die in den 57 Grass, Die Rättin, S. 302. 58 Grass, Der Butt, S. 179. 59 Brunssen, Das Absurde in Günter Grass‟ Literatur der achtziger Jahre, S. 110. 60 Grass, Der Butt, S. 555. 61 Stanzel, Franz K.: Unterwegs. Erzähltheorie für Leser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 26. 21
Romanen an die Reihe kommen, werden von diesem Ich gefiltert. Das Ich erweckt den Eindruck, die Hauptrolle im Geschehen zu spielen. Rasch aber erweist sich, dass das Ich keine Handlungstragende Figur ist‚ es berichtet ‚nur„ über vergangenes Geschehen, aber hat in diesen Geschehnissen keine aktive Rolle. Darüber hinaus spaltet sich das Ich in beiden Romanen in anderen Instanzen und kompliziert auf diese Weise die Erzählstruktur. Der Butt Das ‚Ich‟, das sich am Anfang als „Ich, das bin ich jederzeit“ 62 präsentiert, ist der Haupterzähler von Der Butt. Daneben gibt es im Roman noch einen anderen Erzähler, nämlich den Butt, den wir als ‚Kontra-Erzähler„ betrachten können: Der Butt berät die Männer, will sie erhöhen, bewirkt aber ständig das Gegenteil. Am Ende gehört er den Frauen und arbeitet den Männern aufs Neue entgegen. Das Prinzip eines ‚Kontra-Erzählers„ hat Grass später in Die Rättin tiefer ausgearbeitet. Die Erzählinstanz wird auf diese Weise in zwei kleinere Instanzen geteilt. Das Erzähler-Ich aber treibt die Spaltung auf die Spitze, indem es sich mit dem ‚Männertum„ identifiziert und daher für fast jeden Mann steht. Die verschiedenen Geschichten des zeitlosen Ichs synthetisieren sich dann alle in Der Butt. Die zwei Erzähler, der Butt selbst und das ‚Ich‟, können wir – im Gegensatz zu Die Rättin – leicht voneinander unterscheiden, und auch die verschiedenen, kleinen Geschichten der Männer durch die Jahrhunderte hindurch sind deutlich voneinander zu trennen. Die Schwierigkeit aber besteht darin, dass die Erzählstimme des Ichs aus den 70er Jahren sich in den früheren Geschichten einmischt, so dass eine Mixtur zwischen damaligen und heutigen Ideen entsteht. Die Geschichte wird also – wie es so oft passiert – aus zeitgenössischem Blickwinkel gesehen und mutet daher oft anachronistisch an. Die Anachronismen werden aber sehr oft überspitzt und als Hyperbel präsentiert, was darauf hindeutet, dass das Einfügen der Anachronismen Teil des Schreibstils ist und daher einen witzigen, oft ironischen Effekt erreicht, wie folgende Textstellen illustrieren: Das war gegen Ende der Steinzeit. Ein ungezählter Tag. Wir machten noch keine Striche und Kerben. Nur mit Furcht sahen wir den Mond abmagern oder Fett ansetzen. Nichts Vorbedachtes traf pünktlich ein. Kein Datum. Nie kam wer oder was zu spät. 63 Auch in der Altsteinzeit. Jedenfalls seit Ende der letzten Vereisung. […] Sicher, manchmal die Unruhe. Wenn man wissen will, von wo der Fluß kommt. Oder ob hinterm Fluß, wo die Sonne aufsteigt, irgendwas los ist. Auch möchte ich wissen, ob man weiterzählen kann, als wir dürfen. Und auch die Frage nach dem Sinn. Ich meine, 62 Grass, Der Butt, S. 7. 63 Grass, Der Butt. S. 24. 22
ob das, was wir so machen und was ja immer dasselbe ist, außer dem, was es ist, noch was anderes sein könnte. Aua sagte: Es ist nur, was ist.64 Die Rättin In Die Rättin finden wir eine ähnliche Struktur wie in Der Butt vor. Auch hier wird der Erzähler in zwei Instanzen gespalten: ein Ich und eine weibliche Ratte. Die Ratte erfüllt hier die Rolle des Kontra-Erzählers, indem sie sich die Geschichte, wider den Willen des Erzählers, ständig aneignen will. Die Erzählung des Ich-Erzählers wird, genau wie in Der Butt, an sich auch wieder gespalten. Die Rättin beinhaltet, neben dem Streit zwischen Erzähler und Ratte, verschiedene andere Erzählstränge. Sie behandeln den jetzt 60-jährigen Oskar Matzerath, das Aussterben der Märchen, den Maler-Fälscher Malskat und fünf Frauen an Bord des Schiffes ‚Die Neue Ilsebill‟. Im Laufe des Romans werden die Geschichten auf eine sonderbare Weise miteinander verwoben, bis sie alle in dem ‚großen Knall‟ zusammenkommen. In Die Rättin wird die Komplexität des Strukturs überspitzt. Während wir am Anfang noch eine Linie zwischen der Stimme des Erzählers und der der Rättin, sowie zwischen