Erich Später - Heinrich Böll Stiftung Saar
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Sowjetunion Der Überfall auf die Erich Später Moskau, 22 Juni 1942, Fotografie von Ivan Shagin Vor achtzig Jahren begann das Der deutsche Angriff erfolgt ohne vorherige „Unternehmen Barbarossa“ politische und ökonomische Forderungen gegen die Sowjetunion. Ein Ultimatum wurde Mit 3,6 Millionen Soldaten, 3.500 Panzern, nicht gestellt und keine Kriegserklärung ab- 600.000 motorisierten Fahrzeugen, 7.000 gegeben. Geschützen und 2.700 Flugzeugen beginnt das nationalsozialistische Deutschland am Für die deutsche Kriegspropaganda stellte 22. Juni 1941 gegen drei Uhr morgens den sich das Problem, die Tatsache des Bruchs Krieg gegen die Sowjetunion. Die größte des seit dem 23. August 1939 geltenden auf einem Schauplatz vereinte Streitmacht Nicht- Angriffsvertrages zwischen Deutsch- der Geschichte kämpft zwischen Ostsee und land und der Sowjetunion der Bevölkerung zu schwarzem Meer an einer 3.000 km langen erklären. Die zentrale Behauptung, die in al- Front. Neben den 153 Deutschen stehen 10 len Proklamationen enthalten ist, lautet, der rumänische und achtzehn finnische Divisio- deutsche Angriff sei lediglich sowjetischen nen an der Seite von Wehrmacht und SS. Angriffsabsichten zuvorgekommen. Er sei nichts anderes als ein Präventivkrieg. Drei ungarische Brigaden, slowakische Ab- teilungen und die spanische „Blaue Division“ Der Überfall wird von der deutschen Propa- unterstützen den Angriff. Im Verlauf des Vor- ganda als Kreuzzug zur Verteidigung der Kul- marsches schickt auch Italiens faschistischer tur gegen den jüdischen Bolschewismus ge- Führer Mussolini Kampftruppen zur Unter- feiert. Präventivkrieg und Kreuzzug waren die stützung seines deutschen Verbündeten. zentralen Propagandamotive, die Deutsch-
lands Krieg breite Unterstützung sichern Deutsche Kriegsplanungen sollten. Die frei erfundene Behauptung, 160 sowjetische Divisionen hätten zum Angriff Die Vorbereitungen für den Angriff auf die bereitgestanden, wurde bereitwillig akzep- Sowjetunion hatten bereits ein Jahr vorher, tiert. Radikaler Antikommunismus, Rassismus Ende Juli 1940, unter größter Geheimhaltung und Antisemitismus verschmelzen am 22. begonnen. Die vom deutschen Generalstab Juni 1941 im apokalyptischen Vernichtungs- ausgearbeiteten Pläne sahen vor, Sowjet- krieg gegen den „Jüdischen Bolschewismus“. russland in einem schnellen Feldzug zu be- siegen. In konzentrierten Angriffsoperatio- Unmittelbar vor Beginn der Invasion werden nen sollten die im westlichen Teil der UdSSR die Richtlinien für das Verhalten der Truppen stehenden Hauptverbände der „Roten Ar- in der Sowjetunion ausgegeben. Es wird fest- mee“ eingeschlossen und vernichtet werden. gestellt: „Der bevorstehende Krieg verlangt ein rücksichtsloses und energisches Durch- Als Endziel der Operationen wurde die Linie greifen gegen bolschewistische Hetzer, Frei- Archangelsk am Polarkreis-Wolga-Astra- schärler, Saboteure, Juden und die restlose chan angegeben. Die verbleibenden Indus- Beseitigung jedes aktiven und passiven Wi- triegebiete am Ural sollten durch Luftan- derstandes“. Dieser Aufruf zum Massenmord griffe und schnelle Panzervorstöße zerstört wird zum Bestandteil des Operationsplans werden. Die Bezeichnung des gigantischen der Wehrmacht. Am deutlichsten zeigte sich Feldzuges als „Unternehmen Barbarossa“ dies im Komplex der „verbrecherischen Befeh- gibt bereits Aufschlüsse über den ideologi- le“, vor allem im sogenannten “Kommissarbe- schen Hintergrund des Feldzuges. Der deut- fehl“ und im „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“. sche Kaiser Friedrich I Barbarossa war 1190 Dieser ermächtigte deutsche Offiziere und während des 3. Kreuzzuges zur Rückerobe- Mannschaften zur wahllosen Ermordung von rung Jerusalems ertrunken. Um seine Person sowjetischen Zivilist:innen. Der Kommissar- entstand in den kommenden Jahrhunderten befehl forderte die Erschießung aller poli- ein nationaler Mythos. Eines Tages würde tischen Kommissar:innen der „Roten Armee“, die in deutsche Gefangenschaft gerieten. Die Bedeutung der „Richtlinien für die Trup- pe“ und der beiden Erlasse lag vor allem da- rin, dass den Soldaten klargemacht wurde, dass ihre Führung die millionenfache Tötung sowjetischer Soldat:innen und Zivilist:innen einforderte. Die Ermächtigung, alle zu ver- nichten, die sich der deutschen Herrschaft widersetzen und die wegen ihrer Abstam- mung, ethnischer Zugehörigkeit und politi- Deutungskampf Macht und Veränderung: Mit den Straßenna- men ist die Vergangenheit in den Stadtplan eingeschrieben, die Benennung ein Politikum. schen Überzeugung kein Recht hatten zu le- Ihre Änderung sollte sichtbar gemacht werden. Ein Vortrag. Von Kai Köhler SEITEN 12/13 ben, bildete den Kern der ideologischen und Drei Wochen gratis. militärischen Mobilisierung der deutschen Für alle, die es wissen wollen. Wehrmacht im Vorfeld des „Unternehmens Abo endet automatisch. jungewelt.de/probeabo oder 0 30/53 63 55 84 Barbarossa“.
