Iga.Report 45 - Initiative Gesundheit und Arbeit

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Iga.Report 45 - Initiative Gesundheit und Arbeit
iga.Report                                                    45

                                                                         Themenschwerpunkt
                                                                            Positive
                                                                          Psychologie

Wirksamkeit von
                                                                   Die Initiative
                                                                   Gesundheit und Arbeit

­Achtsamkeitstechniken
                                                                   In der Initiative Gesundheit und
                                                                   Arbeit (iga) arbeiten gesetzliche
                                                                   Kranken- und Unfallversicherung

 im Arbeitskontext
                                                                   zusammen, um arbeitsbedingten
                                                                   Gesundheitsgefahren vorzubeugen.
                                                                   Gemeinsam werden Präventions-
                                                                   ansätze für die Arbeitswelt weiter-
                                                                   entwickelt und vorhandene Methoden
                                                                   oder Erkenntnisse für die Praxis
Maren M. Michaelsen, Johannes Graser, Miriam Onescheit,            nutzbar gemacht.

Matthias Tuma, Dawid Pieper, Lena Werdecker und Tobias Esch        iga ist eine Kooperation von
                                                                   BKK Dachverband, der Deutschen
                                                                   Gesetzlichen Unfallversicherung
                                                                   (DGUV), dem AOK-Bundesverband
                                                                   und dem Verband der
                                                                   Ersatzkassen e. V. (vdek).

                                                                   www.iga-info.de
Iga.Report 45 - Initiative Gesundheit und Arbeit
iga.Report 45

Wirksamkeit
von Achtsamkeitstechniken
im Arbeitskontext

Maren M. Michaelsen, Johannes Graser, Miriam Onescheit,
Matthias Tuma, Dawid Pieper, Lena Werdecker
und Tobias Esch
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung                                                                       8
1   Einleitung                                                                        9
2   Aktueller Stand der Forschung                                                    13
3   Forschungsmethoden                                                               14

3.1 Systematische Literaturrecherche                                                 14
    3.1.1   Suchstrategie                                                            14
    3.1.2   Screening-Prozess                                                        16
    3.1.3   Datenextraktion                                                          16
    3.1.4   Zielparameter                                                            18
    3.1.5   Berechnung der Wirksamkeit                                               22

3.2 Interviews mit Expertinnen und ­Experten                                         23
4   Übersicht der Studien                                                            24

4.1 Studiencharakteristika                                                           24

4.2 Achtsamkeitsbasierte Verfahren                                                   25

4.3 Achtsamkeitsinformierte Verfahren                                                28
5   Wirksamkeit der Programme – ein Überblick                                        32

5.1 Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter V
                                      ­ erfahren                                     32
    5.1.1   MBSR                                                                     34
    5.1.2   MBSR modifiziert                                                         36
    5.1.3   Meditation                                                               37
    5.1.4   Weitere achtsamkeitsbasierte ­Programme                                  38
    5.1.5   Ergebniszusammenfassung a­ cht­samkeitsbasierter Formate                 39

5.2 Wirksamkeit achtsamkeitsinformierter Verfahren                                  40
    5.2.1   Atemtrainings                                                            42
    5.2.2 ACT-Formate                                                                43
    5.2.3 Bewegungsorientierte Formate                                               43
    5.2.4 Multimodale Programme                                                      45
    5.2.5 Ergebniszusammenfassung acht­samkeitsinformierter Formate                  46

                                                                       iga.Report 45 | 5
6     Ausgewählte Befunde                                                  47

6.1 Wirksamkeit digitaler A
                          ­ chtsamkeits­programme                          47

6.2 Attrition – welche Faktoren beeinflussen sie?                          50

6.3 Die Effizienz von Achtsamkeit im U
                                     ­ nternehmen – was wissen wir?        52

6.4 Interventionsdauer – sind kurze ­Interventionen wirksam?               54
7     Qualität der Studien und Forschungslücken                            57

7.1   Qualität der Studien                                                 57
      7.1.1   Beschreibung des Verzerrungspotentials                       57
      7.1.2   Bewertung des Verzerrungspotenzials                          58
      7.1.3   Verringerung des Verzerrungspotenzials                       60

7.2 Evidence Gap Map – Ergebnisse und ­Forschungslücken                    60
8     Ergänzende Ergebnisse aus Interviews mit ­Expertinnen und Experten   63

8.1 Beschreibung der Achtsamkeits­expertinnen und -experten                63

8.2 Beobachtungen der Expertinnen und ­Experten                            66
      8.2.1 Selbstreferenz                                                 66
      8.2.2 Empathie                                                       67
      8.2.3 Arbeitsbezogene Faktoren                                       68

8.3 Erwartungen an Beschäftigte                                            69

8.4 Voraussetzungen für die Etablierung von Achtsamkeit im Betrieb         71
      8.4.1   Betriebsstruktur                                             71
      8.4.2 Betriebskultur                                                 72
      8.4.3 Programmstruktur                                               72

8.5 Ein Blick in die Zukunft                                               74
      8.5.1   Zur Popularität von Achtsamkeit                              74
      8.5.2 Das komplexe Konzept „Achtsamkeit“                             75

6 | iga.Report 45
9    Fazit                                 76
10   Literaturverzeichnis                  78
11   Abbildungsverzeichnis                94
12   Tabellenverzeichnis                  94
13   Abkürzungsverzeichnis                95
Anhang                                    96

                             iga.Report 45 | 7
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Zusammenfassung

In der vorliegenden Arbeit werden die Wirkungen, die Wirk-      Vor allem das Stresserleben wurde durch die Achtsam-
samkeit und der Nutzen von Achtsamkeitstrainings im be-         keitstrainings stark gesenkt. Eine mittlere bis starke Wirk-
trieblichen Kontext untersucht. Achtsamkeit wird vielfach als   samkeit auf andere Parameter, vor allem auf physische und
„absichtsvolle Aufmerksamkeitslenkung auf den gegenwär-         physiologische Parameter der Gesundheit, das Wohlbefin-
tigen Moment ohne zu bewerten“ (Kabat-Zinn, 2010) ver-          den, die Erholungsfähigkeit, die Selbstreferenz und -regulati-
standen. Dieser Bericht bietet einen tiefen Einblick in die     on sowie arbeitsbezogene Faktoren (beispielsweise Burnout)
Möglichkeiten des Einsatzes von achtsamkeitsfördernden          konnte für vereinzelte Achtsamkeitstrainings identifiziert
Methoden für Beraterinnen und Berater, Führungskräfte und       werden. Spezifische Analysen zeigen eine Wirksamkeit digi-
Beschäftigte, Achtsamkeitslehrende und in der Wissenschaft      taler Achtsamkeitsinterventionen, aber keine Wirksamkeit
Tätige.                                                         für kurze Interventionen, die weniger als fünf Stunden Ge-
                                                                samttrainingszeit umfassen. Nutzenparameter wie Kos-
Die Analyse beruht auf 105 randomisierten kontrollierten In-    ten-Effektivität und Effizienz werden diskutiert. Eine Eviden-
terventionsstudien im Setting Arbeit, die eine systematische    ce Gap Map stellt den aktuellen Stand der Forschung grafisch
Literaturrecherche für den Veröffentlichungszeitraum 2005       dar und zeigt weiteren Forschungsbedarf auf. Darüber hin-
bis 2019 hervorbrachte. Die darin untersuchten Interventio-     aus wird die Qualität der Studien diskutiert.
nen verfolgen den „Leitgedanken Achtsamkeit“ und lassen
sich in achtsamkeitsbasierte und achtsamkeitsinformierte        Eine auf Expertinnen- und Experteninterviews basierende er-
Trainings einteilen (siehe Abbildung 1, S. 10). Achtsamkeits-   gänzende Analyse zeigt fördernde und hemmende Faktoren
basierte Trainings haben den Fokus auf der Förderung von        für die Etablierung von Achtsamkeit im Betrieb auf. Abschlie-
Achtsamkeit und bestehen vornehmlich aus formalen Acht-         ßend wird eine Einschätzung der möglichen zukünftigen Ent-
samkeitstechniken. Bei achtsamkeitsinformierten Trainings       wicklung von Achtsamkeit im Arbeitskontext präsentiert.
wird die Achtsamkeit eher indirekt gefördert, da tendenziell
informelle Methoden Anwendung finden. Auf Basis der in          Danksagung. Die Autorinnen und Autoren danken Patrick Re-
den Studien angegebenen Ergebnisse werden standardisier-        bacz (www.visionom.de) für die grafische Umsetzung der
te Effektstärken für insgesamt 27 verschiedene in den Studi-    Evidence Gap Map, Jan Schneider für die Unterstützung im
en untersuchte Parameter berechnet und miteinander vergli-      Prozess der Datenerhebung und -extraktion und Annette
chen. Diese quantitative Auswertung der Studien belegt eine     Kerckhoff für die redaktionelle Überarbeitung des Textes.
deutliche Wirkung auf Aspekte der psychischen Gesundheit.

