Internationalität ist unschätzbar

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Internationalität ist unschätzbar
SCHWEIZ

„Internationalität ist unschätzbar“
       Der pensionierte Schweizer Polizeikommandant Dr. Léon Borer, einer der „Gründerväter“ der
     polizeilichen Antiterror-Kooperation in Europa, über die Anfangsjahre der Cobra, die Wurzeln des
                  ATLAS-Verbundes und die Entwicklungen im internationalen Terrorismus.
    Am 10. März 2020 waren Sie beim                                                        Die Gründung von „Enzian“ erfolgte
Begräbnis von General Johannes Pech-                                                   im Frühjahr 1972, die Orientierung war
ter. Welche Erinnerungen hat der Ab-                                                   zu dieser Zeit eine ganz eigene: Der
schied vom ersten Kommandanten des                                                     Kanton Jura war noch nicht gegründet,
heutigen Einsatzkommandos Cobra in                                                     er entstand erst 1979 aus einem Teil des
Ihnen wachgerufen?                                                                     Kantons Bern. Schon Anfang der
    Ich habe mich in den Sommer 1978                                                   1970er-Jahre versuchten Separatisten
zurückversetzt gefühlt. Damals fand im                                                 mit Sprengstoff- und Brandanschlägen
Schweizer Bergdorf Isone ein Antiter-                                                  und angedrohten Entführungen wichti-
rorkurs des Schweizerischen Polizeiin-                                                 ger Amtsträger die Loslösung von Bern
stituts statt. Auch aus Österreich hatten                                              zu erreichen. Die Polizei musste die In-
wir einen Gast: Major Johannes Pech-                                                   stitutionen und Botschaften in der Bun-
ter, den ersten Chef des im selben Jahr                                                desstadt Bern, dem politischen Zentrum
gegründeten Gendarmerieeinsatzkom-                                                     der Schweiz, bewachen und auch den
mandos. Er konnte sich gleich eine                                                     Personenschutz sicherstellen. Ich fuhr
Stoßtruppaktion mit Helikopter und          Léon Borer beim FBI National Academy       als junger Offizier der Kantonspolizei
Schützenpanzer ansehen. In der Pause        Retraining in Sofia 2019.                  Bern Anfang 1972 mit zwei Kollegen
kam es zu einer lebhaften Diskussion                                                   nach Paris und wir studierten einen Mo-
über die Übungsanlage und das Einsatz-      heit „Argus“ ab 1980. Später kamen die     nat lang im Élysée-Palast und bei der
szenario. Es war der Beginn einer lan-      Kantone Bern und Zürich dazu. Ein Be-      Polizeieinheit „CRS“ die Personen-
gen persönlichen Freundschaft mit Jo-       reich, wo die Polizei in der Schweiz da-   schutz-Konzepte für den französischen
hannes Pechter und eines über viele         mals schon einige Erfahrung hatte, war     Präsidenten. Die neue Einheit „Enzian“
Jahrzehnte sehr engen fachlichen Aus-       die Begleitung von Risikoflügen durch      sollte aber auch für den Ordnungs-
tausches zwischen Österreich und der        besonders ausgebildete Kräfte, die „Ti-    dienst, „harte“ Einsätze und robuste
