Impfpfl ichten, Anreize und die effi ziente Nutzung von Coronaimpfstoff en
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Analysen Impfstrategie DOI: 10.1007/s10273-022-3139-y Wirtschaftsdienst, 2022, 102(3), 224-228 JEL: I12, I18 Michael Stolpe Impfpflichten, Anreize und die effiziente Nutzung von Coronaimpfstoffen Impfpflichten sind aus ökonomischer Sicht ein negativer Anreiz, sich impfen zu lassen. Im Einzelfall genauso wirksame positive Anreize – etwa staatlich finanzierte Impfprämien – können flexibler gestaltet werden, einige Nachteile starrer gesetzlicher Impfpflichten vermeiden und womöglich eine höhere Impfquote erreichen helfen. Zuverlässige Antikörpertests können helfen, die Subventionierung auf Menschen ohne ausreichenden Immunschutz zu begrenzen. Wegen des hohen volkswirtschaftlichen Werts einer höheren Impfquote im Kampf gegen SARS-CoV-2 hat Deutschland einen großen ungenutzten Finanzierungsspielraum für Impfprämien. Denkbar sind auch Kombinationen von Impfprämien und -pflichten. Bei den Vorschlägen zu einer Coronaimpfpflicht, die vorhandenen Ängsten aufgrund von Informationsdefizi- der Deutsche Bundestag aktuell debattiert, geht es ei- ten über Vorteile und Risiken verschiedener Impfstoffe gentlich um finanzielle Impfanreize. Einen physischen und dem Mut, den es gegebenenfalls braucht, Konfor- Impfzwang oder Gefängnisstrafen fordert niemand. Die mitätsdruck in impfskeptischen Sozialmilieus zu über- Vorschläge zielen vielmehr auf eine bußgeldbewehrte winden. Diese Arten von Kosten können verschiedene Verpflichtung, innerhalb einer vorgegebenen Frist ei- Menschen das Nutzen-Kosten-Verhältnis einer Impfung nen vollständigen Impfschutz nachzuweisen – also auf unterschiedlich wahrnehmen lassen, selbst wenn der einen negativen finanziellen Anreiz. Sobald es aber um Nutzen für alle gleich wäre. Anreize geht, stellt sich die Frage ökonomischer Effizi- enz: Mit welcher Art und Stärke von Anreizen lässt sich Nicht-monetäre Impfkosten eine angestrebte hohe Impfquote in der Bevölkerung am schnellsten erreichen? Auch die Impfnutzen können sich unterscheiden. Den höchsten Nutzen haben vulnerable Menschen, die auf- Dass Impfanreize überhaupt noch ein Problem sind, grund von Alter, Vorerkrankungen oder anderen objek- wenn hochwirksame Impfstoffe mit für die allermeisten tiven Risikofaktoren einen schweren Krankheitsverlauf Menschen vernachlässigbar geringem Nebenwirkungs- besonders fürchten müssen. Allerdings kann die tatsäch- risiko – wie in Deutschland – frei zugänglich sind, hat mit liche Schutzwirkung einer Impfung bei Menschen mit ge- nicht-monetären Impfkosten zu tun. Nicht-Geimpfte wä- schwächtem Immunsystem geringer ausfallen als bei jenen, gen ab zwischen dem erwarteten Nutzen einer Impfung in denen die Impfung ein starkes Immunsystem aktiviert. und dem zeitlichen Aufwand einschließlich womöglich Deren Impfung kann – solange sie die eigene Infektiosität unangenehmer kurzfristiger Impfreaktionen, vielleicht hinreichend verringert (Lyngse et al., 2022a; Mostaghimi et al., 2022) – in ihrem sozialen Umfeld lebende Menschen mit © Der/die Autor:in 2022. Open Access: Dieser Artikel wird unter der schwachem Immunsystem vor Ansteckung mitschützen, Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf- fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de). eventuell sogar einen größeren Beitrag zum Schutz dieser Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Menschen leisten, als sie durch eigene Impfung erreichen Wirtschaft gefördert. können. Zudem sind vulnerable Menschen, auch wegen an- derer Krankheitsrisiken als COVID-19, ganz besonders auf den Schutz der knappen Ressourcen des Gesundheitssys- tems angewiesen, den eine hohe Impfquote bewirken kann. Dr. Michael Stolpe leitet den Projektbereich Globale Die positiven externen Impfeffekte können insbesondere Gesundheitsökonomie am Kiel Institut für Weltwirtschaft in vulnerablen Menschen eine Zahlungsbereitschaft dafür (IfW). entstehen lassen, diejenigen zur Impfung zu bewegen, die als Ungeimpfte mit geringem Risiko für einen schweren Verlauf auf Impfschutz wenig Wert legen, aber durch ihre Wirtschaftsdienst 2022 | 3 224
