Haltefaktoren in ländlichen räumen - Kommunen innovativ
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Marina Jentsch haltefaktoren in ländlichen räumen Einflussfaktoren auf die Wohnortentscheidung von Zugewanderten in ländlichen Kommunen Kurzfassung Zugewanderte, die nicht gezielt einen ren in den beteiligten Verbandsgemeinden permanenten Wohnsitz in einer ländli- Gerolstein und Nordpfälzer Land unter- chen Kommune aufgebaut haben, sondern sucht, um daraus geeignete und relevante z.B. als Arbeitsmigrant*innen oder Ge- Maßnahmen zur Verbesserung der Integ- flüchtete mehr oder weniger zufällig dort ration abzuleiten. Wenn es dadurch ge- gelandet sind, wollen meist nach einer lingt, Zugewanderte zum Verbleib in der gewissen Zeit wieder wegziehen – oft in Kommune zu bewegen, kann es auch helfen, Richtung der Großstädte. Für ländliche die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Kommunen im demografischen Wandel, Aus den Ergebnissen wurde ein Er- die Mehrwert aus der Zuwanderung er- klärungsmodell der Wohnortwahl Zu- warten und sich stark um Erstaufnahme gewanderter entwickelt. Das Modell und Integration bemühen, ist diese Ab- wird in diesem Beitrag vorgestellt. wanderungstendenz problematisch. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, aus welchen Gründen sich Zugewanderte für einen dauerhaften Wohnort entscheiden. Einflussfaktoren auf die Entscheidung, an einem bereits bestehenden Wohnsitz zu bleiben, können als „Haltefaktoren“ be- zeichnet werden. Im Projekt „Innovative aus: Abt, Jan / Blecken, Lutke / Bock, Stephanie / Formate zur Integration von Zuwanderern Diringer, Julia / Fahrenkrug, Katrin (Hrsg.): in Regionen mit hohen demografischen Kommunen innovativ – Lösungen für Städte und Herausforderungen“ wurden solche Fakto- Regionen im demografischen Wandel. Ergebnisse der BMBF-Fördermaßnahme. Berlin 2021.
Jentsch: Haltefaktoren in ländlichen Räumen 349 Haltefaktoren kennen, um der zu leben. Sind die Faktoren bekannt, die Abwanderung entgegenzuwirken Zugewanderten wirklich wichtig sind, kann Migrant*innen finden aus unterschied- ihre Situation gezielt in diesen Handlungs- lichen Gründen den Weg in ländliche feldern verbessert werden. Das Wissen über Kommunen. Einige Gruppen kommen die Einflussfaktoren der Wohnortwahl ist gezielt, um zu bleiben, wie z.B. Zugewan- nicht nur für die dauerhafte Integration derte deutscher Herkunft aus den GUS, die von Zugewanderten relevant, sondern auch oft in die Nähe ihrer früher eingereisten insgesamt für Kommunen von Interesse, Verwandten ziehen. Dabei haben sie bereits die vor dem Hintergrund des demografi- eine Vorstellung von der Kommune ihrer schen Wandels Abwanderungstendenzen Wahl und entscheiden sich bewusst da- der Bevölkerung entgegenwirken wollen. für, ihr Leben dort zu verbringen. Andere Gruppen, wie Geflüchtete oder Arbeits- Erklärungsmodell der Wohnortwahl migrant*innen, wissen oft nicht, was sie Im Projekt wurden die Haltefaktoren für vor Ort erwartet, da sie die Kommunen Zuwandernde in den beteiligten Kommu- vorher nicht kennen. Gelingt es ihnen nicht, nen untersucht, um daraus ein Erklärungs- sich an ihrem neuen Wohnort beruflich modell der Wohnortwahl abzuleiten, die und gesellschaftlich zu integrieren, zie- Einflussmöglichkeiten der Kommunen zu hen sie wieder um – Geflüchtete, wenn identifizieren und anschließend die Hand- ihre Residenzpflicht nicht mehr gilt, und lungsfelder für die Prozessmoderation Arbeitsmigrant*innen, wenn sie es ge- zur Verbesserung der Integration vor Ort schafft haben, andernorts eine Arbeitsstelle festzulegen. Eine erste Grundlage für die zu finden. Der Umzug erfolgt oftmals in Erhebungen bildete die Auswertung von Richtung großer Städte, denn hier erhoffen wenigen verfügbaren Studien, die zum sie sich bessere Zukunftsperspektiven. Teil für einzelne Regionen oder bestimmte Dabei haben gerade ländliche Kommu- Zielgruppen (z.B. Jugendliche) Haltefakto- nen, die besonders stark von den Folgen ren oder ähnliche Konstrukte untersuch- des demografischen Wandels betroffen ten, wie z.B. Zuzug- und Wegzugfaktoren, sind, Interesse