Ein Filmarchiv im digitalen Wandel - Die Cinémathèque suisse
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BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2020; 44(3): 391–396 III. Filmarchive und Zugang zum Filmerbe Seraina Winzeler* und Daniela Wegmann Ein Filmarchiv im digitalen Wandel – Die Cinémathèque suisse https://doi.org/10.1515/bfp-2020-2045 mehreren Kinosälen im Casino de Montbenon und in ei- nem der ältesten Kinos der Schweiz, dem Kino Capitole, Zusammenfassung: In jüngster Zeit wurden die Forderun- einen Schwerpunkt auf Vermittlung und Öffentlichkeit. gen auch an die Filmarchive lauter, Bestände per Video- Ebenfalls im Kanton Waadt ist im Archivierungs- und For- Streaming abrufbar zu machen. Video-Streaming ist je- schungszentrum in Penthaz ein Großteil der Sammlungen doch nur einer von vielen Arbeitsbereichen, die sich unter konserviert. Mit einem weiteren Forschungs- und Archi- Eindruck der Digitalisierung verändern. Der Artikel dis- vierungszentrum in Zürich – die frühere Dokumentations- kutiert die Tätigkeiten der Cinémathèque suisse sowohl in stelle Zürich – unterhält die Organisation zusätzlich einen ihrer historischen Tradition als auch angesichts gegenwär- Ableger in der deutschsprachigen Schweiz. Zwei Abteilun- tiger Herausforderungen und stellt dabei aktuelle Entwick- gen verwalten die umfangreichen Sammlungen: Die über- lungen und Projekte vor. aus bedeutenden Filmsammlungen, die auch zahlreiche Kopien von internationalen Filmen umfassen, des Depar- Schlüsselwörter: Filmarchiv; Zugang; Konservierung; Di- tements Film werden ausschließlich in Penthaz auf- gitalisierung bewahrt. Aufgeteilt auf die beiden Zentren in Penthaz und in Zürich enthalten die heterogenen Bestände des Departe- A Film Archive Facing Digital Change-The Cinémathèque ments Non-Film grundsätzlich alle Dokumente – Papier- suisse archive, Bibliothek, Dokumentationsdossiers zu Werken Abstract: Recently, the demands on film archives have und Personen der Filmgeschichte, Plakate, Fotografien, also become louder to make their collections accessible via Objekte, filmische Apparate –, die thematisch mit Filmen video streaming. However, video streaming is only one in Zusammenhang stehen und filmkulturelle Aktivitäten, among many working fields that are changing under the sei es Publizistik, Programmierung oder Promotion, doku- impact of digitization. This article discusses the Cinéma- mentieren. Damit sind bereits einige spezifische Heraus- thèque suisse’s activities with respect to its historical tradi- forderungen angesprochen: Das mehrsprachige Umfeld, tion as well as current challenges. Finally, it presents in dem sich alle national ausgerichteten Institutionen der current developments and projects. Schweiz bewegen, sowie die heterogenen Sammlungen, sog. gemischte Bestände eines „sammelnden Archivs“, Keywords: Film archive; access; preservation; digitization das sich an nicht so klar bestimmten Schnittstellen zwi- schen Museum, Archiv, Bibliothek sowie Filmkultur und Gedächtnisinstitution situiert.2 Zudem sind die Sammlun- 1 Die Cinémathèque suisse Die Cinémathèque suisse, das nationale Filmarchiv der 2 Bei der archivwissenschaftlichen Definition des Archivbegriffs ging Schweiz, ist seit 1948 in Lausanne angesiedelt und betreibt man davon aus, dass Archive formal organisierten Institutionen zu- geordnet sind, um deren Aktenproduktion aus der Registratur ins