Grundkonzepte des Hinduismus - Bausteine der Weltkultur

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Grundkonzepte des Hinduismus - Bausteine der Weltkultur
Bausteine der Weltkultur

Christoph Mertl

Grundkonzepte des Hinduismus

  Hinduismus ist nicht dogmatisch, sondern beruht auf zahllosen heiligen, theologischen,
philosophischen und wissenschaftlichen Schriften, die einander auch widersprechen
dürfen. Er verkörpert keine fertige Lehre, sondern entwickelt sich laufend weiter.
   Der Glaube der Hindus kennt zugleich polytheistische, atheistische und monotheisti-
sche Aspekte. Meistverehrte Götter sind Shiva und Vishnu, oft auch als „Gott“ verstanden.
   Der Glaube ist mit dem Gesellschaftskonzept des Kastenwesens verbunden.
   Das hinduistische Denken wird vom Samsara-Prinzip geleitet – d.h. der Vorstellung
eines Kreislaufs von Werden, Vergehen und neuem Werden aller Dinge.
   Dem Samsara entsprechend, wandert auch die Seele nach dem Tod, ehe sie sich in einer
neuen irdischen Existenz wiederfindet – je nach der früheren Lebensbilanz (Karma): gute
Menschen werden in ein besseres nächstes Leben wiedergeboren.
   Als Erlösung (Moksha) aus dem Samsara gibt es zwei Möglichkeiten: Erlangung der letz-
ten Erkenntnis oder völlige Hingabe an das Göttliche. Beides verlangt Askese und
Meditation. Die ultimative Erkenntis lautet: ich finde den Kosmos in mir. Es genügt aber
nicht, diese Erkenntnis aufzusagen; sie muss verinnerlicht sein.

Die Ziffern verweisen auf die einzelnen Abschnitte, in welchen die genannten Punkte erläutert
werden. Am Ende finden sich weitere Informationen über den gelebten Kultus.

    Die Quellen des Hinduismus                    religiöser Schriften seine Sicht der Wahrheit
                                                  auswählen – oder, sofern sie sich in die
Der Hinduismus unterscheidet sich grund-          hinduistische Geistesgeschichte einordnen
legend von den Judentum, Christentum, Islam       lassen, selbst seine eigene hinzufügen.
und vielen anderen Religionen: denn er kennt      Hinduismus ist spirituelles „work in
weder ein Dogma, noch werden die Inhalte          progress“.
des Hinduismus als endgültige Wahrheiten
verstanden. Der Hinduismus befindet sich in       Die hinduistischen Ansätze sind so vielfältig,
ständiger Weiterentwicklung, und er beruft        dass viele einander grob widersprechen – es
sich nicht auf ein grundlegendes Werk wie         gibt polytheistische, monotheistische und
Bibel oder Koran. Sondern jeder Hindu kann        sogar atheistische Denkrichtungen. Diese
aus einer schier unerschöpflichen Bibliothek      große Vielfalt führt zu der Frage, ob man
Grundkonzepte des Hinduismus - Bausteine der Weltkultur
überhaupt von „dem“ Hinduismus sprechen            Schichten, der religiösen Entwicklung ausge-
kann, oder ob es sich nicht eigentlich um          macht werden.
einen immensen Komplex mehr oder weniger
                                                   I. Die vedische Religion: der alte Polytheis-
verwandter Religionen, Philosophien und
Wissenschaften handelt. Aber diese Frage ist       mus der indoeuropäische n ImmigrantInnen
typisch europäisch und für den Hindu müßig         und seine Weiterentwicklung in den Brahma-
– denn Hinduismus ist nicht dogmatisch.            nas. Hauptgott ist Indra, der dem griechi-
                                                   schen Zeus oder römischen Jupiter sehr ähn-
Es liegt im Wesen des Glaubens, auch andere        lich ist. Andere noch bekannte Gottheiten
Sichtweisen anzuerkennen: schließlich ist die      sind z.B. der Sonnengott Surya und der
Welt, die wir sehen, ohnehin nur Schein            Liebesgott Kama (Kama-Sutra = Abhand-
(Maya), und deshalb sind auch die Erkenntnis-      lungen über die Liebe).