an Zuwanderung. Zudem Bleibefaktoren oder Wegzuggedanken. bieten sie durch das starke ehrenamtliche Einflussfaktoren aus diesen Studien wur- Engagement und die traditionelle Kultur den systematisiert und in fünf Gruppen der sozialen Nähe gute Integrationspoten- gegliedert. Die erste Gruppe bilden die ziale – das haben die im Projekt befragten nicht beeinflussbaren individuellen Fakto- Expert*innen bestätigt. Um der Abwan- ren (z.B. Alter), die anderen vier sind nach derung entgegenzuwirken, sollten sich Themen gegliederte beeinflussbare Fakto- Kommunen mit Interesse an Zuwanderung ren der Kategorien „Arbeit und Bildung“, mit den Haltefaktoren vor Ort auseinan- „Gesellschaft“, „Wohnen“ und „Infrastruk- dersetzen. Haltefaktoren sind Einflussfak- tur“. Die Ergebnisse bildeten eine Grund- toren auf die Entscheidung von Personen, an einem Wohnort dauerhaft zu leben, Das Projekt anstatt in andere Regionen zu ziehen. „IN² – Dauerhafte Integration Zugewanderter auf dem Im Projekt „Innovative Formate zur Integ- Land“ ist ein Vorhaben der BMBF-Fördermaßnahme ration von Zuwanderern in Regionen mit „Kommunen innovativ“. hohen demografischen Herausforderungen“ (IN²) wurden solche Faktoren in den betei- Im Projekt „IN²“ wurde erprobt, wie Menschen mit Migra- ligten Verbandsgemeinden Gerolstein und tionsgeschichte dauerhaft in ländlichen Regionen inte- Nordpfälzer Land untersucht, um daraus griert werden können. Entwickelt wurde ein Modell: Es geeignete und relevante Maßnahmen zur beschreibt die sogenannten Haltefaktoren für die Wohn- Verbesserung der Integration abzuleiten. ortwahl Zugewanderter und die Integrationsherausforde- Denn „halten“ steht im Begriff Haltefakto- rungen für ländliche Kommunen. ren nicht für den Zwang zu bleiben, son- weitere Informationen zum Projekt: dern für die Lebensqualität, die Menschen » www.kommunen-innovativ.de/in2 brauchen, um an einem Wohnort gerne
350 Jentsch: Haltefaktoren in ländlichen Räumen lage für die anschließenden Erhebungen Person das Studium aufnehmen möchte in den beteiligten Kommunen – qualitative und dafür in die Großstadt umziehen muss. Interviews mit Zugewanderten (insgesamt 15 Interviews) und eine schriftliche Be- Der Wohnort und die fragung, an der sich Einwohner*innen mit Ausprägung von Haltefaktoren und ohne Migrationshintergrund beteiligt Vor dem Hintergrund der individuel- haben (insgesamt 236 Teilnehmende). len Bedürfnisse wird die Situation am Wohnort wahrgenommen und bewer- Aus den Ergebnissen wurde ein Er- tet: Wie gut ist das Arbeitsangebot? Be- klärungsmodell der Wohnortwahl kommen die Kinder eine gute Bildung? entwickelt. Für den Entscheidungs- Entsprechen die Wohnverhältnisse oder prozess sind drei Ebenen relevant: die Infrastruktur den Erwartungen? Die Person selbst und ihre Hier können Kommunen mit Blick auf die individuellen Bedürfnisse dauerhafte Integration von Zugewanderten Die Bedürfnisse einer Person spielen ansetzen. Die vier beeinflussbaren Kate- selbstverständlich eine Rolle bei der gorien der Haltefaktoren können auch als Wohnortwahl. Den in Abbildung 1 ge- Handlungsfelder verstanden werden. Mit nannten Haltefaktoren wird individuell Umsetzung von gezielten Maßnahmen in ein unterschiedlicher Wert beigemessen: diesen Handlungsfeldern kann die Zufrie- Die Menschen haben z.B. verschiedene denheit von Zugewanderten gesteigert und Vorstellungen davon, was eine für sie gute damit ihre Wohnortentscheidung für eine Wohnlage ausmacht oder welche Frei- ländliche Gemeinde unterstützt werden. zeit- und Bildungsangebote der Ort haben Mögliche Ansatzpunkte sind hier z.B. das sollte. Dafür sind individuelle Faktoren kommunale Integrationsmanagement, wichtig, z.B. das Alter und die Lebens- Aufbau von Netzwerken der Integration, phase: junge Menschen wünschen sich die Förderung der Willkommenskultur beispielsweise mehr und bessere Arbeits- in der Kommune, Ausbau des Ehrenamts angebote, ältere Menschen hingegen eine und der Nachbarschaftshilfe, Mitwir- seniorenfreundliche Infrastruktur. Einige kung und kulturelle Öffnung der Vereine, der individuellen Faktoren wirken so stark, Arbeitgebenden, Vermieter*innen etc. dass sie alleine für eine Entscheidung aus- Erklärungs- schlaggebend sein können, wenn z.B. die modell der Wohnortwahl
