Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland

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Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
Geschlechterrollen
im Fokus
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
Deutsche Teilübersetzung des Berichts
„Stop the War on Children 2020: Gender matters“,
publiziert von Save the Children International,
Februar 2020

Herausgeber
Save the Children Deutschland e. V.,
Seesener Str. 10–13, 10709 Berlin

Übersetzung und Redaktion
Sarah Ben Ammar, Marvin Tarek Große,
Jenny Kaireitis, Claudia Kepp, Verena Schmidt

Satz und Layout
Drees + Riggers

Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt, kann
jedoch für Lehrzwecke ohne Gebühr oder vorherige
Zustimmung reproduziert werden, aber nicht zum
Verkauf. Für das Kopieren zu anderen Zwecken muss
eine vorherige Zustimmung vom Herausgeber erteilt
werden, die gebührenpflichtig sein kann.

Alle Namen von Kindern in diesem Bericht wurden zu
ihrem Schutz geändert.

Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Bericht
meist das generische Maskulinum gewählt. Gemeint sind
aber immer Menschen jeden Geschlechts.
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
INHALT

Vorwort: Kinderstimmen aus Nigeria und Kolumbien                        4

Krieg gegen Kinder – Zusammenfassung                                    6

Teil 1: Einleitung: Krieg gegen Kinder                                  8

Teil 2: Wie viele Kinder sind von Konflikten betroffen?                10

Teil 3: M
         ädchen, Jungen und Krieg: Eine geschlechts­spezifische Analyse
        der sechs schweren Verbrechen an Kindern in Konflikten          16
      1. Tötung und Verstümmelung von Kindern                 18
      2. Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz
          durch bewaffnete Gruppen                            19
      3. Entführung von Kindern                               21
      4. Vergewaltigung und andere Formen sexueller
          Gewalt gegen Kinder                                 22
      5. Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser               25
      6. Verweigerter Zugang zu humanitärer Hilfe für Kinder  28

Schlussfolgerungen und Empfehlungen                                    30

Anmerkungen und Quellen                                                33
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
Vorwort: Kinderstimmen aus Nigeria und Kolumbien

K
        inder haben nichts mit dem zu tun, was bewaffne-      Vertreter der Kinder sollten dabei aus allen Lebensberei-
        te Konflikte verursacht. Dennoch sind wir diejeni-    chen kommen, unabhängig von Geschlecht, Bildungsstand,
        gen, die am meisten davon betroffen sind: Wir lei-    Vermögen oder Herkunft. Die Verantwortlichen sollten
den unter Hunger und Krankheiten, wir werden vertrie-         begreifen: Wenn wir heute nicht gehört werden, werden
ben, gefoltert, getötet, sexuell missbraucht, der Bildung     wir morgen nicht mehr sprechen können.
beraubt, wir werden Opfer von Menschenhandel, von den
Eltern getrennt, als Kindersoldaten rekrutiert. Wann wird        Purity, 14 Jahre alt, Aktivistin für Mädchenrechte in Nigeria
das Leid der Kinder enden?

Wenn ich mich für die Rechte von Mädchen in Konflikten
einsetze, erinnere ich mich an all die Geschichten mei-

                                                              A
ner Schwestern, die wegen ihres Geschlechts diskrimi-                   ls Kind in einem Land wie Kolumbien zu leben, ist
niert werden. Als Mädchen werden unsere Stimmen zum                     wirklich schwierig. Es ist nicht leicht, in einem Um-
Schweigen gebracht, unsere Flügel gestutzt. Hier in Nige-               feld aufzuwachsen, in dem man jeden Tag Gewalt
ria ist die Diskriminierung für Mädchen, die in Konfliktge-   in all ihren Facetten sieht und sie Teil des Alltags ist. Kin-
bieten leben, noch schlimmer. Einige werden aus finanzi-      der werden nicht einbezogen, wenn es darum geht, eine
ellen Gründen von ihren Eltern zu einer frühen Heirat ge-     friedliche Gesellschaft aufzubauen. Wir hören immer wie-
zwungen, damit sie überleben und beschützt werden. Ich        der, dass Kinder die Zukunft sind. Aber diese Worte pas-
fühle mit ihnen – und mit Millionen von Mädchen in ähnli-     sen nicht zu den Taten der Erwachsenen.
chen Situationen auf der ganzen Welt. Kinder, die in Kon-
fliktgebieten wie dem Nordosten Nigerias leben, können        Viele Kinder sind verzweifelt: Ihre Familie und das Schul-
nur für den heutigen Tag leben, ohne zu wissen, ob es ein     system lassen sie allein – in ihrer Entwicklung, bei der Bil-
Morgen geben wird. Das muss sich ändern.                      dung und mit ihrem Wunsch nach Beteiligung. In Kolumbi-
                                                              en gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten für Kinder, sich
Die führenden Politiker der Welt müssen dafür sorgen,         zu beteiligen. Es ist nicht Teil der Kultur des Landes, zu
dass die Rechte von Kindern in Konflikten geschützt wer-      glauben, dass die Stimmen der Kinder zählen. Wenn dies
den. Wir wollen eine Welt, in der Kinder wie ich das Recht    anders wäre, könnten andere Geschichten erzählt werden.
auf Leben, freie Meinungsäußerung, Bildung, Gesundheit,
Sozialsysteme und andere Grundrechte genießen kön-            Mein Traum für die Kinder meines Landes ist es, dass wir
nen. Eine Welt, in der wir die Möglichkeit haben, aufzu-      gesund und frei aufwachsen und unsere Kindheit genießen
wachsen, unsere Träume zu verwirklichen, unseren Ge-          können. Dass wir ein Umfeld haben, in dem wir uns sicher
schwistern, Eltern und der Gemeinschaft zu helfen und         fühlen, unsere Meinung zu äußern, und wissen, dass unse-
die Zukunft unseres Landes zum Guten zu wenden. Kein          re Stimme zählt. Und dass wir von klein auf lernen, in Frie-
Land kann ernten, was es nicht gesät hat. Je besser die       den zu leben. Eltern müssen ihre Kinder dabei unterstüt-
Rechte der Kinder heute geschützt werden, desto fried-        zen – genau wie die Bildung beginnt die Beteiligung von
licher werden unsere Gemeinschaften in der Zukunft le-        Kindern an Entscheidungsprozessen zu Hause.
ben. Wenn Kinder ihre Rechte kennen, können sie für sich
selbst und andere sprechen – und werden sich nicht ein-       Meine Botschaft an die mächtigen internationalen Akteu-
schüchtern lassen. Dann können wir Fragen stellen und         re ist, dass Kinder in Kolumbien auf ganz unterschiedli-
eine Antwort verlangen.                                       che Weise von den Konflikten betroffen sind. Als Kinder
                                                              brauchen wir Chancen.
Ich hoffe, dass die in diesem Bericht zusammengetragenen
Erkenntnisse dazu führen, dass Regierungen und andere         Alles, was man für jemanden tut, zählt. Jede Verände-
Beteiligte konkrete Maßnahmen ergreifen, damit unsere         rung beginnt damit.
Rechte als Kinder gewahrt werden und wir in die Entschei-
dungsprozesse, die uns betreffen, einbezogen werden. Die                José, 15 Jahre alt, Kinderrechtsaktivist in Kolumbien

4 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
© Save the Children

Die 14-jährige Purity sieht in Nigeria die Folgen
des Konflikts im Norden des Landes für Mädchen
– zum Beispiel, dass sie die Schule verlassen
­müssen und früh verheiratet werden.