Analysen Impfstrategie Impfung zum Schutz der Vulnerablen und des Gesund- vermeidbare Todesfälle zur Folge haben, sodass eine ra- heitssystems beitragen können. Besonders effektiv könn- sche Durchseuchung der gesamten Bevölkerung mit Omi- ten solche Zahlungen an junge sozial überdurchschnitt- kron keine Alternative zu einer hohen Impfquote sein kann. lich aktive Menschen sein, die auch ungeimpft oft wenig Anreiz verspüren, soziale Distanz zu praktizieren, und de- Je größer der Anteil bereits Geimpfter in einer Population, ren Impfung deshalb besonders stark zur Unterbrechung umso geringer die Wahrscheinlichkeit für noch nicht Ge- von Infektionsketten beitragen kann. Weil mRNA-Impf- impfte, sich zu infizieren, und umso schwächer auch ihr stoffe auch bei Omikron meist eine relevante Verringerung Anreiz, sich vorbeugend impfen zu lassen. Dies entspricht der potenziellen Infektiosität erreichen dürften (Lyngse et dem Präventionsparadoxon: Sind Präventionsmaßnahmen al., 2022b), kann jede solche Impfung das virale Übertra- wie das Erreichen einer hohen Impfquote erfolgreich, kön- gungsrisiko in zahlreichen Sozialkontakten senken, die nen sie anschließend als unnötig erscheinen. Diese Fehl- diese Menschen oft haben. Gezielte Subventionen, pro- einschätzung kann durch kognitive Heuristiken verstärkt pagiert als Aufwandsentschädigung oder Impfprämie für werden, die viele Menschen die Wahrscheinlichkeit eines Impffaule, können dann maßgeblich zu einer effizienten schweren Krankheitsverlaufs unterschätzen und die einer Nutzung der Impfstoffe auf Populationsebene beitragen. sehr seltenen Impfkomplikation überschätzen lässt. Die In- formationsnachfrage noch Ungeimpfter und die Wirksam- Die Anreizproblematik aufgrund externer Effekte wird keit von Aufklärungskampagnen gehen zurück. Gleichzei- überlagert von unvollständiger Information und einer un- tig kann Konformitätsdruck in impfskeptischen Sozialmili- gleichen Informationsverteilung über das Nutzen-Kosten- eus zunehmen – auch weil die identitätsstiftende Wirkung Verhältnis einer Impfung in unterschiedlichen sozialen Mi- der Impfablehnung steigen kann, wenn Impfen außerhalb lieus. Individuelle Informationsnachfrage und Offenheit für des Milieus zu einer sozialen Norm geworden ist. angebotene Information sind dabei nicht unabhängig von dem vorab erwarteten Nutzen des Impfschutzes; ist dieser Verhaltensökonomische Forschung, wie z. B. Schmelz und sehr gering, kann womöglich auch kostenlos angebotene Bowles (2021), zeigt: Nicht allein das Virus, sondern auch Information keine hinreichend große Korrektur der Nut- Impfen ist ansteckend. Dabei ist die Erwartung von Rezipro- zenerwartung bewirken, um eine Impfnachfrage auszulö- zität zentral. Menschen sind eher zur Impfung bereit, wenn sen. Eine sehr geringe Nutzenerwartung kann sich – etwa sie erfahren, dass sich dann andere in ihrem Umfeld eben- in bildungsfernen Schichten oder Migrantenmilieus – da- falls impfen lassen. Individuelles Vertrauen auf Impfrezipro- durch verfestigen, dass schlecht informierte Ungeimpfte zität scheint zudem positiv mit dem allgemeinen Vertrauens- die beobachtete oder vermutete Nicht-Impfung ihrer Peers niveau zwischen Menschen korreliert zu sein, das in einer im eigenen sozialen Umfeld als Beleg für einen geringen Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe über einen langen Nutzen werten – nach dem Motto: Wäre die Impfung nütz- Zeitraum gewachsen ist – ein Phänomen, das Ökonomen lich, hätten sich die anderen doch längst