Schweiz. Wir unterstützten einander mit     ger“. Anfang der 1980er-Jahre musste       Festnahmen gerüstet sein. Im Hinter-
Informationen und entwickelten Ideen        das Gendarmerieeinsatzkommando in          grund hatten wir die Entwicklung des
weiter, um gemeinsam gegen den Ter-         Österreich die Sicherung bestimmter Li-    Terrorismus und der organisierten Ge-
rorismus gewappnet zu sein. Beim Be-        nienflüge der Austrian Airlines über-      waltkriminalität bei uns und in unseren
gräbnis von General Pechter in Maria        nehmen. Johannes Pechter rief mich an      Nachbarländern im Auge. Der Anschlag
Enzersdorf konnte ich einige Persön-        und sagte mir, er würde ehestmöglich       palästinensischer Terroristen auf die is-
lichkeiten aus dieser Zeit wieder treffen   Material über die Flugbegleitungen         raelische Mannschaft bei den Olympi-
– zum Beispiel den heutigen Direktor        durch die Polizei benötigen. Da es so      schen Spielen in München im Septem-
Bernhard Treibenreif, August Pöltl und      schnell gehen sollte, schickte ich noch    ber 1972 hat dann alle zum Erwachen
den früheren Generaldirektor für die öf-    am selben Tag alle Informationen mit       gebracht – politisch und polizeilich:
fentliche Sicherheit Michael Sika. Und      einer Austrian-Airlines-Maschine nach      Man musste sich im Sicherheitsbereich
aus Paris reiste Préfet Prouteau, der       Wien. E-Mails gab es ja damals noch        auch deutlich besser für Terroranschlä-
Gründer der französischen GIGN, an.         nicht. Großes Interesse erregte bei den    ge aufstellen. Seither ist eine gewisse
                                            österreichischen Kollegen 1982 auch        Militarisierung der Sondereinheiten un-
   In welchen Bereichen waren für           die unblutige Beendigung einer Geisel-     übersehbar geworden.
Österreich die Kontakte mit der Schweiz     nahme in der polnischen Botschaft in
anfangs besonders hilfreich?                Bern mittels einer in einem Essenskorb         Welche europäischen Polizei-Sonder-
   Johannes Pechter hat uns beim Kurs       versteckten ferngezündeten Tränengas-      einheiten haben aus Ihrer Sicht nach
in Isone 1978 viel über die Schulter ge-    Granate. Vor allem zum Ablauf des          dem Anschlag in München Pionierarbeit
guckt. Wie die angehenden Schweizer         Einsatzes und den Hintergründen wollte     geleistet?
Antiterror-Instruktoren den Häuser-         man in Österreich mehr wissen. Später          Ganz vorne dabei war natürlich
kampf im scharfen Schuss oder das Ab-       wurden dann wir im Aargau zu den Ler-      Deutschland: Ulrich Wegener, ein
seilen vom Helikopter trainierten,          nenden und haben von der Cobra ver-        Oberstleutnant des Bundesgrenzschut-
scheint für Pechter aufschlussreich ge-     schiedene Ausrüstungsgegenstände und       zes und Sicherheitsberater des deut-
wesen zu sein, genauso wie die Effi-        Taktiken übernommen.                       schen Innenministers Hans-Dietrich
zienz des schweizerischen Kurswesens.          1972 haben Sie im Kanton Bern die       Genscher, erhielt kurz nach dem Atten-
Die Teilnahme Pechters war der Grund-       Einsatzgruppe „Enzian“ als erste Poli-     tat in München den Auftrag, eine natio-
                                                                                                                                   FOTO: PRIVAT