                                                     5
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
KRIEG GEGEN KINDER –
ZUSAMMENFASSUNG
„Als der IS unsere Stadt übernahm, wurden die Kämpfe                         Mädchen, Jungen und Konflikte
 noch schlimmer. Ich fühle mich wegen des Krieges so viel
                                                                             Neben den Gesamtzahlen nimmt der Bericht auch ge-
älter, als ich bin. Ich fühle mich wie eine alte Frau, obwohl
                                                                             schlechtsspezifische Unterschiede in den Blick. Die Ana-
 ich 16 Jahre alt bin.”
                                                                             lyse der nachgewiesenen schweren Verbrechen unter die-
                                                           – Safaa, Syrien   sem Aspekt zeigt Folgendes:
                                                                             •   Mädchen sind einem weitaus höheren Risiko ausgesetzt
                                                                                 als Jungen, sexuelle und andere Formen geschlechts-
Der aktuelle Bericht zum „Krieg gegen Kinder“ – der drit-
                                                                                 spezifischer Gewalt zu erfahren – wie Frühverheiratung
te, den Save the Children veröffentlicht – zeigt erschre-
                                                                                 und Zwangsehen. Jungen werden in Konfliktgebieten
ckende Trends hinsichtlich der Sicherheit und des Wohl-
                                                                                 dagegen viel häufiger getötet oder verstümmelt, ent-
ergehens von Kindern in Konfliktgebieten. Die Zahl der
                                                                                 führt oder von bewaffneten Gruppen rekrutiert.
nachgewiesenen schweren Verbrechen an Kindern1 war
im Jahr 2018 so hoch wie noch nie.                                           •   Ein geschlechtsspezifisches Konfliktverständnis in Ver-
                                                                                 bindung mit weiterhin vorherrschenden Geschlechter-
•   415 Millionen Kinder weltweit leben in einem Konfliktge-
                                                                                 rollen führt dazu, dass vor allem die Verbrechen wahr-
    biet. 149 Millionen von ihnen wachsen in einem Gebiet
                                                                                 genommen werden, die sich im öffentlichen Raum ab-
    mit hoher Konfliktintensität auf – also in einer Region,
                                                                                 spielen und häufiger Jungen betreffen. Diese sind leich-
    in der mehr als 1.000 Menschen im Jahr durch Kampf-
                                                                                 ter zu identifizieren und zu verifizieren als Verbrechen
    handlungen oder deren Folgen sterben.
                                                                                 im privaten Raum. Im Gegensatz dazu werden Verbre-
•   In Afrika ist die absolute Zahl der Kinder, die in Kon-                      chen gegen Mädchen oft nicht gesehen oder ignoriert.
    fliktgebieten leben, mit 170 Millionen am höchsten. Pro-                     Dadurch werden sexuelle Gewalt und Verbrechen ge-
    zentual gesehen sind im Nahen Osten die meisten Kin-                         gen Mädchen oder Kinder mit diverser Geschlechts-
    der von Konflikten betroffen: Dort lebt fast jedes drit-                     identität zu wenig dokumentiert – sie bleiben unsichtbar.
    te Kind in einer Konfliktzone.
                                                                             •   Generell führen Herausforderungen beim Monitoring,
•   Konflikte werden für Kinder immer gefährlicher. Seit                         der Meldung und Verifizierung von Verbrechen an Kin-
    2010 ist die Gesamtzahl der Kinder, die in Konfliktgebie-                    dern dazu, dass das wahre Ausmaß nicht ausreichend
    ten leben, um 34 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum                       bekannt ist. Gründe dafür sind der begrenzte Zugang
    hat sich die Zahl der bestätigten schweren Verbrechen                        zu den betroffenen Gebieten, Sicherheitsrisiken und die
    an Kindern in diesen Gebieten um 170 Prozent erhöht.                         oft notwendige Vertraulichkeit im Zusammenhang mit
                                                                                 den Themen, die mit den Verbrechen verbunden sind.
•   Obwohl sich Kinder an einer Vielzahl von Aktivitäten
                                                                                 Der Einfluss von Geschlechterbildern kann bei bestimm-
    im Bereich der humanitären Hilfe sowie der Friedens-
                                                                                 ten Verbrechen, etwa bei sexueller Gewalt gegen Jun-
    schaffung und -erhaltung beteiligen, werden ihre Stim-
                                                                                 gen oder der Rekrutierung von Mädchen, zu einer noch
    men nicht ausreichend gehört. Ihr Potenzial wird wei-
                                                                                 geringeren Dokumentation führen.
    terhin nicht genug gesehen und dessen Förderung nicht
    ausreichend finanziert.                                                  •   Es gibt besondere Herausforderungen beim Verständnis
                                                                                 von und der Reaktion auf Verbrechen an Kindern mit di-
                                                                                 verser Geschlechtsidentität. Denn die Datensammlun-
                                                                                 gen beruhen, wenn sie überhaupt differenziert sind, auf
                                                                                 einer binären Unterteilung. Im Ergebnis sind die Erfah-
                                                                                 rungen von Kindern aller Geschlechter und die gesam-
                                                                                 te Auswirkung der Verbrechen nicht bekannt.

6 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
© Sam Tarling / Save the Children
                                                                                    Leben im Konfliktgebiet: In
                                                                                    der Altstadt von Mossul, Irak

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                                                               Geschlechterunterschiede bei den sechs schweren Ver-
                                                               brechen an Kindern in Konfliktgebieten berücksichti-
                                                               gen. Darüber hinaus müssen die Staaten und die hu-
Wir fordern die internationale Gemeinschaft, Staaten,          manitären Akteure Strategien entwickeln, finanzieren
bewaffnete Gruppen und alle anderen zentralen Akteu-           und umsetzen, die speziell die weitreichenden Auswir-
re auf, ihre Bemühungen um einen wirksamen Schutz von          kungen von Konflikten auf Mädchen, Jungen und Kin-
Kindern in Konflikten zu verstärken. Wie in unseren vor-       der mit diverser Geschlechtsidentität und unterschied-
herigen „Krieg gegen Kinder“-Berichten dargelegt, sind         licher sexueller Orientierung identifizieren und ange-
wir davon überzeugt, dass die Staaten in drei Bereichen        hen. Dies sollte über die bisher erfassten sechs schwe-
tätig werden müssen:                                           ren Verbrechen hinausgehen und auch weitere Kinder-
                                                               rechtsverletzungen in Konflikten einschließen, beispiels-
•   Internationale Regeln und Standards einhalten
                                                               weise jene im privaten Bereich, von denen Mädchen
• Täter, die Verbrechen gegen Kinder begangen haben,           eher betroffen sind.
  zur Verantwortung ziehen
                                                             2. … die mehrjährigen Investitionen für den humanitä-
•   Kinder vor Ort mit konkreten Maßnahmen schützen             ren Kinderschutz zu erhöhen, mit dem Ziel, den Anteil
    und sie dabei zu unterstützen, sich zu erholen              an der gesamten Finanzierung humanitärer Arbeit von
                                                                0,5 Prozent auf vier Prozent zu erhöhen. Dazu gehört
                                                                auch eine wesentliche Aufstockung der Mittel sowohl
Um den spezifischen Bedürfnissen von Jungen, Mädchen
                                                                für etablierte wie auch für gezielte neue Maßnahmen
und Kindern diverser Geschlechtsidentität und unter-
                                                                zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Stärkung von
schiedlichen Alters gerecht zu werden, müssen Staaten
                                                                Mädchen und zum Thema sexuelle und geschlechtsspe-
und humanitäre Akteure zudem sicherstellen, dass ihre
                                                                zifische Gewalt in humanitären Kontexten.
Aktivitäten zum Schutz von Kindern in Konflikten diese
Unterschiede berücksichtigen. Wir fordern Staaten und        3. … eine sinnvolle Beteiligung von Kindern an den Maß-
humanitäre Akteure dazu auf:                                    nahmen und Programmen zu ermöglichen. Wenn mög-
                                                                lich, sollte dabei immer nach unterschiedlichen Gruppen
1. … das Büro des Sonderbeauftragten des UN-General-
                                                               – je nach Alter, Geschlecht oder Behinderung – diffe-
   sekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte finanzi-
                                                                renziert und die Maßnahmen sollten entsprechend an-
   ell und diplomatisch zu unterstützen und auf diese Wei-
                                                                gepasst werden.
   se sicherzustellen, dass die Datenerhebung, wann im-
   mer dies möglich ist, nach Geschlechtern differenziert
   wird. Auch die Arbeit des Büros mit den Konfliktpar-      Die gesamten Empfehlungen sind ab Seite 30 aufgelistet.
   teien muss gefördert werden, damit alle Aktionspläne

                                                                                                                      7
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
TEIL 1
    EINLEITUNG:
    KRIEG GEGEN KINDER
„Wenn die Kämpfe beginnen, ist kein Ort in unserem Dorf              Konflikte dauern zunehmend länger an. Das Jahr 2019
 sicher. Aber zu Hause ist es immer noch besser als draußen.         zum Beispiel markierte 18 Jahre Konflikt zwischen den
Wir verstecken uns in den Ecken der Räume.“                          internationalen Streitkräften und den Taliban in Afgha-
                                                                     nistan: Kein einziges Kind, das heute im Land lebt, wur-
                                – 14-jähriges Mädchen, Afghanistan   de zu Friedenszeiten geboren. Im März 2020 wird voraus-
                                                                     sichtlich das zehnte Kriegsjahr in Syrien beginnen. Im Je-
                                                                     men werden es fünf Jahre seit der Eskalation der Feind-

