Impfpfl ichten, Anreize und die effi ziente Nutzung von Coronaimpfstoff en

 
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Analysen      Impfstrategie                                                                       DOI: 10.1007/s10273-022-3139-y

           Wirtschaftsdienst, 2022, 102(3), 224-228                                                                                JEL: I12, I18

           Michael Stolpe

           Impfpflichten, Anreize und die effiziente Nutzung
           von Coronaimpfstoffen
           Impfpflichten sind aus ökonomischer Sicht ein negativer Anreiz, sich impfen zu lassen. Im
           Einzelfall genauso wirksame positive Anreize – etwa staatlich finanzierte Impfprämien – können
           flexibler gestaltet werden, einige Nachteile starrer gesetzlicher Impfpflichten vermeiden
           und womöglich eine höhere Impfquote erreichen helfen. Zuverlässige Antikörpertests
           können helfen, die Subventionierung auf Menschen ohne ausreichenden Immunschutz zu
           begrenzen. Wegen des hohen volkswirtschaftlichen Werts einer höheren Impfquote im Kampf
           gegen SARS-CoV-2 hat Deutschland einen großen ungenutzten Finanzierungsspielraum für
           Impfprämien. Denkbar sind auch Kombinationen von Impfprämien und -pflichten.

           Bei den Vorschlägen zu einer Coronaimpfpflicht, die                    vorhandenen Ängsten aufgrund von Informationsdefizi-
           der Deutsche Bundestag aktuell debattiert, geht es ei-                ten über Vorteile und Risiken verschiedener Impfstoffe
           gentlich um finanzielle Impfanreize. Einen physischen                  und dem Mut, den es gegebenenfalls braucht, Konfor-
           Impfzwang oder Gefängnisstrafen fordert niemand. Die                  mitätsdruck in impfskeptischen Sozialmilieus zu über-
           Vorschläge zielen vielmehr auf eine bußgeldbewehrte                   winden. Diese Arten von Kosten können verschiedene
           Verpflichtung, innerhalb einer vorgegebenen Frist ei-                  Menschen das Nutzen-Kosten-Verhältnis einer Impfung
           nen vollständigen Impfschutz nachzuweisen – also auf                  unterschiedlich wahrnehmen lassen, selbst wenn der
           einen negativen finanziellen Anreiz. Sobald es aber um                 Nutzen für alle gleich wäre.
           Anreize geht, stellt sich die Frage ökonomischer Effizi-
           enz: Mit welcher Art und Stärke von Anreizen lässt sich               Nicht-monetäre Impfkosten
           eine angestrebte hohe Impfquote in der Bevölkerung am
           schnellsten erreichen?                                                Auch die Impfnutzen können sich unterscheiden. Den
                                                                                 höchsten Nutzen haben vulnerable Menschen, die auf-
           Dass Impfanreize überhaupt noch ein Problem sind,                     grund von Alter, Vorerkrankungen oder anderen objek-
           wenn hochwirksame Impfstoffe mit für die allermeisten                 tiven Risikofaktoren einen schweren Krankheitsverlauf
           Menschen vernachlässigbar geringem Nebenwirkungs-                     besonders fürchten müssen. Allerdings kann die tatsäch-
           risiko – wie in Deutschland – frei zugänglich sind, hat mit           liche Schutzwirkung einer Impfung bei Menschen mit ge-
           nicht-monetären Impfkosten zu tun. Nicht-Geimpfte wä-                 schwächtem Immunsystem geringer ausfallen als bei jenen,
           gen ab zwischen dem erwarteten Nutzen einer Impfung                   in denen die Impfung ein starkes Immunsystem aktiviert.
           und dem zeitlichen Aufwand einschließlich womöglich                   Deren Impfung kann – solange sie die eigene Infektiosität
           unangenehmer kurzfristiger Impfreaktionen, vielleicht                 hinreichend verringert (Lyngse et al., 2022a; Mostaghimi et
                                                                                 al., 2022) – in ihrem sozialen Umfeld lebende Menschen mit
           © Der/die Autor:in 2022. Open Access: Dieser Artikel wird unter der
                                                                                 schwachem Immunsystem vor Ansteckung mitschützen,
             Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröf-
             fentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).            eventuell sogar einen größeren Beitrag zum Schutz dieser
                Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum
                                                                                 Menschen leisten, als sie durch eigene Impfung erreichen
                Wirtschaft gefördert.                                            können. Zudem sind vulnerable Menschen, auch wegen an-
                                                                                 derer Krankheitsrisiken als COVID-19, ganz besonders auf
                                                                                 den Schutz der knappen Ressourcen des Gesundheitssys-
                                                                                 tems angewiesen, den eine hohe Impfquote bewirken kann.