heute mehrere Niederlassungen.1 Der Standort Lausanne Archiv zu übernehmen. Als sammelndes Archiv erwirbt und baut die ist der Sitz der Stiftung und der Direktion und legt mit Cinémathèque suisse ihre Bestände hingegen wie in einer Bibliothek oder einem Museum durch Sammeln auf. Die Kohärenz einer Samm- lung entsteht nicht infolge einer sich in der Organisation der Akten 1 Zur Geschichte der Cinémathèque suisse vgl. Cinémathèque suisse abbildenden internen Funktionslogik der abgebenden Behörden, son- (1998), Cosandey (2014), Neeser (2006). dern weil die gesammelten Materialien gemeinsamen thematischen oder formalen Kriterien entsprechen. Trotzdem teilen sich Filmarchive *Kontaktperson: Seraina Winzeler, mit anderen Gedächtnisinstitutionen diese kulturelle Praxis des Archi- seraina.winzeler@cinematheque.ch vierens, das Übernehmen von Dokumenten, das Suchen und Finden, Daniela Wegmann, daniela.wegmann@cinematheque.ch die Übernahme, Erschließung, Konservierung und Nutzung von Mate-
392 Seraina Winzeler und Daniela Wegmann gen auf zwei Standorte aufgeteilt, wobei der 2019 offiziell eröffnete Neubau in Penthaz weitaus größere Kapazitäten in Bezug auf Konservierung und Nutzung bereitstellt als die kleinere Geschäftsstelle in Zürich, die historisch auf die kirchliche Filmarbeit zurückgeht und erst seit 2002 zur Cinémathèque suisse gehört.3 Der Schwerpunkt der Ciné- mathèque suisse liegt damit traditionell in der französisch- sprachigen Schweiz und ist von einer cinephilen französi- schen Kultur geprägt, was sich bereits etwa in den frühen und engen Kontakten des ehemaligen, 2019 verstorbenen Leiters Freddy Buache zur Cinémathèque française zeigt. 2 Sammlungspolitik Die Cinémathèque suisse steht historisch in der Tradition eines sich in den 1930er-Jahren in Europa und den USA – die Zeit der Entstehung der großen, bis heute einflussrei- chen Filmarchive wie etwa der Cinémathèque française (1936) oder der Film Library des Museum of Modern Art (1935) – ausbildenden Sammlungsparadigmas, das auf den Film als Kunst fokussierte.4 Diese Gründungen situieren sich im Kontext eines zeithistorischen Diskurses über den Film als neue Kunstform und trugen zu dessen Ausfor- mung und Etablierung bei. Bereits damals waren technolo- gische Entwicklungen weichenstellend: Als zentraler Mo- ment für diese ersten Initiativen in Europa und den USA gilt die Etablierung des Tonfilms, womit Stummfilmkopien Abb. 1: Freddy Buache im ehemaligen Archivdepot der Cinémathèque obsolet wurden. Auch das Ersetzen der hoch entzündbaren suisse, das sich von 1950 bis 1981 in den ehemaligen Stallungen des Nitratkopien machte letztere zu Abfallgut. Viele Filmarchi- Parks Mon Repos in Lausanne befand. DR. Cinémathèque suisse ve entstanden sozusagen aus dem Ausschuss: Gesammelt wurde, was nicht mehr benötigt, aus dem kommerziellen zu erhalten, was auch aufgrund einer erfolgreich etablier- Vertrieb und einer wirtschaftlichen Verwertungslogik aus- ten Zusammenarbeit mit Schweizer Filmverleihen gelang. geschieden und damit wertlos wurde, die Entsorgung war Auf ähnliche Weise umfasste die Sammlungspraxis im der Normalfall, die Archivierung der Sonderfall. Die Archi- Bereich der Dokumentationsdossiers und des Promotions- ve, die diese Kopien nun sammelten und zu erhalten ver- materials ebenso in der Schweiz hergestelltes und zirkulie- suchten, bauten ihre Sammlungen mit einem musealen rendes Promotionsmaterial und