er wiederauferstehen, seine Ruhestätte im riert und keine ausreichenden Vorbereitun- Inneren des Berges Kyffhäuser in Thüringen gen getroffen, das Land in Verteidigungsbe- verlassen und Deutschland in ein neues gol- reitschaft zu versetzen. Die Ermordung eines denes Zeitalter führen. Teils des sowjetischen Offizierskorps wäh- rend der „Großen Säuberung“ in den Jahren 1937/38 hatte die „Rote Armee“ erheblich Vernichtungskrieg, geschwächt. Nun sah man sich einem Geg- Ausbeutung, Völkermord ner gegenüber, der die französische Armee vernichtend geschlagen und Westeuropa in Die Pläne der NS-Führung zur Zerschlagung sechs Wochen erobert hatte. Seit der Inter- der Sowjetunion konnten sich auf einen brei- vention in Spanien 1936 führte die deutsche ten Konsens innerhalb der deutschen Eliten Armee erfolgreich Krieg und hatte bisher stützen. Die Vorgeschichte des „Unterneh- jeden Feind besiegt. 1941 zählte die Bevöl- mens Barbarossa“ beginnt im deutschen kerung der Sowjetunion 194 Millionen Men- Kaiserreich und erreicht in der Besetzung und schen. Innerhalb von fünf Monaten gelang es Beherrschung weiter Teile Russlands in den den deutschen Truppen, ein riesiges Gebiet Jahren 1917/18 einen ersten Höhepunkt. zu erobern. Der „deutsche Drang nach Osten“ fand sein Es waren die industrialisierten Regionen, die vorläufiges Ende mit der Niederlage im 1. landwirtschaftlichen Überschussgebiete und Weltkrieg. Dennoch war es für große Teile der die Bevölkerungszentren der großen Städte, Machteliten in Wirtschaft, Bürokratie und Mi- die einer erbarmungslosen Politik der Aus- litär auch während der „Weimarer Republik“ beutung, des Hungers und Massenmordes selbstverständlich, über eine erneute Offen- unterworfen wurden. 45 % der Getreideer- sive im Osten nachzudenken. zeugung, 60 % der Stahlproduktion und 65% der Kohleförderung waren in den besetzten Diese Vorstellungen mündeten nach der Ent- Gebieten konzentriert. Das Besatzungsgebiet fesselung des 2. Weltkrieges und der Erobe- war das größte Territorium in Hitlers Macht- rung Westeuropas 1940 in die Planungen zur bereich, doppelt so groß wie das „Deutsche gewaltsamen Unterwerfung der Sowjetuni- Reich“. Zwischen 55 und 60 Millionen Men- on. Durch die Beherrschung des „Ostraums“ schen verblieben unter deutscher Herrschaft. sollte die erforderliche ökonomische Grund- lage für den unvermeidlich bevorstehenden Diese wurden entrechtet und einer radikalen globalen Krieg gegen die USA und Großbri- Aushungerungspolitik unterworfen. Es galt, tannien gelegt werden. ein Höchstmaß an Nahrungsmitteln für die deutsche Bevölkerung im Reichsgebiet und Den drei Heeresgruppen der Wehrmacht ge- die Millionen Soldaten der Wehrmacht aus lang in den Anfangswochen des Feldzuges dem Land herauszupressen. In der Millionen- ein schneller Vorstoß, in dessen Verlauf die stadt Leningrad, die seit Oktober 1941 ein- „Rote Armee“ katastrophale Niederlagen geschlossen war, starben im Winter 1941/42 erlebte. Die sowjetische Führung hatte alle hunderttausende Menschen. In den Planun- Warnungen vor dem deutschen Angriff igno- gen der deutschen Militärs war die Stadt zur
Verbrannte Erde Der Massenmord an den Kriegsgefange- nen, die Ermordung zehntausender Zivi- list:innen und die Verwandlung ganzer Landstriche in „Tote Zonen“ unter dem Vor- wand der Partisanenbekämpfung prägten den deutschen Vormarsch von Anfang an. Für die sowjetischen Soldat:innen und die Zivilbevölkerung wurde sehr schnell klar, dass die endgültige militärische Nieder- lage den Tod vieler Millionen und die Ver- nichtung der Heimat bedeutete. Daraus erwuchsen die Mobilisierung aller Reserven und ein verzweifelter Wille zum Widerstand, der den deutschen Truppen im Dezember Deutsche Soldaten trieben die Partisanin Masha 1941 vor Moskau die erste schwere Nieder- Bruskina