stein eines jährlichen Beamtenaustau-       zei-Sondereinheit der Schweiz mitge-       nale Antiterror-Truppe aufzubauen.
sches zwischen der Cobra und der Kan-       gründet. Was waren die Motive und He-      Wegener startete Ende Oktober 1972
tonspolizei Aargau mit ihrer Sonderein-     rausforderungen?                           und meldete im April 1973 die Einsatz-

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Internationalität ist unschätzbar
INTERVIEW

               Schweizer Anti-Terror-Kurs in Isone 1977: Kursdirektor Hans      Begräbnis von General Pechter: GD i. R. Michael Sika, Léon Bo-
               Suter, Léon Borer (technische Leitung), Instruktor Christian     rer, Christian Prouteau (GIGN), Bernhard Treibenreif (EKO Cob-
               Ambühl (KAPO Zürich), Jacques Künzi (technische Leitung).        ra), Gen. i. R. Ernst Moritz, André Zumsteg (KAPO Aargau).

               bereitschaft der Grenzschutzgruppe 9,        keit, die GSG 9 in Sankt Augustin bei      Armee erhielten wir großartige Unter-
               der „GSG 9“. Die Israelis waren in die-      Bonn zu besuchen und aus erster Hand       stützung – Material, persönliche Aus-
               ser Aufbauphase große Lehrmeister,           mehr über ihre Taktik, Ausbildung und      rüstung, Personal, Fahrzeuge, Helikop-
               aber auch die Briten mit dem militäri-       Arbeitsweise zu erfahren. Diese Verbin-    ter und Munition: Kein Kanton hätte da-
               schen Sonderkommando SAS, dem                dung mit der GSG 9 hat sich über Jahr-     mals für sich allein die erforderliche In-
               Special Air Service. 1974 wurde bei der      zehnte gehalten. Als ich 2008 als Kom-     frastruktur für das Training von Sonder-
               Gendarmerie in Frankreich die Groupe         mandant der Kantonspolizei Aargau in       einheiten bereitstellen können. Danach
               d’Intervention der Gendarmerie Natio-        Pension ging, war nicht nur Johannes       schufen nach und nach bis zum Ende
               nale, die GIGN, aktiv. Christian Prou-       Pechter zu Gast, sondern auch der erste    der 1970er-Jahre alle Kantonspolizeien
               teau war der erste Kommandant. Ich           GSG-9-Chef Ulrich Wegener, mein            Sondereinheiten. Große Polizeikorps
               war immer beeindruckt vom außerge-           Lehrmeister.                               wie im Kanton und der Stadt Bern, im
               wöhnlichen Korpsgeist und Mut dieser                                                    Kanton und der Stadt Zürich, im Kanton
               in den Anfängen noch kleinen und ver-            Wie ging es nach dem Anschlag in       Waadt oder im Kanton Genf investier-
               wegenen Truppe. Die GIGN hatte au-           München mit der Gründung von polizei-      ten besonders viel in ihre Einheiten. Das
               ßergewöhnliche Einsätze zu bieten:           lichen Sondereinheiten in der Schweiz      Mithalten auf hohem Niveau war auch
               Egal, ob es um die Bewältigung von           weiter?                                    mir mit meinem Wechsel zur Kantons-
               komplexen Gefängnisrevolten ging,                Nach meiner Rückkehr aus Deutsch-      polizei Aargau sehr wichtig. Der Kan-
               oder um die Beendigung einer Geisel-         land lieferte ich dem zuständigen Bun-     ton Aargau war 1975 unter den ersten,
               nahme in einem Schulbus in Dschibuti         desrat Kurt Furgler einen fundierten Be-   die mit dem „Grenadierzug“ eine Spezi-
               1976. Auch die Besetzung der Großen          richt ab – mit einem möglichen Umset-      aleinheit gründeten.
               Moschee in Saudi Arabien wurde 1979          zungskonzept für die Schweiz. Gemein-
               mit einzigartiger Unterstützung der          sam mit Oberst Kurt Kessi, Komman-             Sie haben sich kürzlich als „letzten
               GIGN gelöst. Es gab also in den              dant der Berner Stadtpolizei, und Capi-    Mohikaner“ aus der Gründungszeit der
               1970er- und 1980er-Jahren auch von           taine Jacques Künzi, dem Ausbildung-       Antiterror-Zusammenarbeit im deutsch-
               den Franzosen viel zu lernen.                schef der Genfer Gendarmerie, konzi-       sprachigen Raum bezeichnet. Wer wa-
                                                            pierte ich für alle Kantone einen Anti-    ren die Personen der „ersten Stunde“?
                  Welche Schlüsse haben Sie aus dem         terror-Kurs in Isone. Wir betraten damit       Das erste Antiterror-Netzwerk im
               Anschlag in München gezogen?                 polizeiliches Neuland. Die Zielgruppe      Polizeibereich war deutschsprachig.
                  Es war klar, dass die Polizei in der      waren angehende Polizeiinstruktoren,       Das hatte einerseits mit meiner persönli-
               Schweiz reagieren und beim Aufbau            die ihr Wissen nach dem Motto „teach       chen Verbindung zur GSG 9 zu tun, die
               von Antiterror-Einheiten den Aktivitä-       the teacher“innerhalb ihrer Organisatio-   ich ab 1973 pflegen und vertiefen konn-
               ten Deutschlands nachziehen musste.          nen weitergaben. Sie erhielten die Befä-   te, aber auch mit den Schweizer Antiter-
               Durch die Schaffung der Einsatzgruppe        higung, Polizeispezialisten zur Terror-    ror-Kursen in Isone, die auf das Interes-
               „Enzian“ im Kanton Bern hatten wir           bekämpfung, für die Herstellung von        se der GSG 9 und später auch des Gen-
               schon gewisse Erfahrung mit den Erfor-       improvisierten Sprengladungen sowie        darmerieeinsatzkommandos gestoßen
               dernissen einer Spezialeinheit. Die          für die Bewältigung von Geiselnahmen       sind. Der Kommandant der Kantonspo-
               Schwierigkeit war und ist die föderale       mit Präzisionsschützen und anderen         lizei Basel-Landschaft, Hans Suter, der
               Struktur der Schweiz: Jeder Kanton hat       komplexen Kriminalitätsformen wie          auch für die dortige Sondereinheit „Bar-
               seine eigene Polizeitruppe und bis heute     Amoksituationen auszubilden. Der In-       rakuda“ verantwortlich war, fungierte
               gibt es keine nationale Spezialeinheit       struktorenkurs dauerte zweimal drei        als zweiter Kursdirektor für die Instruk-
FOTO: PRIVAT