Presseartikel zu nationa- Verständnis auf. Es vollzog sich also ein Prozess der Auf- len als auch internationalen Filmen. Dieser erweiterte wertung, indem das Dokument aus dem Müll als Kunst- Begriff von Helvetica, wie dies im Rahmen einer nun aufs werk aufbewahrt und wiederaufgeführt werden sollte. Wie Nationale ausgerichteten, 2015 verfassten Sammlungspoli- andere Filmarchive machte die Cinémathèque suisse es tik benannt wird, wirkt bis heute nach. So werden in der sich zur Aufgabe, die in der Schweiz zirkulierenden Kopien Schweiz synchronisierte oder untertitelte Versionen, oder das Schweizer Promotionsmaterial zu internationalen Fil- men berücksichtigt. 1963 erhielt die Cinémathèque erst- rialien, unabhängig von deren Herkunft und Form. Um der Marginali- mals eine Bundessubvention; heute ist sie zu einem großen sierung von Sammlungen innerhalb der Archivwissenschaften ent- Teil durch das Schweizer Bundesamt für Kultur finanziert, gegenzuwirken und methodische Auseinandersetzungen zu fördern, wobei ihre Aufgaben jeweils in einer periodisch zu erneu- schlägt Friedrich den Begriff des sammelnden Archivs vor, der uns ernden Leistungsvereinbarung festgelegt werden. Damit unsere Arbeitspraxis gut zu beschrieben scheint (vgl. Friedrich 2016). 3 Zur Geschichte der Zürcher Geschäftsstelle der Cinémathèque suis- liegt der Schwerpunkt heute auf der Überlieferung des se vgl. Winzeler (2018). Schweizer Filmschaffens in seiner ganzen Vielfalt. Dazu 4 Vgl. Hagener (2014), Hediger und Horwath (2011). gehören im Bereich des Films neben längeren Spiel- und
Ein Filmarchiv im digitalen Wandel – Die Cinémathèque suisse 393 Dokumentarfilmen auch Kurz-, Gebrauchs-, Amateur- oder wurde, ist – trotz aller derzeit viel beschworenen Kon- Familienfilme. In der nicht-filmischen Abteilung erlangten vergenzen – bei der Diskussion über Langzeitarchivierung, die umfassenden Plakat- und Bildsammlungen sowie Vor- Erhalt und Gewährleistung eines langfristigen Zugangs in und Nachlässe von Filmschaffenden und Institutionen, die Bibliotheken und in Archiven nicht immer vom Gleichen insbesondere für die Forschung einen großen Mehrwert die Rede.8 Für die Bibliotheken heißt Erhalt und Langzeit- haben, an Bedeutung. Die filmischen Kernbestände stehen archivierung im Besitz eines Datenträgers zu sein, der den aber oft stärker im Fokus der Öffentlichkeit, während die Nutzenden langfristig einen einfachen und unmittelbaren etwas unschön Ex-Negativo definierten Non-Film-Samm- Zugang ermöglicht. Im Kontext der Access- vs. Ownership- lungen ein nicht immer berechtigtes Schattendasein fris- Debatte stellt die Digitalisierung die Bibliotheken hier vor ten. Es ist uns daher im Folgenden ein Anliegen, in Bezug die Problematik, dass sie keine eigenen Filminhalte mehr auf das Thema Video-Streaming auch nach der Relevanz erwerben, sondern lediglich das Recht auf Zugang zu ih- dieser Sammlungen zu fragen. nen.9 Diese Datenträger, traditionell VHS oder DVD, heute von Streaming-Anbietern zur Verfügung gestellte digitale Kopien, stellen im Filmarchiv immer nur Nutzungskopien 3 Erhaltung versus Zugang dar, die nicht aufbewahrt werden. Erhalt und Langzeit- archivierung meint hier, den originalen Datenträger lang- Seit den Anfängen der Filmarchive sind diese geprägt fristig zu bewahren, was heute nicht mehr unbedingt auch durch einen nicht aufzulösenden Konflikt zwischen Erhal- Zugang bedeutet. Denn, wie oben beschrieben, muss