wege, die von der Scheinwelt zur Wahrheit
führen, vielfältig. Aus diesem Grund erkennt       Obwohl es nach wie vor existiert und vedische
der Hinduismus auch andere Religionen als          Formeln Teile vieler Zeremonien sind, spielt
gleichwertig an und respektiert sie, solange       dieses Pantheon im gelebten Hinduismus
sie selbst auch die hinduistische(n) Glaubens-     kaum mehr eine Rolle; es ist schon im Alter-
welt(en) bekämpfen.                                tum von anderen Gottesvorstellungen überla-
                                                   gert worden. –
Die wichtigsten Gruppen sind:
1. Die Veden: vier Sammlungen von Hymnen           II. Der Brahmanismus: die antike Wendung
und Opfertexten an die ursprünglichen Götter       zum religiösen Atheismus. Der Hinduismus
(vor 1250 v.u.Z.)                                  nimmt seit den Upanishaden starke philoso-
2. Die Brahmanas: vedische Kommentare und          phisch-spekulative Züge an (übrigens zeit-
Interpretationen (ab ca. 1000 v.u.Z.)              gleich mit ähnlichen Entwicklungen in Grie-
3. Die Upanishaden: theologische und philo-        chenland, Iran und China: sogenannte „Ach-
sophische Neuentwicklungen, die sich von           senzeit“). Zwar werden die Götter nicht abge-
den vedischen Grundlagen abheben                   schafft, aber sie werden zu Lebewesen redu-
(ab ca. 800 v.u.Z.)                                ziert, die so vergänglich sind wie alle anderen
                                                   auch. Das Samsara-Prinzip wird jetzt nämlich
4. Die Smritis, einflussreiche Epen, v.a. das
                                                   auf ganze Weltzyklen übertragen. Das Uni-
Nationalepos Mahabharata und Ramayana
                                                   versum als Ganzes wird als rhythmisch
(um 500 v .Chr.)*, und andere heilige Schriften
                                                   entstehend und vergehend gedacht; jeder
5. Die Puranas (geschrieben ca. 400-1000)
                                                   Zyklus dauert Millionen Jahre und hat seine
zielen auf die Verehrung einzelner Gottheiten
                                                   eigene Götterwelt, die mit ihm vergeht.
ab; im Mittelpunkt steht die Trinität (Trimurti)
von Brahma, Vishnu und Shiva.
                                                   Eine wichtigere Rolle als die Götter spielen im
6. Die Tantras (v.a. um 800-1200): unorthodo-
                                                   Brahmanismus die unvergänglichen Schöp-
xe Interpretationen und Rituale, ursprünglich
                                                   fungsprinzipien. Die Wichtigsten sind Brahma
als Geheimlehren verfasst
                                                   und Atman. Brahma steht für das Absolute,
7. Schriften des Neohinduismus (19./20. Jh.),
                                                   das unerklärbare Prinzip und Wesen des Uni-
bereits unter dem Einfluss der Moderne.
                                                   versums. Atman ist die geistige Grundsubs-
                                                   tanz des eigenen Selbst; so, also geistig,
Wesentlich ist, dass diese heiligen und philo-
                                                   definiert der Brahmanismus das Wesen des
sophischen Schriften einander nicht ablösen,
                                                   Ich. Die brahmanistische Philosophie geht
sondern nebeneinander bestehen. –
                                                   aber noch darüber hinaus: sie verbindet das
                                                   Ich mit dem Kosmos, indem sie die Substanz
     Gott und Götter im Hinduismus
                                                   des Brahma und des Atman gleichsetzt. Der
Anhand ihrer Gottesvorstellungen, können           entscheidende Satz ist „aham brahma asmi“
drei zusammenwirkende Phasen, oder besser          – ich bin das Absolute, d.h. alles außen Existie-
rende finde ich auch in mir. Dieser einheitliche    Schein, sondern als existente „All-Einheit“. Die
Kosmos gestaltet sich selbst, d.h. es gibt keine    Vielfalt hingegen sei Illusion. Der Mensch
lenkende Gottheit, die über ihm steht: die          könne seine Befreiung finden, indem er sich
Götter sind vielmehr seine Produkte.                von sinnlicher Lust emanzipiere, um durch
                                                    Askese sein eigenes Atman zu enthüllen – und
                       Mit der Silbe aum (ausge-    damit das Brahma zu finden.
                      sprochen „om“) beginnen
                    die brahmanistischen Texte.     Shankaras Motiv des „All-Einen“, wahrschein-
                    Sie steht für das Brahma. Ihr   lich auch die zu dieser Zeit intensiveren
                    Schriftzeichen und ist heute    Auseinandersetzungen mit Christentum und
                        Symbol des Hinduismus.      Islam, nährten die Vorstellung eines oberen
                                                    bzw. eigentlichen Gottes, Ishvara.
