Geschlechterrollen im Fokus - Save the Children Deutschland
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Deutsche Teilübersetzung des Berichts „Stop the War on Children 2020: Gender matters“, publiziert von Save the Children International, Februar 2020 Herausgeber Save the Children Deutschland e. V., Seesener Str. 10–13, 10709 Berlin Übersetzung und Redaktion Sarah Ben Ammar, Marvin Tarek Große, Jenny Kaireitis, Claudia Kepp, Verena Schmidt Satz und Layout Drees + Riggers Diese Publikation ist urheberrechtlich geschützt, kann jedoch für Lehrzwecke ohne Gebühr oder vorherige Zustimmung reproduziert werden, aber nicht zum Verkauf. Für das Kopieren zu anderen Zwecken muss eine vorherige Zustimmung vom Herausgeber erteilt werden, die gebührenpflichtig sein kann. Alle Namen von Kindern in diesem Bericht wurden zu ihrem Schutz geändert. Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Bericht meist das generische Maskulinum gewählt. Gemeint sind aber immer Menschen jeden Geschlechts.
INHALT Vorwort: Kinderstimmen aus Nigeria und Kolumbien 4 Krieg gegen Kinder – Zusammenfassung 6 Teil 1: Einleitung: Krieg gegen Kinder 8 Teil 2: Wie viele Kinder sind von Konflikten betroffen? 10 Teil 3: M ädchen, Jungen und Krieg: Eine geschlechtsspezifische Analyse der sechs schweren Verbrechen an Kindern in Konflikten 16 1. Tötung und Verstümmelung von Kindern 18 2. Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz durch bewaffnete Gruppen 19 3. Entführung von Kindern 21 4. Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt gegen Kinder 22 5. Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser 25 6. Verweigerter Zugang zu humanitärer Hilfe für Kinder 28 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 30 Anmerkungen und Quellen 33
Vorwort: Kinderstimmen aus Nigeria und Kolumbien K inder haben nichts mit dem zu tun, was bewaffne- Vertreter der Kinder sollten dabei aus allen Lebensberei- te Konflikte verursacht. Dennoch sind wir diejeni- chen kommen, unabhängig von Geschlecht, Bildungsstand, gen, die am meisten davon betroffen sind: Wir lei- Vermögen oder Herkunft. Die Verantwortlichen sollten den unter Hunger und Krankheiten, wir werden vertrie- begreifen: Wenn wir heute nicht gehört werden, werden ben, gefoltert, getötet, sexuell missbraucht, der Bildung wir morgen nicht mehr sprechen können. beraubt, wir werden Opfer von Menschenhandel, von den Eltern getrennt, als Kindersoldaten rekrutiert. Wann wird Purity, 14 Jahre alt, Aktivistin für Mädchenrechte in Nigeria das Leid der Kinder enden? Wenn ich mich für die Rechte von Mädchen in Konflikten einsetze, erinnere ich mich an all die Geschichten mei- A ner Schwestern, die wegen ihres Geschlechts diskrimi- ls Kind in einem Land wie Kolumbien zu leben, ist niert werden. Als Mädchen werden unsere Stimmen zum wirklich schwierig. Es ist nicht leicht, in einem Um- Schweigen gebracht, unsere Flügel gestutzt. Hier in Nige- feld aufzuwachsen, in dem man jeden Tag Gewalt ria ist die Diskriminierung für Mädchen, die in Konfliktge- in all ihren Facetten sieht und sie Teil des Alltags ist. Kin- bieten leben, noch schlimmer. Einige werden aus finanzi- der werden nicht einbezogen, wenn es darum geht, eine ellen Gründen von ihren Eltern zu einer frühen Heirat ge- friedliche Gesellschaft aufzubauen. Wir hören immer wie- zwungen, damit sie überleben und beschützt werden. Ich der, dass Kinder die Zukunft sind. Aber diese Worte pas- fühle mit ihnen – und mit Millionen von Mädchen in ähnli- sen nicht zu den Taten der Erwachsenen. chen Situationen auf der ganzen Welt. Kinder, die in Kon- fliktgebieten wie dem Nordosten Nigerias leben, können Viele Kinder sind verzweifelt: Ihre Familie und das Schul- nur für den heutigen Tag leben, ohne zu wissen, ob es ein system lassen sie allein – in ihrer Entwicklung, bei der Bil- Morgen geben wird. Das muss sich ändern. dung und mit ihrem Wunsch nach Beteiligung. In Kolumbi- en gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten für Kinder, sich Die führenden Politiker der Welt müssen dafür sorgen, zu beteiligen. Es ist nicht Teil der Kultur des Landes, zu dass die Rechte von Kindern in Konflikten geschützt wer- glauben, dass die Stimmen der Kinder zählen. Wenn dies den. Wir wollen eine Welt, in der Kinder wie ich das Recht anders wäre, könnten andere Geschichten erzählt werden. auf Leben, freie Meinungsäußerung, Bildung, Gesundheit, Sozialsysteme und andere Grundrechte genießen kön- Mein Traum für die Kinder meines Landes ist es, dass wir nen. Eine Welt, in der wir die Möglichkeit haben, aufzu- gesund und frei aufwachsen und unsere Kindheit genießen wachsen, unsere Träume zu verwirklichen, unseren Ge- können. Dass wir ein Umfeld haben, in dem wir uns sicher schwistern, Eltern und der Gemeinschaft zu helfen und fühlen, unsere Meinung zu äußern, und wissen, dass unse- die Zukunft unseres Landes zum Guten zu wenden. Kein re Stimme zählt. Und dass wir von klein auf lernen, in Frie- Land kann ernten, was es nicht gesät hat. Je besser die den zu leben. Eltern müssen ihre Kinder dabei unterstüt- Rechte der Kinder heute geschützt werden, desto fried- zen – genau wie die Bildung beginnt die Beteiligung von licher werden unsere Gemeinschaften in der Zukunft le- Kindern an Entscheidungsprozessen zu Hause. ben. Wenn Kinder ihre Rechte kennen, können sie für sich selbst und andere sprechen – und werden sich nicht ein- Meine Botschaft an die mächtigen internationalen Akteu- schüchtern lassen. Dann können wir Fragen stellen und re ist, dass Kinder in Kolumbien auf ganz unterschiedli- eine Antwort verlangen. che Weise von den Konflikten betroffen sind. Als Kinder brauchen wir Chancen. Ich hoffe, dass die in diesem Bericht zusammengetragenen Erkenntnisse dazu führen, dass Regierungen und andere Alles, was man für jemanden tut, zählt. Jede Verände- Beteiligte konkrete Maßnahmen ergreifen, damit unsere rung beginnt damit. Rechte als Kinder gewahrt werden und wir in die Entschei- dungsprozesse, die uns betreffen, einbezogen werden. Die José, 15 Jahre alt, Kinderrechtsaktivist in Kolumbien 4 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
© Save the Children Die 14-jährige Purity sieht in Nigeria die Folgen des Konflikts im Norden des Landes für Mädchen – zum Beispiel, dass sie die Schule verlassen müssen und früh verheiratet werden. 5
