Gesundheitsforschung mit Versicherungsdaten - Pflicht oder Kür? - Jusletter

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Thomas D. Szucs / Corina Bräm

Gesundheitsforschung mit
Versicherungsdaten
Pflicht oder Kür?

Big Data stellt das Gold des digitalen Zeitalters dar – dies gilt unbestritten
auch dann, wenn es um unsere Gesundheit geht. Medizinische Daten, welche
routinemässig von Krankenversicherungen gesammelt werden, sind zuneh-
mend von grosser Bedeutung für die Gesundheitsforschung. Wir legen dar,
inwiefern die Versorgungsforschung mit dem Datenschutz- und Humanfor-
schungsgesetz vereinbar ist und dass das Krankenversicherungsrecht zur Ge-
sundheitsforschung mit Versichertendaten auffordert.

Beitragsart: Beiträge
Rechtsgebiete: Gesundheitsrecht; Sozialversicherungsrecht; Datenschutz

Zitiervorschlag: Thomas D. Szucs / Corina Bräm, Gesundheitsforschung mit
Versicherungsdaten, in: Jusletter 27. Januar 2020

ISSN 1424-7410, jusletter.weblaw.ch, Weblaw AG, info@weblaw.ch, T +41 31 380 57 77
Thomas D. Szucs / Corina Bräm, Gesundheitsforschung mit Versicherungsdaten, in: Jusletter 27. Januar 2020

Inhaltsübersicht
1.      Krankenversicherungsdaten und Versorgungsforschung
        1.1. Real World Evidence
        1.2. Unterscheidung interner Qualitätssicherung und Forschung
        1.3. Beispiele aus der Versorgungsforschung
2.      Weiterverwendung von Krankenversicherungsdaten im Datenschutz- und Humanforschungs-
recht
        2.1. Weiterverwendung im Datenschutzgesetz
        2.2. Weiterverwendung im Humanforschungsgesetz
        2.3. Komplexität der Datenstrukturen
3.      Gesetzliche Rahmenbedingungen für die Forschung mit Krankenversicherungsdaten
4.      Konklusion

1.          Krankenversicherungsdaten und Versorgungsforschung
1.1.        Real World Evidence
[1] Jeden Tag verarbeitet die Krankenversicherung Helsana ca. 22’000 digitalisierte Rechnungen,
nimmt jährlich 3.5 Millionen Kundenanrufe entgegen und hat 810 Terabyte Daten gespeichert,
welche auf CDs gespeichert einen 11.6 km hohen Turm ergeben würden.1 Selbstverständlich be-
ziehen sich nicht alle diese Daten direkt auf die individuelle Gesundheit, nichtsdestotrotz haben
auch betriebswirtschaftliche Daten, wie zum Beispiel Kostenerhebungen, einen indirekten Kon-
nex zur Beurteilung der Gesundheit der schweizerischen Bevölkerung.
[2] Die Vorteile der Versicherungsdaten für die Gesundheitsforschung liegen darin, dass sie einen
langen Zeitraum widerspiegeln, grosse Kohorten abbilden, relativ kostengünstig (da prozesspro-
duziert) zu erheben sind und Behandlungsdaten aus allen Sektoren beinhalten. Limitierend ist zu
erwähnen, dass sie häufig nur Angaben zu OKP-Versicherten einer einzigen Kasse erhalten und
nur abrechnungsrelevante Daten abgebildet sind. Somit liegen aber keine richtigen Diagnoseda-
ten und auch keine direkten Angaben zur Lebensqualität vor.2
[3] Die Gesundheitsdaten bei Versicherern leisten hauptsächlich einen wichtigen Beitrag für die
Versorgungsforschung (engl. «Health Services Research»), welche untersucht, wie Menschen ei-
nen optimalen Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten, wie diese möglichst effizient ge-
staltet werden kann und welche Auswirkungen sie unter Alltagsbedingungen hat.3 Einen wich-
tigen Pfeiler bildet die Versorgungsforschung auch bei Bewertungen von Therapien, die erst pro-
visorisch zugelassen werden.
[4] Neben der Grundlagen-, translationalen und klinischen Forschung bildet sie die vierte Säule
der Gesundheitsforschung.4
[5] Es handelt sich bei den Daten von Krankenversicherern um «Real World Data», um Daten
aus dem Alltag, welche «Real World Evidence» generieren können, im Gegensatz zu Daten des