geimpft. soziales Kapital nennen. Hat ein Land – wie beispielsweise Dänemark – schon vor der Pandemie über Jahrzehnte ein Impflücken können sich verfestigen hohes Sozialkapital aufgebaut, kann es in der Pandemie ei- ne hohe Impfquote auch ohne gesetzliche Pflicht und das Individuelle Impfanreize und die Informationsnachfrage Un- Setzen finanzieller Anreize rasch erreichen. Länder da- geimpfter sind keine statischen Phänomene, sondern ver- gegen, denen das Vertrauen stiftende Sozialkapital fehlt, ändern sich mit zunehmender Impfquote. Genesene sind können es in der Krise nicht herbeizaubern. Diese Länder dabei nicht mehr mit Geimpften gleichzusetzen, weil die können es dann ohne Impfpflichten oder gezielte positive Antikörper Genesener nach einer Omikron-Infektion rela- Anreize kaum schaffen, eine hohe Impfquote zu erreichen. tiv spezifisch für diese Virusvariante zu sein scheinen (Su- ryawanshi et al., 2022) und schon nach wenigen Monaten Was hilft besser – negative oder positive Anreize? oft nicht einmal mehr vor einer erneuten Omikron-Infektion ausreichend schützen. Vollständig Geimpfte und mRNA- Die Regierung mag eine allgemeine Impfpflicht als kosten- Geboosterte dagegen entwickeln Antikörper, die gegen günstigen Königsweg zu einer hohen Impfquote ansehen, schwere Erkrankungen sowohl durch ältere Corona-Virus- da positive finanzielle Anreize aus Steuern finanziert wer- varianten als auch durch Omikron länger Schutz bieten. den müssten, während Bußgelder für die Nichteinhaltung der Impfpflicht dem Staat zusätzliche Einnahmen besche- Zudem entwickeln nach vollständiger Impfung zum ersten ren. Ökonomischer Theorie zufolge sollte es für jede Art Mal Infizierte ebenso wie erst nach einer Genesung Ge- bußgeldbewehrter Impfpflicht, die einen negativen Anreiz impfte eine Art Superimmunität; Impfung und Infektion er- in Höhe der erwarteten Bußgelder für Impfverweigernde gänzen sich also beim Aufbau von Immunität (Bates et al., impliziert, eine gleich wirksame Impfprämie geben. Dem 2022). Weiterhin würde ein Laufenlassen des Virus viele berühmten Coase-Theorem folgend lässt sich die „Verzer- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 225
Analysen Impfstrategie rung“ individueller Impfentscheidungen aufgrund der po- ihres stärkeren Immunsystems die Vulnerablen und das sitiven externen Schutzwirkung des Impfens „unabhängig Gesundheitssystem besonders effektiv mitschützen würde. von der Verteilung der Eigentumsrechte“ korrigieren, wo- bei es hier um das individuelle Recht auf körperliche Un- Vorteile von Impfprämien versehrtheit geht, das Impfprämien respektieren, während Impfpflichten es in Bezug auf das Impfen negieren. Ein Großteil der administrativen, polizeilichen und juristi- schen Probleme von Impfpflichten entfallen, werden statt- Der Regierung mag eine Impfpflicht auch besser mit dem dessen positive Anreize in Form von Impfprämien gesetzt. allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar erscheinen, Sie lassen sich schneller einführen und umsetzen, haben setzt sie doch eine für alle Menschen gleichermaßen gel- weniger rechtliche Risiken und stellen möglicherweise ein tende Norm. Wird aber die Höhe der Bußgelder nicht nach milderes Mittel im Sinne der Kriterien des Ethikrates dar, das dem Einkommen differenziert, kann die Impfpflicht in Kon- noch nicht ausgereizt ist. Impfprämien könnten zugleich fair flikt mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit geraten. Wird das und effektiv sein, weil viele, die jetzt in Deutschland noch Bußgeld daher sozial gestaffelt, kann es andererseits einen nicht geimpft sind, einkommensschwachen Gruppen an- Teil seiner abschreckenden Wirkung verlieren, der auf der gehören, die erfahrungsgemäß überdurchschnittlich stark Aversion vieler Menschen gegenüber finanziellen Verlusten auf positive finanzielle Anreize