KRIEG GEGEN KINDER – ZUSAMMENFASSUNG „Als der IS unsere Stadt übernahm, wurden die Kämpfe Mädchen, Jungen und Konflikte noch schlimmer. Ich fühle mich wegen des Krieges so viel Neben den Gesamtzahlen nimmt der Bericht auch ge- älter, als ich bin. Ich fühle mich wie eine alte Frau, obwohl schlechtsspezifische Unterschiede in den Blick. Die Ana- ich 16 Jahre alt bin.” lyse der nachgewiesenen schweren Verbrechen unter die- – Safaa, Syrien sem Aspekt zeigt Folgendes: • Mädchen sind einem weitaus höheren Risiko ausgesetzt als Jungen, sexuelle und andere Formen geschlechts- Der aktuelle Bericht zum „Krieg gegen Kinder“ – der drit- spezifischer Gewalt zu erfahren – wie Frühverheiratung te, den Save the Children veröffentlicht – zeigt erschre- und Zwangsehen. Jungen werden in Konfliktgebieten ckende Trends hinsichtlich der Sicherheit und des Wohl- dagegen viel häufiger getötet oder verstümmelt, ent- ergehens von Kindern in Konfliktgebieten. Die Zahl der führt oder von bewaffneten Gruppen rekrutiert. nachgewiesenen schweren Verbrechen an Kindern1 war im Jahr 2018 so hoch wie noch nie. • Ein geschlechtsspezifisches Konfliktverständnis in Ver- bindung mit weiterhin vorherrschenden Geschlechter- • 415 Millionen Kinder weltweit leben in einem Konfliktge- rollen führt dazu, dass vor allem die Verbrechen wahr- biet. 149 Millionen von ihnen wachsen in einem Gebiet genommen werden, die sich im öffentlichen Raum ab- mit hoher Konfliktintensität auf – also in einer Region, spielen und häufiger Jungen betreffen. Diese sind leich- in der mehr als 1.000 Menschen im Jahr durch Kampf- ter zu identifizieren und zu verifizieren als Verbrechen handlungen oder deren Folgen sterben. im privaten Raum. Im Gegensatz dazu werden Verbre- • In Afrika ist die absolute Zahl der Kinder, die in Kon- chen gegen Mädchen oft nicht gesehen oder ignoriert. fliktgebieten leben, mit 170 Millionen am höchsten. Pro- Dadurch werden sexuelle Gewalt und Verbrechen ge- zentual gesehen sind im Nahen Osten die meisten Kin- gen Mädchen oder Kinder mit diverser Geschlechts- der von Konflikten betroffen: Dort lebt fast jedes drit- identität zu wenig dokumentiert – sie bleiben unsichtbar. te Kind in einer Konfliktzone. • Generell führen Herausforderungen beim Monitoring, • Konflikte werden für Kinder immer gefährlicher. Seit der Meldung und Verifizierung von Verbrechen an Kin- 2010 ist die Gesamtzahl der Kinder, die in Konfliktgebie- dern dazu, dass das wahre Ausmaß nicht ausreichend ten leben, um 34 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum bekannt ist. Gründe dafür sind der begrenzte Zugang hat sich die Zahl der bestätigten schweren Verbrechen zu den betroffenen Gebieten, Sicherheitsrisiken und die an Kindern in diesen Gebieten um 170 Prozent erhöht. oft notwendige Vertraulichkeit im Zusammenhang mit den Themen, die mit den Verbrechen verbunden sind. • Obwohl sich Kinder an einer Vielzahl von Aktivitäten Der Einfluss von Geschlechterbildern kann bei bestimm- im Bereich der humanitären Hilfe sowie der Friedens- ten Verbrechen, etwa bei sexueller Gewalt gegen Jun- schaffung und -erhaltung beteiligen, werden ihre Stim- gen oder der Rekrutierung von Mädchen, zu einer noch men nicht ausreichend gehört. Ihr Potenzial wird wei- geringeren Dokumentation führen. terhin nicht genug gesehen und dessen Förderung nicht ausreichend finanziert. • Es gibt besondere Herausforderungen beim Verständnis von und der Reaktion auf Verbrechen an Kindern mit di- verser Geschlechtsidentität. Denn die Datensammlun- gen beruhen, wenn sie überhaupt differenziert sind, auf einer binären Unterteilung. Im Ergebnis sind die Erfah- rungen von Kindern aller Geschlechter und die gesam- te Auswirkung der Verbrechen nicht bekannt. 6 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
© Sam Tarling / Save the Children Leben im Konfliktgebiet: In der Altstadt von Mossul, Irak Jetzt handeln! Geschlechterunterschiede bei den sechs schweren Ver- brechen an Kindern in Konfliktgebieten berücksichti- gen. Darüber hinaus müssen die Staaten und die hu- Wir fordern die internationale Gemeinschaft, Staaten, manitären Akteure Strategien entwickeln, finanzieren bewaffnete Gruppen und alle anderen zentralen Akteu- und umsetzen, die speziell die weitreichenden Auswir- re auf, ihre Bemühungen um einen wirksamen Schutz von kungen von Konflikten auf Mädchen, Jungen und Kin- Kindern in Konflikten zu verstärken. Wie in unseren vor- der mit diverser Geschlechtsidentität und unterschied- herigen „Krieg gegen Kinder“-Berichten dargelegt, sind licher sexueller Orientierung identifizieren und ange- wir davon überzeugt, dass die Staaten in drei Bereichen hen. Dies sollte über die bisher erfassten sechs schwe- tätig werden müssen: ren Verbrechen hinausgehen und auch weitere Kinder- rechtsverletzungen in Konflikten einschließen, beispiels- • Internationale Regeln und Standards einhalten weise jene im privaten Bereich, von denen Mädchen • Täter, die Verbrechen gegen Kinder begangen haben, eher betroffen sind. zur Verantwortung ziehen 2. … die mehrjährigen Investitionen für den humanitä- • Kinder vor Ort mit konkreten Maßnahmen schützen ren Kinderschutz zu erhöhen, mit dem Ziel, den Anteil und sie dabei zu unterstützen, sich zu erholen an der gesamten Finanzierung humanitärer Arbeit von 0,5 Prozent auf vier Prozent zu erhöhen. Dazu gehört auch eine wesentliche Aufstockung der Mittel sowohl Um den spezifischen Bedürfnissen von Jungen, Mädchen für etablierte wie auch für gezielte neue Maßnahmen und Kindern diverser Geschlechtsidentität und unter- zur Gleichstellung der Geschlechter, zur Stärkung von schiedlichen Alters gerecht zu werden, müssen Staaten Mädchen und zum Thema sexuelle und geschlechtsspe- und humanitäre Akteure zudem sicherstellen, dass ihre zifische Gewalt in humanitären Kontexten. Aktivitäten zum Schutz von Kindern in Konflikten diese Unterschiede berücksichtigen. Wir fordern Staaten und 3. … eine sinnvolle Beteiligung von Kindern an den Maß- humanitäre Akteure dazu auf: nahmen und Programmen zu ermöglichen. Wenn mög- lich, sollte dabei immer nach unterschiedlichen Gruppen 1. … das Büro des Sonderbeauftragten des UN-General- – je nach Alter, Geschlecht oder Behinderung – diffe- sekretärs für Kinder und bewaffnete Konflikte finanzi- renziert und die Maßnahmen sollten entsprechend an- ell und diplomatisch zu unterstützen und auf diese Wei- gepasst werden. se sicherzustellen, dass die Datenerhebung, wann im- mer dies möglich ist, nach Geschlechtern differenziert wird. Auch die Arbeit des Büros mit den Konfliktpar- Die gesamten Empfehlungen sind ab Seite 30 aufgelistet. teien muss gefördert werden, damit alle Aktionspläne 7