1    Aus dem Vortrag «Forschung mit Versicherungsdaten» von Prof. Dr. Thomas D. Szucs, am 15.10.2019 im Rahmen
     der öffentlichen Vorlesungsreihe «Biomedizinrecht im digitalen Umbruch» an der Universität Zürich, organisiert
     durch das Kompetenzzentrum Medizin-Ethik-Recht Helvetiae.
2    Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).
3    Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): Stärkung der Versorgungsforschung in der
     Schweiz, Swiss Academies Reports, Basel 2014, S. 5.
4    Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).

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«künstlichen» Behandlungssettings von klinischen Forschungsprojekten. Während gewisse Po-
pulationen, wie ältere Personen, Kinder, (schwangere) Frauen, eher aus klinischen Studien aus-
geschlossen werden, verwenden diese nichtsdestotrotz häufig die entsprechenden Medikamente
und andere Therapien, was durch Versicherer aufgezeichnet wird. Versicherungsdaten stellen
eine Art von sogenannten Routinedaten dar, welche per definitionem «routinemässig» im Be-
triebsalltag gewonnen werden; Routinedaten entstehen daneben aber auch in der medizinischen
Behandlung (Labordaten etc.).5

1.2.       Unterscheidung interner Qualitätssicherung und Forschung
[6] Zu unterscheiden sind Datenverarbeitungen, welche den internen Betriebsabläufen und der
Effizienzsteigerung von Krankenversicherungen dienen sollen, von Forschungsprojekten zum
verallgemeinerbaren Erkenntnisgewinn. Im ersten Fall sind das Datenschutz- (DSG) und Kran-
kenversicherungsgesetz (KVG) anwendbar, im zweiten Fall auch noch weitere Erlasse wie das
Humanforschungs- oder das Heilmittelgesetz. Die Grenzen dürften sich jedoch fliessend prä-
sentieren. Das KVG lässt sich auf beides anwenden, interessant ist dabei allerdings, dass wis-
senschaftliche Studien gem. Art. 32 KVG nur für die Evaluierung der Wirksamkeit von medizi-
nischen Leistungen vorausgesetzt werden, nicht aber für die Prüfung der Zweckmässigkeit und
Wirtschaftlichkeit. Die Versorgungsforschung kann hier eine wichtige Funktion übernehmen und
die relativ unbestimmten Rechtsbegriffe mit wissenschaftlichen Fakten füllen.
[7] Zunehmend werden Datenanalysen von Versicherern intern nicht nur zur Qualitätssicherung,
sondern auch zur Bekämpfung von Überfakturierung eingesetzt, wodurch unrechtmässige OKP-
Abrechnungen anhand grosser Datenmengen und Auswertungstools viel einfacher eruiert und
entsprechend sanktioniert werden.6

1.3.       Beispiele aus der Versorgungsforschung
[8] Wenn Patient*innen Medikamente bei mehreren Leistungserbringern beziehen und diese nicht
durch eine Fachperson, z.B. durch ein*e Hausärzt*in gesammelt und aufeinander abgestimmt
werden, resultieren nicht selten Polypharmazie, Überdosierungen oder Schädigungen aufgrund
von kontraindizierten Kombinationen. Gemäss Datenanalysen der Helsana sind es sogar 6.3 %
der Versicherten, welche kontraindizierte Kombinationen von Medikamenten einnehmen.7 Ana-
lysen mit Versicherungsdaten erlauben epidemiologische Erkenntnisse, wie zum Beispiel dass
zwei Drittel der Pflegeheimbevölkerung weiblich sind oder die Polypharmazie (5 verschiedene
Medikamente) der Pflegeheimbevölkerung leicht über 85% liegt.8 Während bis 2010 vor allem
das Marktforschungsunternehmen IMSHealth (heute: IQVIA) Daten über die Häufigkeit der Ver-
wendung von Medikamenten veröffentlichte, übernehmen diese Funktion heute auch Versicherer.
So verursachen die 15 umsatzstärksten Präparate (darunter viele Immunsuppressiva, aber auch

