Gespenstisch - Reformierte Stadtkirche
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Gespenstisch Barbara Frey bringt mit der Premiere am 10. Oktober ihre Inszenierung von Edgar Allan Poe von der Ruhrtriennale (im vergangenen August) ans Burgtheater Wien und nimmt dabei gleich die Atmosphäre der Zeche Zweckel des dortigen Aufführungsortes im Steinkohlenbergwerk in Gladbeck als Kulisse mit (Bühne Martin Zehetgruber). Unter dem Titel und der Rahmenhandlung „Der Untergang des Hauses Usher“ schnürt sie ein Bündel aus mehreren weiteren Erzählungen E.A.Poes zusammen – Berenice, Das Feeneiland, Die Grube und das Pendel und Der Mord in der Rue Morgue (Dramaturgie Andreas Karlaganis). Zwei „Vorlesestunden“ mit Atmosphäre. Diese wird in der düsteren Industrieruine von penetranten Hammer- schlägen gleichen schrillen Akkorden zweier Klaviere über eine viertel Stunde lang die Klaviatur sinnlos auf und ab schlagend erzeugt und nervt zunehmend das Publikum, das mürbegeklopft abdriftet und weg zu dämmern beginnt. Da schleicht sich das Grüppchen aus dem Nirgendwo heran - gespenstisch, ver- ängstigt - und rezitiert die Schauergeschichten des Meisters der Kurzgeschich- ten, die Krimi und Horror ineinander mengen. Kopfgeschichten, die sich frei von szenischer Darstellung bedrohlich im eigenen Hirn ausbreiten, angereichert von eigenen Ängsten und Erlebnissen. Austauschbare Gestalten, die einzeln und gekonnt chorisch die Texte vor sich herschieben. Die Beklemmung verkör- pernd, die E.A.Poe mit seinen zwischen Traum und Wirklichkeit chargierenden absurden Anekdoten als bösen Albdruck aufbaut. Deborah Korley, Markus Scheumann, Katharina Lorenz, Jan Bülow, Annamária Láng, Michael Maertens mit den Musikern Thomas Hojsa und Josh Sneesby im Hintergrund Suggestiv unterlegt mit Songs von Pink Floyd, The Doors, Timber Timb- re, The Young Gods und Frankie Valli und vermischt mit dem Singsang des Ruhrkohle-Chors im Hintergrund aus den Ritzen dringend, wird das Unheimli-
che geschürt. Die Sprachenvielfalt trägt das Ihrige zu der Verwirrung im Kopf bei. Ein Steckenpferd des Burgtheaterdirektors, die muttersprachliche Vielfalt des Ensembles mit auf die Bühne zu nehmen. Hier macht sie Sinn oder trägt zur beabsichtigten Sinnenverwirrung bei. Das Englische von Deborah Korley (alternierend mit Stacyian Jackson besetzt) gibt den Sound des Originals und der Stätten des bezeichneten Geschehens. Das Ungarische wohlklingend und wohl für die meisten nicht ohne den Blick auf die Übertitelung zu entschlüsseln. Dafür in einem reizvollen Duett zwischen Annamária Láng und Markus Scheumann. Erst sie in ihrer Muttersprache und er in der seinen. Dann beide gemeinsam sprechend ungarisch und abwechselnd deutsch bzw. gleich die Muttersprachen getauscht. Eine weitere Irritation, die den grotesken Traum durchzieht, und in mir die Bewunderung für die bi- und trilingualen Kinder stei- gert, die das selbstverständlich nehmen können. Die Vermengung der gemein- sam Rezitierenden wird dazu optisch surreal verstärkt durch das gemeinsame Gewand, in dem sie beide stecken und so der zweite Kopf aus dem Bauch her- vorlugt (Kostüme Esther Geremus). Katharina Lorenz, Jan Bülow Fotos © Matthias Horn Markus Scheumann, Annamária Láng Mit ironischen Anklang an den Ruhrpott liefern Katharina Lorenz und Jan Bülow ihr Duett in gepflegtem Rheinländisch ab und schaffen mit brüchi- ger Stimme extra Spannung. Michael Maertens darf und kann in seiner lako- nischen Erzählweise des Vorlesers und Schlafwandlers die Schauergeschichten konterkarieren und mit Kostümdetails des Affen illustrieren. Das könnte in der alternierenden Besetzung durch Bibiana Beglau wohl anders ausfallen. Eine andere Art der Einladung, den schaurig schönen Abend zwei Mal zu genießen. Denn wer sich auf das Kopfkino einlässt, erlebt einen ganz eigenen Theaterabend mit einem großartigen Ensemble. Die andere Aufführung gespenstischen Treibens im Burgtheater hatte bereits am 26. September Premiere und kommt alles andere als düster und schleppend daher. Simon Stone hat sich von Maxim Gorki inspirieren lassen mit seinen beiden Dramen „Kinder der Sonne“ und „Feinde“, deren Hintergrün-