reagieren. Im Einklang mit beruht. Verlustaversion beeinflusst menschliche Entschei- sozialer Gerechtigkeit würde bei Finanzierung aus progres- dungen oft stärker als die Aussicht auf äquivalente finan- siven Einkommensteuern die höhere Zahlungsbereitschaft zielle Gewinne, was gegen Impfprämien sprechen könnte. Reicher zur Vermeidung von Mortalitätsrisiken genutzt, um die Impfung ärmerer Menschen zu subventionieren. Zu den potenziellen Nachteilen einer Impfpflicht gehört allerdings auch die Gefahr, dass allein ihre Einführung die Dass Impfprämien tatsächlich einen wirksamen Anreiz Impfbereitschaft bei manchen Ungeimpften nicht steigen, setzen können, wird durch neuere empirische Studien be- sondern zurückgehen lassen könnte. Der psychologischen legt. So ließ in einer viel beachteten randomisierten Kont- Reaktanztheorie zufolge könnten manche die Pflicht als rollstudie aus Schweden, die im Oktober 2021 in Science einen so schwerwiegenden Verlust von Entscheidungsfrei- erschienen ist (Campos-Mercado et al., 2021), schon ein heit empfinden, dass sie ihren Status als Ungeimpfte des- kleiner finanzieller Anreiz in Höhe von 200 Schwedischen halb höher bewerten und erst recht bewahren wollen. Auch Kronen (ca. 20 Euro) die Zahl der Impfungen gegen CO- könnte eine Impfpflicht von Menschen in einer liberalen Ge- VID-19 statistisch signifikant um 4,2 Prozentpunkte stei- sellschaft als Misstrauenserklärung seitens der Regierung gen. Dagegen hatten die gleichzeitig untersuchten nicht gewertet werden und eine bereits vorhandene intrinsische monetären verhaltensökonomischen Interventionen (auch oder altruistische Impfbereitschaft untergraben. Zudem „Nudging“ oder Anstupsen genannt) und die bloße Bereit- könnten schlecht informierte Impfskeptiker:innen die Pflicht stellung zusätzlicher Information keinen statistisch sig- als Signal werten, dass die Impfstoffe nicht überzeugen. nifikanten Einfluss auf Impfentscheidungen. Die positive Wirkung des finanziellen Anreizes war unabhängig vom Die Durchsetzung von Impfpflichten kann zudem erhebli- Alter, Geschlecht und Bildungsgrad der Probanden, aber che administrative, polizeiliche und juristische Kosten und bei solchen mit niedrigem Sozialstatus höher als bei je- weitere unerwünschte Nebenwirkungen auslösen. Impf- nen mit hohem Sozialstatus. Der Grenznutzen des Geldes pflichten könnten am Ende nicht nur für Impfverweigernde, sinkt bekanntlich mit der Höhe des Einkommens. sondern auch für die Gesellschaft teurer sein als positive Impfanreize. Schon die aktuell vielfach geäußerte Befürch- Für Deutschland relevant könnten auch die Ergebnisse ei- tung, die bereits vom Deutschen Bundestag beschlossene ner quasi experimentellen Studie zum Blutspenden sein, in Impflicht für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflege- der die unerwartete Abschaffung finanzieller Aufwandsent- heimen ab Mitte März 2022 könnte zu einer Kündigungs- schädigungen in einem süddeutschen Blutspendezentrum welle impfunwilliger Pflegekräfte führen, deutet auf erheb- zu einem statistisch signifikanten und persistenten Rück- liche Schwierigkeiten und Kosten bei der Umsetzung hin. gang der Spendenbereitschaft führte (Becker et al., 2019). Der Erfolg einer allgemeinen Impfpflicht könnte durch eine Flut individueller Klagen vor Gericht untergraben werden, Für unterschiedliche Gestaltungsvarianten von Corona- zumal es aus medizinischen Gründen von vornherein un- Impfprämien gibt es in Deutschland einen großen finan- vermeidlich erscheint, Ausnahmen zuzulassen. ziellen Spielraum. Der volkswirtschaftliche Wert eines Impfschutzes vor COVID-19 mit 95 % Wirksamkeit wur- Beschränkt man zur Minimierung dieser Kosten und Risiken de in einer jüngst im Quarterly Review of Economics and die Impfpflicht auf Alte und andere besonders vulnerable Finance erschienenen Studie für Deutschland auf 6.341 Gruppen, erreicht man jene nicht, deren Impfung aufgrund Euro pro Person geschätzt, was die von der deutschen Wirtschaftsdienst 2022 | 3 226