               für Terrorismusbekämpfung. Von Feb-          Wochen – mit langen Arbeitstagen,          torenkurse in Isone. Hans Suter, Ulrich
               ruar bis April 1973 erhielt ich als erster   Mutproben und Nachteinsätzen. Für          Wegener und Johannes Pechter knüpf-
               ausländischer Hospitant die Möglich-         mich war es eine Sternstunde. Von der      ten informelle Bande und begannen mit

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INTERVIEW

einem regelmäßigen Austausch. Er                                                             Ausbildung, Ausrüstung und Moti-
war von gegenseitiger Wertschät-                                                             vation gab es keine Halbheiten.
zung und großem Vertrauen ge-                                                                Das prägte ein positives Elitebe-
prägt. Die gleiche Sprache, der ge-                                                          wusstsein aus, aber auch ein gro-
meinsame Kulturraum und die                                                                  ßes internationales Interesse. Die
Nachbarschaft waren wichtige                                                                 Cobra hat sich dem nicht ver-
Faktoren für dieses Zusammenrü-                                                              schlossen, sondern ihre Türen ge-
cken. Und man bekämpfte gemein-                                                              öffnet: Jordanier waren genauso
same Bedrohungen wie die RAF                                                                 staunende Gäste wie Chinesen
oder den palästinensischen Terro-                                                            oder Polizisten aus dem kommu-
rismus. Als Kommandant der Kan-                                                              nistischen Osteuropa. Die legendä-
tonspolizei Aargau übernahm ich                                                              ren Bewerbe des Gendarmerieein-
auch die Funktion des Direktors                                                              satzkommandos waren Vorläufer
der Isone-Kurse von Hans Suter.                                                              für viele spätere internationale
Ich habe die Kooperation mit                                                                 Wettkämpfe von Spezialeinheiten.
                                      „Jahrzehntelange persönliche Freundschaft“: Léon
Deutschland und Österreich inten- Borer und Johannes Pechter beim EKO Cobra 2004.            Ich habe es jedes Mal als Berei-
siviert. Gegenseitige Besuche,                                                               cherung empfunden, nach Öster-
Austauschprogramme und Informati-                In meiner Interpretation ist das so,  reich zu kommen und die Leistungen
onsübermittlungen waren selbstver-           auch wenn mir klar ist, dass sich AT-     und Fortschritte der Cobra mitzuverfol-
ständlich. Es gab eine Art „Dreigestirn“,    LAS mit den früheren, kleinen Netz-       gen – zunächst im ersten Hauptquartier
bestehend aus Wegener und seinen             werken, die von wenigen Personen ge-      in Schönau an der Triesting, dann, ab
Nachfolgern, Pechter und mir. Das war        tragen waren, nur schwer vergleichen      1992, in Wiener Neustadt. Die Eröff-
Ende der 1970er-Jahre der Ausgangs-          lässt. Ein Verband mit 38 Einheiten aus   nung des dortigen Kommandozentrums
punkt für den Ausbau der Kooperation         ganz Europa hat eine andere Größe und     war ein echter Höhepunkt, es gab und
mit anderen Sondereinheiten in Europa,       Schlagkraft. Es bestehen jetzt in der EU  gibt nichts Vergleichbares weit und
zuerst mit der GIGN in Frankreich:           sehr formelle Strukturen, es geht um      breit. Soweit ich es gesehen habe, ge-
1978 war ich erstmals bei den Franzo-        strategische Ebenen und um mehr Ver-      noss das Gendarmerieeinsatzkommando
sen, auch Johannes Pechter unterhielt        einheitlichung im Antiterror-Bereich.     stets große Unterstützung durch den je-
bald ausgezeichnete Kontakte zum             Gewisse gemeinsame Standards haben        weiligen Innenminister und den Gene-
GIGN-Kommandanten Christian Prou-            wir aber schon vor vierzig Jahren ange-   raldirektor für die öffentliche Sicherheit
teau. Andere Staaten wie Italien, Bel-       strebt und das Pflegen guter persönli-    – das hat viel dazu beigetragen, dass die
gien, Holland und Spanien folgten.           cher Beziehungen ist weiterhin das A      Cobra in der Welt der Sondereinheiten
Auch das SEAL Team Six der US Navy           und O, selbst wenn Personen an der        heute eine besondere Position ein-
war zeitweise dabei. Der „harte Kern“        Spitze von Sondereinheiten inzwischen     nimmt. Ich sage es gerne: Die Cobra ist
in Zentraleuropa blieben aber Deutsch-       häufiger wechseln und die Dynamik ei-     ein österreichisches Markenprodukt.
land, Österreich und die Schweiz. Hans       ne andere ist.
Suter, Ulrich Wegener und Johannes                                                        Welche Veränderungen haben Sie
Pechter sind verstorben – ich bin daher          Wie haben Sie das Gendarmerieein-     seit den 1970er-Jahren im Bereich Ter-
inzwischen der letzte deutschsprachige       satzkommando bzw. das Einsatzkom-         rorismus festgestellt?
Zeitzeuge dieser spannenden, unver-          mando Cobra im Laufe Ihrer Karriere          Bei Anschlägen gab es durch die
gesslichen Gründungszeit.                    wahrgenommen?                             Jahrhunderte immer andere Modi Ope-
                                                 Das Gendarmerieeinsatzkommando        randi. Im 18. und 19. Jahrhundert waren
    Österreich führt seit 2017 den Vor-      hat 1978 einen eindrucksvollen            anarchistische Attentate auf Politiker
sitz im ATLAS-Verbund der EU. Ist AT-        Schnellstart hingelegt – mit hochmoti-    und Angehörige von Kaiser- und Kö-
LAS das Erbe dieser einstigen informel-      vierten Leuten, aber auch mit sehr guten  nigshäusern fast an der Tagesordnung.
len Kooperationen?                           Rahmenbedingungen. In Bezug auf           Dahinter steckten oft unbekannte Ein-