die- tung und Zugang.5 Im Unterschied zu anderen Dokument- ser originale Datenträger gemäß ethischen Richtlinien der typen, riskiert man bei jeder Nutzung einer analogen Film- Restaurierung in ein anderes Format migriert werden, was kopie deren Verlust. Die Digitalisierung stellt hier nur mit aufwendigen Prozessen einhergeht und immer nur scheinbar eine Lösung dar. Denn wie auch in Deutschland punktuell erfolgen kann. Solche Nuancen in den Heraus- heftig diskutiert wird, ist der größte Teil der historischen forderungen und in der Diskussion scheinen uns wichtig, Filmproduktion auf unterschiedlichen analogen Datenträ- um darauf aufbauend Kooperationen mit einer sinnvol- gern überliefert, die heute angesichts obsolet gewordener len Aufgabenteilung aufbauen zu können. Ein Schweizer Technik nur noch in spezialisierten Institutionen vor- Streaming-Projekt, in dem sich die Cinémathèque suisse geführt werden können.6 Die Bearbeitung dieser Träger – gegenwärtig erfolgreich engagiert, stellt hier das Portal im Idealfall das Negativ, häufig aber auch die überlieferten filmo10 dar. Dieses entstand 2019 auf Initiative der Solo- Vorführkopien – erfordert eine hohe Fachkenntnis und thurner Filmtage und macht von Fachpersonen ausge- jedes Restaurierungs- und Digitalisierungsprojekt einen wählte Werke des Schweizer Filmerbes auf bereits etablier- immensen Zeitaufwand. Der Schwerpunkt der Tätigkeit des ten Streaming-Plattformen – wie Teleclub,11 upc On De- Departements Film liegt bei der langfristigen Erhaltung mand12 und cinefile13 – kostenpflichtig zugänglich. In und Konservierung der originalen Filmrollen. In Bezug auf diesem Kontext übernehmen die Verantwortlichen von die Digitalisierung, die gegenwärtig die Voraussetzung für filmo die Aufgabe des Zugangs und die Cinémathèque den Zugang darstellt, stellt so weniger die Quantität als die suisse, indem sie in Restaurierungsprojekten hergestellte Gewährleistung der Qualität dieser Projekte im Vorder- digitale Nutzungskopien zur Verfügung stellt, den Erhalt. grund. Detaillierte Analysen der einzelnen Kopien sowie Ein anderes wegweisendes Projekt ist die Onlinestellung Kenntnisse der Technik- und Filmgeschichte sind Voraus- der dreisprachigen Schweizer Filmwochenschau, eine der setzungen für sämtliche Arbeitsschritte, die detailliert wichtigsten audiovisuellen Quellen der Schweiz. Gemein- dokumentiert werden und sich ethischen Richtlinien der sam mit dem Schweizerischen Bundesarchiv und Memori- Restaurierung verpflichten. Trotz der unausweichlichen av, Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgu- Migration in ein anderes Format sollte die neue Kopie dabei tes der Schweiz, stellt die Cinémathèque suisse diese in möglichst nahe an der Originalversion sein.7 Wie uns bei der Tagung des Arbeitskreises der Film- bibliotheken, die letztes Jahr in Zürich stattfand, bewusst 8 Vgl Bohn (2020), Piguet (2020). Die Herbsttagung „Streaming Wars and Library Battles“ des Arbeitskreises Filmbibliotheken fand vom 24.10. bis 25.10. an der Zürcher Hochschule der Künste in Zürich statt. 5 Vgl. Hagener (2014). 9 Vgl. Kempf (2014). 6 Für die Diskussion in Deutschland: https://kinematheken.info/ 10 https://www.filmo.ch/. sowie Bohn und Koerber (2016). 11 https://www.blue.ch/de. 7 Vgl. etwa den FIAF Code of Ethics: auf https://www.fiafnet.org/pa 12 https://www.upc.ch/. ges/Community/Code-Of-Ethics.html. 13 https://de.cinefile.ch/.