Analysen Impfstrategie Regierung bezahlten Impfstoffpreise für eine vollständige fortschritts oder der höchsten erreichten Impfquote inner- 2-fach-Impfung plus Booster mit mRNA-Impfstoffen um halb eines vorgegebenen Zeitraums ausschreiben. ca. das Hundertfache übersteigt (Gandjour, 2022). Die- se Schätzung berücksichtigt allerdings noch nicht die Eine milieuspezifische Differenzierung von Impfprämien Omikron-Variante des Virus, die den volkswirtschaftlichen könnte Teil einer umfassenderen Strategie gegen milieu- Wert von Impfungen mit den existierenden mRNA-Vakzi- oder gruppenspezifisch verfestigte Impfablehnung werden. nen gesenkt haben dürfte; deren Wirksamkeit gegen die Impfprämien könnten dazu gezielte Aufklärungskampag- Fluchtmutation liegt wohl deutlich unter 95 %. nen und das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene „Community Engagement“ verstärken, mit di- Trotz reduzierter Wirksamkeit und der zudem auch für rekter Ansprache impfskeptischer sozialer Gruppen durch Ungeimpfte geringeren Wahrscheinlichkeit eines schwe- lokal vernetzte Multiplikatoren wie z. B. religiöse, zivilgesell- ren Krankheitsverlaufs nach Omikron-Infektion könnte ei- schaftliche oder kommunalpolitische Führungspersönlich- ne optimal gestaltete Impfprämie auch dann noch vorteil- keiten – etwa dadurch, dass klug gestaltete Prämien nicht haft sein, wenn dafür im Einzelfall deutlich mehr gezahlt nur den vorab erwarteten Impfnutzen, sondern auch die In- werden müsste, als in Deutschland üblicherweise für formationsnachfrage Ungeimpfter gezielt erhöhen. Aufwandsentschädigungen beim Blutspenden oder als Anreiz in der schwedischen randomisierten Kontrollstu- Weitere Möglichkeiten zur Differenzierung bieten sich im die für eine COVID-19-Impfung gezahlt wurde. Dies wird Hinblick auf vulnerable Gruppen – Alte, Immunsupprimier- umso mehr gelten, wenn angepasste Impfstoffe mit einer te und Menschen mit anderen Risikofaktoren –, auf poten- hohen Wirksamkeit gegen Omikron verfügbar werden tielle Superspreader – etwa die Angehörigen von Berufen oder sich neue Virusvarianten mit höherer Letalität durch- mit vielen kritischen Sozialkontakten wie Pflegende, Leh- setzen. Wie hoch die optimale Impfprämie jeweils wäre, rende, Sporttreibende und Musiker:innen, insbesondere müsste allerdings in weiteren gesundheitsökonomischen Chorsänger:innen – und im Hinblick auf die immunologi- Studien erst noch quantifiziert werden. sche Wirksamkeit der Impfstoffe. Während das Gesetz bei Einführung einer Impfpflicht binär festlegen müsste, Anreizwirkung optimieren welche der zugelassenen Vakzine zur Erfüllung der Pflicht anerkannt werden, hätte die Regierung bei Impfprämien Effizienz und Akzeptanz von Impfprämien ließen sich in der mehr Flexibilität und könnte deren Höhe nach Wirksamkeit Praxis auch dadurch optimieren, dass man ihre Variabilität der Impfstoffe differenzieren und anpassen, sobald neue über die Zeit und weitere epidemiologisch relevante Dimen- Fluchtmutationen des Virus die relative Wirksamkeit ver- sionen voll ausschöpft. Die Anpassungsfähigkeit und Indi- schiedener Impfstoffe unerwartet verändern. vidualisierung positiver Anreize eröffnet Chancen auf Effizi- enzgewinne, die Impfpflichten schon aufgrund starrer recht- Zuverlässige Antikörpertests nutzen licher Rahmenbedingungen kaum bieten können. Um das Impftempo zu beschleunigen, könnten Impfprämien z. B. Um zu vermeiden, dass bereits vollständig Geimpfte und zeitlich oder bis zum Erreichen einer aus epidemiologischen Geboosterte sich allein der Impfprämie wegen als un- Gründen vorgegebenen Impfquote – etwa 95 % aller Er- geimpft präsentieren und weitere Impfungen verlangen, wachsenen – befristet oder aus einem begrenzten, öffentlich sollte die Auszahlung von einem quantitativ zuverlässigen bekannt gemachten Budget nach dem Windhundverfahren negativen Antikörpertest mit hoher Spezifität für SARS- vergeben werden. Alternativ könnte die Prämienhöhe nach CoV-2 abhängig gemacht werden, der auf ein mögliches einer vorab festgelegten Formel im Zeitablauf oder abhän- Fehlen von Immunschutz hinweist. Laut Andreas Bobrow- gig vom Impffortschritt auf Populationsebene fallen. ski, dem Vorsitzenden des Berufsverbands Deutscher Laborärzte (BDL), sei unbestritten, dass bei einem Anti- Um regional konzentrierte Impfskepsis zu adressieren, körperwert von weniger als 21,8 BAU pro Milliliter (ml) etwa in Sachsen oder Bayern, könnte eine regionale Dif- Blut (BAU = Binding Antibody Units, ein Standardmaß der ferenzierung z. B. in der Höhe der Impfprämien hilfreich Weltgesundheitsorganisation) kein verlässlicher Immun- sein. Dabei könnte die Bundesregierung durch konditio- schutz mehr gegeben ist; ab einem Wert von 44 BAU/ml nale Zuschüsse an Länder oder Kommunen einen Anreiz verfüge die getestete Person sehr wahrscheinlich über ei- schaffen, dass diese sich ihrerseits an der Finanzierung nen Immunschutz (Schneider, 2022). höherer Impfprämien beteiligen. Bund oder Länder könn- ten auch einen Wettbewerb zwischen Kommunen oder Zwar ist sich die Wissenschaft noch nicht einig, ob Gene- Landkreisen um die höchste Impfquote in Gang setzen, sene durch aktive T-Zellen auch ohne nachweisbare Anti- indem sie attraktive Preise in Form substanzieller Finanz- körper einen guten Schutz gegen das Virus haben können transfers zur Belohnung des größten prozentualen Impf- und ab welchem BAU-Grenzwert ein voller Immunschutz ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 227
Analysen Impfstrategie als gegeben gelten kann. Aber darum geht es bei der ziehen. So könnte es zunächst eine Phase zeitlich befris- Feststellung einer Impfprämienberechtigung gar nicht. Es teter Belohnungen für freiwilliges Impfen geben, die dann geht stattdessen darum, unter Personen, die behaupten, im Falle des Nichterreichens der angestrebten Impfquote noch nicht geimpft zu sein, jene zu identifizieren, die mög- von einer bußgeldbewehrten Impfpflicht abgelöst wird, licherweise keinen ausreichenden oder noch nicht den damit Ungeimpfte nicht auf eine spätere Erhöhung der bestmöglichen erreichbaren Immunschutz haben und Impfprämie spekulieren und einfach abwarten. von deren Erst- oder Auffrischungsimpfung sie selbst und auch die Gesellschaft profitieren könnten. Literatur Eine empirische Studie des Lübecker Gesundheitsamts Bates, T. A. et al. (2022), Vaccination before or after SARS-CoV-2 infec- und der Universität Lübeck, die am 10. Februar 2022 auf tion leads to robust humoral response and antibodies that eff ectively neutralize variants, Science Immunology, 7(68), https://www.science. dem Preprint Server „medRxiv“ zur Verfügung gestellt wur- org/doi/10.1126/sciimmunol.abn8014. de (noch ohne Peer Review; Schiffner et al., 2022) schlägt Becker, D., H. Klüter, A. Niessen-Ruenzi und M. Weber (2019), The Impact vor, Personen mit einem Antikörperwert von mehr als 200 of Direct Cash Payment on Whole Blood Supply, German Economic Review, 20(4), e973–e1001, https://doi.org/10.1111/geer.12204. BAU/ml als ausreichend immungeschützt einzustufen. Ein Campos-Mercade, P., A. N. Meier, F. H. Schneider, D. Pope, S. Meier und klar darüber liegender Grenzwert – z. B. 400 oder 500 BAU/ E. Wengström (2021), Monetary incentives increase COVID-19 vacci- ml – erscheint geeignet, die Wahrscheinlichkeit einer irr- nations, Science, 374(6569), 879-882. Gandjour, A. (2022). Value-based Pricing of a COVID-19 Vaccine, tümlichen Ablehnung von Personen ohne ausreichenden Quarterly Review of Economics and Finance, 84(2), 1-8, https://doi. Immunschutz