                                                     ZUR PERSON
                Léon Borer, geboren         tonspolizei Aargau – zuerst als Chef        Schweiz und Deutschland. 2008 trat
             1945 in Brig im Kanton         der Kriminalpolizei, ab 1979 als Kom-       Borer als Chef der Kantonspolizei Aar-
             Wallis, studierte Rechts-      mandant. Als Absolvent der FBI Natio-       gau im Rang eines Brigadiers in den
             wissenschaften in Bern und     nal Academy und des Law Enforcement         Ruhestand. Danach arbeitete er als Se-
             ging zur Kantonspolizei        Executive Development Seminars in           curity-Konsulent unter anderem für die
             Bern. 1973 entwickelte er      den USA pflegte er vielfältige interna-     Schweizer Bundesverwaltung, fungierte
 für die Schweizer Polizei ein Antiter-     tionale Kontakte und war im European        als Mitglied der Antifolterkommission
 ror-Ausbildungskonzept. Nach ver-          Chapter der FBI National Academy ak-        der Schweiz und unternahm Auslands-
 schiedenen Funktionen in Bern (Kan-        tiv. Borer war acht Jahre Delegierter bei   missionen für den Europarat und die
                                                                                                                                    FOTO: BMI, PRIVAT

 tonspolizei, Bundesanwaltschaft, Eid-      Interpol-Versammlungen und Delegati-        Vereinten Nationen. 1999 erhielt er das
 genössisches Justiz- und Polizeidepar-     onsleiter bei den Evaluationstreffen des    Große Silberne Ehrenzeichen für Ver-
 tement) wechselte er 1976 zur Kan-         Polizei-Staatsvertrags zwischen der         dienste um die Republik Österreich.

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Internationalität ist unschätzbar
ANTITERROR-EINHEITEN