      Dr. Michael Stolpe leitet den Projektbereich Globale                       Die positiven externen Impfeffekte können insbesondere
      Gesundheitsökonomie am Kiel Institut für Weltwirtschaft                    in vulnerablen Menschen eine Zahlungsbereitschaft dafür
      (IfW).                                                                     entstehen lassen, diejenigen zur Impfung zu bewegen, die
                                                                                 als Ungeimpfte mit geringem Risiko für einen schweren
                                                                                 Verlauf auf Impfschutz wenig Wert legen, aber durch ihre

                                                                                                                Wirtschaftsdienst 2022 | 3
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Analysen Impfstrategie

Impfung zum Schutz der Vulnerablen und des Gesund-            vermeidbare Todesfälle zur Folge haben, sodass eine ra-
heitssystems beitragen können. Besonders effektiv könn-       sche Durchseuchung der gesamten Bevölkerung mit Omi-
ten solche Zahlungen an junge sozial überdurchschnitt-        kron keine Alternative zu einer hohen Impfquote sein kann.
lich aktive Menschen sein, die auch ungeimpft oft wenig
Anreiz verspüren, soziale Distanz zu praktizieren, und de-    Je größer der Anteil bereits Geimpfter in einer Population,
ren Impfung deshalb besonders stark zur Unterbrechung         umso geringer die Wahrscheinlichkeit für noch nicht Ge-
von Infektionsketten beitragen kann. Weil mRNA-Impf-          impfte, sich zu infizieren, und umso schwächer auch ihr
stoffe auch bei Omikron meist eine relevante Verringerung     Anreiz, sich vorbeugend impfen zu lassen. Dies entspricht
der potenziellen Infektiosität erreichen dürften (Lyngse et   dem Präventionsparadoxon: Sind Präventionsmaßnahmen
al., 2022b), kann jede solche Impfung das virale Übertra-     wie das Erreichen einer hohen Impfquote erfolgreich, kön-
gungsrisiko in zahlreichen Sozialkontakten senken, die        nen sie anschließend als unnötig erscheinen. Diese Fehl-
diese Menschen oft haben. Gezielte Subventionen, pro-         einschätzung kann durch kognitive Heuristiken verstärkt
pagiert als Aufwandsentschädigung oder Impfprämie für         werden, die viele Menschen die Wahrscheinlichkeit eines
Impffaule, können dann maßgeblich zu einer effizienten        schweren Krankheitsverlaufs unterschätzen und die einer
Nutzung der Impfstoffe auf Populationsebene beitragen.        sehr seltenen Impfkomplikation überschätzen lässt. Die In-
                                                              formationsnachfrage noch Ungeimpfter und die Wirksam-
Die Anreizproblematik aufgrund externer Effekte wird          keit von Aufklärungskampagnen gehen zurück. Gleichzei-
überlagert von unvollständiger Information und einer un-      tig kann Konformitätsdruck in impfskeptischen Sozialmili-
gleichen Informationsverteilung über das Nutzen-Kosten-       eus zunehmen – auch weil die identitätsstiftende Wirkung
Verhältnis einer Impfung in unterschiedlichen sozialen Mi-    der Impfablehnung steigen kann, wenn Impfen außerhalb
lieus. Individuelle Informationsnachfrage und Offenheit für   des Milieus zu einer sozialen Norm geworden ist.
angebotene Information sind dabei nicht unabhängig von
dem vorab erwarteten Nutzen des Impfschutzes; ist dieser      Verhaltensökonomische Forschung, wie z. B. Schmelz und