5   Sima Djalali, Routinedaten – das ungenutzte Potenzial in der Versorgungsforschung, in: Zurich Open Repository
    and Archive, Zürich 2017, S. 3.
6   Ivan Tomka, Data Science deckt Fälle von Überfakturierung auf, in Helsana Standpunkt 3–18, S. 8–9.
7   Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).
8   Rahel Schneider et alia: Helsana-Arzneimittelreport für die Schweiz 2017, Basel 2017, S. 107.

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einige Krebsmedikamente) Jahreskosten von 1.2 Milliarden Franken.9 Auch erlauben die Analy-
sen mit Versichertendaten den Vergleich zwischen Kosten von Patient*innen, die von Fachper-
sonen betreut werden, welche Medikamente in Selbstdispensation abgeben, zu solchen, welche
diese Medikamente in der Apotheke beziehen. Interessanterweise sind Gesamtausgaben für die
OKP-Leistungen – Medikamentenausgaben und ärztliche Leistungen – nicht signifikant verschie-
den.10
[9] Versorgungsforschung findet auch in Public-Private Partnerschaften statt. Ein Beispiel stellt
die SwissAF – eine nationale Beobachtungsstudie bei Patient*innen mit Vorhofflimmern (der häu-
figsten Herzrhythmusstörung) – dar. Finanziert wird die prospektive Kohortenstudie durch den
Schweizerischen Nationalfonds, wobei geplant ist, 2’600 Patient*innen einzuschliessen. Mit die-
ser Datensammlung soll der Zusammenhang zwischen Vorhofflimmern und der Leistungsfähig-
keit des Gehirns sowie die Kosten-Effektivität der Behandlungen untersucht werden können.11
Die Kostendaten für die eingeschlossenen Patient*innen steuern die Krankenversicherer der Cu-
rafutura bei.12
[10] In Zukunft werden die Routinedaten der Krankenversicherer auch einen wichtigen Beitrag
zum Diskurs um gerechte Preise für personalisierte, teure (Krebs-)Medikamente beisteuern. Da-
bei sehen wir besondere Herausforderungen für die Voraussetzung der Anonymisierung.

2.         Weiterverwendung von Krankenversicherungsdaten im Datenschutz-
           und Humanforschungsrecht
2.1.       Weiterverwendung im Datenschutzgesetz
[11] Der Geltungsbereich des Datenschutzgesetzes erstreckt sich auf das Bearbeiten von Daten
von natürlichen und juristischen Personen durch private Personen und Bundesorgane. Kranken-
versicherungen sind den Bundesorganen zuzuordnen, weil sie bei der Durchführung des KVG
öffentliche Aufgaben übernehmen.13
[12] Daten von Krankenversicherungen sind in den meisten Fällen als besonders schützenswerte
Personendaten i.S.v. Art. 3 lit. c Ziff. 3 DSG zu qualifizieren. Es werden Informationen erfasst,
«welche Rückschlüsse über den körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand einer Person
erlauben», auch z.B. Patientenrechnungen fallen darunter.14 Krankenversicherungsdaten einer
einzelnen Person können – vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum erfasst werden – in
der Zusammenstellung eine Beurteilung wesentlicher Aspekte der Persönlichkeit erlauben und
somit ein Persönlichkeitsprofil i.S.v. Art. 3 lit. d DSG darstellen.15 Die Rechtsfolgen letzterer Sub-