Jentsch: Haltefaktoren in ländlichen Räumen 351 Individuelle Bewertung der Situation vor Ort „Der Grund, warum sie auch hier geblieben ist und die Entscheidung zur Wohnortwahl in Rockenhausen, weil sie sehr viele Deutsche Aus der individuellen Bewertung der kennt. Und sie liebt sie alle, sie helfen ihr.“ Situation vor Ort ergibt sich eine Ein- „…es ist eine schöne Stadt. Die Leute, sie sind nette schätzung über die eigene Lebensquali- Leute. […] man hat sich auch dran gewöhnt an tät und Zufriedenheit mit dem Wohnort. dieses Dorf. Es ist wie zweite Heimat für ihn.“ Diese Einschätzung bildet die Grundlage für die Entscheidung zur Wohnortwohl. Dennoch fühlen sich viele einsam und wünschen sich besonders viel Inter- aktion mit Einheimischen, um die Haltefaktoren als Basis für Hand- deutsche Sprache im Alltag zu üben: lungsfelder in Kommunen Insgesamt zeigen sich in der schrift- „…um besser Deutsch zu lernen und eher lichen Befragung Deutsche zufriedener nicht auf Muttersprache sich unterhalten als Zugewanderte mit dem Leben in den und unter sich zu bleiben, sondern An- beiden Modellkommunen. Migrant*innen schluss zu finden. Ist für ihn wichtig.“ schätzen vor allem die Umgebung, die Haltefaktoren der Kategorien „Arbeit Nachbarschaft und die Wohnqualität, sind und Bildung“ sowie „Gesellschaft“ sind dagegen weniger zufrieden mit dem An- zum einen besonders wichtig für Zuge- gebot an Arbeitsplätzen und der Möglich- wanderte, zum anderen aber aktuell mit keit, Freunde zu finden. Beide Aspekte sind einer geringen Zufriedenheit seitens der jedoch ausschlaggebend für die Integration befragten Zugewanderten in den Modell- und wurden von Zugewanderten als sehr kommunen verbunden. Daher wurden wichtige Haltefaktoren bewertet. Wie in diese Kategorien im Projekt als Hand- untenstehenden Zitaten deutlich wird, ha- lungsfelder für die Prozessmoderation ben auch die interviewten Migrant*innen festgelegt, sodass in Netzwerken aus betont, dass der Erfolg bei der Integration haupt- und ehrenamtlichen Akteuren neue in den Arbeitsmarkt für sie der ausschlag- bedarfsgerechte Ansätze zur Integration gebende Grund ist, in der Kommune zu in den Kommunen entstehen konnten. bleiben oder in größere Städte zu ziehen (Anmerkung: Die direkten Zitate stehen Fazit in der 3. Person Singular, weil die Inter- views in Muttersprache geführt wurden Kennt eine Kommune die für ihre Ein- und die Zitate von Dolmetscherinnen wohner*innen wichtigen Faktoren der stammen und nicht verändert wurden). Wohnortwahl, so kann sie gezielt am Aus- bau des darauf ausgerichteten Angebots „Er kann sich das durchaus vorstellen, hier arbeiten. Das steigert die Zufriedenheit zu leben, er fühlt sich hier wohl. Und es der Bürger*innen mit ihrer Lebensquali- ist natürlich abhängig davon, ob er hier tät und kann ihre Entscheidung zu einem Arbeit findet nach der Ausbildung.“ dauerhaften Verbleib in der Kommune „Aber sein Problem ist natürlich, dass er fördern. Insbesondere im Fall von Zu- hier wenig Möglichkeiten hat, Arbeit zu fin- gewanderten in ländlichen Regionen, die den. Und deswegen denken die meisten da- Großstädte als Wohnorte bevorzugen, rüber nach, in eine Großstadt zu ziehen.“ lohnt sich die Auseinandersetzung mit den für sie relevanten Haltefaktoren. Das im „Wenn es hier keine Perspektive gibt, eine Arbeits- Beitrag vorgestellte Modell der Wohnort- stelle zu finden, ist sie gezwungen, umzuziehen.“ wahl bietet Kommunen eine Orientierung Die Unterstützung durch Ehrenamt im Zusammenspiel von Haltefaktoren und und Nachbarschaft, die als die wich- den Möglichkeiten kommunaler Einfluss- tigste Stärke der ländlichen Kommunen nahme. Um die individuelle Situation vor in Bezug auf die Integrationschancen Ort abzubilden, können Kommunen auf gilt, wird von Zugewanderten deut- die im Projekt eingesetzten Erhebungs- lich wahrgenommen und geschätzt: instrumente zurückgreifen (Toolbox „Integration in ländlichen Kommunen“).