TEIL 1 EINLEITUNG: KRIEG GEGEN KINDER „Wenn die Kämpfe beginnen, ist kein Ort in unserem Dorf Konflikte dauern zunehmend länger an. Das Jahr 2019 sicher. Aber zu Hause ist es immer noch besser als draußen. zum Beispiel markierte 18 Jahre Konflikt zwischen den Wir verstecken uns in den Ecken der Räume.“ internationalen Streitkräften und den Taliban in Afgha- nistan: Kein einziges Kind, das heute im Land lebt, wur- – 14-jähriges Mädchen, Afghanistan de zu Friedenszeiten geboren. Im März 2020 wird voraus- sichtlich das zehnte Kriegsjahr in Syrien beginnen. Im Je- men werden es fünf Jahre seit der Eskalation der Feind- D ie Last, die Kinder in bewaffneten Konflikten tra- seligkeiten sein. Mehrere aufeinander folgende Generati- gen, ist extrem. Die aktuelle Zahl der von der UN onen von Kindern in der Demokratischen Republik Kon- bestätigten schweren Verbrechen an Kindern in go, in Somalia und im heutigen Südsudan sind aufgewach- Konflikten zeigt, dass diese erneut zugenommen haben. sen, ohne Frieden zu kennen. Die lang andauernden Konflikte der Gegenwart ha- Die sechs schweren Verbrechen betreffen: ben die Art der Risiken, denen Kinder ausgesetzt sind, verändert – und damit auch die Art des Schutzes und der • die Tötung und Verstümmelung von Kindern Unterstützung, die sie benötigen. Die Auswirkungen von • die Rekrutierung von Kindern und deren Einsatz Konflikten auf Kinder sind vielschichtig und weitreichend. durch bewaffnete Streitkräfte und Gruppen Dazu gehören die direkten körperlichen Versehrungen durch Explosivwaffen, die psychischen und psychosozia- • Kindesentführungen len Folgen von Gewalterfahrungen sowie die sozioöko- • Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser nomischen Auswirkungen, die gravierende Folgen für die Rechte von Kindern mit sich bringen – wie der Zusam- • die Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe menbruch von Infrastruktur, die Vertreibung von Gemein- • Vergewaltigungen oder andere sexuelle Gewalt schaften und die Zerstörung grundlegender Dienste und gegen Kinder Hilfeleistungen. Drei wesentliche Ursachen bedingen die hohe Anzahl Dieser Bericht untersucht, in welch unterschiedlichem Aus- an Kindern, die diesen schädlichen Auswirkungen ausge- maß Jungen und Mädchen jeweils von den sechs schwe- setzt sind: ren Verbrechen an Kindern in Konflikten betroffen sind. • Bestehende internationale Regeln, Gesetze und Nor- Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Fol- men werden in Konflikten nicht eingehalten. gen von Konflikten für Kinder werden genauer betrachtet. Nicht nur die Zahl der schweren Verbrechen an Kindern • Täter werden nicht zur Verantwortung gezogen. ist von Jahr zu Jahr signifikant gestiegen, auch die Zahl • Kinder werden nicht ausreichend unterstützt und es der Kinder, die in Konfliktgebieten leben, hat sich insge- wird nicht genug dafür getan, dass sie sich von den Fol- samt stark erhöht – trotz eines leichten Rückgangs von gen der Konflikte erholen können. 2017 auf 2018. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Zahl der in Konfliktzonen lebenden Kinder fast ver- Diese Herausforderungen sind groß, doch zugleich ist doppelt: 2018 waren es 415 Millionen. Und: Seit 2010 hat es wichtig zu sehen, dass Fortschritte nicht nur mög- sich die Zahl der von der UN bestätigten schweren Ver- lich sind – sondern auch, dass es sie bereits gibt. So hat- brechen an Kindern fast verdreifacht. ten im Jahr 2019 insgesamt 101 Staaten – also mehr als 8 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
© Save the Children Der 15-jährige Shadi lebt ohne seine Eltern in einem Vertriebenencamp im Nordosten Syriens. Als 13-Jähriger verlor er sein Bein infolge eines Luftangriffs – trotz dieser Behinderung versuchte der IS, ihn für den Kampf auszubilden. Auf eigene Faust gelang es Shadi, das vom IS kontrollierte Gebiet zu verlassen. die Hälfte der UN-Mitgliedsstaaten – die „Safe Schools Diese Beispiele zeigen, was möglich ist. Sie sollten dieje- Declaration“ unterzeichnet und sich damit verpflichtet, nigen zum Handeln motivieren, die auf nationaler, regio- Schulen während bewaffneter Konflikte zu schützen. 110 naler und internationaler Ebene Einfluss nehmen können. Staaten haben die Pariser Verpflichtungen und Prinzipien Nur durch gemeinsam abgestimmte, gezielte Anstrengun- befürwortet, in denen das sogenannte „Straight 18“-Prin- gen können wir die gegenwärtigen Trends umkehren und zip besagt, dass Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren den Krieg gegen Kinder beenden. weder zwangsweise noch freiwillig für den Einsatz in be- Hierbei ist es auch wichtig, anzuerkennen, dass Kin- waffneten Konflikten rekrutiert werden dürfen. Der In- der je nach Alter, Geschlecht und Behinderung auf unter- ternationale Strafgerichtshof hat eine Untersuchung der schiedliche Weise von Konflikten betroffen sind. Jungen Verbrechen an der Rohingya-Minderheit eingeleitet. Zum und Mädchen sind mit unterschiedlichen Gefahren kon- Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts berät der Inter- frontiert, haben verschiedene Bedürfnisse und benötigen nationale Gerichtshof über Maßnahmen zur Vermeidung unterschiedliche Arten von Unterstützung. Aufbauend von Völkermord und darüber, Gerechtigkeit für frühere auf den beiden vorangegangenen „Krieg gegen Kinder“- Straftaten herzustellen. Staaten haben eine Ergänzung Berichten und soweit es die verfügbaren Daten erlauben, des Römischen Statuts akzeptiert, durch die Hunger als zeigt der aktuelle Bericht einige der nachweisbaren ge- Waffe in die Liste der als Kriegswaffen in nicht-internati- schlechtsspezifischen Ursachen und Auswirkungen der onalen bewaffneten Konflikten aufgenommen wurde. Die Verbrechen an Kindern in Konfliktgebieten. Friedensgespräche im Jemen werden fortgesetzt. Zudem wurden drei neue UN-Aktionspläne mit Parteien unter- zeichnet, die von der UN als Täter schwerer Verbrechen an Kindern gelistet wurden, um so gegen die Schädigung von Kindern vorzugehen. 9