den verschiedenen Erzählsträngen ziehen können, läuft gegen Ende des Romans alles durcheinander – was als narratologische Technik aber nicht außergewöhnlich ist. Ständig stellt sich die Frage, wer jetzt spricht, Ich oder die Rättin, wer träumt, was der Traum beinhaltet65, und über welchen Erzählstrang eigentlich berichtet wird. Das Ende von Die Rättin gibt jedoch keine Antworten. Im Gegenteil, mit dem Schlusssatz ‚Ein schöner Traum, sagte die Rättin, bevor sie verging‟ 66 bleiben alle Fragen offen. Die Pluralisierung der beiden Erzähler, über die auch Braun schreibt, sie jedoch auf die Person des Autors zurückführt,67 erwirkt auch einen anderen, vielleicht wichtigeren Effekt. Durch die Spaltung der Erzählstimme wird sie hybrid und vertritt, in Hinblick auf die Ideologie, verschiedene Standpunkte. So wird es für den Leser fast unmöglich, den Erzähler auf eine Ideologie oder klare Meinung festzunageln, denn immer wieder wird auch die andere 64 Grass, Der Butt, S. 28. 65 Die Anwesenheit der Träume in Die Rättin wurde ausführlich von Frank Brunssen und Thomas Kniesche untersucht: Brunssen, Frank: Das Absurde in Günter Grass‟ Literatur der achtziger Jahre. Würzburg, Königshausen und Neumann, 1997. Kniesche, Thomas: Die Genealogie der Post-Apokalypse. Günter Grass‟ ‚Die Rättin‟. Wien: Passagen Verlag, 1991. 66 Grass, Die Rättin, S. 487. 67 Braun, Rebecca: Constructing Autorship in the Work of Günter Grass, Oxford, Clarendon Press, 2008. 23
Seite, ‚die andere Wahrheit‟ gezeigt.68 Die Pluralisierung lässt es zu, ‚die Wahrheit, jedes Mal anders erzählt‟69, wiederzugeben. 2.3.1. Platz des Erzählers: wörtlich und figürlich Die eigenartige Erzählstruktur hat einige Folgen in Bezug auf den Platz, den der Erzähler in der Geschichte einnimmt. Wie oben beschrieben, fällt die Erzählinstanz jedes Mal in zwei Stimmen auseinander. Auffallend ist, dass eine der Erzählstimmen immer einen Platz aus der Geschichte bekommt, und dies sowohl wörtlich als figürlich. Diese Tatsache ist bemerkenswert, weil der Ich-Erzähler sich am Anfang als Erzähler und als Hauptfigur präsentiert. Durch das ausdrückliche Auftreten des Ichs zu Anfang des Romans, erwartet der Leser eine quasi-autobiographische Erzählform.70 Die Erwartung wird aber unterbrochen, weil der Erzähler selbst lediglich an der Rahmenerzählung einen aktiven Anteil hat. Wo erwartet wird, dass Erzähler-Ich und Erzählung miteinander zusammenfallen, wird dennoch eine Distanz kreiert. Das Ich aus den 70er Jahren, der Haupterzähler, aus Der Butt hat an sich keine handelnde Rolle in der historischen Rekonstruktion der Geschichte. Nur im Erzählfaden, in dem es sich um ‚heute‟ handelt, hat er einen aktiven Anteil, wobei er sich jedoch die ganze Zeit im Kampf um Anerkennung, sowohl als Mann als auch als Schriftsteller, befindet. In Die Rättin finden wir Ähnliches vor, obwohl es in diesem Roman, wie oben schon angegeben, schwieriger ist, deutliche Grenzen zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und -instanzen zu ziehen. Dennoch können wir behaupten, dass dem Ich des Anfangs, das auf ‚Reizwörter für ein Gedicht‟71 hofft, in den verschiedenen Geschichten keine wesentliche Rolle zugeteilt wird, obwohl er sich immer wieder, als Erzähler, in die Geschichten einmischt. Wo der Leser erwartet, dass er, als Erzähler, dem Geschehen fernbleibt und nur berichtet, interagiert er auf eine besondere Weise mit seinen Figuren: Matzerath lädt er dazu ein, gemeinsam einen Film zu drehen, die Zusammenarbeit ist jedoch zum Scheitern verurteilt und auch mit Malskat steht er in direktem Kontakt, er klettert sogar zu ihm aufs Gerüst: „aber sobald ich im Innengerüst der Lübecker Marienkirche hoch hinauf ins Chorgewölbe zu klettern beginne – naßkalt, zügig ist es hier oben – holt mich Gegenwart von den 68 Ein wichtiger Stilmittel in diesem Hinsicht ist die Ironie, der aber später in dieser Arbeit ein Kapitel gewidmet wird. 69 Grass, Der Butt, S. 555. 70 Stanzel, Franz: Unterwegs. Erzähltheorie für Leser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 26. 71 Grass, Die Rättin, S. 7. 24
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