D
        ie Last, die Kinder in bewaffneten Konflikten tra-           seligkeiten sein. Mehrere aufeinander folgende Generati-
        gen, ist extrem. Die aktuelle Zahl der von der UN            onen von Kindern in der Demokratischen Republik Kon-
        bestätigten schweren Verbrechen an Kindern in                go, in Somalia und im heutigen Südsudan sind aufgewach-
Konflikten zeigt, dass diese erneut zugenommen haben.                sen, ohne Frieden zu kennen.
                                                                        Die lang andauernden Konflikte der Gegenwart ha-
Die sechs schweren Verbrechen betreffen:                             ben die Art der Risiken, denen Kinder ausgesetzt sind,
                                                                     verändert – und damit auch die Art des Schutzes und der
•   die Tötung und Verstümmelung von Kindern
                                                                     Unterstützung, die sie benötigen. Die Auswirkungen von
•   die Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz                   Konflikten auf Kinder sind vielschichtig und weitreichend.
    durch bewaffnete Streitkräfte und Gruppen                        Dazu gehören die direkten körperlichen Versehrungen
                                                                     durch Explosivwaffen, die psychischen und psychosozia-
•   Kindesentführungen
                                                                     len Folgen von Gewalterfahrungen sowie die sozioöko-
•   Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser                           nomischen Auswirkungen, die gravierende Folgen für die
                                                                     Rechte von Kindern mit sich bringen – wie der Zusam-
•   die Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe
                                                                     menbruch von Infrastruktur, die Vertreibung von Gemein-
•   Vergewaltigungen oder andere sexuelle Gewalt                     schaften und die Zerstörung grundlegender Dienste und
    gegen Kinder                                                     Hilfeleistungen.
                                                                        Drei wesentliche Ursachen bedingen die hohe Anzahl
Dieser Bericht untersucht, in welch unterschiedlichem Aus-           an Kindern, die diesen schädlichen Auswirkungen ausge-
maß Jungen und Mädchen jeweils von den sechs schwe-                  setzt sind:
ren Verbrechen an Kindern in Konflikten betroffen sind.
                                                                     •   Bestehende internationale Regeln, Gesetze und Nor-
Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Fol-
                                                                         men werden in Konflikten nicht eingehalten.
gen von Konflikten für Kinder werden genauer betrachtet.
Nicht nur die Zahl der schweren Verbrechen an Kindern                • Täter werden nicht zur Verantwortung gezogen.
ist von Jahr zu Jahr signifikant gestiegen, auch die Zahl
                                                                     •   Kinder werden nicht ausreichend unterstützt und es
der Kinder, die in Konfliktgebieten leben, hat sich insge-
                                                                         wird nicht genug dafür getan, dass sie sich von den Fol-
samt stark erhöht – trotz eines leichten Rückgangs von
                                                                         gen der Konflikte erholen können.
2017 auf 2018. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich
die Zahl der in Konfliktzonen lebenden Kinder fast ver-
                                                                     Diese Herausforderungen sind groß, doch zugleich ist
doppelt: 2018 waren es 415 Millionen. Und: Seit 2010 hat
                                                                     es wichtig zu sehen, dass Fortschritte nicht nur mög-
sich die Zahl der von der UN bestätigten schweren Ver-
                                                                     lich sind – sondern auch, dass es sie bereits gibt. So hat-
brechen an Kindern fast verdreifacht.
                                                                     ten im Jahr 2019 insgesamt 101 Staaten – also mehr als

8 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
© Save the Children
                                                              Der 15-jährige Shadi lebt ohne seine Eltern in
                                                              einem Vertriebenencamp im Nordosten Syriens.
                                                              Als 13-Jähriger verlor er sein Bein infolge eines
                                                              Luftangriffs – trotz dieser Behinderung versuchte
                                                              der IS, ihn für den Kampf auszubilden. Auf eigene
                                                              Faust gelang es Shadi, das vom IS kontrollierte
                                                              Gebiet zu verlassen.

die Hälfte der UN-Mitgliedsstaaten – die „Safe Schools        Diese Beispiele zeigen, was möglich ist. Sie sollten dieje-
Declaration“ unterzeichnet und sich damit verpflichtet,       nigen zum Handeln motivieren, die auf nationaler, regio-
Schulen während bewaffneter Konflikte zu schützen. 110        naler und internationaler Ebene Einfluss nehmen können.
Staaten haben die Pariser Verpflichtungen und Prinzipien      Nur durch gemeinsam abgestimmte, gezielte Anstrengun-
befürwortet, in denen das sogenannte „Straight 18“-Prin-      gen können wir die gegenwärtigen Trends umkehren und
zip besagt, dass Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren       den Krieg gegen Kinder beenden.
weder zwangsweise noch freiwillig für den Einsatz in be-         Hierbei ist es auch wichtig, anzuerkennen, dass Kin-
waffneten Konflikten rekrutiert werden dürfen. Der In-        der je nach Alter, Geschlecht und Behinderung auf unter-
ternationale Strafgerichtshof hat eine Untersuchung der       schiedliche Weise von Konflikten betroffen sind. Jungen
Verbrechen an der Rohingya-Minderheit eingeleitet. Zum        und Mädchen sind mit unterschiedlichen Gefahren kon-
Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts berät der Inter-     frontiert, haben verschiedene Bedürfnisse und benötigen
nationale Gerichtshof über Maßnahmen zur Vermeidung           unterschiedliche Arten von Unterstützung. Aufbauend
von Völkermord und darüber, Gerechtigkeit für frühere         auf den beiden vorangegangenen „Krieg gegen Kinder“-
Straftaten herzustellen. Staaten haben eine Ergänzung         Berichten und soweit es die verfügbaren Daten erlauben,
des Römischen Statuts akzeptiert, durch die Hunger als        zeigt der aktuelle Bericht einige der nachweisbaren ge-
Waffe in die Liste der als Kriegswaffen in nicht-internati-   schlechtsspezifischen Ursachen und Auswirkungen der
onalen bewaffneten Konflikten aufgenommen wurde. Die          Verbrechen an Kindern in Konfliktgebieten.
Friedensgespräche im Jemen werden fortgesetzt. Zudem
wurden drei neue UN-Aktionspläne mit Parteien unter-
zeichnet, die von der UN als Täter schwerer Verbrechen
an Kindern gelistet wurden, um so gegen die Schädigung
von Kindern vorzugehen.

                                                                                                                       9
Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
TEIL 2
       WIE VIELE KINDER
       SIND VON KONFLIKTEN
       BETROFFEN?

I
   m Jahr 2018 lebten weltweit 415 Millionen Kinder in ei-                                               Die vier Länder mit der höchsten Anzahl an Kindern, die in
   nem Konfliktgebiet. Das sind fast 18 Prozent aller Kin-                                               Konfliktzonen leben, sind Nigeria, Mexiko, die Demokra-
   der der Welt – jedes sechste Kind. Von ihnen wach-                                                    tische Republik Kongo und Afghanistan. Absolut gesehen
sen 149 Millionen Kinder in Gebieten mit hoher Konflikt-                                                 hat Afrika mit 170 Millionen Kindern die höchste Anzahl
intensität auf. Das sind Regionen, in denen innerhalb ei-                                                von betroffenen Kindern: Jedes vierte afrikanische Kind
nes Jahres mehr als 1.000 Menschen durch Kampfhand-                                                      lebt in einem Konfliktgebiet. Die Region mit dem höchs-
lungen oder deren Folgen sterben.                                                                        ten Anteil an Kindern, die in Konfliktgebieten leben, ist
   Die Anzahl der Kinder, die in Konfliktgebieten leben,                                                 die Nahostregion. Dort wachsen 32 Prozent aller Kinder
hat sich seit 1995 mehr als verdoppelt – sie wuchs deut-                                                 – also jedes dritte – in einem Konfliktgebiet auf.
lich schneller als die allgemeinen Bevölkerungszahlen. Von                                                   Seit dem Jahr 2010 stieg die Gesamtzahl der in Kon-
2017 bis 2018 ging allerdings die Gesamtzahl der Kinder,                                                 fliktzonen lebenden Kinder um 37 Prozent. Die Zahl der
die in Konfliktgebieten leben, geringfügig um drei Pro-                                                  verifizierten Verbrechen an Kindern nahm im gleichen
zent zurück.2                                                                                            Zeitraum um 170 Prozent zu.