bei der Prämienauszahlung sehr niedrig zu org/10.1016/j.qref.2021.12.006. halten. Die implizite Bevorzugung Immunsupprimierter ist Lyngse, F. P. et al. (2022a), Effect of Vaccination on Household Transmis- sion of SARS-CoV-2 Delta VOC, medRxiv 2022.01.06.22268841; htt- epidemiologisch wünschenswert, die irrtümliche Prämien- ps://doi.org/10.1101/2022.01.06.22268841. auszahlung an einige falsch klassifizierte bereits Geimpfte Lyngse, F. P. et al. (2022b), Transmission of SARS-CoV-2 Omicron VOC oder Genesene mit ausreichendem Immunschutz harmlos. subvariants BA.1 and BA.2: Evidence from Danish Households, me- dRxiv 2022b.01.28.22270044; https://doi.org/10.1101/2022.01.28.222 Zudem können ungeimpft Genesene ihren Immunschutz 70044. in aller Regel durch anschließende Impfung deutlich ver- Mostaghimi, D., C. N. Valdez, H. Larson, C. Kalinich und A. Iwasak (2022). bessern und eine Superimmunität erreichen (Bates et al., Prevention of host-to-host transmission by SARS-CoV-2 vacci- nes, Lancet Infectious Diseases, 22, e52–58. https://doi.org/10.1016/ 2022), die auch sozial wünschenswert ist. S1473-3099(21)00472-2. Schiffner, J. et al. (2022), Immune responses after twofold SARS-CoV-2 Personen, deren Antikörperwert über dem Grenzwert liegt, immunisation in elderly residents and Health Care Workers in nursing homes and homes with assisted living support – Proposal for a cor- bekommen keine Prämie, können sich aber weiterhin kosten- relate of protection, medRxiv preprint https://doi.org/10.1101/2022.0 los impfen lassen. Daher ist kein erhöhtes Risiko zu erwarten, 2.09.22270747. dass falsch positiv Getestete das Ergebnis nutzen wollen, Schmelz, K. und S. Bowles (2021), Overcoming COVID-19 vaccination resistance when alternative policies affect the dynamics of confor- um eventuell bestehende Coronaauflagen für Menschen oh- mism, social norms, and crowding out, Proceedings of the National ne eigenen Immunschutz zu umgehen. Die Berechtigung zur Academy of Sciences, 118(25), e2104912118. https://doi.org/10.1073/ Impfprämie könnte zusätzlich von der Bereitschaft abhängig pnas.2104912118. Schneider, P. (2022), Geimpft oder genesen: Habe ich genügend Antikör- gemacht werden, sich freiwillig in ein nationales Impfregister per? Ärzte-Chef sagt, welcher Wert Sie vor Covid schützt, Focus On- eintragen zu lassen; damit kann eine wiederholte Beanspru- line, https://www.focus.de/gesundheit/news/endlich-faustregel-fuer- chung der Prämie ausgeschlossen werden. antikoerper-laboraerzte-chef-erklaert-welcher-wert-sie-vor-covid- schuetzt_id_20895196.html (3. März 2022). Suryawanshi, R. et al. (2022), Limited Cross-Variant Immunity after In- Gesucht wird eine kluge Mischung von Interventionen, die fection with the SARS-CoV-2 Omicron Variant Without Vaccination, den größtmöglichen Impferfolg auf schnellstem Wege si- medRxiv 2022.01.13.22269243; https://doi.org/10.1101/2022.01.13.22 269243. cherstellt. Dazu sollte die Politik auch Kombinationen ei- ner Impfplicht mit positiven Anreizsystemen in Erwägung Title: Vaccine Mandates, Private Incentives and the Efficient Use of Coronavirus Vaccines Abstract: From an economic point of view, vaccine mandates are a negative incentive to get vaccinated. Positive incentives that induce unvaccinated individuals just as effectively – such as government-provided cash incentives – can be more flexible and avoid some of the other disadvantages that come with mandates and possibly achieve higher vaccination rates. Given the size of societal benefits from boosting vaccination rates in the fight against SARS-CoV-2, Germany has substantial unused financial leeway to pay for cash incentives. Prudent combinations of cash incentives and vaccine mandates are also worth considering. Wirtschaftsdienst 2022 | 3 228
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