sehr gering, kann womöglich auch kostenlos angebotene         Bowles (2021), zeigt: Nicht allein das Virus, sondern auch
Information keine hinreichend große Korrektur der Nut-        Impfen ist ansteckend. Dabei ist die Erwartung von Rezipro-
zenerwartung bewirken, um eine Impfnachfrage auszulö-         zität zentral. Menschen sind eher zur Impfung bereit, wenn
sen. Eine sehr geringe Nutzenerwartung kann sich – etwa       sie erfahren, dass sich dann andere in ihrem Umfeld eben-
in bildungsfernen Schichten oder Migrantenmilieus – da-       falls impfen lassen. Individuelles Vertrauen auf Impfrezipro-
durch verfestigen, dass schlecht informierte Ungeimpfte       zität scheint zudem positiv mit dem allgemeinen Vertrauens-
die beobachtete oder vermutete Nicht-Impfung ihrer Peers      niveau zwischen Menschen korreliert zu sein, das in einer
im eigenen sozialen Umfeld als Beleg für einen geringen       Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe über einen langen
Nutzen werten – nach dem Motto: Wäre die Impfung nütz-        Zeitraum gewachsen ist – ein Phänomen, das Ökonomen
lich, hätten sich die anderen doch längst geimpft.            soziales Kapital nennen. Hat ein Land – wie beispielsweise
                                                              Dänemark – schon vor der Pandemie über Jahrzehnte ein
Impflücken können sich verfestigen                             hohes Sozialkapital aufgebaut, kann es in der Pandemie ei-
                                                              ne hohe Impfquote auch ohne gesetzliche Pflicht und das
Individuelle Impfanreize und die Informationsnachfrage Un-    Setzen finanzieller Anreize rasch erreichen. Länder da-
geimpfter sind keine statischen Phänomene, sondern ver-       gegen, denen das Vertrauen stiftende Sozialkapital fehlt,
ändern sich mit zunehmender Impfquote. Genesene sind          können es in der Krise nicht herbeizaubern. Diese Länder
dabei nicht mehr mit Geimpften gleichzusetzen, weil die       können es dann ohne Impfpflichten oder gezielte positive
Antikörper Genesener nach einer Omikron-Infektion rela-       Anreize kaum schaffen, eine hohe Impfquote zu erreichen.
tiv spezifisch für diese Virusvariante zu sein scheinen (Su-
ryawanshi et al., 2022) und schon nach wenigen Monaten        Was hilft besser – negative oder positive Anreize?
oft nicht einmal mehr vor einer erneuten Omikron-Infektion
ausreichend schützen. Vollständig Geimpfte und mRNA-          Die Regierung mag eine allgemeine Impfpflicht als kosten-
Geboosterte dagegen entwickeln Antikörper, die gegen          günstigen Königsweg zu einer hohen Impfquote ansehen,
schwere Erkrankungen sowohl durch ältere Corona-Virus-        da positive finanzielle Anreize aus Steuern finanziert wer-
varianten als auch durch Omikron länger Schutz bieten.        den müssten, während Bußgelder für die Nichteinhaltung
                                                              der Impfpflicht dem Staat zusätzliche Einnahmen besche-
Zudem entwickeln nach vollständiger Impfung zum ersten        ren. Ökonomischer Theorie zufolge sollte es für jede Art
Mal Infizierte ebenso wie erst nach einer Genesung Ge-         bußgeldbewehrter Impfpflicht, die einen negativen Anreiz
impfte eine Art Superimmunität; Impfung und Infektion er-     in Höhe der erwarteten Bußgelder für Impfverweigernde
gänzen sich also beim Aufbau von Immunität (Bates et al.,     impliziert, eine gleich wirksame Impfprämie geben. Dem
2022). Weiterhin würde ein Laufenlassen des Virus viele       berühmten Coase-Theorem folgend lässt sich die „Verzer-