Abb. 1: Die Anzahl der Kinder in Konfliktgebieten hat sich seit 1995 verdoppelt.*
Kinder, die in von Konflikten betroffenen Gebieten leben, differenziert nach Konfliktintensität, 1990–2018:

  Millionen                                                                                                Geringe Intensität                 Mittlere Intensität               Hohe Intensität
       500

       400

       300

       200

       100
1990
       1991

              1992

                     1993

                            1994

                                   1995

                                          1996

                                                 1997

                                                        1998

                                                               1999

                                                                      2000

                                                                             2001

                                                                                    2002

                                                                                           2003

                                                                                                  2004

                                                                                                          2005

                                                                                                                 2006

                                                                                                                        2007

                                                                                                                               2008

                                                                                                                                      2009

                                                                                                                                             2010

                                                                                                                                                    2011

                                                                                                                                                           2012

                                                                                                                                                                  2013

                                                                                                                                                                         2014

                                                                                                                                                                                2015

                                                                                                                                                                                       2016

                                                                                                                                                                                              2017
                                                                                                                                                                                                     2018

10 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
2010                                                                                                        2018
                                     Seit 2010 ist die Anzahl der bestätigten
                                     Verbrechen an Kindern in Konflikten um
                                     170 Prozent gestiegen.

                                      Geringe Intensität   Mittlere Intensität        Hohe Intensität

                  Naher Osten

                               Amerika

        Europa                                                                                              Abb. 2: Die höchste Anzahl
                                                                                                            der von Konflikten betroffenen
                                                                                                            Kinder lebt in Afrika.*
                                                                                             Afrika         Kinder, die in von Konflikten
                                                                                                            betroffenen Gebieten leben,
                                                                                                            differenziert nach Konflikt­
                                                                                        Asien               intensität und Region

0                       50                        100                   150                           200

                                                                                      2017         2018

                                                                                             Nigeria

                                                            Mexiko

                                          D. R. Kongo

                                         Afghanistan

                             Jemen

                             Irak

               Syrien
                                                                                                            Abb. 3: Millionen von Kindern
            Somalia                                                                                         leben in Konfliktgebieten.*
                                                                                                            Kinder, die 2017–2018 in von
        Mali
                                                                                                            Konflikten betroffenen Gebieten
       Südsudan                                                                                             lebten, differenziert nach Land
0                  10                    20                30                    40    Millionen       50

* Diese Zahlen wurden vom Osloer Institut für Friedensforschung (Peace Research Institute Oslo – PRIO) im Auftrag von Save the
   Children aufbereitet. Datenquellen: Uppsala Conflict Data Program (UCDP) Georeferenced Event Dataset (GED) (Sundberg und
   Melander, 2013; Högbladh, 2019); Gridded Population of the World (GPW) v4 (Center for International Earth Science Information
   Network, 2016); World Population Prospects (UN, 2017).
   Konflikte niedriger Intensität bedeuten, dass weniger als 25 Todesfälle durch Kampfhandlungen in einem Jahr verzeichnet werden.
   Konflikte mittlerer Intensität bedeuten 25 bis 999 Todesfälle durch Kampfhandlungen pro Jahr, Konflikte hoher Intensität sind
   Konflikte mit 1.000 oder mehr Todesfällen durch Kampfhandlungen im Jahr.

                                                                                                                                            11
Die zehn gefährlichsten
                                                               Länder für Kinder in Konflikten
                                                               Auf Grundlage der Forschung des Osloer Friedensfor-
                                                               schungs-Instituts3 und der UN-Daten zu Verbrechen ge-
                                                               gen Kinder, die Save the Children für das Jahr 2018 ana-
                                                               lysiert hat 4, haben wir eine Liste der zehn gefährlichsten
                                                               Länder für Kinder in Konflikten erstellt. 5

                                                               Diese Einschätzung basiert auf folgenden Indikatoren:
                                                               •   der Dokumentation jedes der sechs schweren
                                                                   Verbrechen an Kindern,
                                                               •   der Konfliktintensität (gemessen an der Anzahl
                                                                   gemeldeter Opfer),
                                                               •   der Gesamtzahl der Kinder im Land, die in einem
                                                                   Konfliktgebiet leben,
                                                               •   dem Anteil der Kinder, die in einer Konfliktzone leben,
                                                                   im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Landes.

                                                               Mit diesem Ansatz zeigen sich diese zehn Länder als die
                Afghanistan
                                                               gefährlichsten für Kinder in Konflikten:
                                                               •   Afghanistan
                                                               •   Demokratische Republik Kongo
                Syrien
                                                               •   Irak
                                                               •   Jemen

        Kinder, die in Friedenszeiten                          •   Mali
        geboren sind                                           •   Nigeria
        Kinder, die im Krieg geboren                           •   Somalia
        und ­aufgewachsen sind
                                                               •   Südsudan
                                                               •   Syrien
                                                               •   Zentralafrikanische Republik
     Nichts als Krieg                                          Besonders gefährlich für Kinder war Syrien im Jahr 2018.
                                                               Dort gab es eine hohe Zahl schwerer Verbrechen an Kin-
     Im Oktober 2019 sind es 18 Jah-
                                                               dern. Außerdem leben 99 Prozent aller Kinder in von Kon-
     re, seit in Afghanistan der Konflikt
                                                               flikten betroffenen Gebieten. In Afghanistan gibt es die
     zwischen den Koalitionstruppen
                                                               meisten Kinder, die getötet und verstümmelt wurden. Die
     und den Taliban begann. Alle
                                                               höchste Zahl von Kindern in Konflikten, die sexuelle Ge-
     Kinder dort wurden im Krieg
                                                               walt erfahren haben, findet sich in Somalia. Nigeria hat die
     geboren und wachsen im Krieg auf
                                                               höchste Anzahl an Kindern, die durch bewaffnete Grup-
     – insgesamt sind es 20 Millionen
                                                               pen rekrutiert werden. Die zehn gefährlichsten Länder
     Mädchen und Jungen. Die UN
                                                               für Kinder, die in Konflikten leben, sind 2018 die gleichen
     berichtete im Dezember 2018, dass
                                                               wie im Jahr 2017.6
      in Syrien nach acht Jahren bewaff-
     neter Kämpfe vier Millionen Kinder
     – also Hälfte aller Kinder des
     Landes – nichts als Krieg kennen.7

12    Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Kinder, die in Konfliktgebieten leben (in Millionen)            Verbrechen an diesen Kindern

 500                                                                                  25.000               Abb. 4: Der Krieg gegen Kinder
                                                                                                           verschärft sich.
                                                                                                           Anzahl der in Konfliktzonen
                                                                                                           lebenden Kinder im Vergleich zu
 400                                                                                  20.000               den von der UN bestätigten Fälle
                                                                                                           von schweren Verbrechen an
                                                                                                           Kindern, 2010–2018
 300                                                                                  15.000               Quellen: Save the Children’s Analyse
                                                                                                           der Berichte des UN-Generalsekre-
                                                                                                           tärs zu Kindern und bewaffneten
 200                                                                                                       Konflikten; Zahlen des PRIO auf
                                                                                      10.000
                                                                                                           Basis des Uppsala Conflict Data Pro-
                                                                                                           gram (UCDP), Georeferenced Event
                                                                                                           Dataset (GED); Gridded Population
 100                                                                                     5.000             of the World (GPW) v4 (Center for
                                                                                                           International Earth Science Informa-
                                                                                                           tion Network, 2016) und World
                                                                                                           Population Prospects (UN, 2017)
2010       2011       2012        2013       2014        2015       2016      2017         2018

                                                                 Syrien                           Afghanistan

                                                                              Irak

                               Mali
                                                                                 Jemen
                                       Zentralafrikanische Republik

                             Nigeria                            Südsudan         Somalia

                                                          Demokratische Republik Kongo

                                                                                                           Abb. 5: Die zehn gefährlichsten
                                                                                                           Länder für Kinder in Konflikten

                                                                                                                                            13
© Dominic Nahr / Save the Children

                                                              Amal floh mit sieben Jahren aus der belagerten
                                                              syrischen Stadt Homs in den Libanon. Sie weint
                                                              oft und denkt viel an ihre Großmutter, die dort
                                                              bleiben musste.