TEIL 2 WIE VIELE KINDER SIND VON KONFLIKTEN BETROFFEN? I m Jahr 2018 lebten weltweit 415 Millionen Kinder in ei- Die vier Länder mit der höchsten Anzahl an Kindern, die in nem Konfliktgebiet. Das sind fast 18 Prozent aller Kin- Konfliktzonen leben, sind Nigeria, Mexiko, die Demokra- der der Welt – jedes sechste Kind. Von ihnen wach- tische Republik Kongo und Afghanistan. Absolut gesehen sen 149 Millionen Kinder in Gebieten mit hoher Konflikt- hat Afrika mit 170 Millionen Kindern die höchste Anzahl intensität auf. Das sind Regionen, in denen innerhalb ei- von betroffenen Kindern: Jedes vierte afrikanische Kind nes Jahres mehr als 1.000 Menschen durch Kampfhand- lebt in einem Konfliktgebiet. Die Region mit dem höchs- lungen oder deren Folgen sterben. ten Anteil an Kindern, die in Konfliktgebieten leben, ist Die Anzahl der Kinder, die in Konfliktgebieten leben, die Nahostregion. Dort wachsen 32 Prozent aller Kinder hat sich seit 1995 mehr als verdoppelt – sie wuchs deut- – also jedes dritte – in einem Konfliktgebiet auf. lich schneller als die allgemeinen Bevölkerungszahlen. Von Seit dem Jahr 2010 stieg die Gesamtzahl der in Kon- 2017 bis 2018 ging allerdings die Gesamtzahl der Kinder, fliktzonen lebenden Kinder um 37 Prozent. Die Zahl der die in Konfliktgebieten leben, geringfügig um drei Pro- verifizierten Verbrechen an Kindern nahm im gleichen zent zurück.2 Zeitraum um 170 Prozent zu. Abb. 1: Die Anzahl der Kinder in Konfliktgebieten hat sich seit 1995 verdoppelt.* Kinder, die in von Konflikten betroffenen Gebieten leben, differenziert nach Konfliktintensität, 1990–2018: Millionen Geringe Intensität Mittlere Intensität Hohe Intensität 500 400 300 200 100 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 10 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
2010 2018 Seit 2010 ist die Anzahl der bestätigten Verbrechen an Kindern in Konflikten um 170 Prozent gestiegen. Geringe Intensität Mittlere Intensität Hohe Intensität Naher Osten Amerika Europa Abb. 2: Die höchste Anzahl der von Konflikten betroffenen Kinder lebt in Afrika.* Afrika Kinder, die in von Konflikten betroffenen Gebieten leben, differenziert nach Konflikt Asien intensität und Region 0 50 100 150 200 2017 2018 Nigeria Mexiko D. R. Kongo Afghanistan Jemen Irak Syrien Abb. 3: Millionen von Kindern Somalia leben in Konfliktgebieten.* Kinder, die 2017–2018 in von Mali Konflikten betroffenen Gebieten Südsudan lebten, differenziert nach Land 0 10 20 30 40 Millionen 50 * Diese Zahlen wurden vom Osloer Institut für Friedensforschung (Peace Research Institute Oslo – PRIO) im Auftrag von Save the Children aufbereitet. Datenquellen: Uppsala Conflict Data Program (UCDP) Georeferenced Event Dataset (GED) (Sundberg und Melander, 2013; Högbladh, 2019); Gridded Population of the World (GPW) v4 (Center for International Earth Science Information Network, 2016); World Population Prospects (UN, 2017). Konflikte niedriger Intensität bedeuten, dass weniger als 25 Todesfälle durch Kampfhandlungen in einem Jahr verzeichnet werden. Konflikte mittlerer Intensität bedeuten 25 bis 999 Todesfälle durch Kampfhandlungen pro Jahr, Konflikte hoher Intensität sind Konflikte mit 1.000 oder mehr Todesfällen durch Kampfhandlungen im Jahr. 11
Die zehn gefährlichsten Länder für Kinder in Konflikten Auf Grundlage der Forschung des Osloer Friedensfor- schungs-Instituts3 und der UN-Daten zu Verbrechen ge- gen Kinder, die Save the Children für das Jahr 2018 ana- lysiert hat 4, haben wir eine Liste der zehn gefährlichsten Länder für Kinder in Konflikten erstellt. 5 Diese Einschätzung basiert auf folgenden Indikatoren: • der Dokumentation jedes der sechs schweren Verbrechen an Kindern, • der Konfliktintensität (gemessen an der Anzahl gemeldeter Opfer), • der Gesamtzahl der Kinder im Land, die in einem Konfliktgebiet leben, • dem Anteil der Kinder, die in einer Konfliktzone leben, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Landes. Mit diesem Ansatz zeigen sich diese zehn Länder als die Afghanistan gefährlichsten für Kinder in Konflikten: • Afghanistan • Demokratische Republik Kongo Syrien • Irak • Jemen Kinder, die in Friedenszeiten • Mali geboren sind • Nigeria Kinder, die im Krieg geboren • Somalia und aufgewachsen sind • Südsudan • Syrien • Zentralafrikanische Republik Nichts als Krieg Besonders gefährlich für Kinder war Syrien im Jahr 2018. Dort gab es eine hohe Zahl schwerer Verbrechen an Kin- Im Oktober 2019 sind es 18 Jah- dern. Außerdem leben 99 Prozent aller Kinder in von Kon- re, seit in Afghanistan der Konflikt flikten betroffenen Gebieten. In Afghanistan gibt es die zwischen den Koalitionstruppen meisten Kinder, die getötet und verstümmelt wurden. Die und den Taliban begann. Alle höchste Zahl von Kindern in Konflikten, die sexuelle Ge- Kinder dort wurden im Krieg walt erfahren haben, findet sich in Somalia. Nigeria hat die geboren und wachsen im Krieg auf höchste Anzahl an Kindern, die durch bewaffnete Grup- – insgesamt sind es 20 Millionen pen rekrutiert werden. Die zehn gefährlichsten Länder Mädchen und Jungen. Die UN für Kinder, die in Konflikten leben, sind 2018 die gleichen berichtete im Dezember 2018, dass wie im Jahr 2017.6 in Syrien nach acht Jahren bewaff- neter Kämpfe vier Millionen Kinder – also Hälfte aller Kinder des Landes – nichts als Krieg kennen.7 12 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Kinder, die in Konfliktgebieten leben (in Millionen) Verbrechen an diesen Kindern 500 25.000 Abb. 4: Der Krieg gegen Kinder verschärft sich. Anzahl der in Konfliktzonen lebenden Kinder im Vergleich zu 400 20.000 den von der UN bestätigten Fälle von schweren Verbrechen an Kindern, 2010–2018 300 15.000 Quellen: Save the Children’s Analyse der Berichte des UN-Generalsekre- tärs zu Kindern und bewaffneten 200 Konflikten; Zahlen des PRIO auf 10.000 Basis des Uppsala Conflict Data Pro- gram (UCDP), Georeferenced Event Dataset (GED); Gridded Population 100 5.000 of the World (GPW) v4 (Center for International Earth Science Informa- tion Network, 2016) und World Population Prospects (UN, 2017) 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Syrien Afghanistan Irak Mali Jemen Zentralafrikanische Republik Nigeria Südsudan Somalia Demokratische Republik Kongo Abb. 5: Die zehn gefährlichsten Länder für Kinder in Konflikten 13
© Dominic Nahr / Save the Children Amal floh mit sieben Jahren aus der belagerten syrischen Stadt Homs in den Libanon. Sie weint oft und denkt viel an ihre Großmutter, die dort bleiben musste. 14 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