9    Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).
10   Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).
11   http://www.swissaf.ch/index_de_.htm (zuletzt besucht am 1. November 2019).
12   Aus dem Vortrag von Prof. Dr. Thomas D. Szucs am 15.10.2019 (Fn. 1).
13   Urs Mauerer-Lambrou/Simon Kunz, in: Urs Maurer-Lambrou/Gabor P. Blechta (Hrsg.), Datenschutzgesetz, Öf-
     fentlichkeitsgesetz, Basler Kommentar, 3. Auflage, Basel 2014 (zit. BS-Komm. DSG/Bearbeiter/in, Art., Rz.),
     Art. 2, Rz. 15; Urteil Versicherungsgericht K 34/01 vom 9. Oktober 2001, E. 5a.
14   BS-Komm. DSG/Mauerer-Lambrou/Kunz, Art. 3, Rz. 34 (Fn. 13).
15   BS-Komm. DSG/Mauerer-Lambrou/Kunz, Art. 3, Rz. 62 und 68 (Fn. 13); vgl. Yvonne Prieur, Datenschutz im
     Sozialversicherungswesen, in: Datenschutzrecht, Beraten in Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung (Hrsg.:
     Nicolas Passadelis, David Rosenthal, Hanspeter Thür), Zürich 2015, S. 452, Rz. 13.73.

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sumierung sind die gleichen wie für besonders schützenswerte Personendaten16 , nämlich unter
anderen besondere Informationspflichten beim Beschaffen (Art. 14 DSG) und die Erfordernis der
gesetzlichen Grundlage im formellen Sinn für die Bearbeitung (Art. 17 Abs. 2 DSG). Als Aus-
nahmebestimmung ist es auch ausreichend, wenn die Bearbeitung für eine in einem Gesetz im
formellen Sinn klar umschriebene Aufgabe notwendig ist (Art. 17 Abs. 2 lit. a DSG). Diese for-
mell gesetzliche Grundlage für die Bearbeitung der Versicherungsdaten lässt sich in Art. 84 KVG
finden, da Krankenversicherer diese benötigen, um für die Einhaltung der Versicherungspflicht
zu sorgen, Prämien zu berechnen, Leistungen mit anderen Sozialversicherungen zu koordinieren
etc. (Art. 84 KVG).
[13] In Art. 84 KVG werden aber keine Forschungszwecke erwähnt. Die Spezialbestimmung in
Art. 22 DSG erlaubt jedoch das Bearbeiten von Personendaten durch Bundesorgane zu nicht per-
sonenbezogenen Zwecken, sofern die Daten anonymisiert werden (Art. 22 lit. a DSG). Zusätzlich
ist in Art. 22 Abs. 1 lit. b und c DSG vorgesehen, dass die Daten weitergegeben und veröffentlicht
werden können. In der Konsequenz bedeutet dies, wie in Art. 22 Abs. 2 DSG erwähnt, dass bei
der Bearbeitung zu nicht personenbezogenen Zwecken der Zweckbindungsgrundsatz gem. Art. 4
Abs. 3 DSG unterbrochen wird, Datensätze also zu beliebigen Forschungsprojekten herangezogen
werden können.17 Ausserdem können auch besonders schützenswerte Personendaten zu nicht
personenbezogenen Zwecken ohne qualifizierte Rechtsgrundlage bearbeitet und weitergegeben
werden, sofern sie anonymisiert werden (Art. 22 Abs. 1 lit. a DSG).18 Der technische Vorgang der
Anonymisierung selbst, welcher auch eine Datenbearbeitung darstellt, so dass die Grundsätze
des DSG darauf anwendbar sind,19 dürfte dadurch auch gerechtfertigt sein. Schlussendlich an-
onymisierte Daten fallen nicht mehr unter den Geltungsbereich des Datenschutzgesetzes, da sie
keine Personendaten mehr darstellen.