mit einem Schild behangen durch die Stra- lage des gesamten Krieges zufügte und der ßen Minsks, kurz vor der Hinrichtung Sowjetunion eine Atempause verschaffte. Mit dem Vormarsch der Wehrmacht in der Vernichtung vorgesehen. Ähnliches war Sowjetunion realisierte sich im Herbst 1941 für Moskau geplant. Die Einwohner soll- im gesamten deutschen Machtbereich das ten ermordet oder vertrieben werden. Das radikalste Programm zur vollständigen Ver- Moskauer Stadtgebiet sollte dann durch nichtung einer menschlichen Gruppe, das Sprengung von Stauseen geflutet werden. jemals erdacht und geplant wurde. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, der Stadtbewohner:innen und der Indust- Die Massenmorde an der jüdischen Zivil- riearbeiterschaft sollte den Boden für die bevölkerung verliefen in mehreren Wellen. Beherrschung des Landes bereiten. Direk- In den ersten sechs Wochen des deutschen ten Nutzen zog Deutschland allerdings Vormarsches wurden überwiegend jüdische zunächst aus der erbarmungslosen Aus- Männer getötet. Ab Anfang August wurde beutung von drei Millionen sowjetischen das Morden unter Verweis auf „Partisanen- Zwangsarbeiter:innen, die ab Herbst 1941 tätigkeit“ auf die gesamte jüdische Bevöl- nach Deutschland verschleppt wurden. kerung ausgedehnt. Bis März 1942 wurden 600.000 jüdische Bürger:innen ermordet. Opfer des Massenmordes wurden zuerst Allein im ersten Kriegsjahr verlor die „Rote die sowjetischen Kriegsgefangenen der Armee“ 2,6 Millionen Gefallene und 3 Mil- deutschen Wehrmacht. Von den insgesamt lionen Soldat:innen durch Gefangenschaft. 5,7 Millionen Gefangenen starben 3 Millio- Die Gesamtverluste der Sowjetunion waren nen nach ihrer Gefangennahme. Sie verhun- bis zu ihrer Auflösung ein Staatsgeheimnis. gerten, erfroren, starben an Seuchen oder Als Chruschtschow auf dem 20. Parteitag wurden auf Todesmärschen erschossen. 1956 von 20 Millionen Toten sprach war
Kolonne sowjetischer Kämpfer auf dem Weg zur Front. Moskau. 23. Juni 1941. Archiv-Foto. die Öffentlichkeit schockiert. Dies war das Mit seiner Politik der radikalen Zerstörung Doppelte der bisherigen offiziellen Opfer- versetzte Deutschland der sowjetischen Wirt- zahl. Aber selbst damit war die grauenhafte schaft einen „Schlag“, von dem sie sich jahr- Wahrheit nicht auf dem Tisch. Die internatio- zehntelang nicht richtig erholte. Diejenigen, nale Forschung geht heute davon aus, dass die den Schlag geführt hatten, schlüpften der Krieg die Sowjetunion ca. 27 Millionen zehn Jahre nach der Kapitulation des Deut- Opfer kostete. Von ihnen gehörten ca. 11,4 schen Reiches in die Uniform der 1955 gegrün- Millionen zu den sowjetischen Streitkräften. deten Bundeswehr. Aus dem Oberkommando Die zivilen Opfer der Sowjetunion betrugen des Heeres wurden 31 Generäle reaktiviert. 15,2 Millionen Menschen. Davon 2,4 Millionen sowjetische Jüd:innen und eine Million Lenin- Ab 1960 bildeten 12.360 Offiziere aus der grader Bürger:innen. Mindestens 500.000 Wehrmacht und 300 Führer der Waffen-SS Menschen wurden als „Partisanen“ ermordet. das personelle Rückgrat der bundesdeut- Die materiellen Schäden waren ungeheuer- schen Armee. lich. 1.700 Städte und zehntausende Dör- fer waren vollkommen zerstört. 25 Millionen Es war die NS-Militärelite, die wieder in Rang Menschen waren 1945 obdachlos. Die Wehr- und Würden eingesetzt wurde und nun den macht hatte auf ihrem Rückzug eine „Politik ungeheuerlichsten Eroberungs- und Ver- der verbrannten Erde“ praktiziert. Das Land nichtungskrieg der neueren Geschichte als wurde systematisch ausgeplündert, zerstört “Verteidigung des christlichen Abendlandes“ und verbrannt. rechtfertigte. Erich Später ist Historiker und Journalist. Er arbeitet für die Heinrich-Böll-Stiftung Saar e.V.
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