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
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Analysen     Impfstrategie

      rung“ individueller Impfentscheidungen aufgrund der po-       ihres stärkeren Immunsystems die Vulnerablen und das
      sitiven externen Schutzwirkung des Impfens „unabhängig        Gesundheitssystem besonders effektiv mitschützen würde.
      von der Verteilung der Eigentumsrechte“ korrigieren, wo-
      bei es hier um das individuelle Recht auf körperliche Un-     Vorteile von Impfprämien
      versehrtheit geht, das Impfprämien respektieren, während
      Impfpflichten es in Bezug auf das Impfen negieren.             Ein Großteil der administrativen, polizeilichen und juristi-
                                                                    schen Probleme von Impfpflichten entfallen, werden statt-
      Der Regierung mag eine Impfpflicht auch besser mit dem         dessen positive Anreize in Form von Impfprämien gesetzt.
      allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar erscheinen,        Sie lassen sich schneller einführen und umsetzen, haben
      setzt sie doch eine für alle Menschen gleichermaßen gel-      weniger rechtliche Risiken und stellen möglicherweise ein
      tende Norm. Wird aber die Höhe der Bußgelder nicht nach       milderes Mittel im Sinne der Kriterien des Ethikrates dar, das
      dem Einkommen differenziert, kann die Impfpflicht in Kon-      noch nicht ausgereizt ist. Impfprämien könnten zugleich fair
      flikt mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit geraten. Wird das    und effektiv sein, weil viele, die jetzt in Deutschland noch
      Bußgeld daher sozial gestaffelt, kann es andererseits einen   nicht geimpft sind, einkommensschwachen Gruppen an-
      Teil seiner abschreckenden Wirkung verlieren, der auf der     gehören, die erfahrungsgemäß überdurchschnittlich stark
      Aversion vieler Menschen gegenüber finanziellen Verlusten      auf positive finanzielle Anreize reagieren. Im Einklang mit
      beruht. Verlustaversion beeinflusst menschliche Entschei-      sozialer Gerechtigkeit würde bei Finanzierung aus progres-
      dungen oft stärker als die Aussicht auf äquivalente finan-     siven Einkommensteuern die höhere Zahlungsbereitschaft
      zielle Gewinne, was gegen Impfprämien sprechen könnte.        Reicher zur Vermeidung von Mortalitätsrisiken genutzt, um
                                                                    die Impfung ärmerer Menschen zu subventionieren.
      Zu den potenziellen Nachteilen einer Impfpflicht gehört
      allerdings auch die Gefahr, dass allein ihre Einführung die   Dass Impfprämien tatsächlich einen wirksamen Anreiz
      Impfbereitschaft bei manchen Ungeimpften nicht steigen,       setzen können, wird durch neuere empirische Studien be-
      sondern zurückgehen lassen könnte. Der psychologischen        legt. So ließ in einer viel beachteten randomisierten Kont-
      Reaktanztheorie zufolge könnten manche die Pflicht als         rollstudie aus Schweden, die im Oktober 2021 in Science
      einen so schwerwiegenden Verlust von Entscheidungsfrei-       erschienen ist (Campos-Mercado et al., 2021), schon ein
      heit empfinden, dass sie ihren Status als Ungeimpfte des-      kleiner finanzieller Anreiz in Höhe von 200 Schwedischen
      halb höher bewerten und erst recht bewahren wollen. Auch      Kronen (ca. 20 Euro) die Zahl der Impfungen gegen CO-
      könnte eine Impfpflicht von Menschen in einer liberalen Ge-    VID-19 statistisch signifikant um 4,2 Prozentpunkte stei-
      sellschaft als Misstrauenserklärung seitens der Regierung     gen. Dagegen hatten die gleichzeitig untersuchten nicht
      gewertet werden und eine bereits vorhandene intrinsische      monetären verhaltensökonomischen Interventionen (auch
      oder altruistische Impfbereitschaft untergraben. Zudem        „Nudging“ oder Anstupsen genannt) und die bloße Bereit-
      könnten schlecht informierte Impfskeptiker:innen die Pflicht   stellung zusätzlicher Information keinen statistisch sig-
      als Signal werten, dass die Impfstoffe nicht überzeugen.      nifikanten Einfluss auf Impfentscheidungen. Die positive
                                                                    Wirkung des finanziellen Anreizes war unabhängig vom
      Die Durchsetzung von Impfpflichten kann zudem erhebli-         Alter, Geschlecht und Bildungsgrad der Probanden, aber
      che administrative, polizeiliche und juristische Kosten und   bei solchen mit niedrigem Sozialstatus höher als bei je-
      weitere unerwünschte Nebenwirkungen auslösen. Impf-           nen mit hohem Sozialstatus. Der Grenznutzen des Geldes
      pflichten könnten am Ende nicht nur für Impfverweigernde,      sinkt bekanntlich mit der Höhe des Einkommens.
      sondern auch für die Gesellschaft teurer sein als positive
      Impfanreize. Schon die aktuell vielfach geäußerte Befürch-    Für Deutschland relevant könnten auch die Ergebnisse ei-
      tung, die bereits vom Deutschen Bundestag beschlossene        ner quasi experimentellen Studie zum Blutspenden sein, in
      Impflicht für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflege-        der die unerwartete Abschaffung finanzieller Aufwandsent-
      heimen ab Mitte März 2022 könnte zu einer Kündigungs-         schädigungen in einem süddeutschen Blutspendezentrum
      welle impfunwilliger Pflegekräfte führen, deutet auf erheb-    zu einem statistisch signifikanten und persistenten Rück-
      liche Schwierigkeiten und Kosten bei der Umsetzung hin.       gang der Spendenbereitschaft führte (Becker et al., 2019).
      Der Erfolg einer allgemeinen Impfpflicht könnte durch eine
      Flut individueller Klagen vor Gericht untergraben werden,     Für unterschiedliche Gestaltungsvarianten von Corona-
      zumal es aus medizinischen Gründen von vornherein un-         Impfprämien gibt es in Deutschland einen großen finan-
      vermeidlich erscheint, Ausnahmen zuzulassen.                  ziellen Spielraum. Der volkswirtschaftliche Wert eines
                                                                    Impfschutzes vor COVID-19 mit 95 % Wirksamkeit wur-
      Beschränkt man zur Minimierung dieser Kosten und Risiken      de in einer jüngst im Quarterly Review of Economics and
      die Impfpflicht auf Alte und andere besonders vulnerable       Finance erschienenen Studie für Deutschland auf 6.341
      Gruppen, erreicht man jene nicht, deren Impfung aufgrund      Euro pro Person geschätzt, was die von der deutschen