14   Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Internationale Rechts­vorschriften
zu Kindern in Konflikten
Die Genfer Konventionen und ihre Zusatz-                Die Afrikanische Charta über die Rechte und
protokolle sind der Kern des humanitären Völ-           das Wohlergehen des Kindes von 1990 ist –
kerrechts (HVR): Sie sollen bewaffnete Konflikte        mit Ausnahme der UN-Kinderrechtskonvention –
regulieren und deren Auswirkungen begrenzen.            der einzige zwischenstaatliche Vertrag, der das
Dabei setzen sie auf Differenzierung und Verhält-       gesamte Spektrum sozialer, bürgerlicher, politi-
nismäßigkeit. Die spezifischen Regeln umfassen          scher, ökonomischer, gesundheitlicher und kultu-
etwa das Verbot direkter Angriffe auf die Zivilbe-      reller Rechte von Kindern anerkennt und schützt.
völkerung oder zivile Gebäude, ein Verbot willkür-      Er wurde von fast allen Staaten der Afrikanischen
licher Angriffe und die Verpflichtung, Todesfälle un-   Union ratifiziert. Artikel 22 widmet sich dabei der
ter der Zivilbevölkerung möglichst zu verhindern.       Beteiligung von Kindern in bewaffneten Konflik-
Zudem beinhaltet das HVR besondere Schutzmaß-           ten. Darin wird die Rekrutierung von Kindern als
nahmen für Kinder.                                      Soldaten und die direkte Teilnahme an Kriegen
                                                        untersagt.
Das internationale HVR verpflichtet in erster Linie
Staaten dazu, die Grundversorgung der unter ihrer       Die Pekinger Erklärung und die dazugehöri-
Kontrolle stehenden Zivilbevölkerung sicherzustel-      ge Aktionsplattform sind besonders wichtig für
len. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach,        Mädchen in Konfliktgebieten. Die Erklärung wur-
können zum Beispiel humanitäre Organisationen           de nach der 4. UN-Weltfrauenkonferenz 1995 ein-
aktiv werden. Sie müssen die betroffenen Menschen       stimmig von der UN-Vollversammlung verabschie-
schnell und ungehindert erreichen können.               det und bezog sich erstmals auf die speziellen Er-
                                                        fahrungen und Bedürfnisse von Mädchen.
 Das Übereinkommen über die Rechte des
 Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) zählt zu            Darüber hinaus haben der UN-Sicherheitsrat
 den am meisten unterzeichneten Menschenrechts-         und die UN-Generalversammlung Resolutio-
 verträgen. Die Konvention schützt die gleichen und     nen verabschiedet, die sowohl für spezifische Kon-
 untrennbaren sozialen, bürgerlichen, politischen,      fliktsituationen als auch für bestimmte Themen völ-
 ökonomischen, gesundheitlichen sowie kulturel-         kerrechtliche Bedeutung haben: so zu den Themen
 len Rechte aller Kinder. Ihr Grundsatz ist, dass       Kinder und bewaffnete Konflikte, Frieden und Si-
„bei allen Handlungen, die Kinder betreffen, … das      cherheit, dem Schutz von Zivilisten sowie zur Been-
 Wohl des Kindes im Vordergrund steht.“ Artikel         digung aller Arten von Diskriminierung von Frau-
 38 widmet sich speziell den Rechten von Kindern        en. Zudem wurden von der UN Strafgerichte und
 und bewaffneten Konflikten und verpflichtet Ver-       Tribunale eingerichtet, unter anderem in Kambo-
 tragsstaaten dazu, „alle durchführbaren Maßnah-        dscha, Ruanda, im ehemaligen Jugoslawien und
 men“ zu ergreifen, um betroffene Kinder in bewaff-     Sierra Leone. Diese Tribunale haben einen wich-
 neten Konflikten zu schützen und zu unterstützen.      tigen Beitrag dazu geleistet, geschlechtsbedingte
                                                        Straftaten zu definieren und rechtlich zu verfolgen.
Das Römische Statut ist die bedeutendste ver-
tragliche Grundlage des Internationalen Strafge-
richtshofs, um Zivilisten zu schützen. Es gibt ihm
die Zuständigkeit, Völkermord, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anzukla-
gen, insofern diese in Gebieten der Vertragsstaa-
ten oder durch eine dort ansässige Person began-
gen wurden.

                                                                                                               15
TEIL 3
  MÄDCHEN, JUNGEN UND
  KRIEG: EINE GESCHLECHTS­
  SPEZIFISCHE ANALYSE
  DER SECHS SCHWEREN
  VERBRECHEN AN KINDERN
  IN KONFLIKTEN

„In Mali ist die Situation sehr kritisch und traurig. Viele Kinder   In diesem Kapitel werden die geschlechtsspezifischen Un-
wurden getötet, vergewaltigt und mussten mitansehen, wie             terschiede bei den sechs schweren Verbrechen an Kin-
 ihre Brüder vor ihren Augen getötet wurden. Menschen ver-           dern in Konflikten betrachtet. Dabei gibt es große Her-
 brannten und Felder wurden zerstört. Wir brauchen unsere            ausforderungen, tragfähige Daten zu den Konflikterfah-
Regierung, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und uns           rungen von Mädchen und Jungen zu erheben, um Unter-
vor den Schrecken des Krieges zu schützen.“                          schiede zu verstehen und wirksame Maßnahmen entwi-
                                                                     ckeln zu können.9
                              – Maryam, Jugendbotschafterin, Mali8

W
             ie im vorherigen Kapitel beschrieben, sind              Die unsichtbaren Verbrechen gegen Mädchen
             die Zahlen der Kindern, die in Konfliktregi-
             onen leben, und die der an ihnen begange-               Wie in dem Bericht „Gender Analysis: The six grave violati-
nen Verbrechen dramatisch hoch. Blickt man hinter die-               ons of children’s rights in conflict“10 beschrieben, stehen die
se Zahlen, stellt sich die Frage, wie Kinder diese Konflik-          schweren Verbrechen in erster Linie in Zusammenhang mit
te erfahren. Auf welche Art und Weise sind verschiede-               dem öffentlichen Raum, in dem Männer und Jungen häufi-
ne Gruppen betroffen? Genauer gesagt: Wie unterschei-                ger präsent sind. Verbrechen gegen Mädchen finden da-
den sich die Erfahrungen im Konflikt und die begangenen              gegen eher im privaten Raum statt – hier werden Kinder-
Verbrechen bei Mädchen und Jungen?                                   rechtsverletzungen weniger dokumentiert.11 In vielen Kon-
                                                                     texten hängt die Option, sich im öffentlichen Raum zu be-
                                                                     wegen, von den zugrunde liegenden Geschlechternormen

16   Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
© Stefanie Glinski / Save the Children

                                                              Ghazal, acht Jahre alt, lebt in Afghanistan. Sie
                                                              geht allein zur Schule, fürchtet sich aber dabei –
                                                              sie hat Angst davor, entführt zu werden, auf
                                                              eine Landmine zu treten oder durch ein Selbst­
                                                              mord­attentat zu sterben. Als Mädchen ist sie
                                                              auch einem höheren Risiko ausgesetzt, Opfer von
                                                              Belästigungen zu werden.