Aber selbst diese sehr abstakten Prinzipien
sind nicht unantastbar. Über allen Vorstel-         Dies führte aber keinesfalls zu einer Verein-
lungen steht die Ahnung, dass die Welt gar          heitlichung des Hinduismus - im Gegenteil:
nicht objektiv fassbar sei – denn die Welt          gerade im „Mittelalter“ blühte der Tantrismus
existiere gar nicht wirklich, sondern nur in        (Sektenwesen, teilweise mit stark sozialrevolu-
unserer Vorstellung. Sie ist Maya – Schein.         tionären und libertären Zügen), hier beson-
Deshalb sind auch die Erkenntniswege, die           ders der Shaktismus (Glaubensrichtungen,
von der Scheinwelt zur Wahrheit führen              die von Vorstellungen einer weltgestaltenden
wollen, vielfältig. So können die teilweise         weiblichen Urkraft ausgehen – und auch
fundamentalen Widersprüche der hinduis-             feministisch verfasst sind). Neben diesem sehr
tischen Geisteswelt nebeneinander akzeptiert        bunten Mosaik an hinduistischen Glaubens-
werden (ein Beispiel: Maya ist auch der Name        richtungen etabliert sich eine Dreiheit
der Schöpfungsgöttin, zugleich Göttin der           (Trimurti) nichtvedischer Götter als Haupt-
Illusion, und Maya ist auch die Kreativität, die    götter, die heute sehr bestimmend ist:
hinter jedem Schöpfungsprozess steht.)
Aus demselben Grund erkennt der Hinduis-                    Brahma, der Schöpfer
mus auch andere Religionen als gleichwertig                 Vishnu, der Erhalter
an, genauer gesagt: ist in der Lage, jede                   Shiva, der Veränderer
Religion in sein System zu integrieren.
                                                    Interessant ist, womit diese drei in Gottheiten
Ungeachtet dessen führte die Entwicklung            ausgedrückten Prinzipien verbunden werden:
des Brahmanismus zur Abspaltung zweier              Brahmas Gattin ist Sarasvati, die Göttin der
anderer Religionen, die auf brahmanistischen        Weisheit; Vishnus Gattin ist die heute vielfach
Grundlagen beruhen, sich vom Hinduismus             verehrte Lakshmi, Göttin des materiellen
aber dezidiert abgrenzen: diese sind der            Glücks; und die Gattin des energischen
Buddhismus und der Jainismus. –                     „Weltentänzers“ Shiva ist Parvati, die als
                                                    Göttin Durga auch im Shaktismus dominant
III. Der eigentliche Hinduismus: zur Zeit des       ist, und als Kali eine weibliche Urgottheit
europäischen Mittelalters begannen sich im          verkörpert.
Hinduismus monotheistische Voirstellungen
zu etablieren. Für Viele beginnt diese Schicht      Um Brahma hat sich kein besonderer Kult
schon mit den Puranas, für andere erst mit          gebildet, er ist rein theologisch von Bedeu-
dem südindischen Philosophen Shankara               tung; Vishnuiten (Vaishnavas) und Shivaiten
(um 788-820). Shankara schuf ein weithin            (Shaivas) hingegen waren lange die führen-
akzeptiertes System , um wichtige                   den Schulen des Hinduismus. Dabei wird der
brahmanistische Texte einzuordnen, und              jeweils verehrte Gott mit Ishwara gleich-
interpretierte Maya neu – nämlich nicht als         gesetzt.