8 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

1       Einleitung

Um zunehmenden Herausforderungen in der Arbeitswelt zu             on, das Körpergewahrsein, die Emotionsregulation und die
begegnen, werden Beschäftigten vermehrt Kurse zur Förde-           Selbstwahrnehmung (Esch, 2014; Hölzel et al., 2011). Auf Ba-
rung von Achtsamkeit (Mindfulness) im Rahmen des Betriebli-        sis dieser Fähigkeiten kann Achtsamkeit unter anderem zu
chen Gesundheitsmanagements (BGM) angeboten, Achtsam-              mehr Wohlbefinden verhelfen und zahlreiche weitere Ressour-
keits-Coaches als Referentinnen und Referenten eingeladen          cen stärken (Gu et al., 2015), wie im Verlauf dieser Arbeit er-
und Achtsamkeits-Apps propagiert. Darüber hinaus wird Acht-        sichtlich wird. Die Schulung von Achtsamkeit kann über ver-
samkeit in Betrieben zur Unterstützung des Organisations-          schiedenste formale und informelle Techniken erfolgen sowie
und Kulturwandels eingesetzt, außerdem als Reaktion auf ei-        über Programme gelehrt werden, die mehrere Techniken kom-
nen weltweiten Trend und nicht zuletzt auf einen Wertewandel.      binieren. Viele dieser Übungen können als Familie „komplexer
                                                                   emotions- und aufmerksamkeitsregulatorischer Trainings“
Achtsamkeit                                                        ­definiert werden, die für verschiedene Ziele wie die Entwick-
Achtsamkeit als Form der Stressbewältigung nimmt an Bedeu-           lung von Wohlbefinden und emotionale Ausgeglichenheit
tung zu (Esch & Esch, 2016). Stress ist zu verstehen als eine       ­angewendet werden (Lutz et al., 2008, S. 163).
Situation, in der eine Herausforderung auftritt, auf die physio-
logisch beziehungsweise psychologisch reagiert werden muss,        Diese Techniken oder Kombinationen von Techniken lassen
da sonst nicht zu tolerierende Konsequenzen auftreten. Für         sich in achtsamkeitsbasierte (engl. mindfulness-based) und
diese Reaktion (engl. Stress Response beziehungsweise Stress­      achtsamkeitsinformierte (engl. mindfulness-informed) Pro-
reaktion, auch Kampf-oder-Flucht-Reaktion) wird ein physio-        gramme einteilen.
logisches Antwortmuster produziert. Dieses jedoch muss nicht
zwingend als stressig wahrgenommen werden. Stress ist eine           Achtsamkeitsbasierte Programme sind solche, die auf das
Frage von Dauer und Dosis und seiner Kontrollierbarkeit (Esch,     E­rlernen oder Verbessern von Achtsamkeit fokussieren und
2002).                                                              ­dabei hauptsächlich formale mentale Übungen der Aufmerk-
                                                                     samkeitsfokussierung wie Atemmeditation oder Bodyscan
                                                                     beinhalten. Die besonders bekannte Achtsamkeitsbasierte
                                                                     ­
    Begriffsbestimmung: Was ist Achtsamkeit?                         Stress­reduktion (engl. Mindfulness-Based Stress Reduction,
                                                                   kurz MBSR) nach Kabat-Zinn (2010) zählt beispielsweise zu
     Dem Begriff Achtsamkeit liegt keine einheitliche                diesen Verfahren. Die formalen Techniken beeinflussen über
     Definition zugrunde, die eine einfache beziehungsweise          den Kursverlauf durch einen Trainingseffekt auch die soge-
     scharfe Abgrenzung unterschiedlicher Konzepte zulässt.          nannte „informelle Achtsamkeit“. Damit ist eine zunehmende
     Achtsamkeit ist ein Element vieler überlieferter                Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment gemeint (Gegen-
     Kon­zepte der traditionellen Heilkunde sowie der                wärtigkeit), die sich auch bei Alltagstätigkeiten immer stärker
     verschiedensten Meditations- und Körperpraktiken.               einstellt (Birtwell et al., 2019). Somit beeinflussen die forma-
     Die meistzitierte Definition von „Acht­samkeit“ umfasst         len Achtsamkeitsanteile auch zunehmend die informellen An-
     „die absichtsvolle Aufmerksamkeits­lenkung auf den              teile (Crane et al., 2014).
     gegenwärtigen Moment ohne zu bewerten“
    ­(Kabat-Zinn, 2010).                                            Einen Fokus auf eher informelle Achtsamkeitstechniken haben
                                                                    die sogenannten achtsamkeitsinformierten Ansätze. Hier wer-
                                                                    den zahlreiche Techniken der Mind-Body-Medizin angewandt,
Über die Reduktion des Stresserlebens hinaus schreibt die wis-     die Achtsamkeit auf vielfältige Weise fördern, beispielsweise
senschaftliche Literatur der Achtsamkeit (beziehungsweise der      über Atemübungen oder achtsame Bewegungsabfolgen wie
formalen Achtsamkeitsmeditation als einer wichtigen Acht-          im Yoga, Tai Chi oder Qigong. Des Weiteren zählen dazu Pro-
samkeitspraxis) eine Reihe weiterer positiver Eigenschaften        gramme, die die Förderung von Entspannung, Akzeptanz oder
zu. So fördert das Erlernen oder Verbessern der Achtsamkeit        Kommunikation im Fokus haben und dafür nicht nur mentale
über neurologische beziehungsweise neurophysiologische             oder formale Achtsamkeitsübungen nutzen (Esch, 2020).
Veränderungen unter anderem die Aufmerksamkeitsregulati-           ­Gemeinsam mit den achtsamkeitsbasierten Verfahren bilden

                                                                                                                    iga.Report 45 | 9
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Abbildung 1: Definition der Mind-Body-Verfahren

die achtsamkeitsinformierten Verfahren die Gruppe der Mind-
Body-Verfahren (engl. Mind-Body Interventions). Diese sind          Begriffsbestimmung: Wirkung und Wirksamkeit
dadurch gekennzeichnet, dass ihnen das Verständnis der Verbin-
dung und gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Geist           Unter Wirkung (Effekt) wird im Rahmen (klinischer)
beziehungsweise Psyche zugrunde liegt (Esch & Brinkhaus,            Studien die Gesamtheit der Folgen einer Intervention
2021; Esch, 2020). Eine Übersicht ist in Abbildung 1 dargestellt.   verstanden. Wirkung ist somit der Gegenbegriff zur
                                                                    Ursache, das heißt sie beschreibt einen kausalen
 Forschungsbedarf                                                   Zusammenhang.
 Meta-Analysen sind eine Form von systematischen Reviews.
 Sie beinhalten eine statistische Analyse, bei der die Ergebnisse   Unter Wirksamkeit (Effektivität) wird die Bewertung der
 aller relevanten Primärstudien zu einem Gesamtergebnis             positiven Wirkungen (kausalen Folgen) einer (klini-
 ­zusammengefasst werden. Das Gesamtergebnis hat oft eine           schen) Intervention hinsichtlich ihrer Valenz (Wertig-
  deutlich höhere Aussagekraft als die Ergebnisse der               keit) und Relevanz verstanden (Boos & Doppelfeld,
­Einzelstudien (Egger et al., 2001).                                2009).

In der internationalen Forschungslandschaft ist eine rasante
Zunahme von Interventionsstudien (im Folgenden als „Studi-
en“ bezeichnet) zu Meditation und Achtsamkeit, sowohl all­
gemein als auch im medizinischen Kontext, zu beobachten
(Creswell, 2017).