2.2.       Weiterverwendung im Humanforschungsgesetz
[14] Die Weiterverwendung von gesundheitsbezogenen Personendaten für die Forschung wird in
Art. 32 ff. HFG geregelt, jedoch nur für biologisches Material, genetische oder nichtgenetische ge-
sundheitsbezogene Daten, welche verschlüsselt oder unverschlüsselt sind, nicht aber für anonym
erhobene oder anonymisierte Daten. Beide Letzteren sind explizit vom Geltungsbereich des HFG
ausgenommen (Art. 2 Abs. 2 lit. c HFG). Mit Bezugnahme auf die Kompetenznorm in Art. 118b
BV lässt sich daher schliessen, dass nichtgenetische gesundheitsbezogene Daten, welche weniger
in den Schutzbereich der Würde und der Persönlichkeit der Betroffenen eingreifen, auch dann zu
Forschungszwecken weiterverwendet werden dürfen, wenn die Versicherten nicht eingewilligt
bzw. widersprochen haben.20

16   BS-Komm. DSG/Mauerer-Lambrou/Kunz, Art. 3, Rz. 70 (Fn. 13).
17   Bruno Baeriswyl, in: Bruno Baeriswyl, Kurt Pärli (Hrsg.), Datenschutzgesetz, Stämpflis Handkommentar, Bern
     2015 (zit. DSG-Komm./Bearbeiter/in Art., Rz.), Art. 22, Rz. 32.
18   DSG-Komm./Baeriswyl Art. 22, Rz. 30 (Fn. 17).
19   Bruno Baeriswyl, Big Data zwischen Anonymisierung und Re-Individualisierung, in: Publikationen aus dem
     Zentrum für Informations- und Kommunikationsrecht der Universität Zürich (Hrsg.: Rolf H. Weber/Florent
     Thouvenin), Zürich 2014, S. 50; Franziska Sprecher: Datenschutz und Big Data im Allgemeinen und im Gesund-
     heitsrecht im Besonderen, in: ZBJV 154, 2018, S. 533.
20   Melanie Rudin, in: Bernhard Rütsche (Hrsg.), Humanforschungsgesetz, Stämpflis Handkommentar, Bern 2015
     (zit. HFG-Komm./Bearbeiter/in Art., Rz.), Art. 33, Rz. 18.

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2.3.       Komplexität der Datenstrukturen
[15] Wie gerade eben festgehalten, dürfen anonymisierte Gesundheitsdaten ohne Einwilligung
für die Forschung weiterverwendet werden, so dass sich unweigerlich die Frage stellt, ob und in-
wiefern eine Anonymisierung solcher Daten möglich ist. Von Anonymisierung wird gesprochen,
wenn die Re-Identifikation nicht oder nur mit einem unverhältnismässigen Aufwand möglich
ist (Art. 25 HFV).21 Die gesetzlichen Vorgaben dazu sind in der Schweiz relativ marginal gehal-
ten. So werden in Art. 25 Abs. 2 HFV als zu löschende oder unkenntlich zu machende Identi-
fikationsmerkmale nur Name, Adresse, Geburtsdatum und Identifikationsnummern (z.B. AHV-
Nummer) genannt. Einerseits sind für die Identifikation viel weniger Informationen notwendig,
als angenommen werden dürfte; so zeigte Sweeney schon 2000, dass 87 % der amerikanischen
Bevölkerung aufgrund der Identifikatoren Postleitzahl, Geschlecht und Geburtsdatum eindeutig
bestimmt werden können.22 Andererseits lassen sich vor allem im Rahmen von Big Data durch
Verknüpfung von Attributen mit anderen Datenträgern Rückschlüsse ziehen, so dass in den USA
im Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPAA) besondere technische Vorgaben
wie die «Safe-Harbor-Methode» und «Statistical Method» festgelegt sind.23 Ein Konzept um den
Grad des Schutzes der sensiblen Daten zu messen ist zum Beispiel die k-Anonymität, welche zum
Ausdruck bringt wie viele k-Individuen aus der Grundmenge die gleichen Quasi-Identifikatoren
(mit gleicher Wahrscheinlichkeit) besitzen.24 Regulatorische Anforderungen für solche Konzepte
wären auch in der Schweiz zu begrüssen.
[16] In der Genetik stellen sich Datenschutzproblematiken nicht nur deshalb in besonderem Mas-
se, weil sie fast uneingeschränkt (bis auf eineiige Zwillinge) für ein Individuum identifizierend,
prognostisch und prädiktiv sind, sondern auch weil sie Auskunft über unsere biologischen Vor-
gängerinnen und Vorgänger geben. So manifestieren sich z.B. X-chromosomal-rezessiv vererbte
Krankheiten fast nur bei Männern, die Mütter können jedoch Trägerinnen sein. Ist der Sohn rot-
grün-farbenblind, lässt sich daraus schliessen, dass die Mutter Trägerin – oder selten: erkrankt –
und der Grossvater mütterlicherseits zu ca. 50 % auch rot-grün-farbenblind ist.25 Solche Ver-
netzungen, verknüpft mit Big-Data-Analytics, und noch verstärkt durch die Intransparenz von
selbstlernenden Algorithmen stellen eine grosse Herausforderung für das Datenschutzrecht dar.
Umso schwieriger dürfte die Anonymisierung von Gesundheitsdaten von Personen sein, die an
einer sehr seltenen Krankheit leiden.