                                                                                                     Wirtschaftsdienst 2022 | 3
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Analysen Impfstrategie

Regierung bezahlten Impfstoffpreise für eine vollständige       fortschritts oder der höchsten erreichten Impfquote inner-
2-fach-Impfung plus Booster mit mRNA-Impfstoffen um             halb eines vorgegebenen Zeitraums ausschreiben.
ca. das Hundertfache übersteigt (Gandjour, 2022). Die-
se Schätzung berücksichtigt allerdings noch nicht die           Eine milieuspezifische Differenzierung von Impfprämien
Omikron-Variante des Virus, die den volkswirtschaftlichen       könnte Teil einer umfassenderen Strategie gegen milieu-
Wert von Impfungen mit den existierenden mRNA-Vakzi-            oder gruppenspezifisch verfestigte Impfablehnung werden.
nen gesenkt haben dürfte; deren Wirksamkeit gegen die           Impfprämien könnten dazu gezielte Aufklärungskampag-
Fluchtmutation liegt wohl deutlich unter 95 %.                  nen und das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
                                                                empfohlene „Community Engagement“ verstärken, mit di-
Trotz reduzierter Wirksamkeit und der zudem auch für            rekter Ansprache impfskeptischer sozialer Gruppen durch
Ungeimpfte geringeren Wahrscheinlichkeit eines schwe-           lokal vernetzte Multiplikatoren wie z. B. religiöse, zivilgesell-
ren Krankheitsverlaufs nach Omikron-Infektion könnte ei-        schaftliche oder kommunalpolitische Führungspersönlich-
ne optimal gestaltete Impfprämie auch dann noch vorteil-        keiten – etwa dadurch, dass klug gestaltete Prämien nicht
haft sein, wenn dafür im Einzelfall deutlich mehr gezahlt       nur den vorab erwarteten Impfnutzen, sondern auch die In-
werden müsste, als in Deutschland üblicherweise für             formationsnachfrage Ungeimpfter gezielt erhöhen.
Aufwandsentschädigungen beim Blutspenden oder als
Anreiz in der schwedischen randomisierten Kontrollstu-          Weitere Möglichkeiten zur Differenzierung bieten sich im
die für eine COVID-19-Impfung gezahlt wurde. Dies wird          Hinblick auf vulnerable Gruppen – Alte, Immunsupprimier-
umso mehr gelten, wenn angepasste Impfstoffe mit einer          te und Menschen mit anderen Risikofaktoren –, auf poten-
hohen Wirksamkeit gegen Omikron verfügbar werden                tielle Superspreader – etwa die Angehörigen von Berufen
oder sich neue Virusvarianten mit höherer Letalität durch-      mit vielen kritischen Sozialkontakten wie Pflegende, Leh-
setzen. Wie hoch die optimale Impfprämie jeweils wäre,          rende, Sporttreibende und Musiker:innen, insbesondere
müsste allerdings in weiteren gesundheitsökonomischen           Chorsänger:innen – und im Hinblick auf die immunologi-
Studien erst noch quantifiziert werden.                          sche Wirksamkeit der Impfstoffe. Während das Gesetz
                                                                bei Einführung einer Impfpflicht binär festlegen müsste,
Anreizwirkung optimieren                                        welche der zugelassenen Vakzine zur Erfüllung der Pflicht