Internationale Rechtsvorschriften zu Kindern in Konflikten Die Genfer Konventionen und ihre Zusatz- Die Afrikanische Charta über die Rechte und protokolle sind der Kern des humanitären Völ- das Wohlergehen des Kindes von 1990 ist – kerrechts (HVR): Sie sollen bewaffnete Konflikte mit Ausnahme der UN-Kinderrechtskonvention – regulieren und deren Auswirkungen begrenzen. der einzige zwischenstaatliche Vertrag, der das Dabei setzen sie auf Differenzierung und Verhält- gesamte Spektrum sozialer, bürgerlicher, politi- nismäßigkeit. Die spezifischen Regeln umfassen scher, ökonomischer, gesundheitlicher und kultu- etwa das Verbot direkter Angriffe auf die Zivilbe- reller Rechte von Kindern anerkennt und schützt. völkerung oder zivile Gebäude, ein Verbot willkür- Er wurde von fast allen Staaten der Afrikanischen licher Angriffe und die Verpflichtung, Todesfälle un- Union ratifiziert. Artikel 22 widmet sich dabei der ter der Zivilbevölkerung möglichst zu verhindern. Beteiligung von Kindern in bewaffneten Konflik- Zudem beinhaltet das HVR besondere Schutzmaß- ten. Darin wird die Rekrutierung von Kindern als nahmen für Kinder. Soldaten und die direkte Teilnahme an Kriegen untersagt. Das internationale HVR verpflichtet in erster Linie Staaten dazu, die Grundversorgung der unter ihrer Die Pekinger Erklärung und die dazugehöri- Kontrolle stehenden Zivilbevölkerung sicherzustel- ge Aktionsplattform sind besonders wichtig für len. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, Mädchen in Konfliktgebieten. Die Erklärung wur- können zum Beispiel humanitäre Organisationen de nach der 4. UN-Weltfrauenkonferenz 1995 ein- aktiv werden. Sie müssen die betroffenen Menschen stimmig von der UN-Vollversammlung verabschie- schnell und ungehindert erreichen können. det und bezog sich erstmals auf die speziellen Er- fahrungen und Bedürfnisse von Mädchen. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) zählt zu Darüber hinaus haben der UN-Sicherheitsrat den am meisten unterzeichneten Menschenrechts- und die UN-Generalversammlung Resolutio- verträgen. Die Konvention schützt die gleichen und nen verabschiedet, die sowohl für spezifische Kon- untrennbaren sozialen, bürgerlichen, politischen, fliktsituationen als auch für bestimmte Themen völ- ökonomischen, gesundheitlichen sowie kulturel- kerrechtliche Bedeutung haben: so zu den Themen len Rechte aller Kinder. Ihr Grundsatz ist, dass Kinder und bewaffnete Konflikte, Frieden und Si- „bei allen Handlungen, die Kinder betreffen, … das cherheit, dem Schutz von Zivilisten sowie zur Been- Wohl des Kindes im Vordergrund steht.“ Artikel digung aller Arten von Diskriminierung von Frau- 38 widmet sich speziell den Rechten von Kindern en. Zudem wurden von der UN Strafgerichte und und bewaffneten Konflikten und verpflichtet Ver- Tribunale eingerichtet, unter anderem in Kambo- tragsstaaten dazu, „alle durchführbaren Maßnah- dscha, Ruanda, im ehemaligen Jugoslawien und men“ zu ergreifen, um betroffene Kinder in bewaff- Sierra Leone. Diese Tribunale haben einen wich- neten Konflikten zu schützen und zu unterstützen. tigen Beitrag dazu geleistet, geschlechtsbedingte Straftaten zu definieren und rechtlich zu verfolgen. Das Römische Statut ist die bedeutendste ver- tragliche Grundlage des Internationalen Strafge- richtshofs, um Zivilisten zu schützen. Es gibt ihm die Zuständigkeit, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anzukla- gen, insofern diese in Gebieten der Vertragsstaa- ten oder durch eine dort ansässige Person began- gen wurden. 15
TEIL 3 MÄDCHEN, JUNGEN UND KRIEG: EINE GESCHLECHTS SPEZIFISCHE ANALYSE DER SECHS SCHWEREN VERBRECHEN AN KINDERN IN KONFLIKTEN „In Mali ist die Situation sehr kritisch und traurig. Viele Kinder In diesem Kapitel werden die geschlechtsspezifischen Un- wurden getötet, vergewaltigt und mussten mitansehen, wie terschiede bei den sechs schweren Verbrechen an Kin- ihre Brüder vor ihren Augen getötet wurden. Menschen ver- dern in Konflikten betrachtet. Dabei gibt es große Her- brannten und Felder wurden zerstört. Wir brauchen unsere ausforderungen, tragfähige Daten zu den Konflikterfah- Regierung, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und uns rungen von Mädchen und Jungen zu erheben, um Unter- vor den Schrecken des Krieges zu schützen.“ schiede zu verstehen und wirksame Maßnahmen entwi- ckeln zu können.9 – Maryam, Jugendbotschafterin, Mali8 W ie im vorherigen Kapitel beschrieben, sind Die unsichtbaren Verbrechen gegen Mädchen die Zahlen der Kindern, die in Konfliktregi- onen leben, und die der an ihnen begange- Wie in dem Bericht „Gender Analysis: The six grave violati- nen Verbrechen dramatisch hoch. Blickt man hinter die- ons of children’s rights in conflict“10 beschrieben, stehen die se Zahlen, stellt sich die Frage, wie Kinder diese Konflik- schweren Verbrechen in erster Linie in Zusammenhang mit te erfahren. Auf welche Art und Weise sind verschiede- dem öffentlichen Raum, in dem Männer und Jungen häufi- ne Gruppen betroffen? Genauer gesagt: Wie unterschei- ger präsent sind. Verbrechen gegen Mädchen finden da- den sich die Erfahrungen im Konflikt und die begangenen gegen eher im privaten Raum statt – hier werden Kinder- Verbrechen bei Mädchen und Jungen? rechtsverletzungen weniger dokumentiert.11 In vielen Kon- texten hängt die Option, sich im öffentlichen Raum zu be- wegen, von den zugrunde liegenden Geschlechternormen 16 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
© Stefanie Glinski / Save the Children Ghazal, acht Jahre alt, lebt in Afghanistan. Sie geht allein zur Schule, fürchtet sich aber dabei – sie hat Angst davor, entführt zu werden, auf eine Landmine zu treten oder durch ein Selbst mordattentat zu sterben. Als Mädchen ist sie auch einem höheren Risiko ausgesetzt, Opfer von Belästigungen zu werden. ab. Frauen und Mädchen sind oft auf die private Sphäre be- Geschlechtsspezifische Rollenbilder und Annahmen in Ver- schränkt. Von ihnen wird erwartet, geschlechtsspezifische bindung mit dem Fokus der UN-Datenerhebung zu Verbre- Rollenbilder als Mütter, Ehe- und Hausfrauen zu erfüllen. chen, die von bewaffneten Gruppen eher im öffentlichen Je mehr Konflikte in einem Land herrschen, desto mehr ist Raum begangen werden, führen dazu, dass Kinderrechts- die Mobilität von Mädchen und Frauen eingeschränkt. Das verstöße gegen Jungen in Konflikten größere Aufmerk- führt dazu, dass sie im Vergleich zu Männern und Jungen samkeit und mehr Gewicht erhalten. Verbrechen gegen mehr Zeit zu Hause verbringen.12 Dies kann manche der Mädchen bleiben dagegen häufiger unsichtbar und wer- schweren Verbrechen an Mädchen verringern, wie Ent- den nicht ausreichend gemeldet. Die nach Geschlecht auf- führung, Rekrutierung, Tötung und Verstümmelung. Jun- geschlüsselten Daten des vorliegenden Berichts von 2019 gen hingegen werden häufiger von bewaffneten Gruppen bestätigen dies – mehr Jungen als Mädchen sind von den als Kindersoldaten rekrutiert, da Männlichkeit in Verbin- bestätigten schweren Verbrechen direkt betroffen. Eine dung mit der Verteidigung des Zuhauses und der Gemein- Ausnahme bilden die Daten zu sexueller Gewalt, die das schaften gebracht wird. Es ist wichtig zu beachten, dass Gegenteil zeigen (siehe Seite 22). Demnach werden Mäd- die Geschlechterrollen in verschiedenen Konfliktsituatio- chen häufiger Opfer sexueller Gewalt. Allerdings führt nen unterschiedlich sind. In einigen Fällen können sich die das Stigma sexueller Gewalt gegen Jungen und das Feh- Geschlechterrollen und Machtverhältnisse verschieben – len von Hilfeleistungen, die auf die Bedürfnisse männlicher und eine Chance für Veränderungen bieten. Häufiger ver- Opfer zugeschnitten sind, dazu, dass solche Vorfälle sel- festigen sich jedoch bestehende geschlechtsspezifische Vor- tener gemeldet werden. urteile in Konflikten, sodass beispielsweise Mädchen in ih- rer Mobilität stärker eingeschränkt sind. 17