3.         Gesetzliche Rahmenbedingungen für die Forschung mit Krankenver-
           sicherungsdaten
[17] Der grosse gesetzliche Rahmen für Versorgungsforschung ist in der Bundesverfassung in
Art. 64 und im Bundesgesetz über die Förderung der Forschung und der Innovation (FIFG) zu

21   HFG-Komm./Rudin, Art. 33 Rz. 6 (Fn. 20).
22   Latanaya Sweeney, Simple Demographics Often Identify People Uniquely, Carnegie Mellon University, Data Priva-
     cy Working Paper 3, Pittsburgh 2000, S. 2.
23   Matthias Stürzer/Karjoth Günter, Werden Patientendaten anonymisiert?, in: digma 2017, S.176–177.
24   Karjoth Günter, Sind anonymisierte Daten anonym genug? Von den (begrenzten) technischen Möglichkeiten,
     persönliche Daten in eine perfekte anonyme Form zu wandeln, in: digma 2008, S. 20.
25   Dazu medizinisches Wörterbuch Pschyrembel, https://www.pschyrembel.de/X-chromosomaler%20Erbgang/
     K074R/doc/ (zuletzt besucht am 10. Dezember 2019).

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finden. Auch die Schweizer Akademien der Medizinischen Wissenschaften haben Empfehlungen
zur Versorgungsforschung erarbeitet. Es wird dabei betont, dass die vorhandenen Infrastrukturen
stärker vernetzt und die vorliegenden Daten besser koordiniert werden müssen.26 Versicherer sol-
len untereinander Pakts (mit Vetorecht-bzw. Opt-out-Optionen) abschliessen, um Gesundheits-
daten für wissenschaftliche Studien zur Verfügung zu stellen und Universitäten sollen Public-
Private-Partnerschaften eingehen, um Langzeitbevölkerungsstudien besser finanzieren zu kön-
nen.27 Zur Förderung der Versorgungsforschung tragen auch die 29 Projekte des Nationalen For-
schungsprogrammes NFP 74 bei, welche nach einer wirksamen und kosteneffizienten Gesund-
heitsversorgung – vor allem mit Rücksichtnahme auf chronisch kranke Menschen – suchen.28
[18] Aus dem FIFG oder der KVG lassen sich zwar keine Pflichten für die Versorgungsforschung
herauslesen, jedoch sehr wohl Handlungsspielräume. So wird nach Art. 54 Abs. 3 Bst. d KVAG
mit Busse bis zu 100’000 CHF bestraft, wer die Vorschriften über die Leistungsvergütung nach
Art. 34 Abs. 1 KVG verletzt. Letztere sieht vor, dass nur Leistungen im Rahmen von Art. 25–
33 KVG rückvergütet werden dürfen. Welche Leistungen aber wiederum diesen Kriterien (vor
allem von Art. 32 KVG: Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit) entsprechen, sollte
anhand wissenschaftlicher Untersuchungen beantwortet werden. Das Wirtschaftlichkeitsgebot
findet sich auch in Art. 56 Abs. 1 KVG, «Behandlungen auf ein Mass beschränken, das im Interes-
se der Versicherten liegt», und in Art. 43 Abs. 6 KVG, «qualitativ hochstehende und zweckmässige
gesundheitliche Versorgung zu möglichst günstigen Kosten», welche insofern beide zur Versor-
gungsforschung auffordern. Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist bei Pflegeleistungen in Art. 25a
Abs. 4 KVG zu sehen. Der gesetzlichen Forderung einer effizienten und preiswerten Ausgestal-
tung, die trotzdem die erforderlichen Qualitätskriterien erfüllt, kann nur entsprochen werden,
wenn Leistungen datenbasiert analysiert werden und schlussendlich auch politisch diskutiert
wird, was eine Solidargemeinschaft bezahlen muss und kann.29
[19] Schlussendlich ist in Art. 32 KVV deutlich festgehalten, dass das BAG auch in Zusammenar-
beit mit Versicherern wissenschaftliche Untersuchungen über die Durchführung und Wirkungen
des KVGs durchführt.