352 Jentsch: Haltefaktoren in ländlichen Räumen Zum Weiterlesen Die Autorin Jentsch, Marina (2021): Integration auf dem Marina Jentsch, wissenschaftliche Mit- Land – Herausforderungen und Lösungs- arbeiterin am Institut für Technologie und ansätze der Integration in ländlichen Arbeit e.V.; Arbeitsschwerpunkte: nach- Regionen, in: Abt, Jan / Blecken, Lutke / haltige Entwicklung, Corporate Social Bock, Stephanie / Diringer, Julia / Fahren- Responsibility, nachhaltiges Lieferketten- krug, Katrin (Hrsg.): Kommunen innovativ management; marina.jentsch@ita-kl.de – Lösungen für Städte und Regionen im demografischen Wandel. Berlin. Online verfügbar unter: www.kommunen-in- Literatur novativ.de (zuletzt geprüft 01.07.2021) »» Beierle, Sarah / Tillman, Frank / Reißig, Birgit (2016): Jugend im Blick – Regionale Bewältigung demogra- Jentsch, Marina / Marx, Elena (2020): fischer Entwicklungen. Abschlussbericht. Projekt- Integration in ländlichen Regionen. ergebnisse und Handlungsempfehlungen. München. Teil 1: Erklärungsmodell der Wohn- »» BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und ortwahl durch Zugewanderte. Online Raumforschung (Hrsg.) (2011): Lebensqualität verfügbar unter: https://www.ita-kl. in kleinen Städten und Landgemeinden. Ak- de/ita-projekte/integration-innova- tuelle Befunde der BBSR-Umfrage. Bonn. tiv/ (zuletzt geprüft 14.05.2021). »» Institut für Regionalmanagement (Hrsg.) (2015): My Daun – Kinder und Jugendliche in der Verbands- Kaschlik, Anke / Lahner, Jörg / Rüzgar, gemeinde Daun. Gehen, bleiben oder gehen und Mehmet Fatih / Wagner, Leonie (2020): wiederkommen? Abschlussbericht zum Leader Migrantische Gründungen in länd- Projekt im Zeitraum von 2011 bis 2015. Daun. lichen Kommunen – Potenzial für die »» Kley, Stefanie (2007): Die Verbundenheit mit dem wirtschaftliche Entwicklung, in: Abt, Wohnort und Wegzugsabsichten bei jungen Er- Jan / Blecken, Lutke / Bock, Stephanie wachsenen, in: MIGREMUS Tagung: Migration und residentielle Mobilität 16.-17.11.2007. Bremen. / Diringer, Julia / Fahrenkrug, Katrin (Hrsg.): Kommunen innovativ – Lösun- »» Statistisches Amt des Kantons Zürich (2016): Zu- und Wegzugsbefragung. Gesamtbericht. Zürich. gen für Städte und Regionen im de- mografischen Wandel. Berlin. Online »» Scheiner, Joachim / Bauer, Uta / Wohltmann, Heike (2013): Einflussfaktoren der Wohnstandortwahl: verfügbar unter: www.kommunen-in- Der ländliche Raum im Fokus. Potenziale für novativ.de (zuletzt geprüft 01.07.2021). peripher-zentrale Wanderungen. Dortmund. Lahner, Jörg / Metz, Sarah (2020): Integra- tion trifft Wirtschaftsförderung – Heraus- forderungen der Vernetzung neuer Part- ner*innen, in: Abt, Jan / Blecken, Lutke / Bock, Stephanie / Diringer, Julia / Fahren- krug, Katrin (Hrsg.): Kommunen innovativ – Lösungen für Städte und Regionen im demografischen Wandel. Berlin. Online verfügbar unter: www.kommunen-in- novativ.de (zuletzt geprüft 01.07.2021). ITA e.V. – Institut für Technologie und Arbeit (2020): Toolbox „Integration in ländlichen Kommunen“. Online ver- fügbar unter: https://www.ita-kl.de/ ita-projekte/integration-innova- tiv/ (zuletzt geprüft 14.07.2021).
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