                                                                anerkannt werden, hätte die Regierung bei Impfprämien
Effizienz und Akzeptanz von Impfprämien ließen sich in der      mehr Flexibilität und könnte deren Höhe nach Wirksamkeit
Praxis auch dadurch optimieren, dass man ihre Variabilität      der Impfstoffe differenzieren und anpassen, sobald neue
über die Zeit und weitere epidemiologisch relevante Dimen-      Fluchtmutationen des Virus die relative Wirksamkeit ver-
sionen voll ausschöpft. Die Anpassungsfähigkeit und Indi-       schiedener Impfstoffe unerwartet verändern.
vidualisierung positiver Anreize eröffnet Chancen auf Effizi-
enzgewinne, die Impfpflichten schon aufgrund starrer recht-      Zuverlässige Antikörpertests nutzen
licher Rahmenbedingungen kaum bieten können. Um das
Impftempo zu beschleunigen, könnten Impfprämien z. B.           Um zu vermeiden, dass bereits vollständig Geimpfte und
zeitlich oder bis zum Erreichen einer aus epidemiologischen     Geboosterte sich allein der Impfprämie wegen als un-
Gründen vorgegebenen Impfquote – etwa 95 % aller Er-            geimpft präsentieren und weitere Impfungen verlangen,
wachsenen – befristet oder aus einem begrenzten, öffentlich     sollte die Auszahlung von einem quantitativ zuverlässigen
bekannt gemachten Budget nach dem Windhundverfahren             negativen Antikörpertest mit hoher Spezifität für SARS-
vergeben werden. Alternativ könnte die Prämienhöhe nach         CoV-2 abhängig gemacht werden, der auf ein mögliches
einer vorab festgelegten Formel im Zeitablauf oder abhän-       Fehlen von Immunschutz hinweist. Laut Andreas Bobrow-
gig vom Impffortschritt auf Populationsebene fallen.            ski, dem Vorsitzenden des Berufsverbands Deutscher
                                                                Laborärzte (BDL), sei unbestritten, dass bei einem Anti-
Um regional konzentrierte Impfskepsis zu adressieren,           körperwert von weniger als 21,8 BAU pro Milliliter (ml)
etwa in Sachsen oder Bayern, könnte eine regionale Dif-         Blut (BAU = Binding Antibody Units, ein Standardmaß der
ferenzierung z. B. in der Höhe der Impfprämien hilfreich        Weltgesundheitsorganisation) kein verlässlicher Immun-
sein. Dabei könnte die Bundesregierung durch konditio-          schutz mehr gegeben ist; ab einem Wert von 44 BAU/ml
nale Zuschüsse an Länder oder Kommunen einen Anreiz             verfüge die getestete Person sehr wahrscheinlich über ei-
schaffen, dass diese sich ihrerseits an der Finanzierung        nen Immunschutz (Schneider, 2022).
höherer Impfprämien beteiligen. Bund oder Länder könn-
ten auch einen Wettbewerb zwischen Kommunen oder                Zwar ist sich die Wissenschaft noch nicht einig, ob Gene-
Landkreisen um die höchste Impfquote in Gang setzen,            sene durch aktive T-Zellen auch ohne nachweisbare Anti-
indem sie attraktive Preise in Form substanzieller Finanz-      körper einen guten Schutz gegen das Virus haben können
transfers zur Belohnung des größten prozentualen Impf-          und ab welchem BAU-Grenzwert ein voller Immunschutz

ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft
                                                                                                                                    227
Analysen       Impfstrategie

      als gegeben gelten kann. Aber darum geht es bei der                   ziehen. So könnte es zunächst eine Phase zeitlich befris-
      Feststellung einer Impfprämienberechtigung gar nicht. Es              teter Belohnungen für freiwilliges Impfen geben, die dann
      geht stattdessen darum, unter Personen, die behaupten,                im Falle des Nichterreichens der angestrebten Impfquote
      noch nicht geimpft zu sein, jene zu identifizieren, die mög-           von einer bußgeldbewehrten Impfpflicht abgelöst wird,
      licherweise keinen ausreichenden oder noch nicht den                  damit Ungeimpfte nicht auf eine spätere Erhöhung der
      bestmöglichen erreichbaren Immunschutz haben und                      Impfprämie spekulieren und einfach abwarten.
      von deren Erst- oder Auffrischungsimpfung sie selbst und
      auch die Gesellschaft profitieren könnten.
                                                                            Literatur
      Eine empirische Studie des Lübecker Gesundheitsamts                   Bates, T. A. et al. (2022), Vaccination before or after SARS-CoV-2 infec-
      und der Universität Lübeck, die am 10. Februar 2022 auf                  tion leads to robust humoral response and antibodies that eff ectively
                                                                               neutralize variants, Science Immunology, 7(68), https://www.science.
      dem Preprint Server „medRxiv“ zur Verfügung gestellt wur-
                                                                               org/doi/10.1126/sciimmunol.abn8014.
      de (noch ohne Peer Review; Schiffner et al., 2022) schlägt            Becker, D., H. Klüter, A. Niessen-Ruenzi und M. Weber (2019), The Impact
      vor, Personen mit einem Antikörperwert von mehr als 200                  of Direct Cash Payment on Whole Blood Supply, German Economic
                                                                               Review, 20(4), e973–e1001, https://doi.org/10.1111/geer.12204.
      BAU/ml als ausreichend immungeschützt einzustufen. Ein
                                                                            Campos-Mercade, P., A. N. Meier, F. H. Schneider, D. Pope, S. Meier und
      klar darüber liegender Grenzwert – z. B. 400 oder 500 BAU/               E. Wengström (2021), Monetary incentives increase COVID-19 vacci-
      ml – erscheint geeignet, die Wahrscheinlichkeit einer irr-               nations, Science, 374(6569), 879-882.
                                                                            Gandjour, A. (2022). Value-based Pricing of a COVID-19 Vaccine,
      tümlichen Ablehnung von Personen ohne ausreichenden
                                                                               Quarterly Review of Economics and Finance, 84(2), 1-8, https://doi.
      Immunschutz bei der Prämienauszahlung sehr niedrig zu                    org/10.1016/j.qref.2021.12.006.
      halten. Die implizite Bevorzugung Immunsupprimierter ist              Lyngse, F. P. et al. (2022a), Effect of Vaccination on Household Transmis-
                                                                               sion of SARS-CoV-2 Delta VOC, medRxiv 2022.01.06.22268841; htt-
      epidemiologisch wünschenswert, die irrtümliche Prämien-
                                                                               ps://doi.org/10.1101/2022.01.06.22268841.
      auszahlung an einige falsch klassifizierte bereits Geimpfte            Lyngse, F. P. et al. (2022b), Transmission of SARS-CoV-2 Omicron VOC
      oder Genesene mit ausreichendem Immunschutz harmlos.                     subvariants BA.1 and BA.2: Evidence from Danish Households, me-
                                                                               dRxiv 2022b.01.28.22270044; https://doi.org/10.1101/2022.01.28.222
      Zudem können ungeimpft Genesene ihren Immunschutz
                                                                               70044.
      in aller Regel durch anschließende Impfung deutlich ver-              Mostaghimi, D., C. N. Valdez, H. Larson, C. Kalinich und A. Iwasak (2022).