394 Seraina Winzeler und Daniela Wegmann dem von Memoriav betriebenen Portal Memobase zur Ver- 4 Eigenes Videostreaming fügung.14 Einen sinnvollen Kompromiss – hier weniger in Bezug auf die Onlinestellung von Beständen als auf Aufgrund der Corona-Krise musste die Cinémathèque suis- Sehgewohnheiten eines zeitgenössischen Publikums – se in diesem Frühjahr ihre Kinosäle in Lausanne temporär fand die Cinémathèque suisse in der langjährigen Zu- schließen. Als Ausgleich dafür lancierte sie zwei Online- sammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen SRF und der Filmplattformen: Einerseits wurden dem Publikum zwi- Praesens-Film AG. Im Rahmen dieses Zusammenschlusses schen April und Juni 2020 unter Einsatz der Videoplatt- wird jährlich ein Film der Praesens, der historisch bedeu- form Vimeo dreizehn Spielfilme aus dem Vertriebskatalog tendsten Schweizer Filmproduktion der ersten Hälfte des kostenlos zum Streamen zur Verfügung gestellt. Ander- 20. Jahrhunderts, restauriert, wobei zwei Versionen her- seits stellte sie, ebenfalls auf Vimeo, restaurierte und gestellt werden: Eine, bei der möglichst wenig ins Material digitalisierte Gebrauchsfilme bereit, wie beispielsweise eingegriffen wird, und eine zweite für die Fernsehaus- historische Ovomaltine- oder Caran-d’Ache-Werbespots strahlung im SRF, Rechteinhaber vieler Praesens-Filme, sowie manuell kolorierte Kurzfilme des Winzerfests „Fête die digital bearbeitet und bereinigt ist. des Vignerons“ von 1905. Der Zugang zu Letzterem ist So sehr der Wunsch besteht, Bestände sichtbar und auch aktuell kostenlos möglich und soll weiterhin mit nutzbar zu machen, so ordnet sich der Zugang also dem Inhalten versehen werden.15 Aufgrund des positiven Feed- Auftrag der Konservierung, Restaurierung und Langzeit- backs seitens der Öffentlichkeit prüft die Cinémathèque archivierung unter, dessen Herausforderungen sich im Be- suisse derzeit Möglichkeiten für eine nachhaltigere Platt- reich des Digitalen nochmals verschärfen. Denn erstens form für Schweizer Filme, die gemeinsam mit externen handelt es sich um immense, stets aktiv zu haltende und Partnern entwickelt werden könnte. Neben den oben dis- periodisch zu migrierende Datenmengen sowie bei Born- kutierten materiellen Einschränkungen ist das Projekt im digital-Beständen um komplexe Formate, bei denen sich Hinblick auf die rechtliche Situation nicht einfach zu reali- im Vergleich zu anderen Dokumenttypen keine Standardi- sieren, denn wie in allen Archiven, werden der Cinéma- sierung im Bereich der Langzeitarchivierung abzeichnet. thèque suisse bei der Übernahme von Beständen keine Zweitens folgert daraus, dass der physische Datenträger, Nutzungsrechte eingeräumt. Zudem gibt es in der Schweiz die Rückkehr zum Film als Träger für die Langzeitarchi- bereits verschiedene Akteure in diesem Bereich. Zu dem vierung, wie ihn die Cinémathèque suisse aktuell prakti- bereits erwähnten Projekt Filmo, dem Portal Memobase, ziert, nicht gleichzeitig auch den Zugang ermöglicht. Denn dessen nächste, auf das Frühjahr 2021 geplante Version anders noch als vor einigen Jahren verfügen Kinosäle auf den neuen Erschließungsstandard Records in Context heute nicht mehr über die Möglichkeit einer analogen (RiC)16 setzt und als Aggregator für Europeana dienen soll, Projektion. Der Fokus der Vermittlungstätigkeit auf die gesellen sich kommerzielle nationale Anbieter wie cinefi- traditionelle Projektion im Kino – hauptsächlich in den le, artfilm.ch oder filmingo17 sowie PLAY SRF, ein