Pensionierung Léon Borers als Chef der Kantonspolizei Aargau Arbeitstreffen nach Botschafts-Besetzung 1982 in Bern: Léon
2008: Ehrengäste GSG-9-Gründer Ulrich Wegener (links) und Borer, Kriminalkommissar Armin Amherd (Stadtpolizei Bern),
erster GEK-Kommandant Johannes Pechter (Mitte).              Kurt Werle und Johannes Pechter (GEK).
zeltäter. Das 20. Jahrhundert hat viele     riefen die Spezialeinheit, heute ist jeder   sentliches Element für einen erfolgrei-
Attentate politischer Bewegungen regis-     Polizist ein „First Responder“ und soll      chen Kampf gegen den Terrorismus
triert, die Zahl an Todesopfern war aber    versuchen, eine Täterschaft zu binden        bleiben – gerade bei Ländern mit glei-
zumeist überschaubar. In der Zeit ihres     und zu neutralisieren. Damit ist die gan-    cher Ausrichtung. Ich habe lange an
Bestehens hat die RAF den deutschspra-      ze Polizei viel aktiver in den Antiterror-   vorderster Front im European Chapter
chigen Raum in ihren Bann gezogen, es       Kampf eingebunden. Ich sehe das zum          der FBI National Academy mitgearbei-
werden ihr aber nur etwas mehr als 30       Beispiel bei der Kantonspolizei Aargau,      tet. Diese Fortbildungsinstitution des
Morde zugeschrieben. Im Gegensatz da-       wo inzwischen in jedem Dienstfahrzeug        FBI bringt jedes Jahr Polizeikräfte aus
zu wurden bei den Anschlägen in Paris       eine militärische Hochleistungslangwaf-      der ganzen Welt zusammen und lässt
im November 2015 allein im Bataclan-        fe ist, weil eine Pistole oder Maschinen-    einmalige Netzwerke entstehen. Aus
Theater 90 Menschen getötet. Bei 9/11       pistole im Ernstfall nicht mehr ausrei-      Österreich habe ich einige Absolventen
waren es sogar Tausende Tote. Offen-        chen.                                        der Akademie kennengelernt, die heute
sichtlich geht es bei den heutigen Taten                                                 Führungsfunktionen einnehmen – zum
viel darum, hohe Opferzahlen zu errei-         Was sind für Sie unerlässliche Ele-       Beispiel Sektionschef Mathias Vogl,
chen und große Ängste zu schaffen.,         mente einer erfolgreichen internationa-      General Franz Lang, Direktor Bernhard
gleichzeitig durch Mehrfachtatorte die      len Zusammenarbeit der Polizei im Anti-      Treibenreif und Bezirkspolizeikomman-
Öffentlichkeit zu beeindrucken, die Po-     terror-Bereich?                              dant Peter Waldinger.
lizei zu irritieren und deren Reaktion zu      Die Taktiken im Antiterror-Bereich
erschweren. Auch die Waffen sind teils      müssen immer wieder angepasst wer-              Wie wichtig waren für die Sonderein-
andere geworden – Massaker mit Mes-         den, man muss flexibel sein und verhin-      heit Argus die Kontakte zur Cobra oder
sern oder Fahrzeugen waren noch vor         dern, dass sich mit zu viel Routine Feh-     zur GSG 9?
wenigen Jahren kein Thema. Früher war       ler einschleichen. Das Lernen von der           Sie waren ganz entscheidend und da-
der Terror in Europa im Grunde auf we-      Gegenseite ist immer noch matchent-          mit ausschlaggebend. Die Sondereinheit
nige exponierte Länder beschränkt.          scheidend – von wem denn sonst? Gera-        Argus wurde 1975 als „Grenadierzug“
Heute kann es durch Zellenbildungen         de der technische Bereich gewinnt lau-       gegründet. Von Beginn an war es keine
und „einsame Wölfe“ überall zu einem        fend an Bedeutung. Man muss die Ent-         stehende Antiterror-Truppe, sondern die
Anschlag kommen. Die zunehmende             wicklungen in der Cyberwelt und im           Mitglieder sind Polizisten, die im Alltag
Radikalisierung, auch die Selbstradika-     Äther im Auge behalten, aber auch die        in anderen Bereichen arbeiten und nur
lisierung bislang unauffälliger Perso-      eigene Ausstattung, zum Beispiel durch       im Bedarfsfall und zum Training zu-
nen, ist oft schwer zu erkennen. Ge-        den Einsatz von Drohnen oder Robo-           sammengezogen werden. Durch den
heimdiensten kommt bei der Aufklä-          tern. Nachrichtendienste spielen in der      Kontakt mit der GSG 9 oder der Cobra
rung und Prävention daher eine beson-       Prävention terroristischer Angriffe eine     gab es immer die Möglichkeit, vonei-
dere Bedeutung zu. Es ist allerdings ei-    dominante Rolle. In die Aus- und Fort-       nander zu lernen und sich zu messen.
ne riesige Herausforderung geworden,        bildung von Sondereinheiten muss kon-        Das hat den Ehrgeiz bei der Sonderein-
die Informationsflut aus allen zur Ver-     sequent und intensiv investiert werden.      heit Argus sehr gefördert und auch dazu
fügung stehenden Möglichkeiten und          Eine Selektion der Besten sichert ein        geführt, dass es nie einen Stillstand gab.
                                                                                                                                      FOTO: KANTONSPOLIZEI AARGAU, PRIVAT