ab. Frauen und Mädchen sind oft auf die private Sphäre be-    Geschlechtsspezifische Rollenbilder und Annahmen in Ver-
schränkt. Von ihnen wird erwartet, geschlechtsspezifische     bindung mit dem Fokus der UN-Datenerhebung zu Verbre-
Rollenbilder als Mütter, Ehe- und Hausfrauen zu erfüllen.     chen, die von bewaffneten Gruppen eher im öffentlichen
Je mehr Konflikte in einem Land herrschen, desto mehr ist     Raum begangen werden, führen dazu, dass Kinderrechts-
die Mobilität von Mädchen und Frauen eingeschränkt. Das       verstöße gegen Jungen in Konflikten größere Aufmerk-
führt dazu, dass sie im Vergleich zu Männern und Jungen       samkeit und mehr Gewicht erhalten. Verbrechen gegen
mehr Zeit zu Hause verbringen.12 Dies kann manche der         Mädchen bleiben dagegen häufiger unsichtbar und wer-
schweren Verbrechen an Mädchen verringern, wie Ent-           den nicht ausreichend gemeldet. Die nach Geschlecht auf-
führung, Rekrutierung, Tötung und Verstümmelung. Jun-         geschlüsselten Daten des vorliegenden Berichts von 2019
gen hingegen werden häufiger von bewaffneten Gruppen          bestätigen dies – mehr Jungen als Mädchen sind von den
als Kindersoldaten rekrutiert, da Männlichkeit in Verbin-     bestätigten schweren Verbrechen direkt betroffen. Eine
dung mit der Verteidigung des Zuhauses und der Gemein-        Ausnahme bilden die Daten zu sexueller Gewalt, die das
schaften gebracht wird. Es ist wichtig zu beachten, dass      Gegenteil zeigen (siehe Seite 22). Demnach werden Mäd-
die Geschlechterrollen in verschiedenen Konfliktsituatio-     chen häufiger Opfer sexueller Gewalt. Allerdings führt
nen unterschiedlich sind. In einigen Fällen können sich die   das Stigma sexueller Gewalt gegen Jungen und das Feh-
Geschlechterrollen und Machtverhältnisse verschieben –        len von Hilfeleistungen, die auf die Bedürfnisse männlicher
und eine Chance für Veränderungen bieten. Häufiger ver-       Opfer zugeschnitten sind, dazu, dass solche Vorfälle sel-
festigen sich jedoch bestehende geschlechtsspezifische Vor-   tener gemeldet werden.
urteile in Konflikten, sodass beispielsweise Mädchen in ih-
rer Mobilität stärker eingeschränkt sind.

                                                                                                                              17
1. Tötung und Verstümmelung von Kindern

 14.000
                                                                                                             JUNGEN UND MÄDCHEN
 12.000

                                                                                                            Jungen   Nicht bekannt   Mädchen
 10.000                                                                                                      44%         39%          17%

 8.000

 6.000

 4.000

 2.000

2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010           2011     2012        2013   2014   2015   2016   2017   2018                    2018

Abb. 6: Die Zahl der getöteten und verstümmelten Kindern in
Konflikten nimmt zu.
Anzahl der in Konflikten getöteten und verstümmelten Kinder,
nach Jahr und nach Geschlecht im Jahr 2018

Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General­
sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen
Zahlen liegen vermutlich noch höher.

1                                                                                  2
     Seit 2005 wurden insgesamt fast 100.000 Kinder in                                    Die Gesamtzahl der bestätigten Fälle, in denen Kin-
     Konflikten getötet oder verstümmelt. Seit 2010 hat                                   der zwangsrekrutiert und in bewaffneten Konflik-
     sich die Zahl verdreifacht. Im Jahr 2018 gab es in 19                                ten eingesetzt wurden, lag zwischen 2005 und 2018
der 20 erfassten Konfliktsituationen 12.125 bestätigte Fäl-                        bei 65.081 Kindern.15 Allein im Jahr 2018 wurden mehr als
le von Tötung und Verstümmelung von Kindern. 44 Pro-                               7.000 Kinder rekrutiert. Die meisten der verifizierten Fäl-
zent dieser Fälle waren Jungen und 17 Prozent Mädchen.                             le kamen aus Somalia (2.300) und Nigeria (1.947). Viele
Bei den restlichen Fällen wurde das Geschlecht nicht do-                           dieser Kinder wurden entführt, als Kindersoldaten einge-
kumentiert.13 Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich                           setzt, als menschliche Schutzschilder benutzt, sexuell miss-
noch höher.14                                                                      braucht und ausgebeutet, zum Transport von Sprengstoff
                                                                                   gezwungen oder als Selbstmordattentäter eingesetzt.16
In allen Ländern ist die Zahl der durch direkte Kriegsfüh-
rung getöteten und verstümmelten Jungen höher als die                              Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern in bewaff-
der betroffenen Mädchen – das zeigen die nach Geschlecht                           neten Gruppen wurde in 15 der 20 in diesem Bericht be-
aufgeschlüsselten Daten im Jahresbericht des UN-Gene-                              trachteten Konflikte gemeldet. Für zwölf dieser Länder
ralsekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten von                             sind die Daten vollständig nach Geschlecht aufgeschlüsselt,
2019. Insbesondere männliche Jugendliche geraten häufi-                            für zwei Länder teilweise; im verbleibenden Land, Kolum-
ger in die Schusslinie bewaffneter Akteure, da sie als Be-                         bien, gibt es keine nach Geschlecht aufgeschlüsselten Da-
drohung wahrgenommen werden.                                                       ten. Von den 7.206 dokumentierten Fällen von Rekrutie-
                                                                                   rungen im Jahr 2018 betreffen 84 Prozent Jungen und 11
                                                                                   Prozent Mädchen; die restlichen sechs Prozent sind nicht
                                                                                   nach Geschlecht aufgeschlüsselt.
                                                                                      Im Jahr 2018 waren in Mali 96 Prozent der rekrutierten
                                                                                   Kinder Jungen, in Somalia 97 Prozent und in Afghanistan

18   Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
2. R ekrutierung von Kindern und deren
   Einsatz durch bewaffnete Gruppen

  10.000
                                                                                                     JUNGEN UND MÄDCHEN

  8.000
                                                                                                   Jungen   Nicht bekannt   Mädchen
                                                                                                    84%          5%          11%

  6.000

  4.000

  2.000

2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010       2011    2012   2013    2014     2015   2016   2017   2018                  2018

Abb. 7: Tausende von Kindern wurden von bewaffneten Gruppen
rekrutiert.
Anzahl der von bewaffneten Gruppen rekrutierten und
eingesetzten Kinder, nach Jahr und Geschlecht

Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General­
sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen
Zahlen liegen vermutlich noch höher.

98 Prozent. Bewaffnete Gruppen wenden oft geschlechts-                      Geschlechterstereotypen zeigen sich deutlich, wenn Jun-
spezifische Rekrutierungstaktiken an, darunter eine über-                   gen und Mädchen von bewaffneten Gruppen rekrutiert und
mäßig maskuline Ideologie. Dabei werden Vorstellungen                       eingesetzt werden. 98 Prozent der von bewaffneten Ak-
darüber entwickelt, Macht mit Gewalt gleichzusetzen und                     teuren rekrutierten Jungen wurden im Jahr 2016 für mili-
den Soldaten werden sexuelle Belohnungen und „Ehefrau-                      tärische Zwecke in Syrien eingesetzt – diese reichten von
en“ versprochen.17                                                          Frontkämpfen über die Ausführung von Hinrichtungen bis
   Die ursprüngliche Formulierung dieses Verbrechens                        hin zu Selbstmordattentaten. Im Jemen gab es bereits vor
war „die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern als                       der Eskalation des Konflikts im Jahr 2015 Berichte über
Kindersoldaten“. Diese wurde in „die Rekrutierung und                       Jungen, die im Kampf aktiv waren, aber auch Sicherheits-
der Einsatz von Kindern, die mit Streitkräften und be-                      und Logistikfunktionen übernahmen.
waffneten Gruppen in Verbindung stehen“ geändert. Da-
durch sollen die verschiedenen Rollen verdeutlicht wer-                     Mädchen werden oft für unterstützende Funktionen ausge-
den, die Jungen und Mädchen in einer bewaffneten Grup-                      nutzt. Sie müssen sich beispielsweise um die Zubereitung
pe annehmen müssen.                                                         des Essens kümmern und andere häusliche Aufgaben über-
                                                                            nehmen. Darüber hinaus werden sie sexuell missbraucht
Die Risiken, denen Mädchen innerhalb bewaffneter Grup-                      und ausgebeutet, manchmal auch mit Kämpfern verhei-
pen ausgesetzt sind – wie etwa Zwangs- und / oder Früh-                     ratet. Untersuchungen in Syrien haben gezeigt, dass auf
heirat, sexueller Missbrauch oder erzwunge Arbeit im                        diese Weise zwangsverheiratete Mädchen häufig verlas-
Haushalt – sind anders und finden weniger Beachtung als                      sen werden, geschieden oder verwitwet sind. Die Mädchen
die Risiken, denen Jungen ausgesetzt sind. Folglich wer-                    wurden zudem oft gezwungen, ihre Männer zu begleiten
den Mädchen in den Daten über die Rekrutierung und                          – dabei waren sie aufgrund ihrer Nähe zum Kampfgebiet
den Einsatz von Kindern in bewaffneten Gruppen häu-                         körperlichen Gefahren ausgesetzt.
fig übersehen.