geplan- Kinosälen in Lausanne, aber auch in Zusammenarbeit und tes Portal des Schweizer Fernsehen. Es stellt sich nicht nur im Austausch mit nationalen und internationalen Kinema- die Frage, wie sich das Streaming technisch und rechtlich theken, Programmkinos und Archiven –, ist somit bewuss- umsetzen lässt, sondern auch, ob sich in einem nationalen tes Programm. Dieses klassische und inzwischen beinahe Kontext Zusammenarbeiten aufbauen lassen, die Kom- historische Dispositiv ist gewissermaßen Teil einer zu tra- petenzen bündeln, sinnvolle Aufgabenteilungen etablie- dierenden Filmkultur und eines Wissens über Material und ren und vor allem für die Nutzenden die Auswahl der Apparate, dessen Überlieferung selbst prekär geworden Angebote zentralisieren. Dabei ist durchaus denkbar, dass ist, da immer weniger Personen über das Fachwissen für die Unterscheidung zwischen einerseits mehrheitlich fürs die Projektion von analogen Filmkopien verfügen. Im Zen- Kino produzierten künstlerischen Spiel- und Dokumentar- trum dieser auf die Filmklubbewegung der 1920er-Jahre filmen, an denen nach wie vor auch ein monetäres Bedürf- zurückgehenden Vermittlungspraxis steht die Wiederauf- nis seitens Regie, Produktion und Verleih besteht, und führung der Filmkopie im Rahmen von thematischen Rei- andererseits ephemeren, kultur-, sozial- oder wirtschafts- hen und Retrospektiven, die begleitet wird von Gesprä- historisch bedeutenden Filmen, bei denen sich die Rechts- chen und Diskussionen über Film und die immer ein lage einfacher gestaltet, beibehalten wird. kollektives Erlebnis einer Gruppe von Menschen darstellt. 15 Vgl. die von der Cinémathèque suisse restaurierten Kurzfilme: https://vimeopro.com/cinemathequesuisse/restauration. 16 https://www.ica.org/en/records-contexts-german. 14 http://memobase.ch/. 17 https://www.filmingo.ch/.
Ein Filmarchiv im digitalen Wandel – Die Cinémathèque suisse 395 In der Zwischenzeit behält auch für die Cinémathèque archive, dem die Institution ihre heutige Existenz zu ver- suisse der schon oft als obsolet bezeichnete Datenträger danken hat, der Katalog sei sein Kopf.20 Während die der DVD seinen Wert und seine Gültigkeit. Gerade für Schwerpunkte viele Jahre beim Aufbau der Bestände und Sammlungen wie Bibliotheken stellt er im Moment noch der Konsolidierung der Institution und des Films als eine nachhaltige Form des Zugangs dar. So konstatierte Kunstform lagen und auch weitaus weniger finanzielle Michel Piguet im Anschluss an die Tagung der Filmbiblio- Mittel vorhanden waren, steht in den nächsten Jahren in theken, dass „mit den aktuellen Angeboten [...] bisher kein beiden Departementen eine bereits begonnene immense geregelter, geschweige denn ein langfristiger Bestandsauf- Arbeit im Bereich der Nacherschließung und der Berei- bau in Bibliotheken möglich“ ist.18 In der Folge stuft er das nigung von Daten an. Caspar ist hier nur der erste Schritt. Ownership-Modell in Form des Besitzes von DVDs nach Nach wie vor stellen im Archiv-, Bibliotheks- und Muse- wie vor als relevant ein, auch angesichts dessen, dass (ins- umsbereich die gemeinsame Verzeichnung von heteroge- besondere in Deutschland) das Breitband-Internet noch nen Sammlungsbeständen eine große Herausforderung nicht überall installiert ist. dar. Aktuell plant das Departement Non-Film, die Meta- daten der Bibliothek in einen regionalen Verbundkatalog zu migrieren und für Bilder, Plakate, weitere Promotions- materialien und filmische Apparate eine neue Datenbank 5 