10 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

                                                                     gruppen herausgearbeitet werden, dass sich sowohl defizit­
   Begriffsbestimmung: Intervention und                              orientierte Parameter wie Burnout und Depression durch
   ­Interventionsstudien (Primärforschung)                           ­Achtsamkeitsprogramme verringern lassen als auch ressour-
                                                                      cenorientierte Parameter wie Arbeitszufriedenheit und Ar-
   Eine Intervention ist ein therapeutisches oder präventi-           beitsleistung sich verbessern können (Richardson & Rothstein,
   ves Behandlungsverfahren, das im Rahmen einer                      2008; Bartlett et al., 2019; Vonderlin et al., 2020; Lomas et al.,
   Forschungsstudie an einer Gruppe von Proban­dinnen                 2018). Gleichzeitig fällt die Evaluation der Evidenz von Über-
   und Probanden (Interventionsgruppe) getestet wird.                 sichtsstudie zu Übersichtsstudie unterschiedlich aus. Somit ist
                                                                      einerseits unklar, welche Wirkung Achtsamkeitstrainings im
   Interventionsstudien sind eine Form von wissenschaftli-            Arbeitskontext haben, das heißt welche Aspekte (Gesundheit,
   chen Studien, die das Ziel verfolgen verschiedene                  Wohlbefinden, arbeitsspezifische Faktoren etc.) verändert
   Interventionen (hier Achtsamkeitsprogramme) in einer               werden können. Andererseits ist auch die Wirksamkeit, also
   Population (hier: Beschäftigte) hinsichtlich ihrer                 wie stark die jeweiligen Effekte sind, noch nicht abschließend
   Wirkungen und ihrer Wirksamkeit zu untersuchen.                    geklärt. Darüber hinaus gibt es keine aktuelle wissenschaftli-
   Durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch                      che Übersichtsarbeit zu Kosten-Effektivität und Effizienz von
   randomisierte Zuteilung der Teilnehmenden in Interven-             Achtsamkeitsprogrammen im Arbeitskontext.
   tions- und Kontrollgruppen, soll dies erreicht und
   dadurch sollen Verzerrungen (engl. Bias) des Ergebnis-            Aufgrund einer stark gestiegenen Anzahl von Veröffentlichun-
   ses vermieden werden (Röhrig et al., 2009).                       gen achtsamkeitsbasierter Interventionen im Arbeitskontext
                                                                     erscheint eine erneute Analyse sowie die Erweiterung der Fra-
                                                                     gestellung auch um achtsamkeitsinformierte Verfahren ange-
                                                                     bracht und zeitgemäß.
   Begriffsbestimmung: Systematische Literaturana-
   lyse und Meta-Analyse (Sekundärforschung)
                                                                     Gegenstand und Herausforderung ­dieses R­eports
                                                                     Die vorliegende Übersicht versucht, eine große Herausforde-
   Systematische Literaturanalysen (engl. Systematic
                                                                     rung zu bewältigen: Zum einen wurden Studien über einen
   Reviews) verfolgen das Ziel einer vollständigen,
                                                                     langen Zeitraum – von 2005 bis 2019 – erfasst. Zum anderen
   umfassenden Zusammenfassung der Primärstudien zu
                                                                     stellt der Begriff Achtsamkeit einen Überbegriff dar. Selbst
   einer bestimmten Forschungsfrage. Dabei werden
                                                                     wenn sich die darunter subsumierten Verfahren in achtsam-
   systematische Methoden zur Minimierung von
                                                                     keitsbasiert und achtsamkeitsinformiert unterteilen lassen,
   Ergebnisverzerrungen und zufälligen Fehlern verwen-
                                                                     bleibt eine Vielzahl konkreter Techniken und Praktiken, die das
   det. Studien werden kritisch bewertet und Ergebnisse
                                                                     Ziel haben, die Achtsamkeit zu fördern. Die Frage, welche Ver-
   qualitativ oder quantitativ synthetisiert.
                                                                     fahren aufzunehmen sind, wird in der Literatur nicht immer
                                                                     einheitlich beantwortet. Definitionen und Systematiken wei-
                                                                     chen voneinander ab. Aufgrund der fehlenden objektiven und
Es existieren bereits systematische Übersichtsarbeiten zur           umfassenden Definition des Begriffs Achtsamkeit basieren die
Wirksamkeit von Achtsamkeitsprogrammen generell (Ospina              in dieser Arbeit vorgenommenen Kategorisierungen hinsicht-
et al., 2007; Goyal et al., 2014; Eberth & Sedlmeier, 2012), bei     lich der Achtsamkeitsformate, -methoden und -übungen auf
Indikationen aus dem Formenkreis psychischer Erkrankungen            einer Reihe von fachlichen Entscheidungen. Diese orientieren
(Virgili, 2015; Sedlmeier et al., 2012) und bei spezifischen Indi-   sich an der bestehenden Literatur sowie an den persön­lichen
kationen aus dem Bereich physischer Beschwerden oder Er-             Erfahrungen der Autorinnen und Autoren im Themen­bereich
krankungen wie chronischen Schmerzen und Brustkrebs (Khoo            und an den Hinweisen der für diesen Report interviewten Ex-
et al., 2019; Cramer et al., 2012a; Cramer et al., 2012b). Wei-      pertinnen und Experten betrieblicher Achtsamkeit. Inhaltliche
tere systematische Literaturanalysen zeigen auf, dass Acht-          Überschneidungen von Konzepten sind nicht auszuschließen.
samkeitstraining beziehungsweise Meditation neuronale
Strukturen verändert (Fox et al., 2014; Gotink et al., 2016). In
systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen mit
Bezug zum Arbeitskontext konnte für übergreifende Berufs-