1. Tötung und Verstümmelung von Kindern 14.000 JUNGEN UND MÄDCHEN 12.000 Jungen Nicht bekannt Mädchen 10.000 44% 39% 17% 8.000 6.000 4.000 2.000 2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2018 Abb. 6: Die Zahl der getöteten und verstümmelten Kindern in Konflikten nimmt zu. Anzahl der in Konflikten getöteten und verstümmelten Kinder, nach Jahr und nach Geschlecht im Jahr 2018 Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich noch höher. 1 2 Seit 2005 wurden insgesamt fast 100.000 Kinder in Die Gesamtzahl der bestätigten Fälle, in denen Kin- Konflikten getötet oder verstümmelt. Seit 2010 hat der zwangsrekrutiert und in bewaffneten Konflik- sich die Zahl verdreifacht. Im Jahr 2018 gab es in 19 ten eingesetzt wurden, lag zwischen 2005 und 2018 der 20 erfassten Konfliktsituationen 12.125 bestätigte Fäl- bei 65.081 Kindern.15 Allein im Jahr 2018 wurden mehr als le von Tötung und Verstümmelung von Kindern. 44 Pro- 7.000 Kinder rekrutiert. Die meisten der verifizierten Fäl- zent dieser Fälle waren Jungen und 17 Prozent Mädchen. le kamen aus Somalia (2.300) und Nigeria (1.947). Viele Bei den restlichen Fällen wurde das Geschlecht nicht do- dieser Kinder wurden entführt, als Kindersoldaten einge- kumentiert.13 Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich setzt, als menschliche Schutzschilder benutzt, sexuell miss- noch höher.14 braucht und ausgebeutet, zum Transport von Sprengstoff gezwungen oder als Selbstmordattentäter eingesetzt.16 In allen Ländern ist die Zahl der durch direkte Kriegsfüh- rung getöteten und verstümmelten Jungen höher als die Die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern in bewaff- der betroffenen Mädchen – das zeigen die nach Geschlecht neten Gruppen wurde in 15 der 20 in diesem Bericht be- aufgeschlüsselten Daten im Jahresbericht des UN-Gene- trachteten Konflikte gemeldet. Für zwölf dieser Länder ralsekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten von sind die Daten vollständig nach Geschlecht aufgeschlüsselt, 2019. Insbesondere männliche Jugendliche geraten häufi- für zwei Länder teilweise; im verbleibenden Land, Kolum- ger in die Schusslinie bewaffneter Akteure, da sie als Be- bien, gibt es keine nach Geschlecht aufgeschlüsselten Da- drohung wahrgenommen werden. ten. Von den 7.206 dokumentierten Fällen von Rekrutie- rungen im Jahr 2018 betreffen 84 Prozent Jungen und 11 Prozent Mädchen; die restlichen sechs Prozent sind nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Im Jahr 2018 waren in Mali 96 Prozent der rekrutierten Kinder Jungen, in Somalia 97 Prozent und in Afghanistan 18 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
2. R ekrutierung von Kindern und deren Einsatz durch bewaffnete Gruppen 10.000 JUNGEN UND MÄDCHEN 8.000 Jungen Nicht bekannt Mädchen 84% 5% 11% 6.000 4.000 2.000 2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2018 Abb. 7: Tausende von Kindern wurden von bewaffneten Gruppen rekrutiert. Anzahl der von bewaffneten Gruppen rekrutierten und eingesetzten Kinder, nach Jahr und Geschlecht Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich noch höher. 98 Prozent. Bewaffnete Gruppen wenden oft geschlechts- Geschlechterstereotypen zeigen sich deutlich, wenn Jun- spezifische Rekrutierungstaktiken an, darunter eine über- gen und Mädchen von bewaffneten Gruppen rekrutiert und mäßig maskuline Ideologie. Dabei werden Vorstellungen eingesetzt werden. 98 Prozent der von bewaffneten Ak- darüber entwickelt, Macht mit Gewalt gleichzusetzen und teuren rekrutierten Jungen wurden im Jahr 2016 für mili- den Soldaten werden sexuelle Belohnungen und „Ehefrau- tärische Zwecke in Syrien eingesetzt – diese reichten von en“ versprochen.17 Frontkämpfen über die Ausführung von Hinrichtungen bis Die ursprüngliche Formulierung dieses Verbrechens hin zu Selbstmordattentaten. Im Jemen gab es bereits vor war „die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern als der Eskalation des Konflikts im Jahr 2015 Berichte über Kindersoldaten“. Diese wurde in „die Rekrutierung und Jungen, die im Kampf aktiv waren, aber auch Sicherheits- der Einsatz von Kindern, die mit Streitkräften und be- und Logistikfunktionen übernahmen. waffneten Gruppen in Verbindung stehen“ geändert. Da- durch sollen die verschiedenen Rollen verdeutlicht wer- Mädchen werden oft für unterstützende Funktionen ausge- den, die Jungen und Mädchen in einer bewaffneten Grup- nutzt. Sie müssen sich beispielsweise um die Zubereitung pe annehmen müssen. des Essens kümmern und andere häusliche Aufgaben über- nehmen. Darüber hinaus werden sie sexuell missbraucht Die Risiken, denen Mädchen innerhalb bewaffneter Grup- und ausgebeutet, manchmal auch mit Kämpfern verhei- pen ausgesetzt sind – wie etwa Zwangs- und / oder Früh- ratet. Untersuchungen in Syrien haben gezeigt, dass auf heirat, sexueller Missbrauch oder erzwunge Arbeit im diese Weise zwangsverheiratete Mädchen häufig verlas- Haushalt – sind anders und finden weniger Beachtung als sen werden, geschieden oder verwitwet sind. Die Mädchen die Risiken, denen Jungen ausgesetzt sind. Folglich wer- wurden zudem oft gezwungen, ihre Männer zu begleiten den Mädchen in den Daten über die Rekrutierung und – dabei waren sie aufgrund ihrer Nähe zum Kampfgebiet den Einsatz von Kindern in bewaffneten Gruppen häu- körperlichen Gefahren ausgesetzt. fig übersehen. 19
© Dominic Nahr / Save the Children Lernen, mit der Angst und Wut umzugehen José wuchs in einer Region in Kolumbien auf, in der Koka-Anbau und Drogenhandel weit verbreitet sind. Als er acht Jahre alt war, geriet er in ein Kreuzfeuer zwischen der Rebellenarmee FARC und den Regierungs- truppen. José erlitt Schussverletzungen an beiden Beinen und einem Arm. Danach war José lange Zeit nicht in der Lage, mit seiner Angst und Wut umzugehen. Ein Jugendprogramm von Save the Children half ihm, neue Perspektiven zu entwickeln, eine neue Rolle für sich zu entdecken – und wieder Hoffnung zu schöpfen. José ist heute 17 Jahre alt und sagt: „Ich habe gelernt, kritischer mit dem zu sein, was um mich herum geschieht. Ich möchte mich in Entscheidungsprozesse einbringen, die mich oder die Menschen betreffen, mit denen ich arbeite.“ 20 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