Swastika = Hakenkreuz, das in Indien immer
Im Kreise Shivas außerordentlich beliebt ist     noch sehr präsent ist, v.a. als Symbol Krishnas).
sein Sohn Ganesha, das ganze Gegenteil
seiner umtriebigen Eltern: beleibt, von          2. Die brahmanistische Philosophie bildete
gemütlichem Wesen und mit einem                  sich mit dem Aufstieg der Städte, der damit
Elefantenkopf ist er der Gott des körperlichen   verbundenen Spezialisierung und in weiterer
Wohlergehens, der schönen Künste und der         Folge den Großreichen Nordindiens. Sie hielt
glücklichen Wendungen im Leben.                  jedoch an der indoeuropäischen Sprache der
                                                 Arier, Sanskrit, von dem sich die heutigen
In die Schule Vishnus wiederum sind einige       Sprachen Nordindiens ableiten, fest. Mit der
Helden eingebaut, die als Avatare Vishnus        Verbreitung des Brahmanismus verbreitete
gelten. Mit „Avatar“ ist die Erscheinungsform    sich auch das Sanskrit in den nichtarischen
gemeint, in welcher Vishnu zehnmal auf die       Süden, der allerdings eigene hinduistische
Erde hinabgestiegen ist. Zu den Avataren         Traditionen ausbildete.
gehört der vor allem in Südostasien sehr
verehrte Rama, Held des brahmanistischen         3. Der eigentliche Hinduismus bricht durch,
Smriti Ramayana; der sehr patriarchalisch        sobald Eurasien sich durch intensivierten
geführte Stoff handelt davon, wie die ihm        Handel und geistigen Austausch vernetzt.
angetraute Sita von einem Dämonengott            Auch ein Faktor ist die Ankunft des Islam
nach Sri Lanka entführt und schließlich von      (etwa 1200-1800 wird Nordindien politisch
Rama befreit wird. Ein anderer Avatar ist        von islamischen Herrschern dominiert), die
Krishna, um den sich eine eigene, sehr be-       selbst ein Produkt dieser eurasischen
kannte Schule gebildet hat. Die Krishna-Ge-      Vernetzung darstellt.
schichte ist in der Bhagavadgita festgehalten,
die aus dem 4.Jh. stammt und nachträglich in          Die Kastenordnung
die Mahabharata eingefügt worden ist.
                                                 Ein Aspekt der alten vedischen Tradition ist in
Es verhält sich allerdings keineswegs so, dass   Indien immer noch außerordentlich relevant:
die Hindus mehrheitlich zwischen einer           das Kastenwesen.
Vishnu- und einer Shiva-Religion gespalten
wären: sehr breit ist heute die Auffassung,      Eine Kaste (Jati) ist ein meist berufsbezogener
beide wären – ebenso wie auch andere Götter      Stand, in den man hineingeboren wird, der
– Aspekte oder Manifestationen Ishvaras, des     über eigenen Sitten, Traditionen, Tabus und
einen Gottes. Die etwa vier Millionen Göt-       oft auch Gottheiten verfügt, und innerhalb
tinnen und Götter des Hinduismus sind also       dessen man zu heiraten hat. Das indische
letztlich „Gott“, der nach mehrheitlicher        Kastenwesen umfasst etwa 4000 verschie-
Vorstellung ewig ist. –                          dene, vorwiegend beruflich orientierte Stän-
                                                 de, die in 4 Varnas („Farben“) gruppiert sind:
Die drei Schichten des Hinduismus sind nicht
im luftleeren Raum entstanden; sie hängen                Die Brahmanen, die über das Wissen
wesentlich mit der geschichtlichen                       verfügen, bilden die höchste Farbe
Entwicklung Indiens zusammen:                            Die Kshatriya stellen den Kriegeradel
                                                         dar und halten die politische Macht
1. Die vedische Religion ist die Religion der            Die Vaishya stellen die Wirtschaftseli-
Arier – so bezeichneten sich die indo-                   te (durch Handel, Landbesitz)
europäischen ImmigrantInnen selbst, die um               Die Shudra, ursprünglich wohl die
1250 v.u.Z. Nordindien eroberten. (Die Verwen-           von den arischen Nomaden eroberten
dung dieser Bezeichnung für die Nazi-Ideologie           Bauerngesellschaften, bilden die
ist ebenso ein Mißbrauch der indischen Kultur            Schicht der Abhängigen und der
wie der Gebrauch eines ihrer Symbole, des                verachteten Berufsgruppen