                                                                                                                      iga.Report 45 | 11
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Eröffnet bereits die Aufschlüsselung der untersuchten Ver­       ­ erden. Die eingeschlossenen Interventionen zeigen somit
                                                                 w
fahren ein weites Feld, so sind auch die Outcome-Parameter       viel­
                                                                     fältige Möglichkeiten des Einsatzes von Achtsamkeits­
der Achtsamkeitsinterventionen vielfältig. Sie umfassen objek-   schulungen auf.
tive Parameter wie Blutdruck oder Kortisolgehalt in Speichel
oder Plasma, vor allem jedoch subjektive Einschätzungen der       Über die Ergebnisse der systematischen Literaturrecherche
Testpersonen selbst.                                              ­hinaus beinhaltet dieser Report auch die Ergebnisse einer Rei-
                                                                   he von Interviews mit Expertinnen und Experten im Bereich
Forschungsmethoden                                                 betrieblicher Achtsamkeit. Diese geben weiteren Aufschluss
Um den Fragen nach Wirkung, Wirksamkeit und Kosten-Effek-          über relevante Aspekte eines Einsatzes von Achtsamkeit im
tivität sowie Effizienz von Achtsamkeit im Arbeitskontext          Arbeitskontext, die somit die Ergebnisse der Literaturanalyse
nachzugehen, wurde für den vorliegenden Bericht eine syste-        ergänzen. So werden am Ende des Reports beispielsweise för-
matische Literaturrecherche durchgeführt, eine quantitative        dernde und hemmende Faktoren für die Etablierung von Acht-
Analyse vorgenommen und eine narrative Ergebnispräsen­ta­          samkeit im Betrieb beleuchtet sowie eine Einschätzung der
tion erstellt.                                                     zukünftigen Entwicklung von Achtsamkeit im Arbeitskontext
                                                                   aufgezeigt. Zuletzt enthält der Report auch eine eingeschränk-
Studien, die in dieser Übersichtsarbeit behandelt werden, ver-     te Einschätzung der Kosten-Effektivität und Effizienz von Acht-
folgen den „Leitgedanken Achtsamkeit“. Entscheidend für die        samkeitstrainings und legt dar, wo noch Forschungsbedarf
Auswahl von Studien für die vorliegende Analyse ist also, dass   ­besteht.
in der Beschreibung einer untersuchten Intervention ersicht-
lich wird, dass die Achtsamkeitsschulung im Vordergrund          In diesem Sinne stellt das vorliegende Dokument einen umfas-
steht – was unterschiedliche Verfahren und Interventionen        senden, multiperspektivischen und zugleich aktualisierten For-
einschließt. Während in bisherigen berufsgruppenübergreifen-     schungsstand (engl. State-of-the-Art) zum Thema Achtsamkeit
den Reviews ausschließlich achtsamkeitsbasierte Interventio-     im Arbeitskontext dar, wozu verschiedene Forschungsmetho-
nen im Fokus standen, werden im vorliegenden iga.Report          den miteinander abgestimmt und kombiniert wurden (Mixed-
auch achtsamkeitsinformierte Programme untersucht. Dies          Methods-Ansatz).
ermöglicht es, auf eine theoretische beziehungsweise abstrak-
te Definition von Achtsamkeitstechniken, wie beispielsweise       Zielgruppe
in Vonderlin et al. (2020) vorgenommen, weitgehend zu ver-        Dieser Report richtet sich an Beraterinnen und Berater der ge-
zichten. In ihrer systematischen Übersichtsarbeit schlossen       setzlichen Kranken- und Unfallversicherungen (zum Beispiel
Vonderlin et al. (2020) nur Interventionen ein, die zu mindes-    Aufsichtspersonen, Beraterinnen und Berater in der Präventi-
tens 50 Prozent Achtsamkeit unterrichteten. Diese Grenze ist      on und in der Betrieblichen Gesundheitsförderung) sowie an
aus Interventionsbeschreibungen schwer ablesbar und des-          Expertinnen und Experten im Betrieb (zum Beispiel Fachkräfte
halb stark von der subjektiven Einschätzung der Autorinnen        für Arbeitssicherheit, Betriebsärztinnen und -ärzte und
und Autoren abhängig. Dadurch ist jene Studie beispielsweise      BGM-Verantwortliche, Mitarbeitende der Personal- oder Orga-
nicht re­plizierbar, das heißt die Vorgehensweise der Analyse     nisationsentwicklung). Hoffentlich aufschlussreiche Informati-
ist durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler         onen liefert dieser Report auch für wissenschaftlich Tätige,
nicht ­wiederholbar und dadurch nicht überprüfbar. Eine brei-     weil Forschungslücken dargelegt werden, die Qualität der
tere Fassung von Achtsamkeitsprogrammen ergänzt um acht-         ­Studien diskutiert wird und Verbesserungsmöglichkeiten für
samkeitsinformierte Verfahren ermöglicht zudem auch die           zukünftige Interventionsstudien vorgeschlagen werden. Acht-
Auseinandersetzung mit der Frage nach der Wirkung und der         samkeitslehrende, zum Beispiel selbstständige Trainerinnen
Wirksamkeit einzelner Methoden im Vergleich miteinander.          und Trainer, bekommen einen Überblick über die Wirkungen
                                                                  und Wirksamkeit einzelner achtsamkeitsförderlicher Techniken
Die hier untersuchten Interventionen umfassen sowohl grup-        (im Arbeitskontext) und können ihre eigenen Methoden in Re-
penbasierte Verfahren, wie MBSR- und Yogakurse, als auch          lation dazu setzen. Auch Führungskräfte und Beschäftigte, die
solche, die einzeln beziehungsweise im Selbststudium durch-       sich für Gesundheitsförderung durch Achtsamkeit interessie-
geführt werden. Letztere sind häufig Online-Angebote, über        ren, finden hier Einsichten in aktuelle Erkenntnisse und be-
Online-Seminare oder Apps, wobei mittlerweile auch Acht-          kommen Möglichkeiten des Einsatzes von Achtsamkeits­
samkeits-Gruppenkurse über das Internet durchgeführt              trainings aufgezeigt. Nicht zuletzt sind die Erkenntnisse dieser

12 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Arbeit auch für politische Entscheidungsträgerinnen und -trä-        formen untergliedert, und die jeweiligen Ergebnisse für alle
ger, deren Verantwortungsbereich einen Bezug zum BGM hat,            untersuchten Zielparameter werden aufgezeigt. Zusammen-
von hoher Relevanz. Letzteres wird dadurch unterstrichen,            fassungen jeweils am Ende der Unterabschnitte 5.1.5 und
dass das Bundesgesundheitsministerium über Maßnahmen                 5.2.5 ermöglichen es eiligen Leserinnen und Lesern, sich in
des BGM informiert und berät, da Prävention und Gesund-              Kürze über die Ergebnisse zu informieren. Im Anschluss (Kapi-
heitsförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgaben verstan-         tel 6) werden ausgewählte Befunde diskutiert: Die Wirksam-
den werden (Bundesministerium für Gesundheit, 2020).                 keit von digitalen im Vergleich zu analog durchgeführten Acht-
                                                                     samkeitstrainings, Gründe für hohe Abbruchquoten von
Aufbau                                                               Achtsamkeitstrainings, die Kosten-Effektivität und Effizienz
Im Anschluss an diese Einleitung (Kapitel 1) folgt eine kurze        des Einsatzes von Achtsamkeitstrainings im Betrieb und die
Zusammenfassung des bisherigen Stands der Forschung zum              Wirksamkeit von Mikrointerventionen, das heißt kurzen Inter-
Thema Achtsamkeit im Arbeitskontext (Kapitel 2). Hiernach            ventionen von weniger als fünf Stunden Gesamttrainings­
werden die verwendeten Forschungsmethoden begründet und              dauer. Die Qualität dieser Studien und der daraus abgeleiteten
erklärt (Kapitel 3). Der Hauptteil folgt einer methodischen          Evidenz sowie Forschungslücken werden in Kapitel 7 disku-
Zweiteilung: Zunächst werden die Studien und die darin un-           tiert. Daran schließt sich der qualitative Forschungsteil an
tersuchten Interventionen, die auf Basis der umfangreichen          ­(Kapitel 8), der ergänzende Ergebnisse zum Beispiel zur Nach-
Literaturrecherche identifiziert wurden, vorgestellt (Kapitel 4).    haltigkeit und möglichen zukünftigen Entwicklung von Acht-
Darauf folgt die Darstellung der allgemeinen Ergebnisse der          samkeit im Arbeitskontext bereitstellt. Der Report schließt mit
Literaturanalyse (Kapitel 5). Diese sind nach Interventions­         einem Fazit (Kapitel 9) ab.

2      Aktueller Stand der Forschung

Die Relevanz von Achtsamkeitstrainings im Rahmen des BGM            3.1.3 für Erläuterungen) fokussieren, zum Thema Achtsamkeit
spiegelt sich in der Anzahl der Übersichtsarbeiten zu diesem        am Arbeitsplatz veröffentlicht (Bartlett et al., 2019; Lomas et
Thema wieder. Vor knapp 15 Jahren wurde der erste umfang-           al., 2019; Vonderlin et al., 2020). Alle drei haben ausschließlich
reiche Report und eine entsprechende Fachveröffentlichung           achtsamkeitsbasierte Verfahren in die Auswertung einge-
zu den Wirkungen und der Wirksamkeit von Achtsamkeitsme-            schlossen: Lomas et al. (2019) untersuchten 35 RCTs und iden-
thoden allgemein, das heißt nicht speziell im Arbeitskontext,       tifizierten moderate Effekte, das heißt moderate Wirksamkeit,
veröffentlicht (Ospina et al., 2007; 2008). Seitdem sind mehr       von achtsamkeitsbasierten Interventionen auf defizitorientier-
und mehr Übersichtsarbeiten entstanden, die die Wirksamkeit         te Zielparameter wie Stress, Angst, Depression und Burnout
gesundheitsförderlicher und achtsamkeitsbasierter Verfahren         sowie moderate bis geringe Effekte auf ressourcenorientierte
speziell im Arbeitskontext, meist für verschiedene Berufsgrup-      Outcomes wie subjektive Parameter der Gesundheit, Arbeits-
pen, analysiert haben. Gerade über Lehrpersonal sowie über          leistung (Job Performance), Mitgefühl und Empathie, Acht-
Beschäftigte im Gesundheitswesen gibt es eine Reihe an              samkeit sowie Wohlbefinden. In der Arbeit von Bartlett et al.
Übersichtsarbeiten (z. B. Burton et al., 2017; Irving et al.,       (2019) wurden 23 Studien einbezogen, die positive Effekte auf
2009; Lomas et al., 2018; Emerson et al., 2017; Hwang et al.,       Achtsamkeit, Stress und Angst, sowie Wohlbefinden aufzeigen
2017; Klingbeil & Renshaw, 2018), die eine positive Wirkung         konnten, aber keine signifikanten Ergebnisse für Burnout, De-
auf Stress beziehungsweise das Stresserleben, Burnout, Wohl-        pression und Arbeitsleistung fanden. In der aktuellsten Über-
befinden sowie Emotionsregulation aufzeigen.                        sichtsarbeit von Vonderlin et al. (2020) wurden 56 RCTs be-
                                                                    rücksichtigt, die ebenfalls nur achtsamkeitsbasierte Verfahren
Seit 2018 wurden drei berufsgruppen- beziehungsweise bran-          untersucht hatten. Das Studienteam ­wiederum konnte zum
chenübergreifende Übersichtsarbeiten, die aufgrund der Fülle        Teil deutliche Auswirkungen von Achtsamkeitsinterventionen
an Studien auf randomisierte kontrollierte Untersuchungsde-         auf Achtsamkeit, Wohlbefinden, Mitgefühl und Arbeitszufrie-
signs (engl. Randomized-Controlled Trials, kurz RCTs) (siehe        denheit finden, aber keine Effekte auf Arbeitsengagement und