3. Entführung von Kindern 4.000 JUNGEN UND MÄDCHEN Jungen Nicht bekannt Mädchen 3.000 80% 1% 19% 2.000 1.000 2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2018 Abb. 8: Tausende von Kindern wurden von bewaffneten Gruppen entführt. Anzahl der von bewaffneten Gruppen entführten Kinder 2005– 2018 und Aufschlüsselung nach Geschlecht im Jahr 2018 Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich noch höher. 3 Im Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs Allein die Angst vor Entführungen kann Familien dazu brin- wird über die Entführung, Versklavung und Rekru- gen, den Schulbesuch von Mädchen einzuschränken. Dies tierung von Kindern durch bewaffnete Streitkräf- gilt insbesondere in Ländern, in denen der Wert eines te und über sexuelle Ausbeutung berichtet – mindestens Mädchens vor allem in ihrer zukünftigen Rolle als Mutter 2.500 Kinder sind betroffen. Davon waren 1.999 (80 Pro- und Ehefrau gesehen wird. Die Familienehre ist dabei eng zent) Jungen und 484 (19 Prozent) Mädchen. In 17 Fällen mit der Jungfräulichkeit der Mädchen verbunden. Da be- war das Geschlecht nicht bekannt. Allein in Somalia wur- sonders jugendliche Mädchen einem erhöhten Risiko ge- den 1.609 Kinder hauptsächlich zum Zweck der Rekrutie- schlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, werden sie rung entführt – einige von ihnen waren erst acht Jahre alt. in Konfliktgebieten häufig isoliert oder müssen zu Hause bleiben. Die Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruchs ist Während die Zahl der Entführungen in der Demokrati- somit um 90 Prozent höher als bei ihren Altersgenossin- schen Republik Kongo (367) gegenüber dem Höchststand nen aus stabilen Kontexten.18 von 420 im Jahr 2017 leicht abnahm, blieben viele entführ- Obwohl Entführungen meist als wesentliches Mittel zur te Kinder der vergangenen Jahre in Gefangenschaft und Zwangsrekrutierung von Kindern von Streitkräften und be- sind sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit ausgesetzt. waffneten Gruppen dienen, sind sie auch Ausgangspunkt Ähnliche Fälle wurden im Südsudan, in Afghanistan und für weitere schwere Verbrechen. in Mali nachgewiesen. Die Anzahl der Entführungen von Mädchen nimmt wei- ter zu. Beispielsweise ist die Anzahl der Mädchen, die in Nigeria entführt wurden, seit Mitte 2013 dramatisch ge- stiegen. Obwohl genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind, handelt es sich schätzungsweise um 2.000 bis 8.000 ent- führte Frauen und Mädchen. 21
4. Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt gegen Kinder 6.000 JUNGEN UND MÄDCHEN Jungen Nicht bekannt Mädchen 1% 12% 87% 4.000 2.000 2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2018 Abb. 9: Sexuelle Gewalt gegen Kinder Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-General sekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich noch höher. 4 Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe Gewalt19 sind die einzigen schweren Verbrechen, bei denen die Gesamtzahl der bestätigten Fälle bei In Zeiten von Instabilität besteht ein erhöhtes Risiko, Op- Mädchen höher ist als bei Jungen. Dies spiegelt den über- fer sexueller Gewalt zu werden. Diese Form von Gewalt greifenden Trend wider, dass die überwiegende Zahl der wird weiterhin als Teil der Gesamtstrategie von Konflik- Überlebenden sexueller Gewalt Frauen und Mädchen sind. ten eingesetzt, wobei vor allem Frauen und Mädchen be- troffen sind.20 Dabei werden sie von bewaffneten Streit- Das Überwachungs- und Berichterstattungsinstrument der kräften und Gruppen auch als „Belohnung“ für ihre Kämp- UN zu Verbrechen gegen Kinder (UN Monitoring and Re- fer benutzt. porting Mechanism on Grave Violations, MRM) verifizier- te für den Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs Konfliktbezogene sexuelle Gewalt fungiert weiterhin so- über Kinder und bewaffnete Konflikte 933 Fälle sexueller wohl als treibende Kraft als auch als Folge von Zwangs- Gewalt. Davon richteten sich 87 Prozent der Verbrechen vertreibung. Sexuelle Gewalt wird zur Destabilisierung von gegen Mädchen und rund ein Prozent der bestätigten Ver- Gemeinschaften und zur Vertreibung bestimmter Grup- brechen gegen Jungen. Sexuelle Gewalt wurde in 12 der pen eingesetzt, um die Herrschaft über ein Gebiet wie- 20 erfassten Länder bestätigt. Die meisten Fälle wurden derzuerlangen. Sie dient außerdem als Mittel der Unter- aus Somalia (331 Fälle: 328 Mädchen und 3 Jungen) und in drückung, des Terrors und der Kontrolle. der Demokratischen Republik Kongo (277 Mädchen) ge- Sexuelle Gewalt kann auch Ursache oder Folge von meldet. Auch im Südsudan, im Sudan und in der Zentral- Früh- und Zwangsverheiratung sein. Mädchen, die schwan- afrikanischen Republik sind die Zahlen erschreckend hoch. ger werden, sind einer Reihe zusätzlicher Gefahren aus- gesetzt. 90 Prozent der Geburten bei jugendlichen Mäd- chen geschehen in einer Kinderehe.21 22 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
„Eine sehr schwierige Reise“ Sara war 14 Jahre alt, als sie gezwungen war, ohne ihre Familie vor dem Konflikt in Burundi zu fliehen. „Ich bin allein geflohen, da sich meine Familie nur den Transport für eine Person aus unserer Familie leisten konnten. Mein Vater und meine Mutter beschlossen, dass ich das sein würde“, sagt sie. „Es war eine sehr schwierige Reise“, sagt Sara. „Ein Teil von uns ging auf die Grenze von Ruanda zu, als wir auf eine Gruppe bewaffneter Männer trafen. Sie wähl- ten einige von uns aus und sagten, wir müssten ihnen Geld geben. Als wir ihnen klar machten, dass wir keines haben, nahmen sie uns mit in den Wald.“ © Mark Kaye / Save the Children Sara wurde vergewaltigt. Als Folge wurde sie schwan- ger. Es gelang ihr, ein Flüchtlingslager in Ruanda zu erreichen. Hier brachte sie später einen gesunden Jungen zur Welt. Save the Children half Sara im Rahmen eines Pro- gramms für besonders gefährdete Kinder in dem Camp. 23
