Im Epizentrum des GAUs - Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der ...

Die Seite wird erstellt Beeke Strobel
 
WEITER LESEN
Im Epizentrum des GAUs - Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der ...
UKRAINE

                                    Kernkraftwerk Tschernobyl 1986: Im Vordergrund der zerstörte Reaktorblock 4.

                                                        Im Epizentrum des GAUs
                                        Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in
                                             der Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung. Ein Museum in Kiew erinnert daran.
                                       n einem 1912 errichteten Gebäude im       Ukraine ein eigenständiger Staat gewor-    der Sperrzone sind ausgestellt. Ver-

                                    I  Kiewer Stadtteil Podil ist das nationa-
                                       le Tschernobyl-Museum unterge-
                                    bracht. Es erinnert an den Reaktorun-
                                                                                 den. Anfangs umfasste die Sammlung
                                                                                 nur rund 200 Objekte; nach und nach
                                                                                 wurde die Ausstellungsfläche erweitert
                                                                                                                            schiedene Installationen sollen die Tra-
                                                                                                                            gik des Unfalls deutlich machen.
                                                                                                                               Der von der Eingangshalle in die
                                    fall, der sich vor 35 Jahren im Kern-        und die Zahl der Exponate vervielfacht.    Museumsräumlichkeiten führende Stie-
                                    kraftwerk Tschernobyl ereignete – rund       1996 erhielt die Dauerausstellung den      genaufgang ist von 76 Ortstafeln ge-
                                    130 Kilometer von der ukrainischen           Status eines nationalen Museums.           säumt – sie repräsentieren jene Orte, die
                                    Hauptstadt Kiew entfernt.                                                               durch die hohe Strahlenbelastung nach
                                        1986 war die Ukraine eine Teilrepu-          7.000 Exponate. Heute sind auf         dem Reaktorunglück unbewohnbar ge-
                                    blik der Sowjetunion. Als am 26. April       1.100 Quadratmetern, aufgeteilt auf drei   worden sind. Ein entwurzelter Apfel-
                                    Reaktorblock 4 des Kraftwerks explo-         große Räume, mehr als 7.000 Exponate       baum soll die schwer getroffene Natur
                                    dierte und zum „größten anzunehmen-          zu besichtigen, in Archiven und Lagern     symbolisieren. Vor dem Museum sind
                                    den Unfall“ (GAU) führte, ahnten zu-         befinden sich zahlreiche weitere Objek-    Einsatzfahrzeuge aufgereiht, wie sie
                                    nächst nur wenige, wie bedrohlich die        te. Ausgestellt sind Bilder, Landkarten,   1986 in Tschernobyl zum Einsatz ka-
FOTO: ZUFAROV/AFP/PICTUREDESK.COM

                                    Lage war. Zur Brandbekämpfung im             Baupläne, Ausweise und ursprünglich        men: ein Feuerlöschwagen, ein Kran-
                                    Reaktor 4 wurden Feuerwehren aus             klassifizierte Dokumente, die noch den     kenwagen, ein Polizeiauto und ein Rad-
                                    zahlreichen Städten herangezogen, da-        Stempel „Geheime Verschlusssache“          panzer.
                                    runter von der inzwischen stillgelegten      tragen. In der Sowjetunion waren Kern-        Vieles im Museum ist interaktiv, et-
                                    Feuerwache im Zentrum Kiews. 1992            kraftwerke militärische Objekte und un-    wa eine 3-D-Animation des Kraftwerks
                                    wurde in dem ehemaligen Feuerwehrge-         terlagen höchster Geheimhaltung. Auch      vor und nach der Detonation, die auch
                                    bäude die erste Gedenkstätte errichtet.      Strahlenschutzanzüge, technische In-       die Errichtung einer Schutzhülle („Sar-
                                    Erst wenige Monate zuvor war die             strumente oder Erinnerungsstücke aus       kophag“) über dem zerstörten Reaktor

                                    ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 7-8/21                                                                                                83
Im Epizentrum des GAUs - Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der ...
KIEW

                                                                                       kurzen Meldung über die sowjetische
                                                                                       Presseagentur TASS wurde von einem
                                                                                       „Unfall“ in einem Kernkraftwerk be-
                                                                                       richtet, bei dem einer der Reaktoren
                                                                                       „beschädigt“ worden sei.