                                                                                                                     iga.Report 45 | 13
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Produktivität berichten. Das kann unter anderem auf eine ge-      wurden, deutet darauf hin, dass Achtsamkeitstrainings nicht
ringe Anzahl an Studien, die diese Parameter analysiert haben,    nur mit dem Ziel der Gesundheitsförderung eingesetzt wer-
zurückgeführt werden. Diesem Problem wird im vorliegenden         den. Achtsamkeit spielt zunehmend also auch eine Rolle in der
Report teils Rechnung getragen, da seit dem Suchzeitraum,         Entwicklung der Kultur und Innovationsfähigkeit eines Unter-
den Vonderlin et al. (2020) verfolgten, circa 30 neue randomi-    nehmens (Kohtes & Rosmann, 2014).
sierte kontrollierte Studien zu Mind-Body-Ansätzen im Ar-
beitskontext veröffentlicht wurden. Durch Einschluss dieser       Über die genauen Wirkungen und die Wirksamkeit hinaus sind
neuen Studien in die vorliegende Analyse erfolgt einerseits ein   weitere Fragen in der Literatur noch nicht geklärt oder noch
Update der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Darü-      nicht thematisiert. Dazu zählen die Gründe hoher Attrition,
ber hinaus ermöglicht es die hier zusätzlich vorgenommene         das heißt der Abbruchquoten von Achtsamkeitstrainings im
qualitative Wirksamkeitsanalyse, auch eine Tendenz für bisher     Betrieb, die Wirksamkeit von web- oder App-basierten Pro-
unklare oder nicht berücksichtigte Ergebnisparameter wie Em-      grammen im Vergleich zu analog durchgeführten Program-
pathie, Lebenszufriedenheit und Produktivität herauszufiltern.    men, die optimale Interventionsdauer und die Kosten-Effekti-
Diese Ziele von Achtsamkeitstrainings gehen über die klassi-      vität solcher Programme. Die Ergebnisse zu diesen Fragen
schen BGM-Ziele (siehe Badura et al., 2010) hinaus. Dass sol-     werden in diesem Report diskutiert.
che Parameter in den eingeschlossenen Studien untersucht

3       Forschungsmethoden

In diesem Kapitel wird erläutert, welche Forschungsmethoden       3.1.1 Suchstrategie
für die vorliegende Arbeit verwendet wurden. Es wurde ein
Mixed-Methods-Ansatz verfolgt, das heißt sowohl quantitati-       Eine große Anzahl von Studien zur Wirkung und Wirksamkeit
ve als auch qualitative Forschungsmethoden wurden ange-           von Achtsamkeitstechniken wie Meditation, Yoga, Qigong und
wandt. Der erste Teil (3.1) erklärt das Vorgehen der systemati-   multimodalen Programmen im Arbeitskontext ist in Fach­
schen Literatursuche und die Auswertung der quantitativen         zeitschriften mit qualitätssicherndem Review-Verfahren ver­
Ergebnisse. Der zweite Teil (3.2) beschreibt den ergänzenden      öffentlicht worden. Um möglichst alle diese Studien zu iden­
qualitativen Ansatz. Dieser umfasst eine Reihe von Interviews     tifizieren, wurde für diese Arbeit eine systematische
mit Achtsamkeitsexpertinnen und -experten.                        Literaturrecherche durchgeführt. Dafür wurden Suchbegriffe
                                                                  festgelegt, mit denen nach relevanten Veröffentlichungen in
                                                                  verschiedenen Datenbanken gesucht wurde. Neben der me­
3.1     Systematische Literaturrecherche                          dizinischen Datenbank PubMed wurde in den psycholo­gischen
                                                                  Datenbanken PubPsych und PsycInfo sowie in den fachüber-
                                                                  greifenden Datenbanken Scopus und C  ­ ochrane gesucht.
Im Rahmen der systematischen Literaturrecherche wurden di-
verse Arbeitsschritte durchgeführt, die hier erläutert werden.    Folgende Suchbegriffe wurden verwendet:
Zuerst wird erklärt, wie nach relevanten veröffentlichten Stu-    – Intervention: Achtsamkeit, Meditation, Atemübung, Yoga,
dien gesucht wurde (3.1.1) und wie die Auswahl an Studien            Tai Chi, Qi Gong/Qigong, Bodyscan, Mantra, Mind-Body
für die vorliegende Analyse getroffen wurde (3.1.2). Im An-          Therapie
schluss wird erklärt, welche Daten aus den Studien extrahiert     – Population und Setting: Arbeit, Arbeitsplatz, Job, Beruf,
wurden (3.1.3). In Unterabschnitt 3.1.4 werden die von den           Beschäftigung, Beschäftigte, Arbeitnehmer*, F­ ührungskraft
Autorinnen und Autoren untersuchten Ergebnisparameter zu-         – Kontrollgruppe beziehungsweise Studiendesign:
sammengefasst und ihre Definitionen aufgeführt. Dann wird            ­kontrolliert-randomisiert, randomisiert, RCT, zufällig, kont-
erklärt, wie die Ergebnisse der Studien anhand von standardi-        rollierte Studie, Intervention, Kontrollgruppe
sierten Effektmaßen vergleichbar gemacht und interpretiert
werden können (3.1.5).