Mädchen in Konfliktgebieten haben nur begrenzte Mög- Sexuelle Gewalt gegen Jungen lichkeiten, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden. Sexuelle und geschlechtsbedingte Verbrechen werden Außerdem ist der Zugang zu Schwangerschaftsvorsorge, aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung zu sel- Geburtshilfe und Notfallversorgung unzureichend. Nach ten gemeldet. Nach allgemeiner Auffassung melden Jun- wie vor sind Komplikationen während der Schwanger- gen und Männer sexuelle Gewaltverbrechen gegen sie schaft und der Geburt weltweit die Haupttodesursache verhältnismäßig seltener. Die Beschreibungen der Opfer für heranwachsende Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jah- verstärken die Botschaft, dass es bei sexueller Gewalt ren.22 Laut dem State of World Population Report 2019 nicht bloß um Sex geht, sondern um Macht, Erniedrigung des Bevölkerungsfonds der UN 2019 sterben täglich mehr und Zerstörung. Sie werden beispielsweise gezwungen, als 500 Frauen und Mädchen aufgrund des Mangels an sexuelle Gewalttaten an anderen Menschen mitanzuse- qualifizierten Geburtshelfern sowie Notfallgeburtshilfen hen oder diese selbst an anderen Personen zu begehen und infolge unsachgemäßer Schwangerschaftsabbrüche.23 – wie einem eigenen Familienmitglied oder einer Leiche. Einem kürzlich erschienenen Bericht des UN-Kinder- Weitere Erscheinungsformen sind Kastration, Sterilisati- hilfswerks UNICEF zufolge wurden weltweit 765 Millio- on, Schocks und Schläge im Genitalbereich, erzwungene nen Menschen bereits als Kinder verheiratet.24 Mädchen Masturbation bei sich selbst und anderen, Einführen von und Frauen sind dabei unverhältnismäßig stark betroffen: Gegenständen in die Harnröhre, orale und anale Verge- Jede fünfte Frau Anfang Zwanzig heiratete bereits, bevor waltigungen mit Gegenständen wie Gewehren, Stöcken sie 18 Jahre alt war; bei Männern ist es dagegen einer oder zerbrochenen Flaschen.27 Es wird auch über Fälle von 30. Schätzungsweise zwölf Millionen weitere Mäd- in Konfliktkontexten berichtet, in denen ältere Jungen chen werden jedes Jahr verheiratet.25 sexuelle Gewalt gegen jüngere Jungen ausüben.28 Neun der zehn Länder mit den höchsten Raten an Genau wie bei Mädchen können auch männliche Opfer Kinder-, Früh- und Zwangsehen werden als fragil durch sexuelle Gewaltverbrechen unter einer Vielzahl oder durch Konflikte beeinträchtigt klassifiziert. von Folgen leiden. Zu den körperlichen Folgen können Analrisse, Genitalverstümmelungen sowie Hoden-, Penis- Während einige Konsequenzen sexueller Gewalt aus- oder Rektalschmerzen zählen. Zu den psychischen Folgen schließlich Mädchen betreffen, wie z. B. Risiken, die mit gehören Scham, der Verlust des Selbstvertrauens, Schlaf- unsachgemäßen Abtreibungen einhergehen, können an- störungen, Gefühle von Machtlosigkeit, Verwirrung und dere auch Jungen widerfahren. Dazu gehören psycholo- Selbstmordgedanken.29 gische Traumata, Harn- und Anal-Inkontinenz, Libido- verlust und die Gefahr, sich mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken.26 Samira: Von ihrem Kind getrennt Samira ist ein 15-jähriges jesidisches Mädchen aus dem Irak und Mutter eines zweijährigen Kindes. Im Jahr 2016 wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in der Provinz Sinjar im Irak entführt. Sie wurde in Gefangenschaft gehalten und an mindestens drei Personen verkauft, die sie schlugen und sexuell missbrauchten, bevor sie zur Heirat mit einem IS-Kämpfer gezwungen wurde und ein Kind zur Welt brachte. Ihr Mann wurde bei einem Bombenangriff getötet. Daraufhin floh Samira mit ihrem Kind in das Lager Mabrouka im Nordosten Syriens. Save the Children unterstützte sie im Lager dabei, Zugang zu Gesundheits- und Bildungssystemen, psychosoziale Unterstützung und eine Beratung für Eltern zu erhalten. Die Behörden im Nordosten Syriens brachten sie aus dem Lager in ein jesidisches Heim. Sie wurde von ihrem Kind getrennt und kehrte nach Sinjar zurück. Das Kind bleibt in der Obhut der syrischen Behörden. Samira sagte: „Ich würde lieber in der Sklaverei bleiben und mein ganzes Leben in Lagern verbringen, anstatt meine Tochter zu verlassen. Ich wollte sie nicht verlassen und ohne Mutter aufwachsen lassen. Sie sollte kein Leben wie meines führen müssen. Ich wollte ihr die Rechte geben, die mir als Kind verwehrt wurden.“ 24 Krieg gegen Kinder • Ein Bericht von Save the Children
5. Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser 4.000 3.000 2.000 KEINE NACH GESCHLECHT AUFGESCHLÜSSELTEN 1.000 DATEN VERFÜGBAR 2005/6 2006/7 2007/8 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Abb. 10: Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser 2005–2018 Quelle: Bestätigte Fälle aus dem Jahresbericht des UN-Generalsekretärs zu Kindern und bewaffneten Konflikten. „Da wo ich herkommen, haben die Eltern Angst davor, ihre folgt begründet: Sie möchten beispielsweise Mädchen da- Kinder zur Schule zu schicken.“ vor warnen, die Schule zu besuchen, Lehrer und Eltern auffordern, Mädchenschulen zu schließen und sie versu- – Purity, Kinderrechtsaktivistin, Nigeria, 14 Jahre alt30 chen, die Bewegungsfreiheit von Lehrerinnen und Schüle- rinnen einzuschränken sowie eine strengere Kleiderord- nung durchzusetzen. 33 5 Im Jahr 2018 gab es in 18 Ländern 1.89231 bestätig- te Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser32 sowie Positiv zu vermerken ist, dass weltweit die gemeldeten deren Besetzungen für militärische Zwecke – das Vorfälle bezüglich der Nutzung von Schulen für militäri- ist ein Anstieg von 32 Prozent im Vergleich zu 2017. Da- sche Zwecke durch bewaffnete Konfliktparteien weiter ab- rüber hinaus verweist der Bericht auf gemeldete, aber nimmt – von 188 Schulen im Jahr 2017 auf 142 Schulen im nicht bestätigte Vorfälle in Pakistan (34) und Thailand (1). Jahr 2018 – was einer Abnahme von 25 Prozent entspricht. Im Jahresbericht 2019 des UN-Generalsekretärs über Da es sich bei den Angriffen auf Schulen und Kranken- Kinder und bewaffnete Konflikte wurden insgesamt 730 häuser um kollektive Verbrechen handelt, ist es schwie- Angriffe auf Schulen und ihr Personal und 887 Angriffe rig, eindeutige geschlechtsspezifische Schlussfolgerungen auf Krankenhäuser und das medizinische Personal bestä- zu ziehen. tigt. Außerdem wurden 142 Schulen und 17 Krankenhäu- Jedoch sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede ser für militärische Zwecke genutzt. in Konfliktgebieten hinsichtlich der Einschulung tendenzi- Angriffe auf Mädchenschulen zielen oft direkt auf ell größer als in anderen Ländern. 34 Außerdem brechen Mädchen ab, da sie sich außerhalb der restriktiven Ge- Mädchen in Konfliktgebieten insgesamt 2,5-mal häufiger schlechternormen und zu erwartenden Geschlechterrol- die Schule ab als Jungen. 35 len bewegen. In einigen Fällen haben gewalttätige extre- mistische Gruppen die Angriffe auf Mädchenschulen wie 25
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