Metadaten, Digitalisierung, anzuschaffen. Mit den entsprechenden Schnittstellen soll- Standardisierung ten die Bestände der unterschiedlichen Kataloge in Zu- kunft durch eine Metasuche abrufbar sein. Zudem soll die Der Zugang zum Archiv ist also traditionell ein kuratierter, Etablierung eines gemeinsamen Verzeichnisses von Wer- der sich primär an den Kategorien von Autorschaft und ken, Personen und Organisationen redundante Erschlie- Werk orientiert, sich in weit zurückreichenden filmkul- ßung zumindest erstmals intern verhindern. turellen Praktiken verortet und ökonomisch den Auswer- Parallel initiiert das Departement Non-Film derzeit ver- tungsmodalitäten der Filmbranche unterliegt. Etwas an- schiedene Digitalisierungsprojekte, um Dokumente dieser ders gestaltet sich die Situation in der Abteilung der filmbegleitenden Sammlungen online zu publizieren. Hier filmbegleitenden Sammlungen, dem Departement Non- kann teilweise auf bereits bestehende nationale Infrastruk- Film. Dieses teilt sich mit klassischen Archiven zumindest turen zurückgegriffen werden. So stehen in der von der partiell Dokumenttypen. Dadurch fällt die Bezugnahme ETH-Bibliothek betriebenen Plattform E-Periodica21 bereits auf archiv- oder bibliothekswissenschaftlichen Methoden eine hohe Anzahl digitalisierter Schweizer Zeitschriften aus und Diskurse, die in den letzten Jahren dezidiert eine Öff- diversen Fachgebieten online zur Verfügung. Im Bereich nung der Archive und eine demokratische Teilhabe an Film stellte bereits das Seminar für Filmwissenschaft der Beständen einfordern, leichter. Am Deutlichsten kommt Universität Zürich bedeutende Filmzeitschriften der ersten dies im Onlinekatalog Caspar zum Ausdruck.19 Seit 2015 Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Verfügung, ebenso ist das erfasst die Cinémathèque suisse Papierarchive sowie auch Archiv des Filmbulletins, der derzeit wichtigsten deutsch- die historischen Sammlungen der Dokumentationsdos- schweizerischen Zeitschrift, hier abrufbar.22 Ab 2021 führt siers in der Open Source-Software ICA-AtoM gemäß den die Cinémathèque suisse diese Arbeiten weiter, indem sie Erschließungsstandards International Standard Archival dank ihrer Fachexpertise die Auswahl der Zeitschriften und Description (General) – ISAD(G) und International Stan- die Rechtsabklärungen vornimmt sowie die zu digitalisie- dard Archival Authority Record for Corporate Bodies, Per- renden Exemplare aus ihren Beständen vorbereitet. Die sons, and Families ISAAR (CPF). Sämtliche Metadaten zu ETH-Bibliothek übernimmt die Digitalisierung und den den Beständen sind entweder auf Deutsch oder auf Fran- langfristigen Betrieb der Infrastruktur, womit für die Nut- zösisch für die Nutzenden online abrufbar. Damit liegen zenden ein nachhaltiger zentraler Zugang geschaffen wird. standardisierte und normierte Daten vor, was für die Ciné- Auch der im Bereich des Films vorhandene Schwerpunkt mathèque suisse und viele andere Kinematheken, die sich auf die Bestände der Praesens-Film AG wurde vom Depar- verspätet mit Fragen der Erschließung und Konservierung tement Non-Film weitergeführt. Letztes Jahr konnte die beschäftigten, ein Novum darstellt. Berühmt ist die Aus- Abteilung das historische Archiv der Produktionsfirma – sage Freddy Buaches, Pionier der Filmkritik und der Film- 20 Keller (2019). 21 https://www.e-periodica.ch/. 18 Piguet (2020). 22 Filmbulletin: Zeitschrift für Film und Kino: https://www.e-period 19 Vgl. https://caspar.cinematheque.ch/. ica.ch/digbib/volumes?UID=flm-001.