14 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Diese Begriffe wurden zudem ins Englische übersetzt und mit         bung der Studie deutlich erkennbar war. Studien, die Ge-
der gleichen Suchstrategie verwendet. Als Beispiel ist der ge-      sundheitsförderung beispielsweise auf Basis der Positiven
naue Suchcode, der in PubMed eingegeben wurde, im Anhang            Psychologie untersuchten (wie z. B. Feicht et al., 2013), die
A2 aufgeführt.                                                      aber Achtsamkeit nicht als zentrales Leitprinzip verfolgten,
                                                                    wurden entsprechend nicht in die Analyse eingeschlossen.
Für die Auswahl relevanter Studien wurden folgende Ein- und         Diese Einschlussregel ermöglicht, sowohl achtsamkeitsba-
Ausschlusskriterien festgelegt:                                     sierte als auch acht­sam­keitsinformierte Interventionen zu
– Aufgrund der Vielzahl veröffentlichter Studien zum Thema          berücksichtigen.
   Achtsamkeit am Arbeitsplatz wurden in dieser Übersichts-
   arbeit nur Studien eingeschlossen, denen ein randomisier-     – Es wurden nur Studien eingeschlossen, deren Teilnehmen-
   tes kontrolliertes Studiendesign (RCT) zugrunde liegt.          de berufstätige Erwachsene waren, um sicherzustellen,
   Diesem Studiendesign ist aufgrund eines geringeren Ver-         dass es sich um eine im Arbeitskontext relevante Studie
   zerrungspotenzials der Ergebnisse (siehe Kapitel 7) Vorzug      handelt.
   zu geben gegenüber anderen Studiendesigns. Zudem
   erlaubt es Aussagen zum kausalen Wirkungszusammen-            – Eine weitere Voraussetzung für den Einschluss einer Studie
   hang zwischen Intervention und beobachteten Folgen. Das         war ihre (Online-)Veröffentlichung zwischen Januar 2005
   heißt, dass es stets eine oder mehrere Interventionsgrup-       und November 2019 in einer Fachzeitschrift in deutscher
   pen gab, die ein Achtsamkeitsprogramm durchlaufen ha-           oder englischer Sprache. Das Anfangsdatum ist begründet
   ben, sowie mindestens eine Kontrollgruppe. Üblicherweise        durch den Suchzeitraum der umfangreichen Studie von
   gibt es drei Arten von Kontrollgruppen. Die Teilnehmenden       Ospina et al. (2007; 2008), an die die vorliegende Arbeit
   einer aktiven Kontrollgruppe erhalten eine andere Inter-        anschließen soll. Das Ende ist begründet durch den Start
   vention, beispielsweise mit demselben zeit­lichen Umfang,       der Bearbeitung dieses Reports.
   die aber methodisch keine oder andere Grundlagen hat
   (zum Beispiel eine Stunde mehr Mittagspause ­versus Acht-     – Zuletzt war auch die Angabe mindestens eines inhaltlich
   samkeitstraining). In Wartelistenkontrollgruppen erhalten       relevanten Ergebnisparameters (siehe 3.1.4 Zielparameter
   Probandinnen und Probanden das Training der Interventi-         und 3.1.5 Berechnung der Wirksamkeit) Voraus­setzung für
   onsgruppe(n), nachdem deren Training beendet ist. Teil-         den Einschluss.
   nehmende passiver Kontroll­gruppen erhalten keine Inter-
   vention. Die Zuteilung der Teilnehmenden in die Gruppen       Für ein besseres Verständnis zeigt Tabelle 1 beispielhaft zwei
   erfolgt bei RCTs über ein Zufallsprinzip.                     Studien, von denen eine die oben beschriebenen Kriterien
                                                                 erfüllt und deshalb in die Studie eingeschlossen wurde
                                                                 ­
– Studien, die die Teilnehmenden gruppenbasiert zuteilten,       (Duchemin et al., 2015), während die andere nicht alle Kriteri-
  also nicht individuell randomisierte, wurden ausgeschlos-      en erfüllt und deshalb nicht eingeschlossen wurde (Kersemae-
  sen.                                                           kers et al., 2018).

– Voraussetzung für den Einschluss einer Studie war zusätz-
  lich, dass der Intervention der Leitgedanke der Förderung
  von Achtsamkeit zugrunde lag und dies in der Beschrei-

                                                                                                                 iga.Report 45 | 15
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Tabelle 1: Beispiel ein- und ausgeschlossener Studien

                                                          Eingeschlossene Studie:              Ausgeschlossene Studie:
 Kriterien
                                                          Duchemin et al. 2015                 Kersemaekers et al. 2018

  RCT                                                     ja                                    nein

  Individuelle Randomisierung                             ja                                    nein

  Leitgedanke „Achtsamkeit“                               ja                                    ja

  Zielgruppe berufstätige ­Erwachsene                     ja                                    ja

  Veröffentlichungszeitraum 2005–2019                     ja                                    ja

  Relevante Ergebnisparameter                             ja                                    ja

3.1.2 Screening-Prozess                                                3.1.3 Datenextraktion

Die beschriebene Suchstrategie lieferte insgesamt 6.339 Er-            Zwei Mitglieder des Projektteams haben die für diesen Report
gebnisse, von denen 1.342 Duplikate waren. Die verbleiben-             relevanten Daten aus den veröffentlichten Artikeln zunächst
den Artikel samt derer, die per Handsuche oder in bereits ver-         unabhängig voneinander extrahiert und in einem weiteren
öffentlichten Übersichtsstudien gefunden wurden, haben auf             Schritt gemeinsam Diskrepanzen gelöst. Wenn beispielsweise
Basis des Titels und Abstracts (das heißt Zusammenfassung              für eine Angabe wie die Zahl der Teilnehmenden einer Inter-
der Studie) zwei Mitglieder des Studienteams unabhängig                vention bei beiden Mitgliedern unterschiedliche Daten in den
voneinander auf Relevanz geprüft. 248 Studien wurden im An-            jeweils erstellten Datenblättern gefunden wurden, überprüfte
schluss ebenfalls von diesen beiden Personen vollständig ge-           eine der beiden Personen die Angabe durch erneute Einsicht in
lesen und auf die oben genannten Ein- und Ausschlusskriteri-           die Veröffentlichung und sprach bei weiteren Unsicherheiten
en hin geprüft. Dabei konnte eine Urteilsübereinstimmung               bezüglich der Richtigkeit der Angabe mit der anderen Person
(Interrater-Reliabilität, Cohen’s κ) von 98,3 Prozent erreicht         sowie in Einzelfällen mit einem dritten Teammitglied.
werden. Studien, über deren Einschluss sich die beiden Mit-
glieder uneinig waren, wurden von einem dritten Teammit-               Manche Veröffentlichungen enthalten mehrere Studien, in de-
glied geprüft. Aufgrund fehlender notwendiger Angaben in 15            nen verschiedene Achtsamkeitsinterventionen oder die glei-
Studien wurden deren Verfasserinnen und Verfasser ange-                che Achtsamkeitsintervention für verschiedene Zielgruppen
schrieben. Zehn von ihnen haben mit ergänzenden Angaben                (zum Beispiel Beschäftigte mit hohem versus niedrigem
geantwortet. Schließlich konnten 106 Veröffentlichungen ent-           Stresslevel) untersucht werden. Andere Studien vergleichen
sprechend der Kriterien in diese Übersichtsarbeit eingeschlos-         mehrere relevante Interventionsgruppen (zum Beispiel MBSR
sen werden. Das PRISMA-Diagramm in Abbildung 2 stellt den              versus Yoga versus passive Kontrollgruppe). In diesen Fällen
Screening-Verlauf im Detail dar.                                       wurden die verschiedenen Studienarme als separate Studien
                                                                       aufgeführt und ausgewertet. In wenigen Fällen war die Acht-
                                                                       samkeitsintervention eine Kontrollgruppe. In diesen Fällen
                                                                       wurden in der Dokumentation für die vorliegende Arbeit die
                                                                       Begriffe von Kontroll- und Interventionsgruppe getauscht. Zu-
                                                                       dem gibt es einige Autorinnen und Autoren, die Ergebnisse
                                                                       einer Studie in mehreren Artikeln, teils mit überschneidenden
                                                                       Ergebnispräsentationen veröffentlicht haben. Diese wurden in
                                                                       der vorliegenden Arbeit zu einer Studie zusammengefasst.
                                                                       Beide Handhabungen sind in den Tabellen und im Text ent-

16 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Abbildung 2: PRISMA-Diagramm

sprechend gekennzeichnet. Insgesamt umfasst die Auswer-         Trainingszeit entspricht. Wenn Hausaufgabenzeit in der Inter-
tung 105 Studien aus 106 veröffentlichten Artikeln.             ventionsbeschreibung angegeben war, wurde diese vorgege-
                                                                bene Hausaufgabenzeit dokumentiert. Bei Angabe von Min-
Folgende Daten wurden aus den Artikeln extrahiert:              dest- und Maximalübungszeit wurde die Mindestübungszeit
– Name der Intervention (Originaltitel)                         dokumentiert. War zusätzlich eine durchschnittliche von den
– Art der Kontrollgruppe (aktiv, passiv oder Warteliste)        Teilnehmenden tatsächlich geleistete Hausaufgabendauer an-
– Gesamtdauer der Intervention in Stunden und Wochen            gegeben, wurde diese Information vernachlässigt. Außerdem
– Art der Übermittlung des Achtsamkeitstrainings (digital       wurde die Anzahl der Teilnehmenden pro Gruppe zu unter-
   oder analog)                                                 schiedlichen Messzeitpunkten extrahiert. In dieser Übersicht
– Trainingsort (am Arbeitsplatz, zentral an einem Ort abseits   liegt der Fokus auf den Messzeitpunkten Pre-Intervention (das
   des Arbeitsplatzes, ortsunabhängig)                          heißt vorher = T0) und Post-Intervention (das heißt direkt
– ob das Training während oder außerhalb der Arbeitszeit        nach Beendigung der Intervention = T1). Manche Artikel ent-
   stattfand und                                                halten Zwischenergebnisse, also solche, die während (inmit-
– ob Hausaufgaben obligatorisch waren.                          ten) der Intervention erhoben wurden. Diese wurden aufgrund
                                                                schlechter Vergleichbarkeit für die vorliegende Arbeit nicht
Wenn die Dauer einer Intervention in Tagen statt Stunden an-    extrahiert.
gegeben wurde, ist angenommen, dass ein Tag acht Stunden