Die als Parier (Unberührbare) bezeichneten               Die Seelenwanderung
Personen sind nicht, wie oft behauptet wird,
„kastenlos“. Sie gehören Shudra-Kasten an, die      Dermelben Gedanken folgt das Prinzip der
die schmutzigsten Arbeiten zu verrichten            Seelenwanderung. Auch im Hinduismus wird
haben, weswegen Berührungen gemieden                das irdische Dasein im Jenseits vergolten; im
werden. Kastenlos sind nur Angehörige               Gegensatz zu Christentum und Islam zählt
anderer Religionen.                                 aber nicht der Glaube, sondern ausschließlich
                                                    das richtige Verhalten, gemessen an den sehr
Weil man eine Kastenzugehörigkeit braucht,          restriktiven Geschlechter- und Kastenregeln
um Hindu zu sein, ist es nicht möglich, als         der indischen Tradition. Wer sich weitgehend
Einzelner zum Hinduismus überzutreten. Dies         an die Vorschriften gehalten und in diesem
ist lediglich Gruppen vorbehalten, wenn sie         Rahmen gute Werke vollbracht hat, hinterlässt
z.B. von einem hinduistischen Reich erobert         ein gutes Karma. Das Karma entscheidet, was
werden; in diesem Fall wird die gesamte             nach dem Tod geschieht: die „Guten“ steigen
Volksgruppe zu einer neuen Kaste erklärt.           in einen von mehreren Himmeln auf und
                                                    werden nach einiger Zeit als etwas Besseres
Das Kastenwesen spielt im modernen Leben            wiedergeboren. Die „Bösen“ gehen durch eine
Indiens eine immer geringere Rolle; vor allem       der Höllen und werden als „niedrigeres“ Lebe-
in abgelegeneren ländlichen Gebieten ist es         wesen wiedergeboren. Als „besser“ gilt die
aber noch sehr präsent, und aus der indischen       Wiedergeburt in einer höheren Kaste oder als
Tradition ist es nicht wegzudenken. Es lebt in      höheres Wesen. Die, deren Karma neutral ist,
Konventionen und Heiratspräferenzen fort,           wandern als Gespenster durch die Welt.
seltener auch in Karrierechancen.
                                                    Die Seele ist nach hinduistischer Auffassung
Mit der Religion ist das Kastenwesen in             somit ewig. Die vergänglichen Götter hinge-
zweierlei Hinsicht verknüpft. Einerseits gibt es    gen können durch schlechtes Karma zu
eigene Götter und heilige Vorschriften.             niedrigeren Wesen absteigen.
Andererseits folgen gläubige Hindus diesen
oft sehr restriktiven Vorgaben, um im näch-         Auch wenn dieser Glaube für gut 2000 Jahre
sten Leben in eine höhere Kaste geboren zu          stabile gesellschaftliche Verhältnisse förderte,
werden: nur die Seelenwanderung ermöglicht          hinterließ er doch ein spirituelles Dilemma: es
die Befreiung aus der eigenen Jati.                 scheint trostlos, diesem ewigen Zyklus von
                                                    Werden und Vergehen unterworfen zu sein.
     Samsara: der ewige Zyklus                      Deshalb stellte sich schon bald die Frage nach
                                                    einem Ausbruch, einer endgültigen Erlösung.
Die Weltenalter, an die auch die Götter             Der Buddhismus lieferte eine Antwort, aber
gebunden sind, zerfallen in vier Perioden, die      auch der Hinduismus selbst entwickelte neue
den vier sich verschlechternden Zeitaltern der      Konzepte, um dem Bedürfnis nach ewiger
griechisch-römischen Tradition entsprechen;         Ruhe entgegenzukommen.
was dort die Eisenzeit (das jetzige, schlech-
teste Zeitalter) ist, ist im Hinduismus das Kali-        Moksha: der Weg zur Erlösung
Yuga, das mit dem irdischen Tod Krishnas vor
etwa 5000 Jahren begonnen habe. (Es ent-            Wie also aus dem Samsara ausbrechen, neue
spricht damit übrigens genau dem Alter der          Wiedergeburten vermeiden, ohne die Ewig-
städtisch geprägten „Hochkultur“). In über          keit der Seele zu verlieren? Der Drang nach
400.000 Jahren werde der Kosmos völlig              Erlösung aus dem Samsara (Moksha) ist für
zusammenbrechen und dann, nach einer                Hindus so stark, dass ihr Erlangen das höchste
Phase des Nichts, wieder erstehen.                  Lebensziel darstellt.