4.         Konklusion
[20] Die Versorgungsforschung ist als conditio sine qua non für die Gesundheitsforschung in der
Schweiz zu betrachten, es sind faktenbasierte Untersuchungen notwendig, um politische Ent-
scheide treffen und dem generellen Kostenwachstum begegnen zu können. In Anbetracht der
steigenden Kosten im Gesundheitsbereich wäre es wünschenswert, wenn nicht nur die Wirksam-
keit, sondern auch die Wirtschaftlichkeit (und Zweckmässigkeit) von Therapien mit fundierten
wissenschaftlichen Kenntnissen zu belegen wären. Die Versorgungsforschung und damit auch
eine erhöhte Transparenz über die Ausgabe der Versicherungsgelder dürften neben einem ange-
messenen Datenschutz im Sinne der Solidargemeinschaft sein. Sowohl das Datenschutz- als auch

26   SAMW: S. 49 ff. (Fn. 3).
27   SAMW: S. 49 ff. (Fn. 3).
28   http://www.nfp74.ch/de/projekte/alle-projekte (zuletzt besucht am 10. Dezember 2019).
29   Vgl. Anette Jamieson/Andri Signorell, Endlich ist eine datenbasierte Diskussion möglich, in Helsana Stand-
     punkt, 2-2018, S. 3–5.

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das Humanforschungsgesetz erlauben die Weiterverwendung von anonymisierten Krankenver-
sicherungsdaten zu Forschungszwecken, auch ohne Einwilligung. Diese Einschränkung der Pri-
vatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung kann nur durch möglichst weitreichen-
de technische Anforderungen an die Anonymisierung gerechtfertigt sein. Abschliessend ist auf
die im Untertitel gestellte Frage zu antworten, dass es keine direkte und einklagbare gesetzli-
che Pflicht zur Gesundheitsforschung mit Krankenversicherungsdaten gibt, jedoch lassen sich in
verschiedenen Artikeln der Krankenversicherungsgesetzgebung Handlungsaufforderungen her-
auslesen.

Dr. med. Corina Bräm, Doktorandin PhD BmEL Universität Zürich, Assistenzärztin.

Prof. Dr. med. Thomas Szucs, MPH, MBA, LLM, Professor für Pharmazeutische Medizin Univer-
sität Basel, Verwaltungsratspräsident der Helsana Gruppe.

Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag von Prof. Dr. T. Szucs am 15.10.2019 im Rahmen der
öffentlichen Vorlesungsreihe «Biomedizinrecht im digitalen Umbruch» an der Universität Zürich,
organisiert durch das Kompetenzzentrum Medizin-Ethik-Recht Helvetiae.

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