                                                                                           Ausbreitung der Atomwolke. Eine
                                                                                       Animation im Museum zeigt die Aus-
                                                                                       breitung der Atomwolke, die am 1. Mai
                                                                                       1986 über weiten Teilen Europas
                                                                                       schwebte. Nach rund 80 Stunden kam
                                                                                       die Strahlenlast über Österreich: Vor al-
                                                                                       lem Cäsium-137 ist zum Teil bis heute
                                                                                       in Waldböden zu finden, wenngleich
                                                                                       meist nur noch in winzigen Mengen,
                                                                                       wie im Bericht „Radioaktivität und
                                                                                       Strahlung in Österreich 2017 bis 2019“
                                                                                       des Umwelt- und des Gesundheitsmi-
                                                                                       nisteriums festgehalten ist.
                                                                                           76 Städte und Dörfer wurden völlig
Schutzanzüge für Liquidatoren: 600.000 waren bis 1991 in Tschernobyl im Dekon-         stillgelegt. Vereinzelt sind frühere Be-
taminationseinsatz.                                                                    wohner der evakuierten Orte später in
                                                                                       die Sperrzone zurückgekehrt und leben
zeigt. Ton- und Bilddokumente sind         das Dach des Reaktorbehälters und das       dort ohne Erlaubnis. Dazu kommen
über Terminals abrufbar, die großteils     radioaktive Material gelangte in die At-    zahlreiche Personen, die bis heute beim
ukrainischen Aufschriften können mit       mosphäre.                                   – im Jahr 2000 endgültig stillgelegten –
einem Audioguide auch auf Englisch er-                                                 Kernkraftwerk Tschernobyl beschäftigt
schlossen werden.                             Sperrzone. Rund um den zerstörten        sind, etwa für Forschungstätigen oder
   Das Tschernobyl-Museum soll nicht       Reaktorblock wurden mehrere Sperr-          Arbeiten an der Schutzhülle über Reak-
nur die Geschichte der Katastrophe         kreise gezogen. Als sofortige Evakuie-      tor 4, einer 29.000 Tonnen schweren
sichtbar machen, sondern auch soziale      rungszone wurde ein Gebiet im 10-Ki-        Stahlkonstruktion.
und ökologische Auswirkungen be-           lometer-Radius       festgelegt,  knapp         Die Ausmaße der verstrahlten Zone
schreiben und über Risiken und Mög-        120.000 Menschen mussten ihre Häuser        macht ein eigener Bereich im Museum
lichkeiten der Kernkraft insgesamt in-     und Wohnungen verlassen – anfangs           sichtbar, unter anderem mit einem drei-
formieren. Das aus dem Lateinischen        noch mit der Hoffnung, bald wieder zu-      dimensionalen Reliefmodell. Hinsicht-
entlehnte Forschungsmotto des Muse-        rückkommen zu können. Insgesamt             lich des Umfangs gesundheitlicher Fol-
ums lautet „Est dolendi modus, non est     wurden über 350.000 Menschen aus der        gewirkungen des GAUs – ausgehend
timendi“ („Der Schmerz hat Grenzen,        Region umgesiedelt. Die ursprüngliche       von unmittelbaren Todesfällen bis hin
die Furcht hat keine.“). Veranstaltungen   Sperrzone von 30 Kilometern rund um         zu chronischen Erkrankungen – gehen
und Führungen setzen spezielle Schwer-     das Atomkraftwerk wurde mehrmals er-        die wissenschaftlichen Annahmen weit
punkte. Während der Lockdowns in der       weitert. Derzeit ist das Sperrgebiet, das   auseinander.
Corona-Pandemie war das Museum             umzäunt und streng gesichert ist, rund
ausschließlich via Internet zugänglich,    4.300 Quadratkilometer groß. Es be-            Liquidatoren. Wenige Stunden nach
wobei alle Innenräume virtuell besucht     steht seit Ende 1991 aus einer ukraini-     der Explosion am 26. April 1986 trat
werden konnten. Weitere Informationen      schen und einer weißrussischen Zone.        das Politbüro in Moskau zusammen und
und aktuelle Neuigkeiten bietet eine Fa-   Vor allem in den ersten zehn Tagen          beriet die Lage. Eine Expertenkommis-
cebook-Seite. Für Forscherinnen und        wurde große radioaktive Mengen, ins-        sion wurde eingesetzt. Da es das Ziel
Forscher gibt es eigene Kontakt- und       besondere Iod-131, Cäsium-134 und           der sowjetischen Führung war, den Rest
Recherchemöglichkeiten.                    Cäsium-137, auf den heutigen Staatsge-      des Kraftwerks in Tschernobyl – insbe-
                                           bieten der Ukraine, von Belarus und der     sondere den benachbarten Reaktorblock
   1.23 Uhr steht auf einer Uhr, die       russischen Föderation freigesetzt. Mehr     3 – weiterlaufen zu lassen, war man be-
über einem maßstabgetreuen Modell          als drei Millionen Menschen in der Re-      müht, nicht nur den Brand und die un-
des Reaktors Nummer 4 hängt. Um die-       gion waren am stärksten betroffen, die      mittelbare Strahlung zu bekämpfen,
se Uhrzeit explodierte der Reaktorblock    Strahlung zog aber auch nach Mitteleu-      sondern das Gebiet umfassend zu de-
nach einer unkontrollierbaren Kettenre-    ropa und Skandinavien. In Schweden          kontaminieren, um dort auch in Zukunft
aktion. Ausgangspunkt war ein „Stress-     schlugen am 28. April 1986 atomare          weiter arbeiten zu können.
test“, bei dem der Atomreaktor planmä-     Strahlenmessgeräte an und ließen er-           Über 600.000 „Liquidatoren“ aus al-
ßig langsam heruntergefahren werden        kennen, dass in der Sowjetunion ein         len Teilen der ehemaligen Sowjetunion
sollte, während zugleich verschiedene      schwerwiegendes Reaktorunglück pas-         – viele davon aus dem militärisch-in-
Sicherheitsroutinen überprüft werden       siert sein musste.                          dustriellen Bereich – kamen zwischen
sollten. Das Kühlsystem kollabierte.          Die Öffentlichkeit war anfangs nicht     1986 und 1991 zum Einsatz. Allein zwi-
Die freiwerdenden Kräfte zerschlugen       informiert worden, lediglich in einer       schen April und November 1986 waren

