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Heilige Ablenkung in einer schwierigen Zeit Predigt für Andacht und Gottesdienst zu Hause . Evangelische Kirchengemeinden Dettingen und Bissingen-Hausen, Sonntag, 19.4.2020, Manuel Ritsch Es könnte für viele eine Zeit mit wertvollen ruhigen Momenten sein, diese Corona- Wochen. Mein Eindruck ist: Daraus ist bisher nichts geworden. Die einen haben genug zu tun, die anderen zu wenig. Beides ist anstrengend. In jeder Zeitschrift und auf jeder Internetseite werde ich deshalb darüber informiert, wie ich meine Tage verbringen könnte. Paradoxerweise ist diese Zeit nur die Verlängerung unseres sonstigen Lebens unter anderen Bedingungen, und die Ratgeber machen im Wesentlichen das, was sie immer tun – mir raten, was sie auch schon vor der Krise gut und wichtig fanden. Und wer vom Virus durch seinen Beruf, als Kranker oder Angehöriger betroffen ist, hat ohnehin andere Sorgen als Lifestyle-Angebote. Dazu kommt in den letzten Tagen eine gewisse Müdigkeit – immer nur ein Thema, das hält keiner auf die Dauer aus. Permanent nur Corona im Kopf, das geht nicht. Auch in anderen Extremsituationen, zum Beispiel bei Trennung oder beim Tod eines nahen Menschen halten wir es nicht aus, immer nur an die eine Sache zu denken oder uns immer nur mit dem Verlust zu befassen. Es ist, als ob unser innerer Mensch diese Spannkraft nicht hat. Gerade trauernde Menschen berichten oft davon, dass sie Ablenkung suchen. Das ist gut und hat seinen Platz. Die Herausforderung besteht darin, sich mit der Ablenkung keine neuen Schwierigkeiten zu schaffen. Was uns genug fesselt, um uns erfolgreich abzulenken, kann, hat oft auch die Macht, uns auch über den Moment der Entspannung hinaus gefangen zu halten. Gleichzeitig scheint die Abwechslung von Konzentration und Ablenkung ein zentraler Bestandteil unseres Lebens zu sein. In dem Bibeltext, den wir heute gemeinsam anschauen, geht es um Heilige Ablenkung. Gott lehrt uns damit das gelassene Wegschauen vom Problem und schafft uns so Pause von der Last des Alltags. Es ist also ein Sonntagstext im besten Sinne – eine gnädige Einladung zur Ruhe. 1
Wir lesen gemeinsam Jesaja 40, 25-31. In einer wenig erbaulichen Situation der Israeliten meldet sich Gott mit einer heiligen Ablenkung zu Wort. Dieses Stück ist Teil eines Abschnitts, in dem Gott sich selbst neu vorstellt. Es ist kein billiges oder hilfloses „Lach doch mal!“. Im Gegenteil: Ich habe den Verdacht, Gott sieht die Situation realistisch, und gerade deshalb stellt er seinen Leuten hier etwas ganz anderes vor die Augen. Um zwei Dinge geht es heute – und beide haben den Vorteil, dass sie uns öfters begegnen. Das erste ist der Sternenhimmel bei Nacht. Das zweite sind zwei unterschiedliche Vögel, von denen der eine im Text, der andere in unseren Breiten sehr häufig vorkommt, nämlich die Elster und der Adler. Mehr beiläufig habe ich gestern Nacht nach oben zum Himmel geschaut und mich wieder einmal gewundert über die schlichte und gleichzeitig prächtige Schönheit der Sterne. Was für ein Anblick. Als ob da oben nichts zu spüren wäre von allem, was uns hier auf der Erde beschäftigt. Das Volk Israel, dem Jesaja diese Worte zuerst gesagt hat, hat es oft nicht leicht. Und ihnen und uns sagt Gott: Geh raus und schau nach oben. Schau dir die Sterne an. In diesen Tagen dämmert mir die tiefe Weisheit in diesen Worten: Schau mal weg von dem, was dich hier unten umtreibt. Lass deinem Kopf und deinem Herzen diesen Sonntag. Was wenn Sonntag zurzeit heißen würde, wir machen „Corona-frei“?1 Ohne Nachrichten, Sicherheitsvorkehrungen checken, ohne Masken kaufen oder nähen. Mach mal Corona-frei… Um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer bei sich zu behalten, fragt Gott: „Wer hat all das gemacht?“ (Jesaja 40, 26) und gibt sich die Antwort gleich selbst. Gott selbst hat all das gemacht, er setzt jeden dieser Sterne an seinen Ort, sorgt dafür, dass da kein einziger fehlt („Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet…“, singen wir). Er macht den Mondaufgang und die Sonnenfinsternis, er hat dem Orion, 1 In meinem schlimmen Griechisch-Kurs, von dem ich vor einiger Zeit erzählt habe, gab es bei vielen meiner Kollegen ähnliche Regeln für den Sonntag und für das gemeinsame Essen. Wer sonntags und beim Essen davon anfing, musste einen bestimmten Betrag in die Gemeinschaftskasse einzahlen. 2