de die Choleraaufstände und die russische Revolution vor und nach der Jahr- hundertwende sind. Unter dem Titel Komplizen inszeniert Simon Stone seine Texte, die er von Probe zu Probe über Nacht verfasst hat, als schrill buntes Treiben, das sich im Rausch des Deliriums oder Drogenflashbacks abspult (Dramaturgie Sebastian Huber). Der Eindruck eines psychedelischen Alb- traums wird noch dadurch verstärkt, dass die Texte mit Höchstgeschwindigkeit in den Raum geschleudert werden und nicht nur im Falle fremdsprachlichen Akzentes oder den Schreiduellen weniger in den Worten zu verstehen als in den Zuständen zu erfassen sind. Rainer Galke, Michael Maertens, Birgit Minichmayr, Mavie Hörbiger Zum Star der vierstündigen schauspielerischen Meisterleistung möchte man dennoch die Kulisse erklären. Bob Cousins hat die einzelnen Räume des isolierten Wohnsitzes auf die Drehbühne gestellt. Die in Glaswände gepackten und an die Behausung von Versuchstieren erinnernden Zimmer (Bad, Küche Wohnraum, Labor und der Garten dazwischen) werden fortlaufend in Position gefahren und halten die Insassen wie ihre gebetenen und ungebetenen Gäste auf Trab. Von der Außenwelt abgeschotteter „Lebensraum“ einer im Zerfall be- findlichen, abgehobenen Gesellschaft. Reich geerbt und längst vertan, völlig realitätsfern ihren üppigen Lebensstil weitergetrieben. Ein Tanz auf dem Vul- kan. In dem von Michael Maertens brillant verkörperten eigenbrötlerischen Forscher, der nicht nur den Nobelpreis verpasst, sondern auch das Familiener- be längst für sein Hobby aufgebraucht hat, scheint der Untergang des gesam- ten privilegierten Zirkels zu kulminieren. Ständig stark alkoholisiert, dank an- dauerndem großzügigen Nachschub, rudert er durch seine kleine Welt und die Beziehungen der Herrschaft und ihres aufmüpfigen Personals. Alle Versuche, zu versöhnen und sein ungestörtes friedliches Dahinleben zu sichern, scheitern kläglich an seiner Inkonsequenz und der Unfähigkeit, die Gefühle anderer
wahrzunehmen und sich seine eigenen einzugestehen. Die abrupte Einstellung seines Alkoholkonsums verhilft ihm allerdings auch nicht zu mehr Durchblick und Einfühlungsvermögen. Als zum Ende des ersten Teils der Mob der Straße in die „Idylle“ ein- bricht, wird der Abstieg zur persönli- chen Katastrophe der Schmarotzer mit Ausnahme der Emporkömmlinge und des Personals. Die syrische Putz- frau hat einen Studienplatz in der Me- dizin geschafft. Der bisherige Ge- schäftsführer des Familienbetriebes (Bardo Böhlefeld) betreibt unter ei- genem Körpereinsatz die Reglemen- tierung der Arbeiterschaft, was ihn erst auf die Intensivstation und dann in den Rollstuhl gebracht hat. Wäh- renddessen hat seine Frau (Stacyian Jackson) mit strategischer Raffinesse die Übernahme der Firma sowie von Haus und Hof vorangetrieben. Warum auch nicht, wenn ihre Angebote der Schuldentilgung ständig ausgeschla- gen wurden. Kurios und entlarvend stellt der Privatforscher seine Unter- suchungen an Schimmelpilzen auf den Bilderrahmen der Gemälde alter Meis- ter als Beitrag zur Sicherung des Kul- Peter Simonischek, Bardo Böhlefeld und turerbes für spätere Generationen Stacyian Jackson Fotos © Marcella Ruiz Cruz über das Angebot zum lukrativen En- gagement bei der aktuelle Pande- miebekämpfung. Die Spielzeit wird trotz der hohen Geschwindigkeit mühelos gefüllt. Die Beziehungen der Paare (Geschwister, Eheleute oder Verehrer und Therapeut) ergehen sich in fruchtlosem Geplänkel, das allerdings unversehens in die Selbstvernichtung stürzen oder ganz neue Objekte der Begierde offenbaren kann. Szenenapplaus für Birgit Minichmayr, die in einer Ehrlichkeitsanwand- lung sich in eine Selbstoffenbarungskaskade hineinsteigert. Bis zur Erschöp- fung füllt Mavie Hörbiger die Rolle der depressiven Schwester, die dem Wahnsinn verfällt, weil sie aus Unentschlossenheit den Heiratsantrag ihres bis- herigen Therapeuten ausgeschlagen und dieser sich daraufhin vor den Zug ge- worfen hat. Die Schlussworte gehören dem entmachteten Firmen-Patriarchen (Peter Simonischek): "Es ist aus. Es ist alles aus." Der Vorstellungsbeginn am späten Sonntagnachmittag ist geschickt ge- wählt. Das Publikum hatte zum Schluss der Vorstellung noch genug Kraft und Enthusiasmus zu anhaltendem stürmischen Applaus. Johannes Langhoff
Sie können auch lesen