Quellen zu bündeln, zu sichten und zu       hohes Niveau, die Einheitsangehörigen        Einheiten wie die Cobra oder die GSG 9
interpretieren. Das Internet nimmt bei      sollen sich als Elite fühlen, aber sie       sind Vorzeigemodelle, oder anders ge-
der Vorbereitung und Begehung heuti-        müssen dafür im Einsatz überzeugen           sagt: Das ist Lernen von den Besten. Im
ger Terroranschläge eine Rolle ein, die     und gegebenenfalls Resultate „liefern“.      Juni 1997 erzielte die Sondereinheit Ar-
es früher nicht gegeben hat. Schließlich    Daraus entsteht dieser Teamgeist, der        gus beim Schweizer Jubiläumswett-
ist auch die Rolle der Polizisten im        zu Höchstleistungen führt. Dazu kommt        kampf „25 Jahre Sondereinheit Enzian“
Streifendienst eine andere geworden:        weiterhin die Internationalität: Gute        den ersten Platz und setzte sich gegen
Früher sicherten sie einen Tatort und       persönliche Kontakte werden ein we-          Spezialeinheiten aus der Schweiz und

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Internationalität ist unschätzbar
INTERVIEW

dem Ausland durch. Zwei Jahre später,
1999, folgte der erste Sieg bei der le-
gendären „Combat Team Conference“
der GSG 9 in Deutschland. Letztes Jahr
errang die Sondereinheit Argus erneut
den ersten Platz und ließ 43 Spezialein-
heiten aus vier Kontinenten hinter sich.
Internationalität ist unschätzbar. Meine
Bemühungen, die Kontakte ins Ausland
zu pflegen, wurden nach dem Ende mei-
ner Amtszeit im Aargau von Haupt-
mann André Zumsteg fortgesetzt. Der
aktuelle Kommandant der Kantonspoli-
zei Aargau, Oberst Dr. Michael Leu-
pold, fördert die internationalen Bezie-
hungen weiter.

    Durch das Coronavirus wird derzeit
ganz Europa in Atem gehalten. Welche
Lehren lassen sich im Sicherheitsbe-
reich aus derartigen Krisen ziehen?
    Es ist wohl noch viel zu früh, in der
aktuellen Situation Bilanz zu ziehen.
Generell sollte man aber nicht verges-
sen, dass Sicherheit und Freiheit auch
immer mit Gesundheit zu tun haben.
Bereiche wie Gesundheits- und Veteri-
närpolizei an der Landesgrenze und auf
Airports bekommen einen neuen Stel-
lenwert. Es hat sich gezeigt, wie schnell
sich ein Virus ausbreiten kann und dass
es plötzlich wieder Grenzkontrollen gibt
und auch andere Persönlichkeitsein-
schränkungen in Kauf genommen wer-
den müssen, um Schäden von der Be-
völkerung abzuwehren. Für die Zukunft
wird man Pandemie-Planungen sicher
anders bewerten und umsetzen, aber
auch stärker über geeignete Rechts-
grundlagen für Überwachungsmaßnah-
men diskutieren müssen, zum Beispiel
beim Zugriff auf Mobilfunkdaten oder
Kamerabilder. Nach dem Begräbnis von
General Pechter konnte ich am 11. März
2020 in Wien noch kurz den „Corona-
Stab“ im Innenministerium besuchen.
Der stellvertretende Generaldirektor für
die öffentliche Sicherheit Franz Lang
und Ministerialrat Bernhard Treibenreif
haben über die Rolle des Innenministe-
riums im Krisenmanagement berichtet.
Ich fühle mich mit Österreich bis heute
sehr verbunden. Von der Ruhe und Pro-
fessionalität bei der Stabsarbeit in gro-
ßen Arbeitsräumen war ich sehr beein-
druckt. Kurz darauf wurden in Öster-
reich viele Maßnahmen sehr rasch und
konsequent umgesetzt. In der Schweiz
ist es komplizierter, weil die föderalisti-
sche Tradition einer zentralen Führung
gegenüber kritisch eingestellt ist.
               Interview: Gregor Wenda

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Internationalität ist unschätzbar
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