diesem markanten Sternbild, den Gürtel umgeschnallt. Der große Wagen ist sein Werk ebenso wie der Polarstern. Selbst der entfernteste Stern ist Gott nicht verlorengegangen. Und jeden Tag macht Gott den Abend, lässt die Sterne scheinen. Unser technisches Denken legt uns den Schluss nahe, Gott hätte die Welt gemacht und wie ein altes Uhrwerk aufgezogen, so dass jetzt alles von alleine passiert. Die Bibel lehrt anders und sagt, Gott macht jeden Abend und jeden Morgen neu. Es scheint uns nur normal, dass das alles „von alleine“ abläuft. Seitdem wir wissen, auf welchen Bahnen die Sterne ihre Wege ziehen und seitdem wir Maschinen bauen und Computer entwickelt haben, die fast alles können, lag es nahe, nicht mehr so sehr an Gott zu denken, den wir meinten nicht mehr so sehr zu brauchen – doch das war, bevor alles anders wurde. Es wird alle Tage Abend, weil Gott es zugesagt hat, und in jeder sternklaren Nacht sehen wir all die Sterne. Nicht weil sie eben da sind, sondern weil Gott sie herausruft. Gott sagt uns: Wenn du da draußen nach oben blickst, siehst du, wie ich wirke. Und leise und stumm beginnen wir zu verstehen, wie unvergleichlich Gott ist. Größer als wir uns vorstellen können, mächtiger als wir ahnen und mit einem Sinn für Schönheit, die uns den Atem raubt. Ich wundere mich, wie sehr unsere möglichen Einwände heute zu denen passen, die die ersten Hörer dieser Worte vorbringen. „Moment“, denke ich, „wenn Gott doch so allmächtig ist, warum hilft er dann nicht, jetzt wo wir ihn so brauchen? Hat er uns vergessen?“ Um Gott und Corona wird es in den nächsten Predigten gehen. Erleben wir gerade eine Strafe Gottes? Warum lässt Gott das zu? Dazu bald mehr. Wenn wir wieder zurück in den Text schauen, lesen wir dort ganz ähnliche Fragen wie unsere (Jesaja 40,27): „Ach, Gott, du siehst mich nicht.“ „Was ich mache, interessiert Gott nicht, und er sorgt nicht für mich.“ Viele damals haben auch gedacht: „Ich kann allein für mich sorgen, ich entscheide.“ Und: „Weil Gott nicht für mein Recht eintritt, muss ich es mir eben selber nehmen.“ Da sind wir, glaube ich, ganz ähnlich – manchmal denken wir das: Gott interessiert sich nicht für uns oder er kann ja doch nicht helfen. Und beim Blick auf den Sternenhimmel merken wir, warum diese Ablenkung anders ist, als die Romane, Fernsehserien und Videoclips, die unsere Abende und Pausen 3
füllen. Wir merken, was den Sternenhimmel hier zur heiligen Ablenkung macht: Die majestätische Schönheit gönnt uns einen Moment Ruhe von allem, was uns sonst beschäftigt, und sie weist uns auf Gottes Größe hin. Wenn Gott jeden entferntesten Stern kennt und beim Namen ruft, dann sieht und kennt er auch mich. Das mit den Namen finde ich sehr beeindruckend. Ich bin ganz schlecht, wenn es um Namen geht. Gott ist ziemlich gut, wenn es um Namen geht – bei den Sternen und bei Ihnen auch. Gott kennt jeden einzelnen Stern und uns auch. Das ist die Botschaft jedes Sonnenuntergangs und jedes Sternenhimmels seit dieser Nacht, in der Gott den Jesaja nach draußen geschickt hat, um sich die Sterne anzusehen. Sie sind Gott nicht verloren gegangen. An anderer Stelle sagt Jesus einmal, er merkt sogar, wenn ein einzelner Spatz vom Himmel fällt – und Menschen sind viel wichtiger als die Spatzen (Matthäus 10,29). Da ist es echt komisch zu meinen, dass Gott keine Ahnung hat, was Sie bewegt. Vielleicht wäre das eine Maßnahme heiliger Ablenkung: der Sternenhimmel, der uns staunen lässt. Wenn Sie also in den kommenden Nächten mal nach draußen gehen, könnten Sie sich erinnern: Gott, wie groß ist deiner Hände Werk – wie groß bist du! Und dann ist da noch die zweite heilige Ablenkung, die beiden Vögel. Adler und Elster: Jesaja freut sich über Gott und dass er uns sieht. Und weil Gott uns anschaut, wird der Bibeltext hier sehr ehrlich. Gott sagt: Ich sehe dein Werkeln und Tun. Deine Grenzen sehe ich auch, sagt Gott: Ich weiß, dass du vielleicht Angst hast vor dem ersten Schultag nach so langer Zeit. Und er sagt: Ich gebe den Müden Kraft. Sogar „junge Männer“ straucheln, so steht es da. Ja, auch junge Männer straucheln (und Frauen ebenso). Obwohl wir sie damals wie heute für eine wichtige Stütze gehalten haben und halten. Im Alten Testament ist die „junge Mannschaft“ der Teil des Heeres, der die Schlachten gewinnt. Die jungen Wilden würden wir heute sagen. Alt genug, um Mann zu sein, seinen Mann zu stehen, jung genug, um in der Blüte der eigenen Kraft und Möglichkeiten zu stehen. Das Gemeine ist: Ob jung oder alt – wir müssen mit engen Grenzen leben. Das war ja der schmerzliche Grund gewesen, einen Moment der Ruhe unter dem Sternenhimmel zu suchen. Gott sagt in diesem zweiten 4