Der Hinduismus sieht zwei Erlösungswege.          Ritus und Volksreligiosität
Der eine Weg ist die Erkenntnis – nämlich die
Verinnerlichung der bereits genannten             Wichtigstes rituelles Element ist die Puja, die
Formel, „aham brahma asmi“. Diese Erkennt-        Verehrung des jeweiligen Gottes. Sie wird
nis muss auf spiritueller Erfahrung aufbauen;     täglich von Brahmanen in einem der meist
das reine Rezitieren oder die intellektuelle      sehr kleinen Tempel ausgeführt, aber die
Reflexion der Formel genügen nicht, um            meisten Hindus halten die Puja ein- bis zwei-
Erlösung zu finden. Der andere Weg ist die        mal täglich daheim oder am Arbeitsplatz ab.
völlige Hingabe an Gott.                          Die Puja ist ein Gebet durch symbolische
                                                  Opferungen, mindestens von Räucherstäb-
Beide Wege verlangen Meditation und eine          chen. Benötigt wird ein Objekt – eine Götter-
streng asketische Lebensführung, weil nur die     statuette oder auch nur eine Wasserschüssel,
Befreiung von materiellen Gelüsten auch das       in welche die Gottheit hinein gedacht wird,
eigene Athman freilegen kann – dessen             um die Gedanken zu fokussieren.
Erkennung Voraussetzung dafür ist, das
Brahma zu sehen. Um dies zu lernen, kann ein      Sehr reichhaltig und keineswegs „asketisch“
Hindu von einem Lehrer (Guru) unterwiesen         erscheint der hinduistische Festtagskalender.
werden oder einem Weisen (Svami) folgen.          Es gibt weit mehr Hindu-Feste als Gottheiten.
                                                  Fixpunkte im gesamten Hinduismus sind
Auch über den Zustand der Erlösung gibt es        neben unzähligen regionalen Festen (hier
zwei verschiedene Vorstellungen. Eine – die       festgemacht am europäischen Kalender):
eher dem Atheismus zugeneigte – geht davon
aus, dass die Seele abseits der Welt zur Ruhe     Neujahr – der Termin variiert regional; erstes
kommt und so verharrt. Die andere, von            Drittel des europäischen Jahres
Shankara beeinflusste, eher theistische Per-      Holi – das Farbenfest zu Ehren Vishnus, etwa
spektive sieht die Seele im All-Einen aufgehen.   im März
Beide Möglichkeiten sind, abstrakt gedacht,       Maha Shivaratri – Fest Shivas, März
durchaus vereinbar.                               Sitalsasthi – Karneval: das Vermählungsfest
                                                  für Shiva und Parvati, etwa Juni
                                                  Krishna Janmashtami – Geburtsfest Krishnas,
Philosophie                                       August/September
                                                  Vijayadashami – Nach neuntägigen
Nicht gänzlich vom Glauben zu trennen ist die     Vorfeiern wird der Sieg des Guten über das
hinduistische Philosophie, zumal sie die reli-    Böse gefeiert; zugleich wird die Erntesaison
giösen Texte systematisiert und ebenfalls dem     eingeläutet. Oktober.
Streben nach Moksha dient. Sie gliedert sich      Divali – das Lichterfest zu Ehren der Lakshmi
in 6 Darshanas („Perspektiven“, Disziplinen):     (nach anderen Auffassungen auch zu Ehren
                                                  Krishnas oder Ramas) im November
Mimamsa – Riten- und Sittenlehre                  Pancha Ganapati – fünftägiges Fest zu Ehren
Vedanta – „Ende der Veden“, Sammlungen            Ganeshas zur Wintersonnenwende
philosophischer Grundlagentexte, u.a. der
Werke Shankaras                                   Zu berücksichtigen ist schließlich auch Yatra,
Samkhya – die analytische Lehre von den           die Pilgersaison zu heiligen Plätzen (etwa
Elementen, ausgehend vom Dualismus Geist          Oktober bis März).
(Purusha) – Materie (Prakriti)
Yoga – Meditationstechniken                                              Original C.M., August 2013
Nyaya – die Lehre von der Logik
Vaisheshika – die Grundlagen der Natur
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