                                                                                                               iga.Report 45 | 17
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

Nur circa ein Viertel der Studien enthält Ergebnisse, die einen   Eine Auflistung der von den Studiengruppen verwendeten Ins-
echten Vergleich zwischen Interventions- und Kontrollgruppe       trumente ist im Tabellenband1 in Tabelle T1 zu finden. Diese
im Follow-up (mehrere Wochen oder Monate nach der Inter-          Tabelle enthält auch die Zuordnung der Instrumente zu sieben
vention = T2) erlauben würden. Ein echter Vergleich ist dann      Kategorien an Zielparametern. Die Kategorien samt ihren De-
möglich, wenn nicht nur für die Interventionsgruppe, sondern      finitionen sind im Folgenden aufgelistet:
auch für die Kontrollgruppe Daten zum Zeitpunkt T2 erhoben
wurden. Analysen solcher Follow-up-Erhebungen sind nicht          1. Physische und physiologische Parameter der Gesund-
Gegenstand dieser Arbeit. Der Aspekt der Nachhaltigkeit wird         heit: Zu den physischen und physiologischen Parametern
allerdings in Abschnitt 8.4 auf Basis der Expertinnen- und Ex-       der Gesundheit gehören objektive Faktoren, die von Perso-
perteninformationen diskutiert.                                      nen des Studienteams an den Teilnehmenden durch ent-
                                                                     sprechende Geräte (zum Beispiel Blutdruckmessgerät)
Aus den angegebenen Teilnahmezahlen lässt sich die Ausfall-          erhoben wurden und subjektive Parameter, die von den
rate beziehungsweise Abbruchquote berechnen. Sind in der             Probandinnen und Probanden selbst eingeschätzt werden.
Veröffentlichung diese Zahlen an verschiedenen Messpunkten           R Blutdruck: Der Blutdruck wird üblicherweise in Form
nicht angegeben, wurde angenommen, dass es keine Inter-                  des systolischen und diastolischen Drucks durch ein
ventionsabbrüche gab. Zudem wurde dokumentiert, in wel-                  Blutdruckmessgerät nichtinvasiv erhoben. Ein erhöhter
chem Land die Studie durchgeführt wurde und zu welcher                   Blutdruck ist mit Stresserleben assoziiert, und es ist
Berufsgruppe die Teilnehmenden gehören. Zuletzt wurden alle              wissenschaftlich belegt, dass der Blutdruck durch Me­
für den Arbeitskontext relevanten Zielparameter, die in min-             di­­tations­übungen gesenkt werden kann (Goldstein et
destens vier Studien untersucht wurden, mit den entsprechen-             al., 2012).
den Effektstärken oder den dafür statistischen Größen zur Be-        R Herzrate: Die Herzrate, oder Herzfrequenz, ist eine
rechnung der Effektstärken extrahiert (siehe 3.1.5). Die                 autonome Funktion des Körpers und definiert als die
Auswahl der Mindestanzahl von vier Studien pro detailliertem             Anzahl der Herzschläge pro Zeiteinheit. Durch Achts­
Zielparameter orientiert sich an anderen Übersichtsarbeiten              amkeits- und Meditationsübungen kann die Herzrate
von Lomas et al. (2019), die Ergebnisse aus mindestens fünf              gesenkt werden (Khalsa et al., 2015).
Studien ausgewertet haben, Bartlett et al. (2019), deren Min-        R Herzratenvariabilität (HRV): Die HRV, oder Herz­
destzahl von Studien drei betrug und Vonderlin et al. (2020),            frequenzvariabilität, bezeichnet die Veränderungen
die Parameter auswerteten, für die es mindestens vier Ergeb-             im Herzrhythmus. Dieser ist beeinflusst durch die
nisse gab. Dadurch wird eine Balance zwischen der Darstel-               Aktivitäten des autonomen Nervensystems, das An-
lung der Vielseitigkeit der Auswirkungen von Achtsamkeitstrai-           spannung und Entspannung reguliert. Unter Stress ist
nings und Aussagekraft der einzelnen Ergebnisse angestrebt.              der Herzrhythmus für gewöhnlich eher hoch, während
Im Einzelfall untersuchte Aspekte wie Aggression, Müdigkeit,             er im Ruhezustand tendenziell niedrig ausfällt. Eine
Kognition und verschiedenste physiologische Marker können                geringe HRV zeigt eine schwache Anpassungsfähigkeit
deshalb, wie in vorherigen Übersichtsarbeiten, in dieser Arbeit          des Körpers an affektive, kognitive und psychologische
nicht analysiert werden.                                                 Aspekte von Stress an. Im Gegensatz dazu ist eine
                                                                         hohe HRV mit einer besseren Stressregulationsfähig-
3.1.4 Zielparameter                                                      keit assoziiert (Hansen et al., 2004; Lehrer, 2009).
                                                                     R Kortisol: Kortisol ist ein Hormon, das unter Stress
Die ausgewählten Studien untersuchen eine Vielzahl von Para-             ausgeschüttet und deshalb oft als physiologischer
metern, die hier beschrieben werden. Von über 500 verschie-              Stressindikator benutzt wird (Flook et al., 2013). Die
denen Instrumenten, das heißt Fragebögen und klinischen                  Konzentration von Kortisol im Körper wird in den
Messparametern, wurden 343 in dieser Arbeit analysiert. Sie              vorliegenden Studien auf Basis von Speichelproben er-
sind hier zu sieben Kategorien mit insgesamt 27 detaillierten            hoben. Eine in den Studien beobachtete Reduktion von
Unterkategorien zusammengefasst. Die nicht verwendeten In-               Kortisol im Speichel deutet auf eine stressreduzierende
strumente erfassen alle sehr vereinzelte Aspekte, die im Detail          Wirkung von Achtsamkeitsübungen hin.
nicht untersucht werden können.

                                                                  1	Der Tabellenband ist online verfügbar:
                                                                     www.iga-info.de > Veröffentlichungen > iga.Reporte > iga.Report 45.