Teil des Textes: Für euch habe ich etwas. Wenn du müde und kraftlos bist, werde ich dir neue Kraft geben. „Harre auf mich“, sagt Gott, bleib jetzt in dieser Zeit an mir dran. Harren ist ein altes Wort für „sich an etwas festklammern und dabei warten“. Die „Hoffnung für alle“ übersetzt mit „ihre Hoffnung auf Gott setzen“ an dieser Stelle zu schwach, zu zögerlich. Ausharren kann eine anstrengende Angelegenheit sein. Wer harrt, kann vielleicht nicht noch drei Dinge nebenher tun. Doch wer schon einmal einen Adler im Flug gesehen hat, weiß, dass es das wert wäre. Eine Folge der Krise wird sicher sein, dass wir unsere Prioritäten neu sortieren. Mancher wird aus dieser Zeit herauskommen und mehr denn je sein Leben mit Gott gestalten. Für den wird die zweite heilige Ablenkung zur geistlichen Realität: Der majestätische Flug des Adlers. Das ist das zweite Bild, das uns Gott vor die Augen malt. Die hübschen Falken, die hier in der Gegend ihre Kreise über uns ziehen, sind leider nur die kleinen Cousins des riesigen und imposanten Adlers. Ein Adler im Flug packt meine Aufmerksamkeit ähnlich wie der Sternenhimmel. Einen Moment lang ist alles andere egal. Vielleicht kann der eine oder die andere diese Faszination nachvollziehen. So viel Kraft, Majestät und gleichzeitig Ruhe und Gelassenheit vereint in einem Vogel – das beeindruckt mich. Gott macht das zum Bild für ein Leben mit ihm: „Die auf den Herrn warten, harren, die bekommen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“. Ich habe mich gefragt, warum da der Adler steht und nicht irgendein anderer Vogel. Es ist nicht, weil der Adler so beeindruckend oder hübsch oder gefährlich ist. Richtig verstanden, warum da der Adler steht, habe ich vor ein paar Jahren auf einer Radtour, als ich eine etwas flügellahme Elster hab fliegen sehen.2 Der arme Vogel sah aus, als ob er jeden Moment abstürzen würde. Es war ein Graus, dem fast hilflosen Geflatter zuzusehen, und die Elster kam nur schleppend vorwärts. Immer wieder verlor sie an Höhe, kämpfte sich wieder mit hektischen Flügelschlägen nach oben und sackte erneut ab. Beim Adler ist das anders. Sein majestätisches Gleiten durch die Luft kann man damit nicht vergleichen. 2 Wer jetzt denkt, das kommt ihm bekannt vor, hat Recht. Es gab letztes Jahr eine Änderung der Predigttexte für die einzelnen Sonntage. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass Sie in den Sonntagstexten einige „alte Bekannte“ aus den letzten beiden Jahren schneller als sonst wieder hören. 5
Dabei geht es nicht drum, dass der Adler kräftiger ist als die Elster. Der Unterschied ist die Thermik, die Luft. Hier auf den Feldern sieht man das im Sommer, wenn auch „nur“ bei den Falken. Die Thermik trägt den gleitenden Vogel, er lässt sich treiben, lenkt nur mit einem kurzen Winken der Flügelspitze. Er gibt Vögel, die sind für die Aufwinde gemacht. Das ist das Geheimnis des Adlers. Nicht die Kraft seiner Flügel macht den Unterschied, sondern die Thermik, die ihn trägt. Er ist für die Aufwinde gemacht. Das erlebe ich, wenn die Predigt eines Freundes oder Kollegen mich packt. Wenn die Welt einen Moment stillsteht, wenn ich allein bei der brennenden Kerze am Fenster im dunklen Zimmer stehe und zu Gott singe. Und es passiert, wenn ich mitten im Tag einen Moment Pause mache, mich hinlege, kurz bete und mir selbst sage, dass ich diese halbe Stunde ohne schlechtes Gewissen schlafen darf, weil Gott dafür sorgt, dass die Welt sich weiterdreht und nicht alles, was ich den ganzen Tag tue. Soweit dieser Sonntags-Text. Gott sagt: Mach einen Moment Pause und schau mal weg von all dem, was bei dir gerade los ist. Eben gerade, weil es viel ist. Schau hoch zum Sternenhimmel. Schau dir den Adler an.3 Von beiden kannst du lernen. Der Rest deines Lebens hat dich früh genug wieder. Amen. 3 Ob Gott schmunzelt und sagt „Du bist ja ohnehin bei YouTube – die haben auch Adler“? 6
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