                                                                                                                                  19
© Dominic Nahr / Save the Children

                                                            Lernen, mit der Angst und
                                                            Wut umzugehen
                                                            José wuchs in einer Region in Kolumbien auf, in der
                                                            Koka-Anbau und Drogenhandel weit verbreitet sind.
                                                            Als er acht Jahre alt war, geriet er in ein Kreuzfeuer
                                                            zwischen der Rebellenarmee FARC und den Regierungs-
                                                            truppen. José erlitt Schussverletzungen an beiden
                                                            Beinen und einem Arm.

                                                            Danach war José lange Zeit nicht in der Lage, mit
                                                            seiner Angst und Wut umzugehen. Ein Jugendprogramm
                                                            von Save the Children half ihm, neue Perspektiven zu
                                                            entwickeln, eine neue Rolle für sich zu entdecken – und
                                                            wieder Hoffnung zu schöpfen.

                                                            José ist heute 17 Jahre alt und sagt: „Ich habe gelernt,
                                                            kritischer mit dem zu sein, was um mich herum
                                                            geschieht. Ich möchte mich in Entscheidungsprozesse
                                                            einbringen, die mich oder die Menschen betreffen, mit
                                                            denen ich arbeite.“

20 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
3. Entführung von Kindern

  4.000
                                                                                                     JUNGEN UND MÄDCHEN

                                                                                                    Jungen   Nicht bekannt   Mädchen
  3.000
                                                                                                     80%          1%          19%

  2.000

  1.000

2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010       2011    2012   2013    2014     2015   2016   2017   2018                   2018

Abb. 8: Tausende von Kindern wurden von bewaffneten Gruppen
entführt.
Anzahl der von bewaffneten Gruppen entführten Kinder 2005–
2018 und Aufschlüsselung nach Geschlecht im Jahr 2018

Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General­
sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen
Zahlen liegen vermutlich noch höher.

3
      Im Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs                         Allein die Angst vor Entführungen kann Familien dazu brin-
      wird über die Entführung, Versklavung und Rekru-                      gen, den Schulbesuch von Mädchen einzuschränken. Dies
      tierung von Kindern durch bewaffnete Streitkräf-                      gilt insbesondere in Ländern, in denen der Wert eines
te und über sexuelle Ausbeutung berichtet – mindestens                      Mädchens vor allem in ihrer zukünftigen Rolle als Mutter
2.500 Kinder sind betroffen. Davon waren 1.999 (80 Pro-                     und Ehefrau gesehen wird. Die Familienehre ist dabei eng
zent) Jungen und 484 (19 Prozent) Mädchen. In 17 Fällen                     mit der Jungfräulichkeit der Mädchen verbunden. Da be-
war das Geschlecht nicht bekannt. Allein in Somalia wur-                    sonders jugendliche Mädchen einem erhöhten Risiko ge-
den 1.609 Kinder hauptsächlich zum Zweck der Rekrutie-                      schlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, werden sie
rung entführt – einige von ihnen waren erst acht Jahre alt.                 in Konfliktgebieten häufig isoliert oder müssen zu Hause
                                                                            bleiben. Die Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruchs ist
Während die Zahl der Entführungen in der Demokrati-                         somit um 90 Prozent höher als bei ihren Altersgenossin-
schen Republik Kongo (367) gegenüber dem Höchststand                        nen aus stabilen Kontexten.18
von 420 im Jahr 2017 leicht abnahm, blieben viele entführ-                     Obwohl Entführungen meist als wesentliches Mittel zur
te Kinder der vergangenen Jahre in Gefangenschaft und                       Zwangsrekrutierung von Kindern von Streitkräften und be-
sind sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit ausgesetzt.                      waffneten Gruppen dienen, sind sie auch Ausgangspunkt
Ähnliche Fälle wurden im Südsudan, in Afghanistan und                       für weitere schwere Verbrechen.
in Mali nachgewiesen.
   Die Anzahl der Entführungen von Mädchen nimmt wei-
ter zu. Beispielsweise ist die Anzahl der Mädchen, die in
Nigeria entführt wurden, seit Mitte 2013 dramatisch ge-
stiegen. Obwohl genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind,
handelt es sich schätzungsweise um 2.000 bis 8.000 ent-
führte Frauen und Mädchen.

                                                                                                                                   21
4. Vergewaltigung und andere Formen
sexueller Gewalt gegen Kinder

  6.000
                                                                                                           JUNGEN UND MÄDCHEN

                                                                                                         Jungen   Nicht bekannt   Mädchen
                                                                                                           1%         12%          87%
  4.000

  2.000

2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010          2011    2012        2013   2014   2015   2016   2017   2018                   2018

Abb. 9: Sexuelle Gewalt gegen Kinder
Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General­
sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen
Zahlen liegen vermutlich noch höher.

4
      Vergewaltigungen und andere Formen sexueller                               Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe
      Gewalt19 sind die einzigen schweren Verbrechen,
      bei denen die Gesamtzahl der bestätigten Fälle bei                         In Zeiten von Instabilität besteht ein erhöhtes Risiko, Op-
Mädchen höher ist als bei Jungen. Dies spiegelt den über-                        fer sexueller Gewalt zu werden. Diese Form von Gewalt
greifenden Trend wider, dass die überwiegende Zahl der                           wird weiterhin als Teil der Gesamtstrategie von Konflik-
Überlebenden sexueller Gewalt Frauen und Mädchen sind.                           ten eingesetzt, wobei vor allem Frauen und Mädchen be-
                                                                                 troffen sind.20 Dabei werden sie von bewaffneten Streit-
Das Überwachungs- und Berichterstattungsinstrument der                           kräften und Gruppen auch als „Belohnung“ für ihre Kämp-
UN zu Verbrechen gegen Kinder (UN Monitoring and Re-                             fer benutzt.
porting Mechanism on Grave Violations, MRM) verifizier-
te für den Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs                            Konfliktbezogene sexuelle Gewalt fungiert weiterhin so-
über Kinder und bewaffnete Konflikte 933 Fälle sexueller                         wohl als treibende Kraft als auch als Folge von Zwangs-
Gewalt. Davon richteten sich 87 Prozent der Verbrechen                           vertreibung. Sexuelle Gewalt wird zur Destabilisierung von
gegen Mädchen und rund ein Prozent der bestätigten Ver-                          Gemeinschaften und zur Vertreibung bestimmter Grup-
brechen gegen Jungen. Sexuelle Gewalt wurde in 12 der                            pen eingesetzt, um die Herrschaft über ein Gebiet wie-
20 erfassten Länder bestätigt. Die meisten Fälle wurden                          derzuerlangen. Sie dient außerdem als Mittel der Unter-
aus Somalia (331 Fälle: 328 Mädchen und 3 Jungen) und in                         drückung, des Terrors und der Kontrolle.
der Demokratischen Republik Kongo (277 Mädchen) ge-                                 Sexuelle Gewalt kann auch Ursache oder Folge von
meldet. Auch im Südsudan, im Sudan und in der Zentral-                           Früh- und Zwangsverheiratung sein. Mädchen, die schwan-
afrikanischen Republik sind die Zahlen erschreckend hoch.                        ger werden, sind einer Reihe zusätzlicher Gefahren aus-
                                                                                 gesetzt. 90 Prozent der Geburten bei jugendlichen Mäd-
                                                                                 chen geschehen in einer Kinderehe.21

22 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
„Eine sehr schwierige Reise“
 Sara war 14 Jahre alt, als sie gezwungen war, ohne
 ihre Familie vor dem Konflikt in Burundi zu fliehen.
„Ich bin allein geflohen, da sich meine Familie nur den
Transport für eine Person aus unserer Familie leisten
 konnten. Mein Vater und meine Mutter beschlossen,
 dass ich das sein würde“, sagt sie.

„Es war eine sehr schwierige Reise“, sagt Sara. „Ein
Teil von uns ging auf die Grenze von Ruanda zu, als wir
 auf eine Gruppe bewaffneter Männer trafen. Sie wähl-
 ten einige von uns aus und sagten, wir müssten ihnen
 Geld geben. Als wir ihnen klar machten, dass wir keines
 haben, nahmen sie uns mit in den Wald.“
                                                           © Mark Kaye / Save the Children
Sara wurde vergewaltigt. Als Folge wurde sie schwan-
ger. Es gelang ihr, ein Flüchtlingslager in Ruanda zu
erreichen. Hier brachte sie später einen gesunden
Jungen zur Welt.

Save the Children half Sara im Rahmen eines Pro-
gramms für besonders gefährdete Kinder in dem Camp.