396 Seraina Winzeler und Daniela Wegmann überliefert sind vor allem Promotionsmaterialien und Cosandey, Roland (Version vom 9.8.2019): Schweizer Filmarchiv. In: Drehbücher der wichtigsten Spielfilme – übernehmen, das Historisches Lexikon der Schweiz. Verfügbar unter https://hls- nun im internen Digitalisierungslabor bearbeitet wird. Die dhs-dss.ch/de/articles/010475/2019-08-09/. Friedrich, Markus (2016): Sammlungen. In: Handbuch Archiv. Digitalisierung dieser Dokumente, die als erste in der Da- Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. v. Marcel Lepper und tenbank Caspar online gestellt werden sollen, stellt nicht Ulrich Raulff. Stuttgart: Metzler, 152–162. nur intern einen Mehrwert dar. Kontextmaterialien liefern Hagener, Malte (2014): Institutions of Film Culture. Festival and im Rahmen von Restaurierungsprojekten wichtige produk- Archives as Network Nodes. In: The Emergence of Film Culture. tions- und rezeptionshistorische Informationen und geben Knowledge Production, Institution Building, and the Fate of the Avant-garde in Europe 1919–1945, hg. v. Malte Hagener. New Einblick in die Überlieferungsgeschichte eines Films. Oder York: Berghahn, 283–520. sie dienen der Herstellung von Untertiteln oder von Pro- Hediger, Vinzenz; Horwath, Alexander (2011): „Ich bin zutiefst davon motionsmaterialien von neuen Kopien. Auch für Forschen- überzeugt: Der Film ist ein Akt, der sich in einem bestimmten de stellen diese Paratexte wertvolle Quellen dar und lassen Zeitpunkt abspielt, und damit ein performativer Akt.“ Gespräch sich ebenso in Plattformen für das breite Publikum einbin- mit Alexander Horwath. In: Orte filmischen Wissens, hg. v. den, wie es etwa das Projekt Filmo bereits praktiziert. Die Gudrun Sommer, Vinzenz Hediger und Oliver Fahle. Marburg: Schüren, 123–40. Arbeit an Metadaten zu Werken, Personen oder Organisa- Keller, Florian (2019): Der Speicher in der ersten Reihe. In: WOZ, tionen, die Erschließung von Beständen, die Digitalisie- 2019/29. Verfügbar unter https://www.woz.ch/-9c38. rung und Publikation von Digitalisaten in Katalogen stel- Kempf, Klaus (2014): Bibliotheken ohne Bestand? Bestandsaufbau len so wichtige Grundlagen für allfällige Videostreaming- unter digitalen Vorzeichen. In: BIBLIOTHEK – Forschung und Plattformen bereit. Praxis, 38 (3), 365–97. DOI: 10.1515/bfp-2014-0057. Neeser, Caroline (2006): Cinémathèque et mémopolitique. Conser- vation, formation, diffusion. In: Arbido. Fachzeitschrift für Archiv, Bibliothek und Dokumentation, (1), 63–66. Piguet, Michel (2020): Streaming Wars and Library Battles. Tagungs- bericht. In: Arbido. Fachzeitschrift für Archiv, Bibliothek und Dokumentation, (1). Verfügbar unter https://arbido.ch/de/aus gaben-artikel/2020/archive-und-bibliotheken-in-internationa len-organisationen/streaming-wars-and-library-battles. Winzeler, Seraina (2018): Der Film im Archiv. Ein Gegenstand zwischen Filmkultur, Archivwissenschaft und (film)historischer Forschung. In: Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis, 5 (2), DOI: 10.18755/iw.2018.20. Seraina Winzeler Cinémathèque suisse Leiterin Forschungs- und Abb. 2: Der Bestand der Zeitschrift ZOOM, Zeitschrift für Film, wird ab Archivierungszentrum Zürich 2021 digitalisiert. Die Filmpublizistik stellte ein Pfeiler der kirchlichen Neugasse 10 Filmarbeit dar, die bis 2020 auch die ZOOM Filmdokumentation, den CH-8005 Zürich Vorläufer des heutigen Archivierungszentrums der Cinémathèque Schweiz suisse in Zürich, betrieb. seraina.winzeler@cinematheque.ch © Carine Roth Literaturverzeichnis Daniela Wegmann Bohn, Anna (2020): Vom Kampf der Streaming-Anbieter. In: Film- Cinémathèque suisse explorer. Verfügbar unter https://www.filmexplorer.ch/forum/ 2020-focus-online-streaming/vom-kampf-der-streaming-anbi Archivarin Forschungs- und eter-anna-bohn/. Archivierungszentrum Zürich Bohn, Anna; Koerber, Martin (2016): Archivierung audiovisueller Neugasse 10 Quellen in Deutschland. In: Handbuch Archiv. Geschichte, CH-8005 Zürich Aufgaben, Perspektiven, hg. v. Marcel Lepper und Ulrich Raulff. Schweiz Stuttgart: Metzler, 168–178. Cinémathèque suisse (1998): Cinémathèque suisse – Schweizer daniela.wegmann@cinematheque.ch Filmarchiv – Cineteca svizzera. Lausanne.
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