18 | iga.Report 45
Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

   R Schmerz: Schmerz ist im Gegensatz zu den physiologi-          außergewöhnliche Situationen (die Auslöser = Stres-
     schen Parametern ein selbst eingeschätzter Parameter.         soren), wenn irgend möglich, adäquat zu reagieren
     Da er der Einschätzung eines physischen Zustands              (Esch, 2002). Wichtig ist zu betonen, dass diese Reak-
     dient, wird er in dieser Arbeit der physischen Gesund-        tion nicht zwingend als solche erlebt werden muss. Es
     heit zugeordnet. Schmerz wird meist über visuelle             ist also möglich, gestresst zu sein, ohne es zu fühlen
     Analogskalen erhoben. Eine visuelle Analogskala ist           oder zu wissen bzw. negativ zu bewerten (Matthews,
     beispielsweise eine Linie, deren Endpunkte extreme            2016). Im Gegensatz zu identifizierten Störungen ist
     Zustände darstellen, wie zum Beispiel „kein Schmerz“          Stress in seiner Definition und Messung allgemeiner
     und „unerträglicher Schmerz“, und die Befragten               und umfasst psychophysiologische Symptome und
     geben an, an welcher Stelle auf dieser Linie sie ihr          Verhaltenssymptome, die für eine bestimmte Störung
     Empfinden einordnen.                                          nicht spezifisch sind, einschließlich ängstlicher und
   R Subjektive physische Gesundheit: Dieser Kategorie             depressiver Reaktionen (Lomas et al., 2019). Stress­
     sind Instrumente zugeordnet, die eine subjektive Ein­         erleben ist mit verschiedenen Erkrankungen assoziiert
     schätzung der Teilnehmenden zu ihrem physischen Ge-           (Esch et al., 2002b).
     sundheitszustand erfassen. Dazu zählen beispielsweise       R Angst: Nach dem State-Trait-Anxiety-Inventar (Spiel-
     verschiedene Subskalen der Medical Outcomes Study,            berger et al., 1970) wird Zustandsangst definiert als
     wie der Short Form 36 Gesundheitsfragebogen (SF-36)           „vorübergehender momentaner emotionaler Status,
     und der Patient Health Questionnaire mit neun Fragen.         der aus situativem Stress resultiert“. Dispositionelle
                                                                   Angst ist die „Veranlagung, in Stresssituationen
2. Psychische Parameter der Gesundheit: Die hier einge-            mit Angst zu reagieren“. Charakteristisch für eine
   ordneten Parameter sind von den Teilnehmenden selbst            generalisierte Angststörung sind Sorgen, die sich auf
   eingeschätzte, das heißt subjektive Angaben zu verschie-        reale Gefahren beziehen, wobei deren Eintrittsrisiko
   denen Aspekten psychischer Risikofaktoren beziehungs-           stark überschätzt wird. Diese Besorgnisse können
   weise Erkrankungen.                                             sich auf zahlreiche Bereiche übertragen und in einem
   R Depression: Laut der Weltgesundheitsorganisation              Absicherungs- und Vermeidungsverhalten resultieren
       (WHO, 2020) ist Depression „eine weit verbreitete           (Bandelow et al., 2013).
       psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interesselo-   R Subjektive psychische Gesundheit: Der Kategorie
       sigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühle       subjektiver psychischer Gesundheit sind verschiedene
       und geringes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen,             Erhebungsinstrumente zugeordnet, die eine Selbstein-
       Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwä-        schätzung der psychischen Gesundheit der Teilneh-
       chen gekennzeichnet sein kann. Sie kann über längere        menden vornehmen lassen, beispielsweise anhand
       Zeit oder wiederkehrend auftreten und die Fähigkeit         des Psychological General Well-Being Index (Grossi &
       einer Person zu arbeiten, zu lernen oder einfach zu         Compare, 2014). Erfasst werden hier intrapersonale
       leben beeinträchtigen. Im schlimmsten Fall kann eine        affektive oder emotionale Zustände, die ein Gefühl
       Depression zum Suizid führen.“ Weitere Informationen        des subjektiven Wohlergehens oder der Belastung
       zur Symptomatik und Diagnostik wurden beispielswei-         widerspiegeln.
       se vom Robert Koch-Institut aufbereitet (Bretschneider
       et al., 2017). Eine Reihe von Studien hat die Redukti-
       onsfähigkeit von Achtsamkeitsmethoden auf Depres-
       sions-assoziierte Symptome aufgezeigt (Cramer et al.,
       2013).
   R Stress: Stress ist eine meist plötzlich auftretende,
       bedrohliche oder schlicht herausfordernde Situation,
       welche eine Reaktion herbei zwingt. Sie löst physiolo-
       gische Anpassungsmechanismen aus, die sogenannte
       Stressantwort (Stress Response) (Esch et al., 2005).
       Solche endogenen oder autoregulativen Reaktionen
       haben das Ziel, Menschen in die Lage zu versetzen, auf

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Wirksamkeit von Achtsamkeitstechniken im Arbeitskontext

   R Affekt: Unter Affekt wird üblicherweise ein intensi-           R Subjektives Wohlbefinden: Als subjektives Wohlbefin-
     ves, relativ kurz dauerndes Gefühl verstanden. In der             den wird die Einschätzung des eigenen Glücksniveaus
     weitesten Bedeutung wird jede emotionale Regung                   und der eigenen Lebenszufriedenheit bezeichnet
     (Emotion) als affektiver Prozess bezeichnet. Grund-               (Myers et al., 2008). Das am häufigsten verwendete
     sätzlich ist der aktuelle affektive Zustand (state) von           Instrument ist der WHO-Five Well-being Index, der
     der vergleichsweise stabilen habituellen Tendenz zum              aus fünf Fragen besteht. Wie auch zur Lebens- und
     Erleben von Affekten (trait) zu unterscheiden (Eschen-            Arbeitszufriedenheit besteht ein erwarteter positiver
     beck, 2009). In den hier vorliegenden Studien wurde               Zusammenhang zwischen subjektivem Wohlbefinden
     das zeitnahe Erleben sowohl negativer als auch positi-            und Achtsamkeit (Keng et al., 2011).
     ver Affekte abgefragt. Dafür wurde in den meisten hier
     untersuchten Studien die Positive and Negative Affect       4. Erholung: Erholung beschreibt hier die Fähigkeit, Körper
     Scale (PANAS) (beispielsweise Watson et al., 1988) ge-         und Geist beziehungsweise Psyche nach Anstrengung zu
     nutzt. Diese fragt fünf positive kürzlich erlebte Affekte      regenerieren. Dies lässt sich durch den Entspannungs­
     (zum Beispiel begeistert, freudig erregt, entschlossen)        zustand sowie die Qualität des Schlafs messen.
     und fünf negative kürzlich erlebte Affekte (zum Bei-           R Entspannung: In dieser Kategorie wird gemessen, wie
     spiel bekümmert, verärgert, betroffen) ab.                         gut sich eine Person in ihrer Freizeit entspannen und
   R Psychologische Inflexibilität: Psychologische Inflexi-             von der Arbeit erholen kann (Sonnentag & Fritz, 2007).
     bilität bezeichnet die Unfähigkeit, Verhalten im Sinne             Ein positiver Zusammenhang zwischen dem Üben von
     langfristiger wertekonformer Ziele beizubehalten oder              Achtsamkeitstechniken und der Entspannungsfähigkeit
     zu ändern mit der Absicht, unangenehme Emotionen                   wurde bereits gezeigt (Baer, 2003).
     zu vermeiden (Bond et al., 2011). Psychologische               R Schlaf: In dieser Kategorie werden Schlafqualität und
     Inflexibilität hat zur Folge, dass Betroffene sich nicht           -quantität sowie verschiedene Schlafstörungen (zum
     auf neue Situationen einlassen können. Eine Reduktion              Beispiel Schlaflosigkeit) zusammengefasst. Neuro-
     durch achtsamkeitsinformierte Verfahren konnte in Ein-             biologische Studien konnten zeigen, dass Meditation
     zelstudien nachgewiesen werden (Lloyd et al., 2013).               zu einer Veränderung des Melatonin-Haushalts führt
                                                                        und so den Schlaf-Wach-Rhythmus positiv beein-
3. Wohlbefinden: Unter Wohlbefinden wird hier die indivi-               flussen kann (Esch, 2014; Michaelsen & Esch, 2021).
   duelle Einschätzung der eigenen Lebensqualität allgemein             Dass ­ausreichender und guter Schlaf für Gesundheit,
   oder spezifisch in bestimmten Kontexten wie der Arbeit               Wohlbefinden und Leistung förderlich ist, zeigten
   verstanden.                                                          bereits ­einige Studien (Magnavita & Garbarino, 2017)
   R Lebenszufriedenheit: Die Lebenszufriedenheit wird im               und wird in den Achtsamkeitsstudien, die hier im
       Kontext der Satisfaction with Life Scale definiert als           Arbeitskontext durchgeführt wurden, deshalb vielfach
       „eine globale Bewertung der Lebensqualität eines                 untersucht.
       Menschen nach seinen gewählten Kriterien“ (Shin &
       Johnson, 1978, S. 478). Es wird ein positiver Zusam-
       menhang zwischen Achtsamkeit und Lebenszufrieden-
       heit angenommen.
   R Arbeitszufriedenheit: Arbeitszufriedenheit ist die
       bewertende Einschätzung der Arbeitssituation einer
       Person (Weiss, 2002). Arbeitszufriedenheit bezieht
       sich auf wichtige organisatorische Ergebnisse wie
       Aufgaben und kontextbezogene Leistung und könn-
       te deshalb auch bei arbeitsbezogenen Parametern
       eingeordnet werden. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur
       Lebenszufriedenheit ist sie hier dem Wohlbefinden
       zugeordnet.

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