                                                                                23
Mädchen in Konfliktgebieten haben nur begrenzte Mög-        Sexuelle Gewalt gegen Jungen
lichkeiten, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden.
                                                            Sexuelle und geschlechtsbedingte Verbrechen werden
Außerdem ist der Zugang zu Schwangerschaftsvorsorge,
                                                            aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung zu sel-
Geburtshilfe und Notfallversorgung unzureichend. Nach
                                                            ten gemeldet. Nach allgemeiner Auffassung melden Jun-
wie vor sind Komplikationen während der Schwanger-
                                                            gen und Männer sexuelle Gewaltverbrechen gegen sie
schaft und der Geburt weltweit die Haupttodesursache
                                                            verhältnismäßig seltener. Die Beschreibungen der Opfer
für heranwachsende Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jah-
                                                            verstärken die Botschaft, dass es bei sexueller Gewalt
ren.22 Laut dem State of World Population Report 2019
                                                            nicht bloß um Sex geht, sondern um Macht, Erniedrigung
des Bevölkerungsfonds der UN 2019 sterben täglich mehr
                                                            und Zerstörung. Sie werden beispielsweise gezwungen,
als 500 Frauen und Mädchen aufgrund des Mangels an
                                                             sexuelle Gewalttaten an anderen Menschen mitanzuse-
qualifizierten Geburtshelfern sowie Notfallgeburtshilfen
                                                            hen oder diese selbst an anderen Personen zu begehen
und infolge unsachgemäßer Schwangerschaftsabbrüche.23
                                                            – wie einem eigenen Familienmitglied oder einer Leiche.
   Einem kürzlich erschienenen Bericht des UN-Kinder-
                                                            Weitere Erscheinungsformen sind Kastration, Sterilisati-
hilfswerks UNICEF zufolge wurden weltweit 765 Millio-
                                                            on, Schocks und Schläge im Genitalbereich, erzwungene
nen Menschen bereits als Kinder verheiratet.24 Mädchen
                                                            Masturbation bei sich selbst und anderen, Einführen von
und Frauen sind dabei unverhältnismäßig stark betroffen:
                                                            Gegenständen in die Harnröhre, orale und anale Verge-
Jede fünfte Frau Anfang Zwanzig heiratete bereits, bevor
                                                            waltigungen mit Gegenständen wie Gewehren, Stöcken
sie 18 Jahre alt war; bei Männern ist es dagegen einer
                                                            oder zerbrochenen Flaschen.27 Es wird auch über Fälle
von 30. Schätzungsweise zwölf Millionen weitere Mäd-
                                                            in Konfliktkontexten berichtet, in denen ältere Jungen
chen werden jedes Jahr verheiratet.25
                                                             sexuelle Gewalt gegen jüngere Jungen ausüben.28
Neun der zehn Länder mit den höchsten Raten an
                                                            Genau wie bei Mädchen können auch männliche Opfer
Kinder-, Früh- und Zwangsehen werden als fragil
                                                            durch sexuelle Gewaltverbrechen unter einer Vielzahl
oder durch Konflikte beeinträchtigt klassifiziert.
                                                            von Folgen leiden. Zu den körperlichen Folgen können
                                                            Analrisse, Genitalverstümmelungen sowie Hoden-, Penis-
Während einige Konsequenzen sexueller Gewalt aus-
                                                            oder Rektalschmerzen zählen. Zu den psychischen Folgen
schließlich Mädchen betreffen, wie z. B. Risiken, die mit
                                                            gehören Scham, der Verlust des Selbstvertrauens, Schlaf-
unsachgemäßen Abtreibungen einhergehen, können an-
                                                            störungen, Gefühle von Machtlosigkeit, Verwirrung und
dere auch Jungen widerfahren. Dazu gehören psycholo-
                                                            Selbstmordgedanken.29
gische Traumata, Harn- und Anal-Inkontinenz, Libido-
verlust und die Gefahr, sich mit HIV und anderen sexuell
übertragbaren Krankheiten anzustecken.26

    Samira: Von ihrem Kind getrennt
    Samira ist ein 15-jähriges jesidisches Mädchen aus dem Irak und Mutter eines zweijährigen Kindes. Im Jahr
    2016 wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in der Provinz Sinjar im Irak entführt. Sie
    wurde in Gefangenschaft gehalten und an mindestens drei Personen verkauft, die sie schlugen und sexuell
    missbrauchten, bevor sie zur Heirat mit einem IS-Kämpfer gezwungen wurde und ein Kind zur Welt brachte.
    Ihr Mann wurde bei einem Bombenangriff getötet. Daraufhin floh Samira mit ihrem Kind in das Lager
    Mabrouka im Nordosten Syriens. Save the Children unterstützte sie im Lager dabei, Zugang zu Gesundheits-
    und Bildungssystemen, psychosoziale Unterstützung und eine Beratung für Eltern zu erhalten. Die Behörden
    im Nordosten Syriens brachten sie aus dem Lager in ein jesidisches Heim. Sie wurde von ihrem Kind getrennt
    und kehrte nach Sinjar zurück. Das Kind bleibt in der Obhut der syrischen Behörden.

    Samira sagte: „Ich würde lieber in der Sklaverei bleiben und mein ganzes Leben in Lagern verbringen, anstatt
    meine Tochter zu verlassen. Ich wollte sie nicht verlassen und ohne Mutter aufwachsen lassen. Sie sollte kein
    Leben wie meines führen müssen. Ich wollte ihr die Rechte geben, die mir als Kind verwehrt wurden.“

24 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
5. Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser

  4.000

  3.000

  2.000
                                                                                                     KEINE NACH
                                                                                                    GESCHLECHT
                                                                                                 AUFGESCHLÜSSELTEN
  1.000                                                                                           DATEN VERFÜGBAR

2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010      2011   2012   2013   2014   2015   2016   2017   2018

Abb. 10: Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser
2005–2018

Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des
UN-Generalsekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten.

„Da wo ich herkommen, haben die Eltern Angst davor, ihre               folgt begründet: Sie möchten beispielsweise Mädchen da-
Kinder zur Schule zu schicken.“                                        vor warnen, die Schule zu besuchen, Lehrer und Eltern
                                                                       auffordern, Mädchenschulen zu schließen und sie versu-
          – Purity, Kinderrechtsaktivistin, Nigeria, 14 Jahre alt30    chen, die Bewegungsfreiheit von Lehrerinnen und Schüle-
                                                                       rinnen einzuschränken sowie eine strengere Kleiderord-
                                                                       nung durchzusetzen. 33

5
       Im Jahr 2018 gab es in 18 Ländern 1.89231 bestätig-
       te Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser32 sowie               Positiv zu vermerken ist, dass weltweit die gemeldeten
       deren Besetzungen für militärische Zwecke – das                 Vorfälle bezüglich der Nutzung von Schulen für militäri-
ist ein Anstieg von 32 Prozent im Vergleich zu 2017. Da-               sche Zwecke durch bewaffnete Konfliktparteien weiter ab-
rüber hinaus verweist der Bericht auf gemeldete, aber                  nimmt – von 188 Schulen im Jahr 2017 auf 142 Schulen im
nicht bestätigte Vorfälle in Pakistan (34) und Thailand (1).           Jahr 2018 – was einer Abnahme von 25 Prozent entspricht.
    Im Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs über                 Da es sich bei den Angriffen auf Schulen und Kranken-
Kinder und bewaffnete Konflikte wurden insgesamt 730                   häuser um kollektive Verbrechen handelt, ist es schwie-
Angriffe auf Schulen und ihr Personal und 887 Angriffe                 rig, eindeutige geschlechtsspezifische Schlussfolgerungen
auf Krankenhäuser und das medizinische Personal bestä-                 zu ziehen.
tigt. Außerdem wurden 142 Schulen und 17 Krankenhäu-                      Jedoch sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede
ser für militärische Zwecke genutzt.                                   in Konfliktgebieten hinsichtlich der Einschulung tendenzi-
   Angriffe auf Mädchenschulen zielen oft direkt auf                   ell größer als in anderen Ländern. 34 Außerdem brechen
Mädchen ab, da sie sich außerhalb der restriktiven Ge-                 Mädchen in Konfliktgebieten insgesamt 2,5-mal häufiger
schlechternormen und zu erwartenden Geschlechterrol-                   die Schule ab als Jungen. 35
len bewegen. In einigen Fällen haben gewalttätige extre-
mistische Gruppen die Angriffe auf Mädchenschulen wie

                                                                                                                             25
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