84                                                                                            ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 7-8/21
Im Epizentrum des GAUs - Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der ...
TSCHERNOBYL-MUSEUM

                      Tschernobyl-Museum in Kiew: Einsatzfahrzeuge aus dem Katastrophenjahr 1986 vor dem Museumsgebäude.
                      über 90.000 Spezialisten in der 30-Kilo-   starben. Reste einer Kirche des evaku-     des Raumes können Besucher Stofftiere
                      meter-Zone tätig. Bedienstete des In-      ierten Dorfes Krasno aus dem 19. Jahr-     hinterlassen, um an die Puppen und
                      nenministeriums und des Geheimdiens-       hundert bringen religiöse Bezüge in die    Spielzeuge zu erinnern, die bei den
                      tes KGB waren in diese Zahl nicht ein-     Dauerausstellung. An Ort und Stelle        Räumungen zurückbleiben mussten.
                      gerechnet.                                 findet man kaum noch Spuren; Plünde-       Die Stadt Pripjat mit 50.000 Einwoh-
                         Aufgrund der hohen Strahlenbelas-       rer haben im Laufe der Jahre ungeachtet    nern, viele davon Bedienstete des Kern-
                      tung durften viele der Liquidatoren nur    des hohen Verstrahlungs-Risikos aus        kraftwerks, wurde eineinhalb Tage nach
                      sehr kurze Zeit in Tschernobyl bleiben     dem Sperrgebiet fast alles mitgenom-       der Explosion in nur wenigen Stunden
                      – etwa auf dem Dach von Block 3 für        men, was von Wert war. Auch vor            komplett geräumt. Sie ist heute eine
                      30 Sekunden bis zu drei Minuten. Nicht     kirchlichen Bauten wurde nicht Halt ge-    teils verfallene, von der Natur zurücker-
                      wenige waren jedoch gezwungen, sich        macht.                                     oberte Geisterstadt.
                      einige Tage oder Wochen in der ver-            Der Fußboden des Museumssaales             Seit einigen Jahren gibt es die Mög-
                      seuchten Zone aufzuhalten. Im Tscher-      ist mit quadratischen Kacheln ausgelegt,   lichkeit, bei geführten Exkursionen die
                      nobyl-Museum werden die Schicksale         die an die Bodenplatten des zerstörten     Sperrzone rund um das Kernkraftwerk
                      der Liquidatoren beleuchtet, ihre ge-      Reaktorblocks 4 erinnern. In einer ar-     Tschernobyl und auch die Stadt Pripjat
                      fährlichen Einsätze und Arbeitsumstän-     chenförmigen Konstruktion in der Mitte     zu besuchen.
                      de. Mehr als 5.000 Namen sind in einer
                      Online-Datenbank gesammelt worden.                                                        Historischer Wendepunkt. Michail
                      Das „Erinnerungsbuch“ enthält neben                                                   Gorbatschow, letzter Staatspräsident der
                      den Namen Fotos und Daten des Einsat-                                                 Sowjetunion, schrieb in einem Essay
                      zes. Nicht erwähnte Betroffene können                                                 zum Buch „Der lange Schatten von
                      auf Antrag in die Liste der Liquidatoren                                              Tschernobyl“ aus dem Jahr 2014, dass
                      eingetragen werden; Formulare liegen                                                  der Atomunfall in Tschernobyl „viel-
                      im Museum auf.                                                                        leicht mehr noch als die von mir begon-
                                                                                                            nene Perestroika die wirkliche Ursache
                         Kinderschicksale. In einem Muse-                                                   für den Zusammenbruch der Sowjetuni-
                      umsraum sind an einer Wand 400 Fotos                                                  on fünf Jahre später“ gewesen sei. Der
                      von Kindern angebracht, die in den Or-                                                GAU habe einen historischen Wende-
FOTOS: GREGOR WENDA

                      ten rund um das Kernkraftwerk lebten.                                                 punkt dargestellt: „Es gab die Zeit vor
                      Sie sollen den jungen Menschen ein Ge-                                                der Katastrophe, und es gibt die völlig
                      sicht geben, die durch das Reaktorun-                                                 andere Zeit, die danach folgte.“
                      glück entwurzelt wurden, Familienmit-                                                                           Gregor Wenda
                      glieder verloren, selbst erkrankten oder   Warnschild in der Sperrzone.                   http://chornobylmuseum.kiev.ua

                      ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 7-8/21                                                                                              85
Im Epizentrum des GAUs - Vor 35 Jahren ereignete sich in Tschernobyl in der heutigen Ukraine die größte Atomkatastrophe in der Geschichte der ...
Sie können auch lesen