      bessern und eine Superimmunität erreichen (Bates et al.,                 Prevention of host-to-host transmission by SARS-CoV-2 vacci-
                                                                               nes, Lancet Infectious Diseases, 22, e52–58. https://doi.org/10.1016/
      2022), die auch sozial wünschenswert ist.
                                                                               S1473-3099(21)00472-2.
                                                                            Schiffner, J. et al. (2022), Immune responses after twofold SARS-CoV-2
      Personen, deren Antikörperwert über dem Grenzwert liegt,                 immunisation in elderly residents and Health Care Workers in nursing
                                                                               homes and homes with assisted living support – Proposal for a cor-
      bekommen keine Prämie, können sich aber weiterhin kosten-
                                                                               relate of protection, medRxiv preprint https://doi.org/10.1101/2022.0
      los impfen lassen. Daher ist kein erhöhtes Risiko zu erwarten,           2.09.22270747.
      dass falsch positiv Getestete das Ergebnis nutzen wollen,             Schmelz, K. und S. Bowles (2021), Overcoming COVID-19 vaccination
                                                                               resistance when alternative policies affect the dynamics of confor-
      um eventuell bestehende Coronaauflagen für Menschen oh-
                                                                               mism, social norms, and crowding out, Proceedings of the National
      ne eigenen Immunschutz zu umgehen. Die Berechtigung zur                  Academy of Sciences, 118(25), e2104912118. https://doi.org/10.1073/
      Impfprämie könnte zusätzlich von der Bereitschaft abhängig               pnas.2104912118.
                                                                            Schneider, P. (2022), Geimpft oder genesen: Habe ich genügend Antikör-
      gemacht werden, sich freiwillig in ein nationales Impfregister
                                                                               per? Ärzte-Chef sagt, welcher Wert Sie vor Covid schützt, Focus On-
      eintragen zu lassen; damit kann eine wiederholte Beanspru-               line, https://www.focus.de/gesundheit/news/endlich-faustregel-fuer-
      chung der Prämie ausgeschlossen werden.                                  antikoerper-laboraerzte-chef-erklaert-welcher-wert-sie-vor-covid-
                                                                               schuetzt_id_20895196.html (3. März 2022).
                                                                            Suryawanshi, R. et al. (2022), Limited Cross-Variant Immunity after In-
      Gesucht wird eine kluge Mischung von Interventionen, die                 fection with the SARS-CoV-2 Omicron Variant Without Vaccination,
      den größtmöglichen Impferfolg auf schnellstem Wege si-                   medRxiv 2022.01.13.22269243; https://doi.org/10.1101/2022.01.13.22
                                                                               269243.
      cherstellt. Dazu sollte die Politik auch Kombinationen ei-
      ner Impfplicht mit positiven Anreizsystemen in Erwägung

      Title: Vaccine Mandates, Private Incentives and the Efficient Use of Coronavirus Vaccines
      Abstract: From an economic point of view, vaccine mandates are a negative incentive to get vaccinated. Positive incentives that induce
      unvaccinated individuals just as effectively – such as government-provided cash incentives – can be more flexible and avoid some of the
      other disadvantages that come with mandates and possibly achieve higher vaccination rates. Given the size of societal benefits from
      boosting vaccination rates in the fight against SARS-CoV-2, Germany has substantial unused financial leeway to pay for cash incentives.
      Prudent combinations of cash incentives and vaccine mandates are also worth considering.

                                                                                                                   Wirtschaftsdienst 2022 | 3
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